Die Lunge und das Bildnis des Tigers
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Die Lunge und das Bildnis des Tigers
Die Lunge und das Bildnis des Tigers: Ein Beispiel für die Dekodierung der symbolischen Aufzeichnung Chinesischer Medizin Heiner Frühauf Die sechs Schwingungsmuster des Universums etablieren die beiden Leitbahnsysteme von Yin und Yang im menschlichen Körper. Diese sind folglich direkt mit den zwölf Monaten des Jahres, den zwölf Erdenzweigen, den zwölf Himmelsrichtungen, den zwölf Flüssen und den zwölf Zeitabschnitten des Tages verbunden. Die zwölf Leitbahnen repräsentieren daher die konkrete Art und Weise, in welcher die Organsysteme des menschlichen Körpers das Dao des Himmels empfangen und widerhallen lassen. -Huang Di Nei Jing Ling Shu, Kapitel 11 Auf der altchinesischen holographischen Landkarte, die Mikrokosmos und Makrokosmos zueinander in Beziehung setzt, ist das funktionale Netzwerk der Lunge mit dem ersten Frühlingsmonat des chinesischen Kalenders verbunden (etwa 5. Februar – 4. März).1 Entsprechend des Ansatzes, den ich ursprünglich in meinem Artikel „Die Wissenschaft der Symbole“2 dargestellt habe, sind alle Eigenschaften des ersten Frühlingsmonats ein direkter Fingerzeig und ein Schlüssel zu Definition und Verständnis der komplexen physischen, emotionalen, mentalen und spirituellen Funktionen der Lunge im Mikrokosmos des menschlichen Körpers. Die folgenden Ausführungen mögen © Copyright 2008 Heiner Frühauf, Ph.D., 2009 Markus Goeke classicalchinesemedicine.org · 1 die lunge und das bildnis des tigers: ein beispiel für die dekodierung der symbolischen aufzeichnung chinesischer medizin als Beispiel dafür dienen, in welch detaillierter Form Informationen über ein Organnetzwerk gewonnen werden können, indem man allein nur einen einzelnen aus der Vielzahl jener symbolischen Marker untersucht, die mit einer spezifischen Zeit des Jahres verbunden sind. Darüber hinaus mögen diese Erläuterungen klären, wie diese Informationen genutzt werden können, um diesen komplexen und mehrdimensionalen Typus von Mitteilungen schärfer (und mit äußerster klinischer Relevanz) ins Blickfeld zu rücken, indem sie zum traditionellen chinesischen Organnetzwerk in Beziehung gesetzt werden – eine Sichtweise, die sich in den Augen der meisten moderner Praktiker der Ostasiatischen Medizin extrem verwischt hat, die generalisiert und simplifiziert wurde. Bei dem in diesem Artikel behandelten Beispiel enthüllen sich eine Fülle wertvoller Details über die Physiologie und Pathologie des Lungennetzwerkes, indem wir unser Augenmerk auf ein einzelnes der vielen Symbole legen, die mit dem ersten Frühlingsmonat verbunden sind, namentlich auf die bildliche Darstellung des Tigers. Altchinesische Texte beschreiben die Eigenschaften und Funktionen des ersten Frühlingsmonats auf vielfältige Weise: (a) Beschreibung der Naturphänomene, die während des Zheng Yue auftreten (Zeng Yue: der erste Monat; wörtlich: Monat des rechten Beginns); (b) Beschreibung des Symbolgehaltes des mit ihm in Beziehung stehenden Erdenzweiges, Yin; (c) Beschreibung des Symbolgehaltes des mit ihm in Beziehung stehenden GezeitenHexagramms, Tai (Hexagramm 11); (d) Beschreibung der mit ihm in Beziehung stehenden Schwingungsfrequenz innerhalb der Natur, des „Kammertons“, Tai Cu; (e) Beschreibung der Naturphänomene, die während der mit ihm in Verbindung