Elektronische Gästebücher – Wiederbelebung und Strukturwandel
Transcription
Elektronische Gästebücher – Wiederbelebung und Strukturwandel
Hajo Diekmannshenke Elektronische Gästebücher – Wiederbelebung und Strukturwandel einer alten Textsorte E-mails, news groups, mailing lists, chats, and discussion forums are the most well known types of electronic communication in the world wide web (www). The following paper describes another extensively used type of electronic communication: electronic guestbooks. The ways in which a traditional kind of text has changed will be shown by looking at a large number of German guestbooks. The comments in electronic guestbooks are partly in the tradition of older guestbooks, but are also now being used for other (social) interests of the users such as contact, discussion, gossip, among others. In Mathildens Stammbuch Hier, auf gewalzten Lumpen, soll ich Mit einer Spule von der Gans Hinkritzeln ernsthaft halb, halb drollig, Versifizierten Firlefanz – Ich, der gewohnt mich auszusprechen Auf deinem schönen Rosenmund, Mit Küssen, die wie Flammen brechen Hervor aus tiefstem Herzensgrund! O Modewut! Ist man ein Dichter, Quält uns die eigne Frau zuletzt, Bis man, wie andre Sangeslichter, Ihr einen Reim ins Album setzt. Heinrich Heine, Romanzero 1. Gästebücher – gibt’s die noch? 50 ZfAL 31, 1999. 49-75. ‘Gästebücher’ gehören zu den Relikten einer Zeit, in der Handschriftlichkeit noch als Ausweis der Person und der Persönlichkeit angesehen wurden. Auf viele Menschen der Gegenwart wirken sie deshalb wohl eher bieder, viele assoziieren Konservativität, Familienidylle oder gar Spießertum mit der Existenz dieser ‘Auslegeware’. Wieviele es davon in Deutschland aber wirklich gibt, entzieht sich nicht nur meiner Kenntnis. Sie existieren und wirken dennoch überholt, Fossile einer Zeit der vortechnischen Handschriftlichkeit. Wirft man aber als aufgeschlossener, moderner Mensch einen Blick in das Medium des 21. Jahrhunderts, ins Internet, so stolpert man förmlich über elektronische Gästebücher. Recherchen mittels der großen Suchmaschinen Yahoo und Alta Vista förderten Mitte August 1998 unter dem Stichwort ‘Gästebuch’ 55.546 und unter ‘Guestbook’ 7.373.090 Dokumente zutage. Entsprechende Stichwörter in anderen Sprachen dürften vergleichbar hohe Trefferzahlen bringen. Die Liste derjenigen Seiten, auf denen man Gästebücher findet, ist lang und oft überraschend: Einzelpersonen, Schulen, Sport- und sonstige Vereine, Bibliotheken, Fanclubs, das Mütterzentrum Karlsruhe, Pfadfinder, Rollenspiel-Gruppen, Wirtshäuser, Sender, Zeitungen, Behörden, Städte, Parteien, Tagungen, Museen, Umweltorganisationen, Anbieter für Haustierbedarf, Anbieter ganz spezieller – vielfach in der öffentlichen Meinung als internettypisch angesehener – ‘Dienste’, Banken, Naturkostläden u.v.a.m. bieten ihren Besuchern die Möglichkeit zum Eintrag. Elektronische Briefe, Diskussionsrunden im Internet – auch sie orientieren sich in der Namensgebung, aber auch in der Ausgestaltung an traditionellen Textsorten und Kommunikationsformen, verweisen auf Altes in Neuen Medien und belegen die Schwierigkeit, Neues und Gewandeltes im noch alten Gewand treffend benennen zu können. Das Wechselspiel zwischen der Orientierung an alten Mustern und der Anpassung an neue Bedingungen und Bedürfnisse läßt sich exemplarisch an ‘elektronischen Gästebüchern’ zeigen. Im folgenden soll deswegen der Versuch unternommen werden, die Wiederbelebung und [den] Strukturwandel einer alten Textsorte sowie die Herausbildung einer auch für das Internet neuen Kommunikationsform unter den Bedingungen dieses neuen Mediums zu analysieren. 2. Zur Geschichte des Gästebuchs Hajo Diekmannshenke: Elektronische Gästebücher. 51 Ihren Ursprung haben Gästebücher in den sich im 16. Jahrhundert entwickelnden ‘Stammbüchern’1 , die sich ursprünglich als Wappenbücher des Adels, dann als Stammbücher von Gelehrten und Studenten und schließlich als Stammbücher von Bürgern, Handwerkern und Künstlern seit dieser Zeit herausgebildet haben (HENNING 1989: 33). Das ‘album amicorum’ ist in seinen Ursprüngen eine Sammlung von gelehrten Sprüchen, literarischen Kleinformen und vielfach auch fremdsprachigen Einträgen. Wichtig in unserem Zusammenhang ist der Hinweis, daß das (gelehrte) Stammbuch in seiner ursprünglichen Form vom Brief die Schlußformel und von der Universitätsmatrikel Herkunftsort bzw. Landschaft übernimmt (HENNING 1989: 33f.). Diese Textbausteine bestimmen auch heute noch die Struktur der Gästebucheinträge maßgeblich mit. (Stammbuch Mantzel; GRÜMMER 1990: 90) „Die Themen der Eintragungen sind vielfältig: Gottvertrauen und Tugend sowie Treue gegenüber den Freunden werden in allen Variationen besungen. Daneben wird dem frohen Burschenleben und der Liebe gehuldigt, nicht selten in reichlich frivoler Form.“ (G RÜMMER 1990: 8) Deutschsprachige Einträge sind in dieser Zeit selten, einer der ältesten findet sich im Stammbuch G. Sachs (oder Sachse) unter der Jahreszahl 1580: „Frisch from frölich“ (GRÜMMER 1990: 26). Neben der Kalligraphie wurde bereits früh auch das Mittel der Illustration genutzt, sei es in Form farbiger Miniaturen, sei es als Scherenschnitt oder unter Zuhilfenahme kalligrafischer Schmuckformen. Als spezifische jüngere Ausprägung des Stammbuch kann auch das ‘Poesiealbum’ gelten, während das ‘Kondolenzbuch’ als strukturell 1 Unsere heutigen Familienstammbücher entstammen ebenfalls dieser Tradition. Allerdings sind diese als offizielle Dokumente ausdrücklich nicht gemeint, wenn in diesem Aufsatz von ‘Stammbüchern’ die Rede ist. 52 ZfAL 31, 1999. 49-75. verwandte Erscheinung durch seine kontextuelle Eingebundenheit in den Bereich der Trauerrituale anderen Bedingungen gehorcht. 3. ‘Gästebuch’ – eine Textsorte? Eine auch in der Textlinguistik bislang nicht befriedigend geklärte Frage ist die nach dem Status solcher oben genannter Erscheinungen wie ‘Stammbuch’ und ‘Gelehrtenbuch’ oder auch ganz allgemein von ‘Buch’, ‘Anthologie’, ‘Loseblattsammlung’ und anderen. Handelt es sich hierbei um eine Textsorte oder um eine Sammlung von Exemplaren unterschiedlicher Textsorten unter einem gemeinsamen ‘Titel’, der eher thematisch (wie bei der Anthologie) oder druck- und vertriebstechnisch (wie bei Buch und Loseblattsammlung) begründet ist? Während ADAMZIK (1995) diese Vertreter insgesamt als Textsorten in ihre Textsortenliste aufnimmt und nicht von anderen abhebt, verzichtet ROLF (1993) weitgehend auf diese, allerdings nicht durchgängig, da sich bei ihm u.a. das Kondolenzbuch als Textsorte findet (R OLF 1993: 282). Legt man eine Text-Definition wie die von B RINKER (1992: 17) zugrunde, so erfüllen ‘Gästebücher’ wesentliche Aspekte von Textualität: Der Terminus ´Text´ bezeichnet eine begrenzte Folge von sprachlichen