Prozessoptimierung in der Dienstleistung – Kann Lean Six Sigma

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Prozessoptimierung in der Dienstleistung – Kann Lean Six Sigma
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Händel, G. & Preussner-Moritz, I. (2009):
Prozessoptimierung in der Dienstleistung – Geht es dabei nur um Kostensenkung oder auch um Verbesserung
der Arbeitsbedingungen? In G. Raab & A. Unger, A. (Hrsg.), Der Mensch im Mittelpunkt wirtschaftlichen
Handelns. Tagungsband zur 15. Fachtagung der „Gesellschaft für angewandte Wirtschaftspsychologie“, 484496. Lengerich et al.: Pabst Science Publishers
Prozessoptimierung in der Dienstleistung – Geht es dabei nur um
Kostensenkung oder auch um Verbesserung von Arbeitsbedingungen?
Mangelnde Effizienz, hohe Durchlaufzeiten sowie Verschwendung verursachen nicht nur
hohe Kosten, sondern häufig auch schlechte Qualität. Methoden wie Six Sigma und Lean
Management, die in der Industrie schon lange Standard sind, finden nun Eingang in die
Dienstleistungsbranche. Öffentliche Verwaltung, Krankenhäuser oder Call Center sind jetzt
im Visier der Prozessoptimierung (z. B. „Six Sigma bringt Zuverlässigkeit“ in Management &
Krankenhaus 4/2009). Lean Management und Six Sigma werden dabei eingesetzt, um
Transparenz in den bestehenden Prozessen zu schaffen. Optimierungskriterien sind zumeist
Prozesskosten, Dauer oder Qualität in der ein Service geliefert wird. Im folgenden Beitrag
wird aufgezeigt, wie der Einsatz von Lean und Six Sigma bei Dienstleistungsprozessen
gestaltet werden kann und welche Vorteile sich daraus nicht nur für Kunden und
Unternehmen, sondern auch für Mitarbeiter/innen ergeben können.
Was ist Lean Six Sigma?
Six Sigma wurde in den 1980er Jahren bei Motorola in den USA entwickelt und durch die
Einführung von Jack Welch bei General Electric Anfang der 1990er populär.
„Six Sigma ist eine Methodik und ein Management-Ansatz, der Prozesse systematisch
analysiert, standardisiert und verbessert bzw. neu entwickelt mit dem Ziel die Fehlerrate zu
reduzieren und die Variation zu verringern. Dadurch werden Kosten gesenkt und die ProzessEffizienz sowie die kundenorientierte Qualität gesteigert.“ (Bornhöft und Faulhaber, 2007, S.
7).
Sigma bezeichnet die Standardabweichung, d.h. die Streuung einer Ergebnismessung um den
Mittelwert einer Normalverteilung. In der Bestimmung der Prozessqualität wird ein Vergleich
der realen Ergebnisstreuung mit dem Toleranzbereich des gewünschten Zielwertes
vorgenommen. Eine 6 Sigma Qualität gilt dabei als nahezu fehlerfrei, d.h. bei einer Million
Möglichkeiten dürften theoretisch nur 3,4 Fehler auftauchen bzw. das Ergebnis müsste in
99,99966% aller Fälle fehlerfrei sein. Als Fehler wird alles gezählt, was nicht den
Kundenanforderungen entspricht. Ein 6 Sigma Prozess ist einer in dessen Ergebnisverteilung
die Standardabweichung vom Mittelwert bis zur Toleranzgrenze 6-mal Platz hat – also ein
Prozess mit nur wenig Variation (siehe Abb. 1).
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Abbildung 1: Graphische Darstellung eines 6 Sigma Prozesses
Quelle: Magnusson, Kroslid & Bergmann 2004, S.7
Lean Management sieht vor allem in der Vermeidung von Verschwendung ein wesentliches
Managementprinzip. Bei unseren Betrachtungen steht im Kontext des Lean Management die
Methode des Wertstromdesigns im Vordergrund. Sie wurde 1998 vom Lean Enterprise
Institute vorgestellt. „Sehen lernen“ ist die zentrale Aufforderung dieses Vorgehens,
Kerngedanke ist es, „Werte ohne Verschwendung zu schaffen“ (Wiegand im Vorwort zu
Rother & Shook, 2006). Verschwendung entsteht dann, wenn während einer
Leistungserbringung an sich unnötige Tätigkeiten anfallen, die den reibungslosen Ablauf
behindern: man muss etwas suchen, weil es nicht am richtigen Ort ist, oder man wartet darauf,
dass jemand anders etwas fertig stellt usw.
