Schneewittchen - henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH
Transcription
Schneewittchen - henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH
Pe t e r D e h l e r SCHNEEWITTCHEN nach Jacob und Wilhelm Grimm 1 © henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH 2004 Als unverkäufliches Manuskript vervielfältigt. Alle Rechte am Text, auch einzelner Abschnitte, vorbehalten, insbesondere die der Aufführung durch Berufs- und Laienbühnen, des öffentlichen Vortrags, der Buchpublikation und Übersetzung, der Übertragung, Verfilmung oder Aufzeichnung durch Rundfunk, Fernsehen oder andere audiovisuelle Medien. Das Vervielfältigen, Ausschreiben der Rollen sowie die Weitergabe der Bücher ist untersagt. Eine Verletzung dieser Verpflichtungen verstößt gegen das Urheberrecht und zieht zivil- und strafrechtliche Folgen nach sich. Die Werknutzungsrechte können vertraglich erworben werden von: henschel SCHAUSPIEL Marienburger Straße 28 10405 Berlin Wird das Stück nicht zur Aufführung oder Sendung angenommen, so ist dieses Ansichtsexemplar unverzüglich an den Verlag zurückzusenden. F1 2 SCHNEEWITTCHEN KARL – der König LUISE – die Königin REINFRIED – der Kammerdiener der Königin HENRY – ein Prinz ARCHIBALD – ein Zwerg BRUNO – ein Zwerg CÄSAR – ein Zwerg DIETER – ein Zwerg ERIC – ein Zwerg FRIERICH – ein Zwerg GERO – ein Zwerg EIN VOGEL 3 1. Szene Ein Saal im Schloß mit vielen Spiegeln. Die KÖNIGIN LUISE bei der Anprobe für ein neues Kleid. KÖNIG KARL und der Kammerdiener REINFRIED dabei. Königin Luise Was sagst du? König Karl Schön. Königin Luise Mehr fällt dir nicht ein? König Karl Sehr schön. Wunderschön. Reinfried Diese Frisur macht Ihro Gnaden noch jünger, und dieses Kleid macht Ihro Majestät noch schlanker, und dieser Duft macht Ihro Göttlichkeit noch unwiderstehlicher und diese Lippen und diese Haut, diese Augen, diese Wimpern. Es gibt keine Worte, soviel Einzigartigkeit zu beschreiben. König Karl Genau das wollte ich sagen. Königin Luise Du hast es aber nicht gesagt. „Schön“. „Wunderschön“. Mehr fällt dir nicht ein. Weil du mich nicht liebst. Es ist immer dasselbe. König Karl Ich liebe dich, aber ich kann es doch nicht tausendmal sagen. Königin Luise Und warum nicht? (Schneewittchen kommt herein mit einem Apfel in der Hand. Mit der anderen versteckt sie eine kleine Truhe hinter ihrem Rücken.) Schneewittchen Mein Herr Vater, meine Frau Mutter, darf ich stören? Königin Luise Nein. Du darfst nicht stören. König Karl Luise! Das Kind kann nichts dafür. Mein Kind, bleib! Schneewittchen Ich geh ja schon wieder. König Karl Du bleibst, hab ich gesagt. Königin Luise Was fällt dir auf? Schneewittchen Ihr streitet schon wieder. König Karl Mein Kind. Königin Luise Was fällt dir an mir auf? Schneewittchen Ihr habt ein neues Kleid, Frau Mutter. Königin Luise Mehr nicht? Schneewittchen Ihr habt eine neue Frisur, Frau Mutter. 5 Königin Luise Mehr nicht? Schneewittchen Ihr habt ein neues Parfüm, Frau Mutter. Königin Luise Und wie findest du mich so? Schneewittchen Neu. Königin Luise Ganz der Vater, womit hab ich das verdient. Und hör auf zu essen, wenn du mit deiner Mutter sprichst. Schneewittchen Warum. Königin Luise Gib den Apfel her. Schneewittchen Muß ich, Vater. König Karl Laß sie doch, sie ist so gerne Äpfel, und außerdem sind sie gesund. Königin Luise Reinfried, wir gehen. (Königin und Reinfried ab.) König Karl Sie meint es nicht so, mein Töchterlein. Im Herzen ist sie gut, die Königin. Schneewittchen Ich weiß. König Karl Was kann ich für dich tun, mein Engel? Schneewittchen Nicht schimpfen. König Karl Ich kann dir niemals böse sein. Schneewittchen Ich war im verbotenen Flügel des Schlosses. König Karl Und? Schneewittchen Ich war im verbotenen Zimmer. König Karl Und? Schneewittchen Ich war im verbotenen Schrank. König Karl Und? Schneewittchen Wer ist das? (Schneewittchen öffnet die Truhe und zeigt ein Bild.) König Karl Das ist niemand. Schneewittchen Das ist eine wunderschöne Frau. König Karl Ich kenne sie nicht. 