Zeichen, die in sich kohärent ist und als Ganzes eine erkennbare kommunikative Funktion signalisiert. Kriterien wie Intentionalität, Textthema, Textfunktion und Kohärenz werden erfüllt, wobei letztere vor allem in Form des durchgängigen Bezugs auf den Gastgeber realisiert wird, zudem existiert ein allgemein gebräuchlicher ‘Textsortenname’, was ebenfalls als wichtiger Indikator angesehen werden kann. Nachlaß oder Archiv sind in ihrer Zusammenstellung nicht festgelegt. ‘Gästebücher’ bestehen hingegen aus einzelnen Textsortensammlungsbeiträgen, die jedoch nicht als einzelne, abgeschlossene Texte innerhalb einer Sammlung von Texten verstanden werden dürfen, sondern nur und ausschließlich in ihrem – temporär allerdings veränderlichen – Zusammenspiel ein sog. ‘Gästebuch’ bilden. Zudem spricht das Vorkommen solcher auch als Einzeltexte zu verstehender ‘Einträge’ nicht dagegen, das Gesamte als eigene Textsorte zu betrachten, schließlich finden sich auch Gedichte in Privatbriefen, Slogans in Parteiprogrammen, Aphorismen in einer Rektoratsrede. Hajo Diekmannshenke: Elektronische Gästebücher. 53 Da im Rahmen meiner Untersuchung dieses Klassifikationsproblem nicht ausführlicher behandelt werden kann, möchte ich mich dem Vorschlag von Ulrich PÜSCHEL (1997) anschließen, der für vergleichbare Erscheinungen wie Boccaccios D e c a m e r o n e als einer durch eine Rahmenhandlung zusammengehaltenen Sammlung von Novellen oder wie komplexere Fernsehbeiträge in Magazinsendungen den Begriff „Puzzle-Texte“ geprägt hat, welcher sich ebenso auf ‘Gästebücher’ und ihre Einzeleinträge anwenden läßt (PÜSCHEL 1997: 28)2 : Etwas ist also nicht per se ein Text, sondern immer nur nach dem Verständnis von jemandem. Dabei kann es durchaus passieren, daß wie bei einem Kipp-Bild dieses Verständnis wechselt: In einer Perspektive kann uns die 9. Novelle des 5. Tages [die berühmte ‘Falken-Novelle’; HJD] als autonomer Text erscheinen, in einer anderen als unselbständiger Teil eines umfassenderen Textes. Wir müssen also fragen, für wen was ein Text ist. Damit haben wir aber einen Punkt erreicht, der von uns den Abschied von einer weiteren lieben Vorstellung verlangt, daß nämlich zu einem Text neben dem Rezipienten notwendigerweise ein Produzent gehört. Jetzt sind nicht solche Fälle gemeint, in denen wir sehr wohl einen individuellen Textproduzenten unterstellen können, der sich jedoch aus welchen Gründen auch immer unserer Kenntnis entzieht, ebenfalls nicht gemeint sind die Fälle, in denen eine mehr oder weniger große Zahl von anonymen Produzenten an der Textherstellung beteiligt sind, so zum Beispiel bei „Illias“, „Odyssee“ und beim „Alten Testament“ oder den meisten in den Massenmedien verbreiteten Texten. Stattdessen müssen wir uns mit dem Gedanken vertraut machen, daß wir als Rezipienten nicht mit einem Textangebot umgehen, das uns ein Produzent macht, sondern daß wir in der Rezeption zugleich selber Textproduzenten sind, die sich aus vorgegebenem Material einen eigenen Text erzeugen. 4. 2 Strukturelle Analyse von ‘Gästebüchern’ An dieser Stelle möchte ich Uli Püschel ganz herzlich dafür danken, daß er zur Klärung dieser Frage Entscheidendes beigetragen hat. DANKEN möchte ich ebenfalls Josef Klein, der mir wichtige Anregungen gegeben hat. 54 ZfAL 31, 1999. 49-75. Das DUDEN-Wörterbuch in seiner neuesten Ausgabe verzeichnet unter dem Eintrag ‘Gästebuch’: „Buch, in dem sich der Gast [mit einigen Worten zum Dank o.ä.] einträgt“ (DUDEN 1993: 1219).3 Zu klären ist in unserem Fall also, was unter ‘Gast’ zu verstehen ist. Aus dem ursprünglichen Fremdling wurde die „zur Bewirtung od. vorübergehenden Beherbergung eingeladene od. aufgenommene Person“, so wiederum der DUDEN (1993: 1219). Gast setzt also zwei handelnde Parteien voraus, denjenigen, der Gast ist, und denjenigen, der diese Person als Gast eingeladen oder aufgenommen hat. Insofern handelt es sich beim Gast-Status um ein asymmetrisches Verhältnis, da die Position des Gastgebers als dominierend angesehen werden kann (was dann auch das besondere Höflichkeitsgebot der meisten Kulturen gegenüber dem Gast erklärt). Eine Ausweitung dieses Verständnisses erfährt der Gebrauch von Gast z.B. in Ausdrücken wie zu Gast in Bonn sein oder Wir sind nur Gast auf Erden. Will man nicht von einem so weit gefaßten Verständnis ausgehen, so kann man von Gast in einem engeren Sinne reden, wenn 1. eine Person A von einer Person B eingeladen wird oder diese mit deren Einverständnis besucht, um durch diesen Besuch – verbunden mit einer Reihe von gemeinsamen Handlungen wie z.B. gemeinsames Essen – eine soziale Beziehung zu stabilisieren oder erst zu etablieren; oder 2. eine Person A von einer Person B gegen Bezahlung/Vergütung eine Reihe von Dienstleistungen erfährt, die den Handlungen in 1) entspricht, allerdings unter Verzicht auf das Moment der Gemeinsamkeit, und ohne daß dadurch eine soziale Beziehung etabliert oder stabilisiert wird. Fall 2. berechtigt dazu, auch den Besucher einer Kunstausstellung oder gar einer Sportveranstaltung Gast zu nennen, wobei dieser Gast normalerweise nur im ersten Fall auch auf ‘Gästebücher’ stoßen wird. Es scheint mir sinnvoll, auch hier von ‘Gästebüchern’ zu sprechen, da nach Ausweis einsprachiger deutscher Wörterbücher und der Textsortenlisten von ROLF und A DAMZIK keine Textsorte ‘Besucherbuch’ existiert. Betrachtet man das das private Exemplar als den prototypischen Vertreter traditioneller ‘Gästebücher’, so befinden sich die Varianten in einem mehr oder weniger größeren Abstand von diesem imaginären ‘Zentrum’. Die oben genannten Bedingungen des Gastsseins erklären auch jene besondere Ausprägung von 3 Der zweite Eintrag „Buch, in das der Gast [...] eingetragen wird“ (DUDEN 1993: 1219) kann in unserem Zusammenhang vernachlässigt werden. Hajo Diekmannshenke: Elektronische Gästebücher. 55 Einträgen in Gästebüchern, die im DUDEN-Wörterbuch hervorgehoben wird, die der Danksagung. Die Abgrenzung von ‘Gästebuch’ und seinen möglichen Varianten von ‘Poesiealbum’, ‘Stammbuch’ und ‘Kondolenzbuch’ sowie untereinander ist eine Aufgabe, die von der Textsortenforschung erst noch zu leisten ist. Besondere Schwierigkeiten bereitet hier vor allem die Bereitstellung eines entsprechenden Korpus, da diese Textsortensammlungen in aller Regel nicht frei zugänglich sind. Dennoch belegen Stichproben eine große Einheitlichkeit der strukturellen Merkmale, die umfangreichere Untersuchungen – so meine begründete Annahme – bestätigen werden. 