stehenden beiden saisonalen Schwingungsknoten landwirtschaftlicher Aktivität auftreten, Li Chun (Frühlingsbeginn) und Yu Shui (RegenWasser). Zusätzlich finden sich innerhalb einiger dieser Rubriken zahlreiche exegetische Subkategorien, die das etymologische Wortfeld ergänzen und vergrößern, das mit dem ersten Frühlingsmonat und, in Erweiterung, mit dem der Lunge assoziiert wird. Dies ist ein typisches Merkmal antiken Symbolismus’, der sich am besten durch die Verfahrensweise des Yi Jing veranschaulichen lässt, bei der eine Ebene symbolischer Darstellung durch eine andere erweitertet wird und diese wiederum durch eine nachfolgende. Im Fall des Yi Jing werden die Hexagramme zunächst weiter durch Piktogramme erklärt, die ihrerseits weiter durch Nummerierung erhellt werden. Alle drei Ebenen sind von Text begleitet, der durch Kommentare unterstützend interpretiert wird. Das Beispiel, das ich in diesem Artikel untersuchen möchte, ist die altchinesische Darstellung des Tigers, der in seiner Funktion als eine der Zwölf Shen Xiao3 eine hermeneutische Subkategorie darstellt, die den Symbolgehalt, den symbolischen Umfang des mit ihm assoziierten Erdenzweiges Yin erhellt und erweitert, und zwar auf einer Ebene, die sowohl einleuchtender als auch gefühlsmäßig treffender ist, als das Symbol des Zweiges dieses ersten Monats selbst. Überdies ist das Symbol des Tigers von doppelter Bedeutung. Einerseits ist es ein Verweis auf die unterschiedlichen Lungenfunktionen, andererseits handelt es sich um ein Tier, das mit der Himmelsrichtung Westen und der Jahreszeit Herbst verbunden ist, beides Verbindungen, die gemäß der Klassifikation nach den 5 Elementen mit der Lunge assoziiert werden. Das Folgende ist eine Liste derjenigen Charakteristika, die dem Tiger in den Aufzeichnungen der Han- und Prä-HanDynastie zu geschrieben wurden. Sie umfasst © Copyright 2008 Heiner Frühauf, Ph.D., 2009 Markus Goeke classicalchinesemedicine.org · 2 heiner frühauf sowohl mythologische als auch biologische und verhaltensmäßige Wesenszüge, die ihn als ein natürliches Emblem der Lungenfunktion im menschlichen Körper ausweisen: • Der Tiger wurde als das Oberhaupt der erdgebundenen Tiere betrachtet: „[Der Tiger] steht an der Spitze aller vierbeinigen Kreaturen.“ 百獸之長 (aus: Fengsu tongyi); „[Der Tiger] ist der Oberste aller Gebirgstiere.“ 獸之君 (aus: Shuowen jiezi). • Tiger schätzen einen erhöhten Standpunkt, bleiben aber fest mit der Domäne der Erde verbunden: Sie können nicht fliegen und haben Schwierigkeiten, Bäume zu erklimmen. • Tiger leben in der Wildnis 野外, der äußerlichsten Schicht des menschlichen Lebensraums (gemeint ist hier der Regenwald, der in chinesischen Texten häufig als Schicht der Körperbehaarung 皮 毛 der Erde dargestellt wird.). • Der Tiger hat traditionellerweise eine starke Verbindung zu einem anderen Aspekt dieser äußerlichsten Schicht, der Haut. Viele Kulturen schätzten das Fell des Tigers als die Haut der Häute, gepriesen für seine betörende Farbe und Zeichnung. Das chinesische Schriftzeichen für Haut Fu 膚 enthält das Wort Tiger Hu 虎. • Der Tiger ist ein Emblem für Schönheit, Aussehen und äußeres Erscheinungsbild. Das chinesische Wort für Haut ist gleichbedeutend mit dem für Schönheit, besonders hinsichtlich seines Ausdrucks für deren Farbe. Das Fell des Tigers ist von leuchtender Farbe und blendet den Betrachter (häufig assoziiert