6 Schneewittchen Ich finde, sie sieht mir sehr ähnlich. König Karl Gib her. Schneewittchen Warum liegt das Bild im verbotenen Schrank, im verbotenen Zimmer, im verbotenen Flügel, und was ist das für ein Spiegel? (Der König erschrickt.) König Karl Sprich leise, mein Schatz. Das ist ein alter, nutzloser, blinder Spiegel. Gib ihn mir. Schneewittchen Ein alter, nutzloser, blinder Spiegel, von dem ich leise sprechen soll? Ein Bild, auf dem eine Frau ist, die aussieht wie ich? (Königin kommt zurück.) Königin Luise Das ist ja interessant. Du hast es also aufgehoben. König Karl Nicht vor dem Mädchen. Königin Luise Warum nicht? Sie ist alt genug. König Karl Schweig! Schneewittchen Frau Mutter, wofür bin ich alt genug? Königin Luise Sag nicht immer Frau Mutter zu mir. Das macht mich glatt ein dutzend Jahre älter. Schneewittchen Wie wünscht Ihr, daß ich Euch anspreche? Königin Luise Was, dein Vater dir verschweigen will … König Karl Nein. Jetzt nicht! Königin Luise Wann dann? Schneewittchen Was, Frau Mutter? Königin Luise Ich bin nicht deine Mutter. König Karl Meine Sonne, nicht weinen. Schneewittchen Ich weine nicht, ich staune. Aber du bist doch mein Vater. König Karl Mein Herz, ich bin dein Vater, so wahr ich vor dir stehe. Schneewittchen Aber wer ist meine Mutter? Oder hast du mich allein gemacht? König Karl Ja. Ich habe das ganz allein gemacht. Das war gar nicht so einfach, aber wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg und … Königin Luise Deine Mutter ist tot. Sie ist gestorben. Sie kommt nicht mehr, und damit wirst du dich abfinden müssen. 7 König Karl Luise, es reicht. Königin Luise Und Karl, ich wünsche nicht, daß dieses Bild weiter existiert. König Karl Jawohl. Ich werde die Existenz dieses Bildes umgehend beenden. Königin Luise Jetzt und hier. Sonst tu ich es selbst. Gib her. (Eine Rangelei. Die Königin entdeckt den Spiegel.) Königin Luise Was versteckst du vor mir? König Karl Nichts. Ein alter, nutzloser, blinder Spiegel. Königin Luise Ist das d e r Spiegel? König Karl Ich weiß nicht, welchen du meinst. Königin Luise Du weißt genau, welchen ich meine. König Karl Wovon sprichst du? Königin Luise Ich meine den Spiegel, den einst deine verstorbene Frau, deine Mutter, Schneewittchen, besaß, von dem du behauptet hast, er sei geraubt worden von unheilvollen Schurken, – den meine ich, erinnerst du dich jetzt? Schneewittchen Vater, was meint sie? Es gibt doch hier so viele Spiegel. Königin Luise Das verstehst du nicht, mein Kind. Kein Spiegel ist so wie dieser Spiegel. Schneewittchen Ist das ein Zauberspiegel? König Karl Zauberspiegel? So ein Unsinn, mein Glück, es gibt doch keine Zauberspiegel. (Die Königin hat dem König den Spiegel entrissen.) Königin Luise Spieglein, Spieglein in der Hand, wer ist die Schönste im ganzen Land? (Der Spiegel anwortet: „Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier, – doch Schneewittchen ist tausendmal schöner als Ihr.“) Hast du das gehört, mein Kind? Schneewittchen Ich denk, ich bin nicht Euer Kind? Königin Luise Ob du das gehört hast? Schneewittchen Der Spiegel kann sprechen. König Karl Laß sie, Luise, das Kind kann nichts dafür. Königin Luise Du hältst die Klappe. Was hat der Spiegel gesagt, Schneewittchen? 8 Schneewittchen Daß Ihr sehr schön seid. Königin Luise Und was noch? Schneewittchen Ich weiß es nicht mehr. Königin Luise Sag, daß du tausendmal schöner bist als ich, sag es!!!!! König Karl Der Spiegel ist alt und blind, er lügt, er kennt die Wahrheit nicht mehr. Keiner ist schöner als du, meine Königin Luise. Gib mir den Spiegel, ich hau ihn in tausend Stücke. Königin Luise Das ist mein Spiegel! Mein Spiegel. Laßt mich. Geht weg, ihr undankbaren Geschöpfe. Ich hab es immer gewußt, daß du mich nicht liebst. (Alle ab. Der Vorhang schließt sich. Königin Luise allein davor, mit dem Spiegel.) Hast du gelogen? Bist du blind? Du bist nicht blind? Du kannst nicht lügen. Ich will es noch einmal hören. Spieglein, Spieglein in der Hand, wer ist die Schönste im ganzen Land? (Der Spiegel antwortet: „Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier, – doch Schneewittchen ist tausendmal schöner als Ihr.“ Die Königin schreit vor Schmerz und bricht zusammen. Reinfried kommt.) 2. Szene Reinfried Habt ihr mich gerufen? Königin Luise Kennst du diesen Spiegel? Reinfried Oh mein Gott, wo habt ihr ihn her? Königin Luise Das Mädchen muß weg. Reinfried Schneewittchen? Königin Luise Ich kann es nicht ertragen, die Zweite zu sein. Ich will die Schönste sein. Ich muß die Schönste sein. Ich bin die Schönste. Reinfried Wie soll das gehen? Königin Luise „Wie soll das gehen?“, „Wie soll das gehen?“ Stell dich nicht so an. Wofür bezahl ich dich? Das ist das Leben, und das ist der Tod, und was ist dazwischen? Das Sterben. Geh hin und mach, daß sie stirbt. Ich werd dich reich belohnen. Reinfried Ich kann Haare schneiden, kämmen, waschen, legen, Fingernägel maniküren, salben, schmeicheln, pudern, loben, lügen, tanzen, rezitieren, alles, was ihr wollt, – aber töten? Ich? 9