4.1 Traditionelle Gästebücher Ein wichtiges Unterscheidungskriterium liegt in der Funktion der verschiedenen Varianten von ‘Gästebüchern’ und damit auch in der Funktion der einzelnen Einträge. Das private ‘Gästebuch’ als prototypischer Vertreter dieser Textsorte dient (vorrangig dem Gastgeber) zur Erinnerung an Personen und Ereignisse im Zusammenhang mit diesen Personen (Feste, Feiern usw.). Liebe Susi, lieber Günther! Obwohl unser Besuch nur kurz war haben wir doch eine Menge gesehen und erlebt. Wir waren in einem Konzert in der St. Michaels-Kirche. Haben an einer Dorfführung durch Marklohe teilgenommen. Wir wurden köstlich bewirtet und haben das Halbfinalspiel Deutschland gegen Schweden gesehen. Es war sehr schön hier Katrin + Lisa4 privates Gästebuch Insofern ähnelt das private ‘Gästebuch’ Fotoalben, die auch Personen und Ereignisse für die Erinnerung konservieren sollen.5 Diese Funktion dürfte jedem Gast bewußt sein und bestimmt somit seinen Eintrag und dessen 4 5 Die orthographischen ‘Eigenheiten’ der jeweiligen Gästebucheinträge wurden weitgehend übernommen. Interessanterweise wurde auch diese ‘Mediensorte’ (von ‘Textsorte’ kann hier wohl nicht gesprochen werden) bislang - meines Wissens nach - noch nicht systematisch untersucht. ZfAL 31, 1999. 49-75. 56 Textstruktur. Der ‘Waschzettel’ für ein Blanko-‘Gästebuch’ thematisiert explizit diesen Aspekt: Gäste zu empfangen, mit Freunden in gemütlicher Runde beisammen zu sitzen oder Familienfeste in einem stilvollen Rahmen zu feiern, ist für viele Menschen der Inbegriff von Geselligkeit. Oft vergehen diese heiteren Stunden nur allzu rasch, und nach einiger Zeit hätte man gern gewußt, wer bei der Geburtstagsfeier, an die man sich so gerne erinnert, dabei war oder welchen Wein man bei der letzten Einladung angeboten hatte. Dieses aufwendig gestaltete Buch lädt dazu ein, die Erinnerung an fröhliche Stunden im Kreis von lieben Gästen zu bewahren. Die liebevoll ausgewählten Bilder bekannter Maler, auf denen die Themen Essen und Trinken, Feiern und Geselligkeit dargestellt werden, dienen dabei als Anregung, sich in das Gästebuch einzutragen und dort die Besonderheiten des Abends hervorzuheben. Legt man BRINKERS (1992) Textsortenklassifikation zugrunde, so kann man die Kontaktfunktion als dominant ansehen. Das (einseitige) KONTAKTIEREN durch den Gast stellt die generelle Voraussetzung für den Eintrag dar, welcher wiederum selbst der K O N T A K T B E S T Ä T I G U N G oder gar der KONTAKTÜBERHÖHUNG dient. Da hierzu durchaus mehrere Handlungen gleichzeitig vollzogen werden können – ANERKENNEN, DANKEN, EHREN, SICH FREUEN , SICH ALS INTELLIGENTER TEXTER PRÄSENTIEREN , LOBEN usw. -, zeigt sich die für Rituale typische soziale Mehrsträngigkeit, die sich handlungslogisch am besten durch eine I N D E M - R e l a t i o n (a INDEM b = a b) darstellen läßt (HARRAS 1983). KONTAKT BESTÄTIGEN SICH VERABSCHIEDEN und/oder DANKEN und/oder FREUDE ZUM AUSDRUCK BRINGEN und/oder ANERKENNEN und/oder LOBEN und/oder RESÜMIEREN und/oder GLÜCK WÜNSCHEN und/oder USW. Abb. 1: Traditionelle Gästebücher Hajo Diekmannshenke: Elektronische Gästebücher. 57 Wir haben es mit einer Form (hand-)schriftlicher Kommunikation zu tun, die vom Gastgeber initiiert, dann aber im ‘Gästebuch’ selbst nur unidirektional vom Gast realisiert wird. Die Kohärenz der einzelnen Gästebucheinträge wird in diesem Falle fast ausschließlich – mit Ausnahme derjenigen, seltenen Einträge, die aufeinander Bezug nehmen, und im Falle einer späteren Lektüre durch den Eintragenden selbst oder durch andere Gäste – durch den ‘Buch’Charakter aller Einträge und das spezifische Wissen des Gastgebers um den jeweiligen situativen und sozialen Kontext realisiert. Ein weiteres Unterscheidungskrieterium liegt in den Graden der ‘Öffentlichkeit’ und der Unterscheidung von ‘Einladung’ und ‘Besuch’6 , wodurch Unterschiede auf den Ebenen der Funktions- und Situationstypen sichtbar werden. privat Einladung (privates) Gästebuch Besuch exklusiv (halb)öffentlic öffentlich h Goldenes Buch Gästebücher in Ausstellungen u.ä. Gästebücher im Internet Von ‘Einladung’ soll dann die Rede sein, wenn der Gastgeber seinen Gast explizit einlädt, also eine eindeutige und individuelle Adressierung vorliegt. Dies ist sowohl beim klassischen privaten ‘Gästebuch’ der Fall, als auch bei sog. ‘Goldenen Büchern’, wobei in diesem Fall ein Unterschied zwischen dem Status der einzelnen Gäste besteht. Während beim privaten ‘Gästebuch’ (allgemein) alle Gäste gleichberechtigt sind, darf sich in ein ‘Goldenes Buch’ nur derjenige Gast (oder diejenigen Gäste), dessenwegen die Einladung auch an die anderen Gäste ausgesprochen wurde, exklusiv eintragen, wobei dieser Eintrag in aller Regel nur in der persönlichen Unterschrift besteht. ‘Besuch’ definiere ich dagegen als den individuellen Entschluß – ohne vorhergehende 6 Mir ist bewußt, daß in diesem Fall aus Gründen der Abgrenzung untereinander ein gegenüber dem Alltagssprachgebrauch abweichender Lexemgebrauch zugrundegelegt wird. Selbstverständlich kann man jemanden auf eine Einladung hin ‘besuchen’, andererseits kann z.B. ein Künstler ganz allgemein zum Besuch seiner Ausstellung z.B. per Anzeige oder Plakat einladen. ZfAL 31, 1999. 49-75. 58 explizit an die jeweilige Person gerichtete Einladung -, die Räume einer Privatperson, wie einer Ausstellung oder eines Basketballspiels oder eines anderen (öffentlichen) Ereignisses zu betreten. ‘Halböffentlich’ soll dies genannt werden, weil dieses Ereignis zwar grundsätzlich öffentlich ist, aber bestimmte Vorbedingungen enthält, die den Besuch einschränken, so z.B. den Erwerb einer Eintrittskarte oder die Buchung eines Urlaubs. Die Textbausteine – oder in der Terminologie von HEINEMANN/VIEHWEGER (1990) ‘Text-Strukturierungstypen’ – des Gästebucheintrags, die in ihrer Dreiteilung grundsätzlich dem Muster des ‘Briefs’ (ERMERT 1979) folgen7 , werden in spezifischer Weise ausgeformt8 : Obligatorische (und fakultative) Textbausteine eines ‘Gästebucheintrags’: (DATUM) (ANREDE) THEMATISCHER EINTRAG (SCHLUSSFORMEL) NAMENSNENNUNG 7 8 (HERKUNFT) (DATUM) Die wichtigsten Abweichungen vom Muster des ‘Briefs’ bestehen im grundsätzlichen Fehlen der Ortsangabe (Ort des Eintrags ist immer der Ort des ‘Gästebuchs’) sowie in der Fakultativität von Anrede, Schlußformel und Datum, wobei Letzteres nicht grundsätzlich realisiert sein muß, üblicherweise aber realisiert wird. Diese charakteristische Ausformung erlaubt denn auch die Verbreitung von ‘Gästebuch’Ratgebern, die Verse- und Sprüche-Suchenden entsprechendes anbieten (als Beispiel hierfür KUSS 1996). Hajo Diekmannshenke: Elektronische Gästebücher. 