mit der Farbe der aufgehenden Sonne). Während die Wirkungen von Klang und Geruch im Allgemeinen mit den eher subtilen energetischen Aspekten der Welt in Beziehung gesetzt werden, repräsentiert Farbe die stoffliche Beschaffenheit und Schönheit der Materie und des physischen Körpers. • Die traditionelle bildliche Darstellung des Tigers steht für Stärke, Bewaffnung und Schutz. Der Tiger wird als „Yang-Tier“ beschrieben 陽物 (aus: Fengsu tongyi), geschützt durch die Festigkeit seiner Haut, durch seine „Waffen“ (Klauen und Zähne), sein donnerndes Grollen und seine Wildheit. Demzufolge nimmt man an, dass er die Kraft besitzt, (Yin-) Dämonen zu vertreiben, epidemische Seuchen eingeschlossen. Chinesische Schamanen trugen bei Geisteraustreibungen häufig Tigerfelle oder Tigermasken; Krieger verwendeten oft Tigerfelle auf ihren Schilden, Rüstungen oder Helmen, um die Feinde einzuschüchtern; in chinesischen Wohnräumen finden sich häufig Tigerdarstellungen, um böse Einflüsse fern zu halten. „Der Tiger verschlingt Dämonen und böse Geister. Wenn Menschen ein Unglück zugestoßen ist, verbrennen sie Tigerfell und trinken die aufgelöste Asche. Oder sie berühren eine Tigerklaue, die ebenfalls böse Einflüsse vertreiben kann.“ (aus: Fengsu tongyi). Im Gegensatz dazu, werden Menschen mit nackten, schwachen und hilflosen Kreaturen gleichgesetzt: „Menschen sind von Natur aus schutzlose Wesen, da ihnen scharfe Zähne und Krallen fehlen, ebenso wie dicke Muskeln und dicke Haut, um Hitze und Kälte abzuwehren.“ (Lü shi chunqiu, Kapitel 20). • Das Grollen des Tigers steht in Verbindung zu Donner und Wind: „Wenn der Tiger brüllt, erhebt sich der Talwind [Ostwind der Schöpfung].“ (Huainanzi, Kapitel 3). Das chinesische Konzept des Windes enthält sexuelle Nebenbedeutungen (zunächst kommt Wind auf, dann gibt es „Wolken und Regen“ ist ein traditionelles Synonym für Geschlechtsverkehr) und tatsächlich sind Tiger ja dafür bekannt, sich äußerst lautstark Gehör zu verschaffen, wenn sie sich paaren oder um eine Partnerin kämpfen. Der Wind ist auch ein Verweis auf den Atem der Natur, ebenso wie auf die © Copyright 2008 Heiner Frühauf, Ph.D., 2009 Markus Goeke classicalchinesemedicine.org · 3 die lunge und das bildnis des tigers: ein beispiel für die dekodierung der symbolischen aufzeichnung chinesischer medizin Natürlichkeit und das zügellose Verhalten des Tigers. Gleich dem Wind kommt und geht er wann es ihm passt, taucht plötzlich und unerwartet auf, manchmal mit verheerender Wucht. Als pathologischer Einfluss ist der Wind „der Prinzipal aller Erkrankungen“ (Huangdi neijing), ebenso wie der Tiger häufig als das Oberhaupt aller bösartigen und Schaden bringenden Tiere betrachtet wird. Beachten Sie, dass sowohl Wind als auch Donner mit dem Osten, der Frühlingszeit und dem Wandlungsphasen Element Holz verbunden sind. • Viele Körperteile des Tigers wurden traditionell als medizinische Substanzen verwendet. Das Bencao gangmu listet insgesamt 17 davon auf: Tigerknochen (besonders die Schädelknochen und die Knochen der Vorderläufe männlicher Tiger), „Autoritätsknochen“ (weigu 威 骨, lokalisiert an den Seiten der Brust), Tigerfleisch, Tigerfett, Tigerblut, Tigermagen, Tigernieren, Tigergallenblase, Tigeraugen, Tiger-Po (Hupo 虎魄: Die Tigeressenz, die sich während der Nacht in den Augen dieses Nachtjägers aufhält und die man erlangen kann, indem man nachts