Aus dem Reich der Toten

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Aus dem Reich der Toten
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Douglas Gordons „Feature Film“ in Berlin
Aus dem Reich der Toten
Hitchcock in den Fingerspitzen: Douglas Gordon reinszeniert „Vertigo“ ohne
Schauspieler, nur mit einem Dirigenten und einem Orchester. In Berlin ist „Feature
Film“ Freitagnacht zu sehen
von Jens Hinrichsen
21.02.2013
Douglas Gordon "FEATURE FILM", 1999, Courtesy Studio lost but found, Berlin / Artangel, London, © Studio lost but
found / VG Bild-Kunst, Bonn 2013
Mann liebt Frau. Frau liebt Mann auch, aber tut so, als wäre sie eine andere. Die Blondine,
deren Rolle die Brünette bloß spielt, muss sterben, so will es das Szenario eines Gangsters.
Die echte Frau, die die Blondinenperücke abgelegt hat, lebt weiter – und liebt den Mann
immer noch. Das Problem: Mann kann nur tote Scheinfrau lieben. Frau lässt sich von Mann
halb widerwillig in Scheinfrau zurückverwandeln. Alles könnte gut werden. Aber durch einen
dummen Zufall kommt die Scheinblondine ums Leben.
Alles klar? Wenn man Alfred Hitchcocks Thriller „Vertigo“ (1958) derart auf eine Plotline
herunterbricht, droht Unverständlichkeit, mindestens aber Langeweile. Filme sind nun mal
nicht Minimal Art, sie leben von Charakteren, Schauplätzen, Set Design, Montage, Musik –
und der Erlebnisfähigkeit des Zuschauers. Film ist, vom Publikum her betrachtet, ein
erwünschtes Täuschungsmanöver. Wenn gut gezaubert wird, hinterfragen wir die Tricks des
Illusionisten nicht. Im Kino lieben wir es, betrogen zu werden.
Douglas Gordon hat mit seiner Found-Footage-Arbeit „24 Hour Psycho“ (1993) belegt, wie
stark man einen Film verändern kann, wenn man ihn zentraler Elemente beraubt. Als
Einzelbild-Diaschau über eine Zeitstrecke von 24 Stunden präsentiert, wird die dramatische
Struktur des Thrillers „Psycho“ derart blockiert, dass selbst dem Kenner die Erinnerung an
den Film nicht weiterhilft. Andersherum: Wer „Psycho“ einmal gesehen hat, kann sich an die
Gefühlsdichte des Films, den erzeugten Alpdruck, gut erinnern – nur in der „24 Hour Psycho“Videokabine nicht. Es ist, als würde Gordon die Erinnerungsfähigkeit mit seiner
Bilderkanonade unterbrechen.
Gezeigt wird allein der Dirigent der Filmmusik
1999 lieferte der schottische Künstler den Gegenentwurf zur „Psycho“-Arbeit. Die Installation
„Feature Film“ besteht aus der Bild-Ton-Aufzeichnung eines Konzerts. James Conlon dirigiert
das Orchester der Pariser Oper, aufgeführt wird der komplette Score von Bernard Herrmanns
suggestiver Filmmusik zu „Vertigo“. Das Orchester ist nur zu hören, nicht zu sehen. Gezeigt
wird, als einzige Hauptfigur des Films, der Dirigent, die Kamera tastet sein Gesicht ab, zoomt
mitunter auf Conlons Augen, vor allem aber tritt immer wieder die Gestik der Hände in den
Vordergrund – eine Gestik, die die Impulse für das gibt, was wir auf der Tonspur hören. Für
diejenigen, die „Vertigo“ gut kennen, genügt diese musikalische Matrix, sich den Film wieder
zu gegenwärtigen. Selbst die Pausen – Gordons „Feature Film“ berücksichtigt auch
musikfreie Passagen, in denen der Dirigent nichts tut außer Warten – vermag die Erinnerung
zu überbrücken.
Am Freitag um 24 Uhr wird „Feature Film“ im Rahmen der Reihe Videoart at Midnight – ein
Projekt von Olaf Stüber und Ivo Wessel – gezeigt. Douglas Gordon wird bei der Aufführung
im Babylon-Kino am Rosa-Luxemburg-Platz dabeisein.
Erinnerung ist erstens konstitutiv für die Story von „Vertigo“: Nach landläufiger Interpretation
geht es um einen Ex-Polizisten (James Stewart), der von seiner (durch Machenschaften
eines Verbrechers manipulierten) Erinnerung geplagt wird. Der Essayist und Filmemacher
Chris Marker hat die klassische Deutung sehr überzeugend in ihr Gegenteil verkehrt. Der in
zwei Teile gespaltene Film würde in der ersten Hälfte eine reale Geschichte erzählen, der
zweite, scheinbar die Auflösung liefernde Teil sei ein Traum der Stewart-Figur. Die fehlende
Übereinkunft über das, was der eigentliche Plot dieses Films sei, passt zum psychologischen
Gesamtwerk des Regisseurs (Gilles Deleuze spricht vom „mentalen Bild“, das Hitchcock im
Kino etabliert habe). Jeder Zuschauer entwickelt also ein eigenes „Vertigo“-Gedächtnis.
„Echte“ und „falsche“ Erinnerungen
Zweitens haben „echte“ und „falsche“ Erinnerungen auch die „Vertigo“-Werkgeschichte seit
der Uraufführung geprägt. Hitchcock hat seinen persönlichsten Film dem kollektiven Zugriff
zwischen 1973 und 1983 entzogen. Aus rechtlichen Gründen konnte „Vertigo“ 20 Jahre lang
nicht öffentlich gezeigt werden. Seine Wiederaufführung 1984, der Abgleich des konkreten
Kinoerlebnisses mit überwiegend aus zweiter Hand stammenden Erinnerungen, dürften auch
Douglas Gordon beeindruckt und ihn zu Arbeit an „Feature Film“ inspiriert haben.
Es handelt sich um das erste Werk, für das Gordon selbstgedrehtes Material verwendete.
Verschiedene Motive von „Feature Film“ finden sich in späteren Videoarbeiten wieder, sei es
die Aufführung von Musik („k.364“), sei es die Konzentration auf eine Einzelfigur („Zidane Ein Porträt im 21. Jahrhundert“). Das Motiv der Hände steht (wie beim Dirigenten Conlon) im
Vordergrund von Gordons neuer Videoarbeit „Sharpening Fantasy“ – in der er mit den Gesten
von Messerschleifern in Tanger spielt. Das Werk ist zusammen mit anderen Werken des
Künstlers in der Berliner Galerie Blain Southern bis zum 28. April zu sehen.
URL: http://www.monopol-magazin.de/artikel/20106411/douglas-gordon-video-at-midnight-babylon-feature-film.html
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Eine Publikation der Ringier-Gruppe, Schweiz
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