59 Direkte Anreden entfallen normalerweise, da der Besitzer des ‘Gästebuchs’ alleiniger Adressat ist (dies wird oft auch auf dem Umschlag oder Titelblatt durch die Nennung ‘Gästebuch XY’ vermerkt). Wird die Anrede jedoch realisiert, so folgt diese zwar dem Vorbild des Privatbriefs, dient aber weniger der (formalen) Eröffnung einer Sprachhandlung als der Versicherung der besonderen Wertschätzung des Angesprochenen. Die sich an eine mögliche Schlußformel anschließende Identifikation des Gastes beschränkt sich in den überwiegenden Fällen auf die Nennung des Vornamens (gelegentlich auch eines Spitz- oder Kosenamens), da die Gäste den Gastgebern persönlich bekannt und meist auch mit ihnen befreundet sind, oder des Vor- und Nachnamens, wenn die Beziehung einen formelleren Charakter (Vorgesetzte, KollegInnen usw.) aufweist. Orts- oder Adressenangaben können als absolute Ausnahmen gelten und dienen dann (z.B. „die Kölner“) der Aktualisierung einer bestimmten Komponente der persönlichen Beziehung zwischen Gast und Gastgeber. Ein sog. ‘InsiderSprachgebrauch’ (um nicht gleich von einer Sonder- oder Gruppensprache zu reden), der gleichfalls der Stabilisierung der sozialen Beziehung dient, ist hier gelegentlich zu beobachten. Insgesamt dient der Gästebucheintrag der Etablierung und/oder Stabilisierung der sozialen Beziehung zwischen Gast und Gastgeber. Der thematische Eintrag wird von dieser Funktion dominiert. So kann es nicht überraschen, daß neben dem Rückgriff auf literarische Kleinformen expressiv-emotionale Sprechhandlungen vorherrschen (DANKEN, SICH FREUEN, GLÜCKWÜNSCHEN, GRATULIEREN, HOFFEN, VERSPRECHEN usw.) und die Wahl der lexikalischen Mittel bestimmen. Zudem erfüllt der Eintrag für den Gast die Funktion des SICH VERABSCHIEDENS von seinem Gastgeber. Der folgende Eintrag kann deshalb in seiner Reduzierung auf die obligatorischen Textbausteine als exemplarisch angesehen werden. Ich genieße die Stunden hier außerhalb des Kurses, wo ich kein Blatt vor den Mund nehmen muß, sprich, lästern kann Aloys privates Gästebuch ‘Gästebücher’ in Ausstellungen u.ä. gehören zu einem anderen Funktionstypus. Der jeweilige Gastgeber, der für den Gast normalerweise nicht mehr als Person erkennbar ist, wünscht sich (schriftlich realisierte) Reaktionen der Besucher. Die soziale Komponente tritt deutlich hinter die der 60 ZfAL 31, 1999. 49-75. Information zurück. So verwundert es auch nicht, daß thematisch naheliegende Textsorten wie Kunst- und andere Kritiken oder Kommentare von ROLF (1993: 191ff.) unter die assertiven Textsorten eingeordnet werden. Dementsprechend werden einige der oben genannten Textbausteine in markanter Weise verändert. Zwar ist auch hier eine Anrede eher selten, dies findet u.U. seine Erklärung darin, daß kein persönlicher d.h. individueller Adressat erkennbar ist. Dagegen kommt der Identifikation des Eintragenden ein wichtiger Stellenwert zu. Die Nennung von Name und ggf. Titel und Beruf dienen als Ausweis der Kompetenz und Seriosität des thematischen Eintrags – entsprechend dem erwartet hohen Informationsgehalt einer assertiven Textsorte. Anders als im Falle der bereits genannten Kritiken herrscht in der Praxis der Einträge jedoch keine kritisch-distanzierte, sondern meist eine affirmative Haltung vor. Wertende Sprechhandlungen des LOBENS, DANKENS , BEWUNDERS , SICH FREUENS u.ä. herrschen dementsprechend vor. Der Grund dafür dürfte einerseits im Verständnis der Rolle des Gastes, dem die Höflichkeit verbietet, Ereignisse allzu kritisch zu werten oder gar Mißstände offen zu kritisieren, andererseits in dem (vermeintlichen) Textsortenwissen, daß ‘Gästebücher’ eher Ort des Lobs denn einer negativen Kritik sind, liegen. Die Eintragenden ordnen sich damit (unbewußt) in eine Textsortentradition ein und führen diese gleichzeitig fort. Die erwartete Informativität und Rückmeldung dürfen in einer kritischen Sicht nicht zu hoch veranschlagt werden.9 Vergleicht man das private ‘Gästebuch’ mit seinen halböffentlichen Varianten, so verbindet sie über die genannten Merkmale hinaus die Tatsache, daß der Gast persönlich oder durch einen Hinweis im oder am ‘Gästebuch’ zu seinem Eintrag explizit aufgefordert wird, Ihre Meinung ist uns wichtig. 9 Interessant wäre es in diesem Zusammenhang, inwieweit solche ‘Gästebücher’ ausgewertet und möglicherweise daraus Konsequenzen gezogen werden. Anfragen an Museen und andere Institutionen hinsichtlich der elektronischen ‘Gästebücher’ ergaben, daß die meisten Anbieter solche Anregungen und Kritiken ernstnehmen und vielfach auch darauf reagieren. Auf der Eintragsseite des ‘Gästebuchs’ der ‘Sportschau’ wird dies ausdrücklich vermerkt: „Liebe Gäste, Danke für die zahlreichen Anregungen, die Sie uns für die ‘neue’ Sportschau-online zugeschickt haben. Wir sind überzeugt davon, daß wir dank Ihrer Mithilfe ein tolles Angebot aus Information und Unterhaltung hinkriegen werden.“ (http://www.sportschau.de/gaesteb.html) Hajo Diekmannshenke: Elektronische Gästebücher. 61 Gästebuch Hotel Gardenia Beach/Karaburun (Türkei) dieser jedoch ein bloßes Nebenprodukt im Rahmen eines anderen, wichtigeren Ereignisses darstellt. Niemand besucht Freunde, eine Ausstellung oder fährt in Urlaub, um sich in ein möglicherweise vorhandenes Gästebuch einzutragen und/oder bereits vorhandene Einträge zu lesen. Letzteres ist zwar nicht generell nur dem Gastgeber vorbehalten, wird normalerweise aber vor allem von ihm ausgeführt. Der eintragende Gast liest zumeist entweder überhaupt keine anderen Einträge oder nur solche, die in unmittelbarem Zusammenhang mit seinem eigenen stehen, z.B. von anderen Gästen derselben Feier. Dies dann vor allem wohl dazu, Anregungen für den eigenen Eintrag zu erhalten, indem man schaut, was ‘die anderen’ geschrieben haben, was dann auch zu den eher selten zu beobachtenden Rückbezugnahmen auf andere Einträge führt: Rosi hat gesagt: „Nimm den Stift und fang an zu schreiben. Ich unterschreib dann.“ So hab’ ich’s getan. Wir harren der Dinge, die kommen ... [...] Martin hat gesagt: „Es gibt berufenere Leute als mich zum Reinschreiben.“ Man hat mich ausersehen, ein paar Zeilen zur Einführung zu schreiben. Zur Einführung alles Gute von uns Willi + Hanna Da mich derartige Schreib-Anforderungen sowieso immer ratlos zurücklassen, schließe ich mich den Vorherschreibenden in ihrer tief mitempfundenen Ausdruckslosigkeit vollgültig an. Martin K. privates Gästebuch (alle Einträge) Auch gelegentliche Kommentare zu fremden Einträgen sind zu beobachten, triadische kommunikative Strukturen gehören aber dennoch zu den seltenen Erscheinungen. Ein unglaublicher Urlaub geht zu Ende! 62 ZfAL 31, 1999. 49-75. Wir bedanken uns bei allen für diesen aufregenden und schönen Urlaub!!! 31.7.98 Kathrin + Steffi Du Schwein! [Anonym] Na, na, na, wer hat denn da sooo schmutzige Gedanken ... Da hat wohl jemand etwas mißverstanden. Nochmals K. + S. Hotel-Gästebuch 4.2 Elektronische Gästebücher Internet-Gästebuch der Telekom Baskets Bonn Stand am Anfang die Frage, wer im Internet elektronische Gästebücher anbietet, so soll deren Analyse mit der Gegenfrage begonnen werden: Welche Hajo Diekmannshenke: Elektronische Gästebücher. 