Zeitung lesen auf dem Stundenplan
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Zeitung lesen auf dem Stundenplan
Zeitung lesen auf dem Stundenplan Dr. Franz-Josef Payrhuber in Zusammenarbeit mit der Mainzer Projektgruppe 8 Ausgangssituation Voraussetzungen und Intentionen Im Elternhaus vieler Kinder gehört die Tageszeitung zur täglichen Lektüre, bevorzugt am Morgen. Manche Kinder mögen sogar ab und zu selbst einen Blick in die Zeitung werfen. Zum Kreis regelmäßiger Zeitungsleser gehören Kinder aber nicht, und schon gar nicht diejenigen, deren Eltern zu Hause keine Tageszeitung haben. Ihnen fehlt jeglicher Impuls durch ein Vorbild. Steht das Zeitung lesen auf dem Stundenplan der Schule, wird bei einem Teil der Kinder fehlende Erfahrung ausgeglichen, bei einem anderen vorhandene Erfahrung bestärkt. Gemeinsam bekommen sie das Angebot, mit der Tageszeitung ein Lesemedium kennen zu lernen, das im Alltag eine wichtige Rolle spielt, in der ‚Eigenwelt‘ der Schule aber – zumindest bisher – nicht oder nur selten vorkommt. Wer dies ändern will, muss eine Schwierigkeit bedenken: Die Schule kann die Alltagswirklichkeit in ihr pädagogisch-didaktisches Handeln zwar einbeziehen, aber sie ist nicht die Wirklichkeit selbst. So selbstverständlich diese Bedingung ist, so oft wird sie übersehen. Auch das Zeitung lesen in der Schule entspricht nicht der realen Lektürepraxis. Unter dieser einschränkenden Bedingung sind zwei Merkmale der Zeitungslektüre von der Schule zu übernehmen: Zeitungen werden täglich gelesen und Zeitungen werden selektiv gelesen. Sporadisch über einzelne Tage verstreute Lektüre ist beim Zeitung lesen ebenso unüblich wie die vollständige Lektüre von der ersten bis zur letzten Seite. Oft geht dies schon wegen des Umfangs nicht, vor allem aber geschieht es nicht, weil die verschiedenartigen Themen der Zeitung nicht alle gleichermaßen interessieren. Der geübte Zeitungsleser liest selektiv. Er hat sich bei der Auswahl und beim Lesen angewöhnt, eigene Schwerpunkte zu setzen, indem er für ihn Unwichtiges auslässt oder lediglich überfliegt. Das derzeit wieder zu Ehren kommende Prinzip „Lesen lernt man nur durch Lesen“ (Richard Bamberger) gilt selbstverständlich auch für das Zeitung lesen in der Schule. Es ist Gewöhnung erforderlich, eine einmalige Aktion ist wirkungslos. Andererseits muss aber auch darauf geachtet werden, dass nicht des Guten zuviel getan wird. Zwei Wochen tägliche Zeitungslektüre erweisen sich für eine erste Beschäftigungsphase mit dem Medium als angemessene Zeitspanne. Im Mainzer Feldversuch steht das Vorhaben unter der Leitlinie freien Lesens. Es geht um das Vertrautwerden mit dem Medium, ohne dass die Lehrkraft Vorgaben macht, was gelesen werden soll, ohne dass Leitfragen gestellt und Interessen gelenkt werden. Voraussetzung für die Durchführung des Vorhabens ist, dass während seiner Laufzeit die Tageszeitung täglich und in Klassenstärke geliefert wird. Für die Schüler ist es wichtig, dass sie ihr ganz persönliches Zeitungsexemplar bekommen und nicht Mitleser mit einem Partner oder in einer Gruppe sind. Die Lesezeit ist fest auf den Stundenplan zu setzen, und dies möglichst früh am Morgen, damit Spannung und Neugier noch nicht verflogen sind. Auch bei einem offenen Unterrichtsbeginn bietet sich an, die Lesezeit am Anfang des Tages anzusetzen, gut geeignet ist auch die Phase vor der Frühstückspause. Zu bedenken ist von der Lehrkraft vorab, dass das große Format der Zeitung Schwierigkeiten machen kann. Es erschwert den Kindern nicht nur die inhaltliche Orientierung, sondern stellt auch vor ganz praktische Probleme: Auf den Schülertischen muss hinreichend Platz sein, die Zeitung auszubreiten; und wenn es hier zu eng wird, sollte erlaubt sein, dass sich die Kinder auf den Boden setzen, in die Leseecke zurückziehen oder sonst einen geeigneten Ort suchen. Solche Leseplätze