Seit 2000 wird Six Sigma zunehmend mit der Lean Management Philosophie verknüpft und
häufig als Lean Six Sigma bezeichnet. Lean Six Sigma wird definiert als „ein Konzept zur
Verbesserung finanzieller Ergebnisse bei gleichzeitiger Erhöhung von Kundenzufriedenheit
und Qualität. Es basiert auf dem Verständnis der tatsächlichen Kundenanforderung, einer
disziplinierten Anwendung von Daten und Fakten sowie der konsequenten Verbesserung
sowie Neuentwicklung von Geschäftsprozessen sowie Produkten und Services.“ (Bornhöft
und Faulhaber 2007, S 7)
Ein Six Sigma Projekt wird gestartet, wenn ein Problem auftaucht, weil z. B. das Ergebnis
nicht den Kundenanforderung entspricht, die Administration eines Prozesses zu teuer ist oder
die Lieferzeit zu lange dauert. Six Sigma Projekte fordern eine gründliche Vorgehensweise,
sie sind damit allerdings häufig auch langwierig. Grundsätzlich empfiehlt sich daher, nur
solche Probleme zum Gegenstand von Six Sigma Projekten zu machen, deren Lösung
tatsächlich nicht bekannt ist, da sonst Ressourcen verschwendet werden.
Die am häufigsten eingesetzte Projektmethode ist der so genannte DMAIC-Zyklus (siehe
Tabelle 1). Dieser Zyklus beschreibt eine Sequenz von Projektphasen, deren konsequente
Einhaltung zur strukturierten Problemlösung führt.
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Tabelle 1: DMAIC Zyklus
Quelle: www.6sigma-tc.de
Unternehmen, die Six Sigma anwenden, verfolgen durchaus unterschiedliche Strategien. Die
meisten Unternehmen beschränken sich auf eine taktische Anwendung von Six Sigma, in dem
einzelne Verbesserungen meist bezogen auf einzelne Prozessgruppen vor allem zur
Kostensenkung umgesetzt werden. Demgegenüber steht die umfassende Einführung von Six
Sigma, die nur in einem Drittel aller Unternehmen stattfindet „und damit auch eine
Veränderung der Unternehmenskultur, d.h. Änderung menschlichen Verhaltens erzielt“
(Magnusson, Kroslid & Bergmann 2004, S.102). Bei einer unternehmensweiten Einführung
von Six Sigma geht es nicht nur darum, Methoden und Techniken zur Anwendung zu bringen,
sondern auch um die Implementierung einer Unternehmenskultur, die eine konsequente
Verbesserung anhand strukturierter Problemlösung vorsieht. Nicht zu unterschätzen ist dabe i
auch die Qualifizierung, die durch Six Sigma Schulungen für weite Teile der Belegschaft
vorgesehen ist. Töpfer (2003), bezeichnet die „Lernorientierung“ als eine wesentliche
Dimension einer Six Sigma Kultur, die ein individuelles und organisationales Lernen im
Unternehmen miteinander verzahnt (S. 234).
Die Übertragung von Lean Six Sigma Methoden auf den Bereich der Dienstleistung wird
dann wirkungsvoll sein, wenn die zentralen Prinzipien der Philosophie bei der Gestaltung und
Verbesserung des Dienstleistungsprozesses beachtet werden:
 Verständnis der tatsächlichen Kundenanforderungen
 disziplinierte Anwendung von Daten und Fakten
 Berücksichtigung der Mitarbeiter/innen und deren Arbeitsbedingungen
 Standardisierung und Verringerung von Variation
 Vermeidung von Verschwendung
 Konsequente Verbesserung
Der Anwendungsbereich Dienstleistungen
„Dienstleistungen sind selbständige, marktfähige Leistungen, die mit der Bereitstellung und/
oder dem Einsatz von Leistungsfähigkeiten verbunden sind (Potenzialorientierung)“
definieren Meffert und Bruhn (2003, S. 30). Weitere Definitionsmerkmale sind
Prozessorientierung und Ergebnisorientierung: Die Dienstleistung entsteht im
Zusammenwirken von Kunden und Anbieter mit dem Ziel, beim Kunden nutzenstiftende
Wirkungen zu erzielen.
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Das Spektrum an Dienstleistungen ist sehr breit:
 Dienstleistungen werden in der Verwaltung eines jeden Unternehmens, jeder
Organisation, jeden Vereins erbracht. Buchhaltung, IT Services oder
Personalmanagement sind Dienstleistungen innerhalb eines Unternehmens.