einen Pfeil in sein erleuchtetes, aufblitzendes Auge schießt und anschließend den „weißen Stein“ aufsammelt, in den es sich angeblich verwandelt, nachdem es zu Boden gefallen ist), Tigernase, Tigerzähne, Tigerklauen, Tigerhaut, Tigerschurrbart, Tigerkot und Knochen, die sich im Tigerkot finden lassen. All diese Beispiele wurden als AntiWind-Arzneien klassifiziert, fähig, Wind bezogene Pathogene zu vertreiben, die unvorhersehbare Krämpfe und Schmerzen verursachen, etwa bei Epilepsie und Malaria (Verwendung von Schädelknochen, Augen, etc.) oder Arthritis (Verwendung von Vorder- oder Hinterläufen). Einige Interpreten haben betont, dass diese Wind abwehrende Qualität aller Tigersubstanzen die Beziehung zwischen Tiger und Wind (Metal und Holz) widerspiegelt: Metal kontrolliert Holz, sowie der Tiger den Wind kontrolliert. Alternativ lässt sich sagen, dass der Tiger als ein Symbol für den ersten Frühlingsmonat die Essenz des rechtschaffenen Yang (zhengqi) repräsentiert, fähig, das Eindringen aller mit Übeln behafteten Winde (xieqi) abzuwehren. • Der Tiger besitzt die schärfsten animalischen Überlebensinstinkte, welche innerhalb der antiken Medizinterminologie Chinas mit Po 魄 bezeichnet werden. Da der Atmungsinstinkt der grundlegendste aller animalischen Impulse ist, scheint es nur natürlich, dass gemäß der klassischen Medizin „die Po-Geister in der Lunge gespeichert sind.“ (Huangdi neijing). Diese instinktiven Fähigkeiten werden oft als die Seele des physischen Körpers beschrieben – sie sind von Geburt an vorhanden, ohne kultiviert werden zu müssen und verschwinden mit dem Tod. Ein kürzlich ans Tageslicht gekommener chinesischer Text enthält den Begriff Hupo 虎魄 – Tiger-Po, ein Begriff, der später für die Bezeichnung von Bernstein verwendet wurde (im Allgemeinen 琥 珀 geschrieben). Bernstein hat die charakteristisch orangene Farbe des Tigers und bewahrt für immer den physischen Körper der in ihm eingeschlossenen Insekten auf – als wären sie seine körperliche „Tigerseele“. • Der Tiger ist eine Katze und weist folglich viele Qualitäten einer Katze auf: große Wendigkeit, eine Vorliebe für Reinlichkeit, die geduckte Lauerstellung beim Heranpirschen an ihre Beute („Verborgener Drache, Kauernder [Lauernder] Tiger“). Während der Jagd hält sich der Tiger sprungbereit gleich einem Pfeil auf einer gespannten Bogensehne (vergleiche hier die Orakelknochenversion des assoziierten Erdenzweiges Yin 寅, die dem Bild eines Pfeils auf einem Bogen ähnelt), schießt dann plötzlich vorwärts, wobei er sich zu voller Körpergröße ausdehnt (vergleiche hier die Bedeutung von Shen申, „sich © Copyright 2008 Heiner Frühauf, Ph.D., 2009 Markus Goeke classicalchinesemedicine.org · 4 heiner frühauf ausdehnen“ – dem Erdenzweig, der mit dem 7ten Monat in Beziehung steht und sich auf der holographischen Landkarte genau gegenüber der Position des ersten Monats befindet) und schlägt schließlich die Beute (gleich einem Pfeil, der sein Ziel trifft). Das Tigersymbol scheint damit im selben etymologischen Wortfeld angesiedelt zu sein wie Wind und Pfeil, der seinerseits traditionell mit Wind assoziiert wird. „Der Weise vermeidet Wind wie Pfeile“ (Huangdi neijing lingshu, Kapitel 77). Wind kann pathogene Einflüsse mit sich führen, Pfeile können Gift verschießen. Gemeinsam stehen sie für die Qualität eines plötzlichen, wuchtigen Schlags und der Möglichkeit tödlichen