sind der Zeitung ohnehin nicht wesensfremd, sie wird auch zu Hause an den unterschiedlichsten Orten gelesen. Mit der täglichen Lektürephase verbindet sich die Erwartung, dass Interesse am (regelmäßigen) Zeitung lesen entsteht, wenn die Kinder erst einmal entdeckt haben, welche interessanten, spannenden, wissenswerten und lustigen Dinge in der Zeitung stehen. Vereinzelt mag es auch die Situation geben, dass ein Kind nur ganz oberflächlich in der Zeitung blättert oder sie gar nicht lesen möchte. Hier sollte das Prinzip der Freiwilligkeit regieren; es muss auch das Recht eines Kindes respektiert werden, nicht zu lesen. Vorgehensweise im Feldversuch Für die tägliche Zeitungslektüre in den Projektklassen waren zwanzig bis dreißig Minuten eingeplant. Es war den Schülern freigestellt zu lesen, was sie wollten. Um die Beobachtungen zum Leseinteresse und zur Reichweite der Lesekompetenz verifizieren zu können, wurden die Kinder aufgefordert, täglich den Artikel auszuschneiden, der sie am meisten interessiert hatte, ihn auf ein Blatt zu kleben und mit (mindestens) einem Satz zu kommentieren. Die Blätter wurden in einer Mappe (einem Schnellhefter o. ä.) gesammelt. Im Anschluss an die Lektürephase erfolgte eine Aussprache über die gelesenen (ausgeschnittenen) Artikel. In den meisten Projektklassen fand dieses Gespräch im Sitzkreis statt. Ich bin gegen einen Krieg, aber die Nato muss etwas dagegen unternehmen. Ich frage mich, was Nordkorea mit der Atombombe anstellen will. Ich finde es unfair von dem Staat, dass wir so viel Steuern bezahlen müssen und dafür bauen sie nur Schrott. Ich finde, sie könnten wenigstens die Wasserspiele in Gang setzen. Ich finde es schrecklich, dass die Menschen für Panzer so viel Geld ausgeben. Sie könnten doch das Geld in ärmere Länder schicken. 9 Kathy jagt alle Briefträger. Das Bild sieht süß aus. Ich liebe Katzen und ich habe selber zwei Katzen. Ich habe das ausgeschnitten, weil ich das komisch finde. Wir haben selbst zwei Katzen. Sie heißen Freda und Felix. Ich habe dieses Bild genommen, weil ich Fußball mag und dies ein böses Foul war. 10 Ich finde, dass Marie von ihrer Meinung her recht hat, aber wie sie es gemacht hat, finde ich nicht so gut. Sie war aber sehr mutig. Beobachtungen In den Projektklassen konnte eine Reihe von Beobachtungen gemacht werden, die den Charakter von Einzelwahrnehmungen überschritten. Die Kinder genossen die Freiheit, das lesen zu können, was sie wollten, und fanden es toll, ihr eigenes Zeitungsexemplar zu bekommen, das sie auch nach Hause mitnehmen konnten. Das tägliche Zeitung lesen entwickelte sich schnell zum Ritual, das lieb gewonnen und auch eingefordert wurde. Zu Anfang war eine gewisse Unsicherheit im Umgang mit der Zeitung spürbar. Probleme bereiteten das große Format der Zeitung. Außerdem hatten die Kinder Schwierigkeiten, sich in der Zeitung zu orientieren, das heißt gesuchte Themen wie „Sport” oder „Tiere” auf Anhieb zu finden. Diese Unsicherheiten wurden jedoch mit jedem Tag geringer, wobei die Drittklässler erwartungsgemäß länger brauchten als die Viertklässler. Die positive Auswirkung der Gewöhnung war allerdings in beiden Klassenstufen deutlich erkennbar. Die meisten Kinder beschäftigten sich eingehend mit der Zeitungslektüre, und zwar je geübter um so ausdauernder und intensiver. Manche Kinder vertieften sich sogar derart in die Lektüre, dass sie vergaßen, „ihren” Artikel auszuschneiden. Kinder, die die Zeitung nur oberflächlich durchblätterten, waren nur vereinzelt zu beobachten. Verweigerer gab es nicht. Interessiertes, konzentriertes Lesen war auch bei den Kindern zu beobachten, die sonst Probleme beim Lesen haben. Besonders in der Ausdauer waren Unterschiede zwischen dem dritten und dem vierten Schuljahr erkennbar. Bei Drittklässlern ließ die Motivation schneller nach. Sehr intensiv war der Austausch über die