 Dienstleistungen bilden aber auch einen eigenständigen Wirtschaftssektor.
Dienstleistungen reichen von einfachen Tätigkeiten wie Raumpflege zu komplexen
Leistungen wie Forschung oder Beratung.
 Auch in der Gesundheitswirtschaft gibt es einen hohen Anteil an Dienstleistungen,
Ärzte, Kranken- und Altenpflege sowie Rehabilitationseinrichtungen erbringen ihre
Leistungen direkt am Patienten.
Diese Beispiele machen deutlich, dass die Übertragung von Methoden aus Fertigung und
Produktion in einen Bereich, in dem Menschen an Menschen Leistungen erbringen unter
Berücksichtigung der Besonderheiten der Organisation und der Zielstellung erfolgen muss.
Eine bloße „Industrialisierung“ im Gesundheitswesen, um die Kosten zu senken, wie sie
mitunter aus der Branche selbst gefordert wird, sollte mit Vorsicht behandelt werden.
Die Übertragung der Methoden bzw. des Managementansatzes sollte dabei unter folgenden
Gesichtspunkten geschehen:
 Dienstleistungen sind immateriell, der Kunde ist häufig am Ergebnis beteiligt, d. h. die
Qualität des Ergebnisses ist nicht ausschließlich im Verfügungsbereich des Anbieters,
sondern Ergebnis einer Interaktion bzw. kommunikativer Prozesse.
 Die Dienstleistung wird von einer Person erbracht. Ihre Qualifikation und Kompetenz sind
notwendige Bedingung für die Qualität der Leistungserbringung, aber keine hinreichende:
Weiche Faktoren wie z. B. das persönliche Befinden beeinflussen die konkrete Leistung
mindestens genauso stark. So rücken auch Qualitätskriterien in den Mittelpunkt, die sich
am Wohlbefinden der Mitarbeiter/innen orientieren wie beispielsweise Zufriedenheit,
Wohlbefinden, Betriebsklima.

Der unreflektierte Gebrauch von Begriffen wie Serienfertigung z. B. im Rahmen einer
Prozessoptimierung in einem Krankenhaus oder die Forderung nach Standardisierung
gemäß der Automobilbranche führen häufig zu Widerständen bei den betroffenen
Mitarbeitern. Der Einsatz der Methoden muss der Besonderheit der jeweiligen
Organisation angepasst werden.
Bei ihrer Einführung ist Sensibilität notwendig. Erst dann werden die Chancen deutlich:
Einsparungen durch Standardisierung, Reduzierung von Verschwendung, lassen mehr Zeit für
die eigentliche Dienstleistung.
Magnusson u.a. (2004) stellen fest, dass Six Sigma im Dienstleistungsbereich nicht nur immer
häufiger angewendet wird, sondern auch weiterentwickelt. Sie sehen folgende Schwerpunkte,
die im Gegensatz zur rein industriellen Anwendung im Servicebereich stärker zum Tragen
kommen:
1. „größeres Augenmerk auf Kundenzufriedenheit
2. größere Betonung auf Auftreten, Disziplin und Einstellungen der Mitarbeiter
3. häufigeres Anwenden von Designverbesserungen und Entwicklung neuer Produkte
in Projekten und
4. einen Trend stärker zur Prozessentwicklung als nur Prozessverbesserung“
(Magnusson u.a., 2004, S.101-102)
Ein systematisches Beleuchten der Dienstleistungsprozesse in Lean Six Sigma Projekten zeigt
die Stellen auf, in denen Fehler entstehen, weil Regelungen nicht ausreichend sind, der
Informationsfluss nicht optimal gestaltet ist oder eine solche Vielfalt an Möglichkeiten
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besteht, dass die Ergebnisqualität nicht gewährleistet werden kann. Es sind also die
unabhängigen Variablen, die geprüft und standardisiert werden und nicht die abhängigen.
Anders ausgedrückt: Optimiert wird in erster Linie nicht ein Beratungsgespräch oder eine
Untersuchung, sondern die Tätigkeiten davor oder danach, um z. B. die Wartezeiten für den
Kunden zu reduzieren.
Die Kernforderungen des Lean Six Sigma, das Verstehen der tatsächlichen
Kundenanforderungen und die disziplinierte Anwendung von Daten und Fakten führen zu
einer intensiven Auseinandersetzung mit der Erhebung und Validierung dieser Informationen.