Eindringens. • Als Yang-Geschöpfe entfalten Tiger eine überragende sexuelle Leistungsfähigkeit und ihre Körperteile sind als Aphrodisiaka hoch geschätzt. Tiger pflegen häufigen Geschlechtsverkehr, der in einer dramatischen Ejakulation gipfelt, wobei der männliche Tiger brüllt und seiner Partnerin in den Nacken beißt (in der chinesischen Literatur wird der Geschlechtsverkehr mit Wolken verglichen – Wolken sind das Qi, das entsteht, wenn Himmel und Erde sich umarmen –, während die Ejakulation dem Bersten der Wolken entspricht, was befruchtenden Regen bringt). • Die wilde, grausame Natur des Tigers und seine „eisernen Zähne und metallenen Klauen“(Bencao gangmu) sind der Grund für seine Beziehung zu Waffen und militärischen Themen. Soldaten und Generäle werden oft als „Tiger“ apostrophiert und Jadetäfelchen in die Tigerdarstellungen 琥 eingraviert waren wurden traditionellerweise als Aufforderung zur Teilnahme an militärischen Feldzügen verwendet (aus: Shuowen jiezi). • Die bildliche Darstellung des Tigers verweist auf Macht, Autorität und Strenge. Zusammen mit dem Wolf ist der Tiger eines der wenigen Tiere, das in der Lage ist, Menschen zu töten, zum Teil aufgrund seiner physischen Stärke und der „Waffen“, die er mit sich führt. Indem er die Gesetze der Gebirgswälder repräsentiert, schützt er durch seine Fähigkeit zu bestrafen. Diese Qualität hat den Tiger zum chinesischen Hauptsymbol für die „strengen“, „tödlichen“ oder „bestrafenden“ Einflüsse des Herbstes und der mit ihm verbundenen Himmelsrichtung Westen gemacht. Gerechtigkeit, Vergeltung und das Gesetz gehören in diese Domäne. • Alten chinesischen Beobachtern zufolge trägt der Tiger immer ein Zähnefletschen im Gesicht; es heißt, um verärgert und beurteilend auszusehen, bereit, zu bestrafen. Das Wort mi, eine Kombination der bildhaften Komponenten Tiger und Herz (wörtlich: Tigeremotionen) gleicht dem Begriff Chou 愁 (Herbstgefühle oder Unglückseligkeit). Noch heute betrachten die Bewohner des indonesischen Dschungels die Tiger als die Erzwinger ordnungsgemäßen menschlichen Verhaltens in den Wäldern, bereit, Verstöße gegen die Regeln der Dorfbewohner zu ahnden – Ehebruch, Zuwiderhandlungen bei der Holzfällerei etc. eingeschlossen. • Die über der Han-Dynastie Chinas im Westen gelegene Sieben-SternKonstellation wurde Baihu 白虎, der weiße Tiger, genannt und präsidierte über die niederdrückende, „tödliche“ Atmosphäre der Herbstzeit. • Trotz seiner Wildheit macht der Tiger seine Autorität primär durch seine Körpersprache („Säbelrasseln“) geltend, durch das Zeigen von Zähnen und Klauen, sich sträubende Barthaare und grauenerregendes Heulen. Es ist daher selten, dass der Tiger tatsächlich kämpft, nicht einmal mit Rivalen seiner eigenen Spezies. • Der Tiger ist ein Statussymbol und verkörpert ebenfalls das Vertrauen in das © Copyright 2008 Heiner Frühauf, Ph.D., 2009 Markus Goeke classicalchinesemedicine.org · 5 die lunge und das bildnis des tigers: ein beispiel für die dekodierung der symbolischen aufzeichnung chinesischer medizin Wissen um den eigenen Rang und die eigene Stellung. Obwohl die Macht des Tiger in seiner Bewegung liegt, findet man ihn meist „ortsgebunden“ vor; „zuhause verweilend“ oder „von seinem Schlupfwinkel aus leitend und lenkend“, während er sein Königreich überblickt, in jedem Augenblick aller Dinge gewahr, die unterhalb vor sich