63 Institutionen bieten keine Gästebücher an10 ? Behindertenorganisationen, Unternehmen, Archive, Verlage, kleinere Fachmuseen, Jugendherbergen, Reiseveranstalter, Universitäten, der LINguistik Server Essen (LINSE). Ein möglicher Grund könnte darin liegen, daß den Web-Seiten-Betreibern Gästebücher als zu wenig seriös erscheinen. Warum aber erfreuen sich ‘Gästebücher’ im Internet11 solcher Beliebtheit? Für diese Einschätzung spricht zum einen die große Zahl dieser Dokumente, andererseits aber auch die oft recht hohe Anzahl der Einträge in den einzelnen `Gästebüchern’. So weist z.B. „Gabis und Thomas Hochzeitsseite“ insgesamt 131 Einträge auf, Karins Gästebuch 226, der Bonn EXPRESS (http://et.cologneguide.de/scripts/express/gaeste/g_finde.cfm) 634, das ‘Gästebuch’ der Stadt Dessau (http://www.Stadt-dessau.de) sogar 903, während das ‘Gästebuch’ der Telekom Baskets Bonn (Basketball-Bundesligaverein; http://www.telekombakets-bonn.de/interactive/guestbook.pl), das seit Ende April 1996 existiert, inzwischen auch mehrere hundert Einträge verzeichnet.12 Neben Privatpersonen sind es wie anfangs bereits erwähnt Museen, Sportund andere Vereine, Verbände, Verlage, Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehsender, Parteien, Behörden und Institutionen, aber auch die Anbieter ‘spezieller Dienste’, die vorrangig den Usern die Möglichkeit eines Gästebucheintrags bieten. Während bei den traditionellen ‘Gästebüchern’ die privaten den überwiegenden Teil bilden, kann dies für das Internet nicht mit Bestimmtheit behauptet werden. Während Privatpersonen inzwischen oft eigene Homepages, in den vielen Fällen aber (noch) keine ‘Gästebücher’ (im Unterschied zu den Zugriffszählern) haben13 , scheint dies vielfach als Defizit angesehen zu werden, denn inzwischen gibt es im Internet eine große Zahl von Anbietern kostenloser ‘Gästebuchseiten’: 10 11 12 13 Die Schnellebigkeit des Internet fordert hinsichtlich dieser Angaben möglicherweise inzwischen schon wieder Korrekturen. Was gestern noch galt, ist morgen oft schon überholt. Die verschiedenen Dienste im Internet wurden schon vielfach dargestellt, zuletzt von RUNKEHL/SCHLOBINSKI/SIEVER 1998a, so daß an dieser Stelle darauf verzichtet werden kann. Genaue Zahlen sind auch hier kaum zu ermitteln, da nur sehr wenige Gästebücher über eine Eintragszählung verfügen. Die große Zahl der Dokumente, die ‘Gästebücher’ enthalten, lassen keine absolut zuverlässigen Aussagen hierüber zu. 64 ZfAL 31, 1999. 49-75. Sicher kennen Sie das Problem: da hat man nun bei seinem Internetprovider / Onlinedienst eine kostenlose Homepage mit X Speicherplatz, muß aber auf solche Nettigkeiten wie ein Gästebuch verzichten, nur weil der Provider es nicht erlaubt CGI-Scripts auf Ihren Seiten einzubinden. [...] FreeGuest hilft Ihnen, Ihre Seite trotzdem mit einem Gästebuch auszustatten. [...] Bereits ca. 30 Sekunden nach der Registrierung ist Ihr kostenloses Gästebuch verfügbar und die ersten Gäste können sich eintragen (sofern Sie es schaffen in 30 Sekunden Ihre Homepage zu aktualisieren :-) ) (http://www.myweb.de/home/kostenlos_freeguest.html) Die technischen Möglichkeiten des Internet und der dort erhältlichen Software führen zumindest innerhalb einer gewissen ‘Szene’ zur Herausbildung bestimmter Standards für die Gestaltung der eigenen Homepage, wozu offensichtlich auch ein elektronisches ‘Gästebuch’ gehört. Was aber auch dazu führt, daß einzelne Homepages in ihrem Umfang immer weiter zunehmen und die Zahl der Seiten permanent ansteigt. Im Unterschied zu den traditionellen ‘Gästebüchern’ sind ihre elektronischen Verwandten als generell öffentlich einzustufen. Die oben genannten besonderen Bedingungen, die dort der Besucher vorfindet, gelten hier nicht. Der Zugang zum ‘Gästebuch’ ist grundsätzlich und unbeschränkt möglich. Allein technische Gründe können dies – wie alle anderen Aktivitäten im Internet – verhindern oder erschweren. War ganz zu Anfang vom Gast die Rede, so ist diese Bezeichnung hier zu überprüfen bzw. zu modifizieren. Der User im Internet benötigt keine Einladung mehr, ihm genügt der oft zufällige Link auf eine entsprechende Seite. Und auch die Rolle des Gastgebers hat sich verändert. Mußte der ursprünglich besondere Bedingungen schaffen, die erst einen Eintrag ermöglichen (Einladung zu einer Feier, Ausstellung usw.), so reicht nun die bloße Existenz einer solchen Internetseite aus. Aus dem Gastgeber, der eine Beziehung zu seinem Gast eingeht oder aufbaut, wird der Gestalter der Internetseite, der Gast hingegen ähnelt eher einem InternetFlaneur, der auf seinem Spaziergang durchs Internet einen zufälligen Blick in die jeweiligen Auslagen wirft und ggf. seine auch für andere User dort sichtbare Spur hinterläßt (DIEKMANNSHENKE 1999). Hajo Diekmannshenke: Elektronische Gästebücher. 65 Hallöchen, ich wollte mich nur mal hier eintragen. Bis die Tage und viele Grüße, Vanessa !!! privates Internet-Gästebuch Hallo ! Danke für Deinen Eintrag in mein Gästebuch. Ich weiß zwar nicht, wer Du bist, aber trotzdem schöne Grüße aus GL privates Internet-Gästebuch Während der erste Eintrag allenfalls in einem ‘Museeumsgästebuch’ o.ä. als ‘Albernheit’ denkbar wäre, fehlen für das zweite Beispiel vergleichbare Einträge in traditionellen ‘Gästebüchern’. Wohl kaum jemand würde sich in das ‘Gästebuch’ eines ihm fremden eintragen oder als Gastgeber einen ihm gänzlich Unbekannten bieten, sich mal eben einzutragen. Daß es sich hier nicht um zufällige Einzelbeispiele handelt, zeigen die – in manchem Formular enthaltenen – Hinweise, wie jeweils einzelne User auf Homepage und Gästebuch gestoßen sind. So enthalten 75 von den insgesamt 131 Einträge auf der bereits genannten „Hochzeitsseite“ die Angabe „Zufällig reingesurft!“. So stehen solche elektronischen Gästebucheinträge dem Graffito, den ‘Klosprüchen’ und den Einritzungen in Schulbänke und Bäume näher als den historischen Vorläufern unserer Textsorte, ohne allerdings noch ‘handschriftlich’ oder ‘handwerklich’ zu sein. Jedoch sind es nicht nur die Internet-Flaneure, die das ‘Gästebuch’ für neue Zwecke nutzen, auch die Anbieter dieser Kommunikationsforen haben bereits ein verändertes Verständnis von den Aufgaben eines elektronischen ‘Gästebuchs’, wie die Eintragsseiten des Internationalen Zeitungsmuseums Aachen (http://www. izm.de) oder der F.D.P. (http://www.fdp.de) belegen: Das Gästebuch steht allen offen, die uns Kritik und Lob mitteilen wollen, oder die einfach nur sagen wollen „ich war hier!“. Haben Sie sich auch schon eingetragen? Internet-Gästebuch des Internationalen Zeitungsmuseeum Aachen Hier können Sie uns schreiben, was Ihnen an unseren www-Seiten gefallen hat oder was Sie ändern würden. Aber Sie dürfen natürlich auch gern einfach nur Hallo sagen oder andere Onliner grüßen. Internet-Gästebuch der F.D.P. Dennoch existieren auch weiterhin Einträge, die in der Tradition der ‘alten Gästebücher’ stehen, Lob und Kritik äußern oder sich des Mittels des 66 ZfAL 31, 1999. 