Mit Hilfe von Interviewtechniken oder auch Fragebögen können solche Kundenanforderung
systematisch erfasst und quantifizierbar gemacht werden. Die Kundenanforderung entscheidet
darüber, welches Ergebnis eine Dienstleistung erbringen soll. Auf dieses Ergebnis hin wird
der Prozess, d.h. der Arbeitsablauf ausgerichtet und gestaltet. Im Dienstleistungsgewerbe
kann der Kunde ein Verbraucher sein, der z.B. einen Telefonservice in Anspruch nimmt, ein
Klient, der Empfänger einer Beratung ist oder ein Patient, der eine medizinische Leistung
entgegennimmt. Die Kunst liegt darin, die subjektive Kundenanforderung so zu objektivieren,
dass dabei messbare Kriterien entstehen. Zum Beispiel, könnte eine Anforderung sein: „von
meinem Telefonanbieter möchte ich gut informiert sein“. Was dabei „gut“ heißt, müsste
weiter eruiert werden. Bezieht sich „gut“ auf die Quantität der Beratung (wie lange, wie
häufig) oder ihre Qualität (Inhalt, Gesprächsatmosphäre)? Oder ist damit gemeint, mit
welchem Medium (persönlich, schriftlich oder elektronisch) diese Informationen zur
Verfügung gestellt werden?
Gerade bei Dienstleistungen ist die Gefahr groß, die Anforderungen und Erwartungen des
Kunden zu verfehlen. Das unten aufgeführte GAP-Modell (Zeithaml, Berry & Parasuraman
1988) beschreibt Lücken in der Kommunikation zwischen Dienstleister und Kunde. Dieses
Modell wurde anhand von Interviews mit Kunden und Dienstleistungsanbietern entwickelt.
Die dort aufgeführten Diskrepanzen können die Qualität der Dienstleistung beeinträchtigen
(Meffert & Bruhn 2004, S. 278 ff). Die Gaps 1-4 entstehen bei dem Dienstleister aufgrund
fehlerhafter Wahrnehmung oder Kommunikation, sie alle sind potentielle Verursacher für die
Diskrepanz zwischen Kundenerwartung und die vom Kunden wahrgenommene
Dienstleistung (Gap 5).
Die Herausforderung liegt darin, einen Prozess zu verbessern oder neu zu gestalten der die
kritischen Kundenanforderungen exakt erfüllt, um Zufriedenheit zu erzeugen. Diese
Betrachtung reduziert die Gefahr, Dinge zu tun, die zwar der Dienstleister als wichtig
erachtet, die der Kunde möglicherweise aber nicht schätzt oder gar bemerkt. Eine
Überwachung der Kundenzufriedenheit anhand der kritischen Kundenanforderung wird in
vielen Bereichen inzwischen erprobt und wird zum Teil bereits mit elektronischen Medien
unterstützt.
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Abbildung 2: GAP Modell
Quelle: Zeithaml, Berry, Parasuraman, 1988, S.44 aus Meffert & Bruhn 2004
Die verwendeten Messkriterien, die für die kritischen Kundenanforderungen herangezogen
werden, beziehen sich zumeist auf Qualität, Kosten und Lieferzeit. Ein Unternehmen, das Six
Sigma einführte, erweiterte diese Kriterien durch die Messgröße Mitarbeitergesundheit. Auch
wenn ein solches Vorgehen noch ein Einzelfall ist, zeigt es auf, wie Qualitätssicherung und
Mitarbeitergesundheit miteinander verbunden werden können. Diese Vorgehensweise lehnt
sich an Ideen der European Foundation for Qualitiy Management (EFQM, siehe Abb. 3) an.
In diesem Modell wird nicht nur betont, dass die Mitarbeiter/innen Einfluss auf die Qualität
des Arbeitsergebnisses haben, sondern es wird auch betrachtet, ob das Unternehmen darauf
ausgerichtet ist, die Befindlichkeit und Zufriedenheit der Mitarbeiter zu berücksichtigen und
zu verbessern. Bei der Erzeugung von Servicequalität, in dem das Verhalten und Erleben von
Beschäftigten einen erheblichen Anteil am Erbringen von Arbeitsergebnissen haben, rückt der
Mensch in den Mittelpunkt der Betrachtung. Hier dominieren die interaktiven
Tätigkeitsmerkmale Kommunikation und Kooperation (z.B. zwischen Mitarbeiter und Kunde
oder Mitarbeiter und Mitarbeiter). Gerade im direkten Kundenkontakt kann hier durch
ungesunde bzw. unzufriedene, demotivierte Mitarbeiter, schlechte Servicequalität entstehen.