gehen. Könige, Generäle und Richter werden deshalb häufig von „Stühlen“ aus amtierend dargestellt, die zeremoniell mit Tigerfell überzogen sind. Zwei chinesische Schriftzeichen die „Stellung/Rang/Position“ bezeichnen – Chu 處 und Xu 虛 werden mit der Komponente für Tiger geschrieben. • Tiger sind die Verkörperung des wilden Tieres schlechthin und entfalten mächtige Überlebensinstinkte und einen großen Drang nach Freiheit. Sie brauchen „Raum zum Atmen“ und durchstreifen und verteidigen folglich riesige Gebiete. • Tiger sind ausweichend und äußerst zurückgezogen und fordern jeden heraus, der ihre Einflusssphäre verletzt. Obwohl in der Hauptsache Einzelgänger, kommen sie doch in regelmäßigen Intervallen zu ausgefeilten und lautstarken Paarungsritualen zusammen. • Tiger sind sexuell dimorph: Männchen und Weibchen lassen sich vom Erscheinungsbild her deutlich unterscheiden. • Tiger sind rätselhafte Tiere mit ausgeprägten Charakterzügen, die häufig gegensätzliche Qualitäten ausdrücken: Der Tiger repräsentiert Wind, vertreibt jedoch auch üble Wind-Einflüsse; er ist gefährlich, aber gerecht; einzelgängerisch mit einem starken Paarungstrieb; und er repräsentiert sowohl die ungezügelte Holzenergie des Frühlings als auch die verfeinerte Metallenergie des Herbstes. Diese generelle thematische Polarität findet weiteren Ausdruck in der komplexen Beziehung des Tigers zum Menschen. Während er einerseits als Hauptsymbol des gefährlichen, wilden Tieres gilt, merken alte Quellen an, dass „er gefangen und domestiziert werden kann.“ (Fengsu tongyi). Darüber hinaus heißt es, dass Tiger „Menschen ähnliche Füße besitzen“ (Shuowen jiezi), in Bauten leben, die an menschliche Behausungen erinnern (shi 室)4 und dass sie auf die Erde und an Bäume „Linien zeichnen und schreiben“ (Wen文), um ihr Territorium zu markieren. Der Akt der „Beobachtung und Nachahmung naturgegebener Hinweise“ repräsentiert aufs Genaueste die Suche des Menschen nach symbolischem Ausdruck, kultureller Verfeinerung und Zivilisation. Entsprechend der primären Eigenschaft aller Symbole so überträgt auch das Bildnis des Tigers abstrakte, immaterielle Funktionen in die dreidimensionale Sphäre des körperlich Greifbaren und instinktiv Zwingenden. Die unterschiedlichen Charakteristika des Tigers verweisen auf das mehrdimensionale Netz von Funktionen, die in der Sphäre des Makrokosmos durch den ersten Frühlingsmonat eingeleitet werden, als auch auf diejenigen, die im Bereich des Mikrokosmos vom Netzwerk der Lunge verwaltet werden. Da die direkten Aussagen über die Lungenfunktion im Neijing und anderen medizinischen Klassikern eher spärlich ausfallen, sind es die über den Archetypus des Tigers vermittelten Qualitäten, die das übliche Bild der Lungenphysiologie und -pathologie wie es weltweit in den meisten Klassenzimmern zur modernen Chinesischen Medizin anzutreffen ist, bekräftigen, klären und auf großartige Weise erweitern. Es folgen zwei Listen, die eine beträchtlich erweiterte Fundgrube von Qualitäten zur Definition der Lungenphysiologie und -pathologie darstellen, die alle direkt den oben beschriebenen charakteristischen Eigenschaften des Tigers entnommen sind. Während in dieser Darstellung nicht alle Schlüsselmerkmale und emotionalen und spirituellen Nuancen der Lungenfunktion vollständig sind, so enthält doch das singuläre Symbol des Tigers in wahrhaft holographischer Art und Weise © Copyright 2008 Heiner Frühauf, Ph.D., 2009 Markus Goeke classicalchinesemedicine.org · 6 heiner frühauf nahezu alles, was als relevant für einen umfassenden Zugang zur Lungenfunktion in Betracht gezogen werden kann. Der gesunde Tiger im Inneren – Schlüsselqualitäten der Lungenphysiologie • Körperliche Kraft und Vitalität, Schärfe animalischer Instinkte, vollkommen im Körper anwesend; ausgeprägter Schutzinstinkt, extreme Wehrhaftigkeit. • Wildheit, naturverbunden, Freiheit, Bedürfnis nach Raum zum Atmen, Anspruch auf Gebietshoheit, klarer Sinn für persönliche und berufliche Grenzen. • Vorreiter, Autorität, Status, Charisma, Vertrauen in Rang und Stellung, Selbstwert, Respekt gebietend, Sinn für Würde; militärische Macht. • Erdverbunden, aber Sehnsucht nach dem Himmel, zieht Gegensätze an, Yin/Yang (männlich/weiblich) Anziehungskraft, sexuelle Leistungsfähigkeit, Regenmacher. • Strahlende Gesichtsfarbe, das Attraktive, Aussehen, Schmuck; imponierende Körperhaltung; weiß, wie man eine Pose einnimmt, natürliche Fähigkeit zu schauspielern; selten, geschätzt, teuerOberfläche, äußere Schicht, Haut, Schutz gegen äußere pathogene Einflüsse, Beschützer der Natur und Naturgesetze, Waffen, tödlich, gerechter Zorn und Rache, Bestrafung, Gerechtigkeit. • Symbolschöpfung, Zivilisation, Wissen. • Generelle Yang-Qualität, ausbalanciert durch eine Yin-Seite: Geduld, Gemütsruhe, Einsamkeit, Einsiedlerverhalten; plötzliches und kurzes Zeigen von Kraft (Aktivitätsausbrüche) gefolgt von Ruhephasen (Atmung); verbunden mit Yang-Osten (Position im 12. Erdenzweig), aber auch mit Yin-Westen, den Bergen und der Herbstzeit (Position im 5 ElementeZyklus). Der kranke Tiger im Inneren – Schlüsselqualitäten der Lungenpathologie • Körperliche Schwäche, verminderte Immunität, verminderte Instinkte, verlangsamte Reaktionsfähigkeit, schwache Stimme, blasse Gesichtsfarbe. • Unfähigkeit, sich selbst gegen alle Formen invasiver Bedrohungen zur Wehr zu setzen, besonders gegen jene, die in die Privatsphäre des menschlichen Körpers eindringen (virale Angriffe eingeschlossen) und den Rausschmiss aus dem eigenen Heim oder einer Beziehung; Fehlen von Grenzen; lässt zu, dass Dinge ihm „unter die Haut“ gehen. • Schwaches Wachstum der Körperbehaarung, besonders bei Männern. Am anderen Ende des Spektrums: exzessives Wachstum der Körperbehaarung. • Unfähigkeit Atem zu holen, Klaustrophobie, Gefühl widerrechtlicher Eingriffe in seine Freiheit. • Wind-Erkrankungen, etwa als würde man kurzatmig, Symptome charakterisiert durch unvorhersagbaren Beginn und Bewegungsverlauf (Allergien, besonders der Atemwege und der Haut). • „Dämoneninvasion“, gleich dem plötzlichen und heftigen Einsetzen einer epidemischen Erkrankung. Besonders betroffen sind Atemwege und Haut. • Fehlen von Selbstwert; physisches, soziales und finanzielles Unvermögen; Unfähigkeit sich selbst zu etablieren und seinen Platz in der Gesellschaft zu finden; das Gefühl ausgestoßen zu sein. Am anderen Ende des Spektrums megaloman; sucht nach dem Rampenlicht, Ambitionen, im Blickpunkt der Öffentlichkeit zu stehen. • Emotionale Wunden in Bezug auf Respekt; Unfähig Respekt zu gebieten; Glanz- und Farblosigkeit, besonders hinsichtlich der Körperfarbe, Wahl der Kleidung, Stärke der Aura und des stimmlichen Ausdrucks; © Copyright 2008 Heiner Frühauf, Ph.D., 2009 Markus Goeke classicalchinesemedicine.org · 