49-75. ‘Sinnspruchs’, der Nachdenklichkeit oder auch des (hier selbstverfaßten) Gedichts bedienen, wobei der letzte Eintrag offensichtlich intertextuell Bezug auf die Textsortentradition bezugnimmt: Diese Ausstellung macht ein starker Eindruck auf mich. Sie sind sehr informativ ueber die Bedingung deutscher Staedte. J.W. Internet-Gästebuch des Deutschen Historischen Museums Berlin In einer Welt, in der alles schon einmal fotografiert wurde, wird es immer schwerer herausragendes zu leisten, wie Robert Capra es einst tat. S.H. Internet-Gästebuch des Deutschen Historischen Museums Berlin Sauna ist wohl die beste und wirkungsvollste Entspannung für Körper, Geist und Seele Darkman Internet-Gästebuch der ‘Saunaseite’ Die Seiten hier, fei werkli wahr die sin bestimmt ganz wunderbar Mit diesem von mir in aller Schnelle gedichteten Gedicht in fränkisch, will ich ausdrücken, daß ich die große Kreativität und Arbeitskräfte der Karl-May-Anhänger immer wieder bewundere. Bedauern muß ich, daß ich nirgendwo einen Hinwies auf die ganz neu geplante EsperantoAusgabe von Karl May gefunden habe. Deshalb schließe ich in Esperanto: Bonege, bonege viaj pagxoj, sed bedaurinde mankas la indiko a la nova libro en Esperanto kore kaj amike via Bernhard Maurer membro de la Karl-May-Gesellschaft Internet-Gästebuch der Villa „Shatterhand“ Tach, ich schau mir gerade mal Deine Seiten an. Hajo Diekmannshenke: Elektronische Gästebücher. 67 Bis bald Peer Ps: Noch ein kleines Gedicht aus den alten Zeiten: Du guter Mond wenn ich Dich seh denk ich an meine Plage. Du bis nuur all 4 Wochen voll ich an jedem tage. Privates Internet-Gästebuch Sind die Einträge in den traditionellen ‘Gästebüchern’ grundsätzlich handschriftlich, so können sie in elektronischen nur mittels der Tastatur erfolgen. Während in der traditionellen Form der Gast selbst über das Aussehen seines Eintrags entscheidet – legt er Wert auf das Schriftbild oder nicht, verschmückt er seinen Eintrag o.ä. -, gibt dies nun weitgehend das jeweilige Formular vor. War die Handschriftlichkeit des ‘Gästebuchs’ auch Ausdruck der Persönlichkeit des Eintragenden, ein Gedanke, der besonders in der Graphologie gepflegt wird und der heute noch bei manchen Einstellungsverfahren eine nicht unbeträchtliche Rolle spielt (man denke an handschriftliche Lebensläufe), so hat diese im Internet keine Bedeutung mehr. Einträge in elektronische ‘Gästebücher’ sind Einträge in Formulare, die die Struktur des Eintrags und anschließend auch deren Präsentation auf dem Monitor (welche zudem noch vom benutzten Browser abhängig sein kann) wesentlich festlegen. Anders als in der E-Mail (GÜNTHER/WYSS 1996) bleibt hier (bislang) kein Raum für die Einbindung selbstgestalteter Bilder, Zeichnungen oder ähnlicher Schmuckelemente, wie sie traditionellerweise üblich waren. Das bezeichnenderweise meist ‘Kommentar‘14 genannte Feld erlaubt nur den Einsatz derjenigen Mittel, die die spärliche PC-Tastatur zuläßt und die zur Herausbildung jener für Internet- und E-Mail-Kommunikation typischen neuen Zeichencodes wie ‘Emoticons’ (SANDERSON 1995), der Verschriftlichung von Körperhandlungen (JAKOBS 1998), eines speziellen ‘Jargons’ (W ICHTER 1991: 91f.; RA Y M O N D 1996) und Aspekten von jugendsprachlichem Gebrauch (WETZSTEIN ET AL. 1995: 81f.) geführt haben, 14 Allerdings scheint dies auf eine fehlerhafte Übersetzung des engl. ‘comment’ zurückzugehen, womit nicht nur ‘Kommentare’, sondern ganz allgemein ‘Bemerkungen’ gemeint sind. Besonders deutlich wird dies beim ‘Gästebuch’ des Museums der Arbeit in Hamburg, dessen Formular den zweisprachigen Hinweis enthält: „Ihr Kommentar / Your Comment“ (http://www.hamburg.de/Behoerden/Kulturbehoerde/cgi-bin/mda_gaeste.pl). 68 ZfAL 31, 1999. 49-75. die in erster Linie der Kompensation non- und paraverbaler Kommunikationsignale dienen und durchaus als Charakteristikum dieser Kommunikationsformen angesehen werden können (L ENKE /S CHMITZ 1995: 122ff.), wobei inzwischen eine ganze Reihe von ihnen den Status partieller Konventionalisiertheit erreicht haben (DIEKMANNSHENKE 1997: 161f.). Gleichzeitig kann man den Einsatz dieser Mittel als bei vielen Usern üblich, aber auch zur Kompensation eingeschränkter Kreativität seitens der technischen Bedingungen dienend ansehen. hoo-ya primel! Sehr schöne HP...bin auch grad dabei mir ne zu bauen und hoffe daß sie nur halbso gut wird wie deine!!!!bis denn c ya (-: Fantasy-Internet-Gästebuch hi primel....welch nette hp genau so, wie man es sich eben von einer primel vorstellt ;o)) danke für die lieben grüße,wenn ich ausgebrütet habe,wirst du die erste sein,die ein windelkartonfoto vom ersten waldbaby bekommt,ok??!! *liebknuddel* Bea Fantasy-Internet-Gästebuch hallo Bernd, eine lustige Hp hast du,gefällt mir gut, schöne Kühe...(und ich bin auch noch Metzger *lol*15 viele Grüße Udo privates Internet-Gästebuch Zwar dienen alle drei Einträge dazu, soziale Beziehungen zu etablieren bzw. zu stabilisieren, dennoch handelt es sich um Mischformen, die jeweils auch einen wertenden ‘Kommentar’ (hier zur vorliegenden Homepage) enthalten. Wird die Bandbreite der individuellen Gestaltungsmöglichkeiten durch die Formularvorgaben drastisch eingeschränkt, so hat der Gast auch praktisch keinerlei Einfluß mehr auf die Präsentation seines ‘Kommentars’. Ob hier Schmuckelemente eingebunden werden, wie es z.B. beim ‘Gästebuch’ der 15 Laughing out loud. Solche ausschließlich englischen Akronyme, die auch in deutschsprachigen Newsgroups, IRC-Kanälen und E-Mails üblicherweise verwendet werden (HAASE/HUBER/KRUMEICH/REHM 1998: 83), finden immer mehr Verbreitung auch in ‘Gästebüchern’. Zur Verschriftlichung von Körperaktionen siehe auch JAKOBS 1998. Hajo Diekmannshenke: Elektronische Gästebücher. 