Artikel im Partner- oder Gruppengespräch. Der dadurch unvermeidlich wachsende Geräuschpegel in der Klasse ist als höchst „produktiv” zu werten. Zu Beginn der Beschäftigung mit der Zeitung besteht – insbesondere im dritten Schuljahr – größeres Interesse an kurzen Texten; ebenso ist eine hohe Bildaffinität zu beobachten: Der Einsatz von Bildern und die Gestaltung von Überschriften sind sehr wichtig bei der Auswahl dessen, was gelesen wird. Bei wenig(er) geübten Lesern fiel auf, dass sie bevorzugt ein Bild mit kurzer Überschrift als „ihren” Artikel ausschnitten. Im vierten Schuljahr bekunden mehrere Kinder die Absicht, auch über die Dauer des Projektes hinaus nun zu Hause regelmäßig die Zeitung zu lesen. 11 Themeninteresse Erwachsene interessieren sich bei der Zeitungslektüre an vorderster Stelle für das politische Geschehen sowohl in der Gemeinde als auch in Deutschland und dem Ausland. Es folgen mit deutlich geringeren Werten der Sport, die Wirtschaftsberichterstattung, außergewöhnliche Ereignisse, Verbrechen und Katastrophen sowie praktische Alltagsfragen (Hippler/Witt 2001). Beobachtungen Bei den Kindern der Projektklassen waren die Interessen anders verteilt. Jungen favorisierten überwiegend Sport, insbesondere Fußball (wobei verstärkend gewirkt haben dürfte, dass während einer Projektphase gerade die Weltmeisterschaften in Japan und Südkorea stattfanden). Mädchen bevorzugten Artikel über Tiere, allerdings war dieses Interesse nicht so dominant, dass nicht auch noch Artikel über andere Themen gelesen wurden. Politik spielte in den Klassen des 3. Schuljahrs so gut wie keine Rolle (Verständnisproblem), im vierten Schuljahr war das Interesse an Politik bereits stärker wahrnehmbar, insbesondere bei Mädchen. Sie lasen durchweg auch bereits schwierigere Artikel. Beide Gruppen fanden Regionales und Lokales interessant sowie ungewöhnliche Ereignisse aus aller Welt (‘Panorama‘). Nicht zuletzt wurden auch Witze und Comic-Strips gern gelesen. Bevorzugtes Interesse fand ein Artikel (unabhängig vom Thema und ungeachtet des Umfangs) immer dann, wenn zu dem Inhalt ein persönlicher Bezug bestand: z. B. zu Fußball, wenn ein Kind selbst in einer Fußballmannschaft spielt; oder zu Berichten über die Feuerwehr, weil es selbst bei der örtlichen Jugendfeuerwehr mitmachen will. Aufmerksamkeit fanden insbesondere „Großereignisse“, über die mehrere Tage lang berichtet wurde. Viele Kinder verfolgten die Entwicklung dieser Ereignisse dann über mehrere Tage. Zur Motivierung einer kontinuierlichen Zeitungslektüre sind solche Erfahrungen sehr wichtig. Arbeitsvorschläge Es kann hilfreich sein, die tägliche Zeitungslektüre durch Übungen zu unterstützen, die darauf zielen, dass die Kinder neugierig und zum Lesen motiviert werden, dass sie sich in der Zeitung besser zurecht finden und dadurch insgesamt mehr Sicherheit gewinnen. Wichtig ist, dass diese Übungen nicht an die Stelle der freien Lektüre treten. Artikelsuche: Die Lehrkraft liest einen Artikel vor, die Kinder suchen ihn anschließend in der Zeitung. Überschrifteninterpretation: Die Lehrkraft liest eine Überschrift (Schlagzeile) vor; die Kinder äußern Vermutungen, was in einem zu der Überschrift passenden Artikel stehen könnte; anschließend suchen sie den entsprechenden Artikel in der Zeitung. Überschriftensuche: Die Lehrkraft schreibt mehrere Überschriften von Zeitungsartikeln (Schlagzeilen) an die Tafel. Die Kinder suchen danach in der Zeitung und lesen den jeweiligen Artikel vor. Zuordnen von Zeitungsartikel: Von der Lehrkraft werden mehrere Zeitungsartikel aus verschiedenen Rubriken vorgegeben, die jeweils der zutreffenden zuzuordnen sind. Artikelsuche: Es werden Suchaufträge nach Artikeln zu bestimmten Themen gestellt, zum Beispiel nach Beiträgen zum Thema „Kinder” (wobei offen bleiben kann, ob Artikel über Kinder oder Artikel für Kinder gemeint sind). 12