7 die lunge und das bildnis des tigers: ein beispiel für die dekodierung der symbolischen aufzeichnung chinesischer medizin Unfähigkeit sich mit anderen zu verbinden und ein Gegenüber, einen Partner anzuziehen; einzelgängerisches Verhalten; verhaltene Körpersprache; schwache verbale Ausdrucksfähigkeit (sowohl in Bezug auf das gesprochene als auch auf das geschriebene Wort); schlampiges Äußeres (Kleidung, Haarstil, Körperpflege). • Sexuell amorph (besonders in Bezug auf Körperform, Hautcharakteristika, Kleidung und Stimme). dramatisch zu Schau zu stellen. • Gleichgültig gegenüber der Natur, was in der Zerstörung Natur belassener Lebensräume und der Ausrottung seltener Tierarten mündet. Anmerkungen 1 Beachte, dass aus der Perspektive der Kategorisierung nach den 5 Wandlungsphasen das Zang-OrganNetzwerk der Lunge zur Metallphase gehört und folglich mit der Jahreszeit Herbst in Verbindung steht, was dem abwärts gerichteten Impuls der Lungenfunktion in symbolischer Form Ausdruck verleiht. In der eher vollständigeren Gestalt des Zwölfer Systems, das die numerologischen Ansätze von mindestens vier unterschiedlichen Systemen der Kategorisierung kombiniert (2, 3, 5 und 6), steht die Lunge in Beziehung zum ersten Monat des Frühlings und der Tageszeit zwischen 3-5h nachts. 2 Heiner Frühauf, „The Science of Symbols: Exploring a Forgotten Gateway to Chinese Medicine”, Teil I und II, Journal of Chinese Medicine (Februar und Juni 2002); verfügbar auch unter www. classicalchinesemedicine.org/scienceofsymbols/index 3 Bei den Shen Xiao handelt es sich um Tierdarstellungen, die die funktionale Energetik unterschiedlicher chinesischer Zeitzyklen repräsentieren: etwa zwölf Jahre, zwölf Monate, zwölf Tage oder zwölf Stunden. 4 Beachte, dass eine der beiden Sternkonstellationen, die innerhalb der Kosmologie der Han-Dynastie mit der Position des ersten Monats assoziiert wurde, shi genannt wird, Der Bau (eines Tieres). • Moralisch zweideutig, ohne klaren Sinn für richtig oder falsch; Gleichgültigkeit dem Gesetzt gegenüber. Auf der anderen Seite des Spektrums: ein Pedant; starr und unflexibel. • Unbehaglichkeit im physischen Körper; zerfahrene und steife Körperbewegungen. • Oberflächlichkeit (besessen von teurem Schmuck, Kleidungsstücken und anderen materiellen Trophäen; Unfähig eine tiefe und intime Beziehung herzustellen); billiger und unkultivierter Geschmack (trägt betont falschen Schmuck und qualitativ schlechte Imitationen von Designermarken); dicke und grelle Schminke; Eitelkeit, Narzissmus; Reserviertheit; Vorurteile gegenüber Titelund Würdenträgern (kauft gefälschte aristokratische oder wissenschaftliche Titel); Arroganz; das Gefühl gewöhnlich und unattraktiv zu sein. • Plötzliche und unerwartete Ausbrüche von Zorn und Geschrei; rachsüchtig; besessen davon, andere zu bestrafen; besessen von Waffen, vom Töten und dem Tod; besessen auf die Jagd nach Großwild oder der Domestizierung exotischer Katzen. © Copyright Heiner Frühauf 2008 Übersetzung ins Deutsche Markus Goeke 2009 • Gefühl von Unsicherheit und Unbehagen; Angst (assoziiert mit dem Gefühl überwältigt zu werden, gefährdet zu sein, allein zu sein oder keinen Wohnort zu haben, keine Macht, kein Geld, keinen Frieden); nörglerisch, häufiges Stöhnen und Ächzen; Tendenz seine Emotionen © Copyright 2008 Heiner Frühauf, Ph.D., 2009 Markus Goeke classicalchinesemedicine.org · 8