69 Telekom Baskets der Fall ist, ob ein farbiger Hintergrund benutzt wird, der mitunter das Lesen erschwert, ob Randleisten, Werbeelemente, Links u.a. die Präsentation des Eintrags beeinflussen, entzieht sich dem Einfluß des Gastes. Vergleichbar dem Unterschied im Erscheinungsbild zwischen Privat- bzw. Geschäftsbrief und E-Mail werden in jeden Eintrag automatisch vom Formular erzeugte Informationen eingebunden (GÜNTHER/WYSS 1996: 64f.; H A N D L E R 1996: 251f.). So verändern sich auch die TextStrukturierungsmittel in markanter Weise. Ansonsten fakultative Elemente wie Datum und Herkunft werden hier automatisch erzeugt und angezeigt, wobei ersteres wie in diesem Medium üblich um die Uhrzeit des Eintrags ergänzt wird16 , letzteres aber nicht mehr die reale Herkunft des Gastes, d.h. seinen Wohnort, sondern seine virtuelle Heimat meint, also URL und E-MailAdresse. Manche Formulare numerieren die einzelnen Einträge und ergänzen selbständige fehlende Angaben, was den Formular- und Listencharakter der Einträge noch stärker unterstreicht: 217 Datum: 21.8.98/11:25 Unknown (no email / no homepage ): Wir sind ein Internetcafé für Mädchen und Frauen und haben uns für unsere Recherchen Frauenpages angesehen. Deine hat uns sehr gut gefallen. Das Team vom Surf in galaxy. privates Internet-Gästebuch Im Gegensatz zum Befund von S CHMITZ (1996, 1997), daß eine quasi ‘rekatholisierte’ Bildgläubigkeit mit einer eher räumlichen als flächigen Ordnung die ‘protestantische’ Schriftgläubigkeit der Literatur ablösen werde, muß für elektronische ‘Gästebücher’ der (bislang) umgekehrte Pozeß konstatiert werden. Eine asketische, rein textliche Gestaltung dominiert diese Textsorte, und auch andere Kennzeichen von Webseiten fehlen (bislang). So finden sich allenfalls Links und E-Mail-Adressen der Gäste, vereinzelt auch Banner und der Einsatz von HTML zur Schriftgestaltung17 , Multimedialität 16 17 Im Privatbrief findet sich gelegentlich auch die Angabe von Uhr- oder Tageszeiten. Diese dient jedoch dazu, eine bestimmte Atmosphäre beim Rezipienten zu erzeugen, für den es vielleicht wichtig ist, daß gerade dieser Brief spätabends noch geschrieben wurde. Auf diese Möglichkeit und deren Realisierungsversuche in einzelnen Gästebüchern hat mich Gurly Schmidt (Konstanz) aufmerksam gemacht. 70 ZfAL 31, 1999. 49-75. und Bildhaftigkeit fehlen praktisch vollständig. Die Individualität des Eintrags besteht letztlich ausschließlich im Eintragstext, in der E-Mail auch ‘Body’ genannt (W ETZSTEIN ET AL. 1995: 74), prinzipiell erscheinen alle Einträge in ihrer Ansicht gleich und nehmen deswegen eher den Charakter von Listen an. Gerade diese asketische Konzentration auf den ‘reinen’ Text des Eintrags rückt den Sprachgebrauch der User in den Vordergrund der Betrachtung. Teilweise ähnelt er dem in Newsgroups, Chats und E-Mails. Die mehrfach konstatierte Nähe zur Mündlichkeit (zuletzt HAASE/HUBER/KRUMEICH/REHM 1997 und JAKOBS 1998) und hier besonders Dialogizität, Spontaneität und Emotionalität (KOCH/ÖSTERREICHER 1985) finden ihren Niederschlag auch in einer Vielzahl von Gästebucheinträgen. In ihrem Sprachgebrauch stehen diese Einträge dem in anderen elektronischen Kommunikationskanälen näher als dem ansonsten üblichen Sprachgebrauch in traditionellen Gästebüchern, die sich zwar oft eines Stils der Vertrautheit der Kommunikationspartner untereinander bedienen, aber sich dennoch eher an Schriftlichkeit orientieren. „In manchen Newsgruppen beeinflußt sogar eine gewisse Privatheit und Vertrautheit der Kommunikationsteilnehmer die Äußerungen, besonders in Gruppen, an denen sich nur wenige Teilnehmer aktiv beteiligen und die deshalb schon sehr vertraut miteinander sind, auch wenn sie sich wahrscheinlich niemals persönlich kennengelernt haben. Beiträge aus Newsgruppen entstehen unter einer ähnlichen Kommunikationssituation wie der des Briefeschreibens und folgen in ihrem Aufbau der Briefstruktur.“ (FELDWEG /K IBIGER/THIELEN 1995: 143) Dieser Befund hat gleichermaßen Geltung für (viele) Gästebucheinträge, wobei sich hier kleinere InsiderGruppen herausbilden können, die das Gästebuch als neuartiges Kommunikationsforum nutzen (DIEKMANNSHENKE 1999). Versicherung und Pflege bzw. Stabilisierung dieser Insidergruppe gehört zu den wesentlichen Aufgaben der Gästebucheinträge solcher Internetnutzer. Die Benutzung gruppenkonstituierender Insider-Ausdrücke (JAKOBS 1998: 194) und -Namen zählt hierbei zu den wesentlichen Stilmitteln und findet ihre Parallele im Sprachgebrauch Jugendlicher (SCHLOBINSKI/KOHL/LUDEWIGT 1993): Hey guden jungs ich fahr seit drei ein halb jahren Flatland , hab 10 jaehrchen in Darmstadt gewohnt (einen fetten gruss an alle durchgefoehnten in Darrstadt) und jetzt bin ich umgezogen ....So’n bisschen nach Sued America in Paraguay die Population der BMX rider ist hier von genau 5 Hajo Diekmannshenke: Elektronische Gästebücher. 71 leuten ,unglaublich ich einer von fuenf in 5 millionen ... end lustig ... naja ich werde nie aufhoeren auch wenn die andereb [sic] Byker langsam zu alt werden ... Bla..bla bla bla..So , einfach ein gruss nach Deutschland. PS:Scheisst auf die Rechtschreibung BMX-Internet-Gästebuch Die Seite ist wirklich Spitze gemacht!!! Ich interiessiere mich am meisten für Railsim und Bahn. Wann kommt eigentlich die Streckenbörse für Bahn? Internet-Gästebuch eines Modelleisenbahnfans Nur wer am gruppenspezifischen Diskurs der Biker oder der Modelleisenbahnfans regelmäßig teilnimmt, versteht diese Einträge vollständig. Abweichend vom traditionellen Gästebucheintrag, der eine explizite Anrede eher vermeidet und auch nur vereinzelt Schlußformeln beinhaltet, ist dies in elektronischen Gästebucheinträgen weitaus häufiger zu beobachten. Die Erklärung für diese Erscheinung liegt in der prinzipiellen Öffentlichkeit dieser Gästebücher begründet. Wird der Kontakt mit anderen Nutzern gesucht, so erfordert dies eine – zumindest für den fokussierten Adressaten – eindeutige Adressierung. Er oder sie muß explizit wissen, daß er/sie auch gemeint ist, um damit die beziehungsstabilisierende Funktion des Eintrags (und auch insiderspezifische Informationen) erkennen zu können. Liebe Claudia! Meine Mama hat immer gesagt: Es gibt kein schlechtes Wetter, sondern nur die unpassende Kleidung. Uebrigens: Seit Goettingen 1992/93! (nur fuer Insider) M.P. Internet-Gästebuch des Telekom Baskets Bonn WIR GRÜßEN HANNES HORST UND SONST NIEMANDEN! (und die Baskets, sonst wird unser Eintrag sofort wieder gelöscht) HaHa-Fan Club Internet-Gästebuch des Telekom Baskets Bonn ZfAL 31, 1999. 49-75. 72 Mensch Udo, Altes Haus! Du bist herzlich eingeladen am Chat teilzunehmen, dann kannst Du unserem Helden ja mal persönlich Deine Meinung sagen, bin gespannt ob Du den Mut dazu hast. Jürgen Internet-Gästebuch des TV Tatami Rhöndorf (BasketballBundesligaverein) Die Bezugnahme auf andere Einträge, also eine eher triadische Kommunikationsstruktur, ist in traditionellen ‘Gästebüchern’ eher selten. In ‘elektronischen Gästebüchern’ wird diese Möglichkeit von den Internetflaneuren dagegen wesentlich stärker und von manchen sogar systematisch genutzt. Der Grund hierfür liegt einerseits indem bei Internetusern grundsätzlich zu beobachtenden Bestreben, die Möglichkeiten dieses Neuen Mediums kreativ (für die eigenen Zwecke) zu nutzen, andererseits aber auch darin, daß der öffentliche Charakter des Internets ein häufiges ‘Besuchen’ der ‘Gästebücher’ erlaubt. Zwischen den mehrfachen Einträgen derselben Gäste in traditionellen privaten ‘Gästebüchern’ liegen oft lange Zeitspannen, und Ausstellungen werden von der überwältigenden Zahl der Gäste nur einmal besucht. Zudem dürfte kaum jemand ein zweites Mal kommen, nur um die seit seinem ersten Besuch erfolgten Einträge zu lesen. Das Internet und seine ‘Gästebücher’ bieten dagegen diese Möglichkeit. 5. Fazit Schaut man auf die erstaunlich hohen Nutzerzahlen elektronischer Gästebücher, so kann man mit Fug und Recht behaupten, daß das Internet dieser Textsorte zu neuer Vitalität verholfen hat. Doch nicht allein die Wiederbelebung ist zu konstatieren, sondern neben der eher traditionellen Nutzung, wie sie vielfach derzeit und sicher auch weiterhin noch zu beobachten ist bzw. sein wird und wie sie sich in der Nutzung traditioneller Eintragsformen zeigt, kann ein deutlicher Strukturwandel ausgemacht werden. Die traditionelle handschriftliche Individualität wird abgelöst vom Listencharakter elektronischer Formulare, die vorherrschende ritualisierte Dankesformel zur Etablierung und Stabiliserung sozialer Beziehungen und als Akt der Erinnerung wird zunehmend abgelöst von neuen Kommunikationsformen und -möglichkeiten, die das elektronische ‘Gästebuch’ zu einem Ort virtuellen Klatsches und Tratsches fortentwickelt Hajo Diekmannshenke: Elektronische Gästebücher. 73 (D IEKMANNSHENKE 1999). Aus dem Gast ist längst ein Internetflaneur geworden, der das virtuelle kommunikative Angebot sichtet und für seine Zwecke zu nutzen weiß. Nicht mehr DANKEN und SICH VERABSCHIEDEN sind wesentliche Handlungsfunktionen der Gästebucheinträge (vielleicht mit Ausnahme von Einträgen in Internet-Museums-Gästebücher u.ä.), sondern ein GUTEN TAG-SAGEN des Internetflaneurs, der dadurch KONTAKT PFLEGEN und zugleich SICH PRÄSENTIERT. Daraus ergibt sich für elektronische Gästebücher folgendes Texthandlungsmuster: SICH PRÄSENTIEREN und KONTAKT PFLEGEN BEGRÜSSEN und/oder FRAGEN und/oder FREUDE ZUM AUSDRUCK BRINGEN und/oder AUSKUNFT GEBEN und/oder LOBEN und/oder RESÜMIEREN und/oder GLÜCK WÜNSCHEN und/oder USW. Abb. 2: Elektronische Gästebücher Noch behauptet das ‘Alte in Neuen Medien’ (HOLLY 1996) seinen Platz, aber vielleicht werden elektronische ‘Gästebücher’ dank ihrer unübersehbaren Attraktivität für LeserInnen und SchreiberInnen gleichermaßen die Vorstellung von einer ‘überlebten’ Textsorte endgültig aus den Köpfen der User getilgt haben. Literatur Adamzik, Kirsten 1995: Textsorten – Texttypologie. Eine kommentierte Bibliographie, Münster Brinker, Klaus 1992: Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden, 3. Aufl. Berlin 74 ZfAL 31, 1999. 49-75. Diekmannshenke, Hajo 1997: Öffentlicher Sprachgebrauch, in: Zeitschrift für Semiotik 19, 149-167 Diekmannshenke, Hajo 1999: Die Spur des Internetflaneurs. Elektronische Gästebücher als neue Kommunikationsform, in: Thimm, Caja (Hg.): Soziales im Netz: Sprache, soziale Beziehungen und Identität im Internet, Opladen [im Erscheinen] Döring, Nicola/Scholl, Wolfgang 1998: Psychosoziale Folgen der Internet-Nutzung, in: Spektrum der Wissenschaft. Dossier 1: Die Welt im Internet, 98-99 Duden 1993: Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in 8 Bänden, 2., völlig neu bearb. u. erw. Aufl., Mannheim [u.a.] Ermert, Karl 1979: Briefsorten. Untersuchungen zur Theorie und Empirie der Textklassifikation, Tübingen Feldweg, Helmut/Kibiger, Ralf/Thielen, Christine 1995: Zum Sprachgebrauch in deutschen Newsgruppen, in: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie, Bd. 50, 143-154 Grümmer, Gerhard 1990: Rostocker Stammbücher, Rostock Günther, Ulla/Wyss, Eva Lia 1996: E-Mail-Briefe – eine neue Textsorte zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, in: Hess-Lüttich/Holly/Püschel, 61-86 Haase, Martin/Huber, Michael/Krumeich, Alexander/Rehm, Georg 1997: Internetkommunikation und Sprachwandel, in: Weingarten, 51-85 Handler, Peter 1996: Zwischen „Flames“ und „Netiquette“. Elektronische Kommunikation als Sprachbiotop versus Textmülldeponie, in: Fill, Alwin (Hg.): Sprachökologie und Ökolinguistik. Referate des Symposions Sprachökologie und Ökolinguistik an der Universität Klagenfurt 27.-28. Oktober 1995, Tübingen, 247-267 Harras, Gisela 1983: Handlungssprache und Sprechhandlung. Eine Einführung in die handlungstheoretischen Grundlagen, Berlin, New York Heinemann, Wolfgang/Viehweger, Dieter 1991: Textlinguistik. Eine Einführung, Tübingen Henning, Hans 1989: Zur Entstehung und Inhalt der Stammbücher des 16. Jahrhunderts, in: Stammbücher des 16. Jahrhunderts, hg.v. Wolfgang Klose, Wiesbaden, 33-50 Herring, Susan C. (Hg.) 1996: Computer-Mediated Communication. Linguistic, Social and Cross-Cultural Perspectives, Amsterdam, Philadelphia Holly, Werner 1996: Alte und neue Medien. Zur inneren Logik der Mediengeschichte, in: Rüschoff, Bernd/Schmitz, Ulrich (Hgg.): Kommunikation und Lernen mit alten und neuen Medien, Frankfurt/Main [u.a.], 9-16 Jakobs, Eva-Maria 1998: Mediale Wechsel und Sprache. Entwicklungsstadien elektronischer Schreibwerkzeuge und ihr Einfluß auf Kommunikationsformen, in: Holly, Werner/Biere, Bernd Ulrich (Hgg.)1998: Medien im Wandel, Opladen, 187-209 Koch, Peter/Österreicher, Wulf 1985: Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte, in: Romanistisches Jahrbuch 36, 15-43 Kuß, Eva-Maria 1996: Verse für Gästebuch und Poesiealbum, Rastatt Püschel, Ulrich 1997: „Puzzle“-Texte – Bemerkungen zum Textbegriff, in: Antos, Gerd/Tietz, Heike (Hgg.): Die Zukunft der Textlinguistik. Traditionen, Transformationen, Trends, Tübingen, 27-41 Hajo Diekmannshenke: Elektronische Gästebücher. 75 Raymond, Eric S. 1996: The Jargon File [Version 4.0.0 v. 24.7.1996], Online, Available: ftp://prep.ai.mit.edu/pub/gnu/jarg400.txt.gz Rolf, Eckard 1993: Die Funktion der Gebrauchstextsorten, Berlin, New York Runkehl, Jens/Schlobinski, Peter/Siever, Torsten 1998a: Sprache und Kommunikation im Internet. Überblick und Analysen, Opladen Runkehl, Jens/Schlobinski, Peter/Siever, Torsten 1998b: Sprache und Kommunikation im Internet, in: Muttersprache 108, 97-109 Sanderson, David S. 1995: Smileys, Bonn Schlobinski, Peter/Kohl, Gaby/Ludewigt, Irmgard 1993: Jugendsprache. Fiktion und Wirklichkeit, Opladen Schmitz, Ulrich 1996: Zur Sprache im Internet. Skizze einiger Eigenschaften und Probleme, Online, Available: http://linse.uni-essen.de/papers/sprache_internet.htm Schmitz, Ulrich 1997: Schriftliche Texte in multimedialen Kontexten, in: Weingarten, 131158 Weingarten, Rüdiger (Hg.) 1997: Sprachwandel durch Computer, Opladen Wetzstein, Thomas A./Dahm, Hermann/Steinmetz, Linda/Lentes, Anja/Schampaul, Stephan/Eckert, Roland 1995: Datenreisende. Die Kultur der Computernetze, Opladen Wichter, Sigurd 1991: Zur Computerwortschatz-Ausbreitung in die Gemeinsprache. Elemente der vertikalen Sprachgeschichte einer Sache, Frankfurt/Main [u.a.] Adresse des Autors: Dr. Hajo Diekmannshenke Institut für Germanistik, Universität Koblenz-Landau, Abt. Koblenz Rheinau 1 56075 Koblenz Tel.: 0261/9119-238 Fax.: 0261/9119-209 e-Mail: [email protected]