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Abbildung 3: EFQM Modell
Quelle: www.tqm.de
Müller, Münch & Badura (1997) haben diesen Zusammenhang sehr deutlich im Rahmen der
Pflege aufgezeigt und beklagen die Lücke in der Forschung zwischen Arbeit, Wohlbefinden
und Qualität der Arbeitsleistung. Im Krankenhaus ist der Patient der Kunde, derjenige, der
eine bestimmte Servicequalität des Pflegepersonals erwartet. Motivierte und zufriedene
Pflegekräfte bringen dabei eine bessere Pflege als dies bei demotivierten und unzufriedenen
Kräften der Fall wäre. Im Rahmen eines Forschungsprojekts konnten durch eine verbesserte
Arbeitsorganisation und bessere Kommunikation, nicht nur die Arbeitsbedingungen der
Beschäftigten, sondern auch die Patientenzufriedenheit erheblich gesteigert werden.
Anhand der folgenden ausgewählten praktischen Beispiele soll der Einsatz von Lean Six
Sigma in der Dienstleistung verdeutlicht werden.
Beispiele aus der Praxis: Lean Six Sigma in der Dienstleistung
Lean Six Sigma in der technischen Dienstleistung einer Behindertenwerkstatt
Die Werkstatt erbringt technische Dienstleistungen für ihre Kunden, sie übernimmt z. B.
Zwischenschritte in der Produktherstellung, die nicht automatisiert werden können. Das
Projekt wurde ausgelöst, weil es beim Kunden organisatorische Veränderungen gab, bei
denen festgestellt wurde, dass zu viel Material gelagert ist. Die Werkstatt wurde ohne
konkrete Vorgaben zu Termin und Menge aufgefordert, in ihrem Bereich etwas zu verändern.
Die Profile, die die Werkstatt im Auftrag bearbeitet, sind vom Kunden beigestellte Produkte.
In der Definitionsphase des Projektes wurden vor allem zwei Probleme deutlich: Die
Schnittstellen zum Kunden sind nicht hinreichend klar definiert, so hatte z. B. die Werkstatt
keinen Einfluss auf Zeitpunkt und Menge von Materialanlieferung, und die Prozesse sind
nicht auf die Kundenanforderungen hin konzipiert. Nicht die Anforderung des Kunden löst
die Gestaltung der Prozesse aus, sondern Vor-, Zwischen- und Endprodukte werden bearbeitet
und eingelagert, so dass eine Anforderung „aus dem Lager“ bedient werden kann. Dieses
Vorgehen führte zu immensen Durchlaufzeiten und zu starker Kapitalbindung in der
Werkstatt. Betrachtet man den Wertstrom, d. h. den Fluss des Materials durch die Werkstatt,
wird deutlich, dass die Bearbeitungszeiten, in denen die Wertschöpfung erfolgt, den
geringsten Teil der Durchlaufzeit erzeugen. Viel gravierender sind die „Blindleistungen“, wie
z. B. die wiederholte Einlagerung der Produkte. Eines der zentralen Prinzipien des Lean
Managements (und des zugrundeliegenden Toyota Produktionssystems, vgl. Liker, 2007), das
Pull-Prinzip, wir dadurch verletzt: der Prozess wird in diesem Fall nicht vom Kunden her
gezogen, sondern von der Arbeitsorganisation aus geschoben.
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Die Wertstromanalyse hat in diesem Fall also gezeigt, dass die Tätigkeiten, die von den
behinderten Mitarbeitern ausgeübt werden, weder verändert noch beschleunigt werden
müssen. Die Erfüllung des Kundenwunsches ist alleine dadurch zu erreichen, dass die
Liegezeiten deutlich verkürzt werden.
Viele Dienstleistungsprozesse verlaufen ähnlich. Gut qualifizierte Mitarbeiter erbringen in
akzeptabler Zeit ihre Leistung am Kunden mit viel Engagement und hoher Qualität. Vor und
nach dieser Leistungserbringung sind aber viele Prozessschritte, die nicht notwendig sind und
sowohl den Mitarbeiter als auch den Kunden unzufrieden machen. Sie zu erkennen und dann
zu eliminieren ist eines der Potenziale von Lean Six Sigma Projekten.
Beispiel 2: Six Sigma und Selbstmanagement
Ein Element in der Einführung von Six Sigma besteht in der Schulung von Mitarbeitern. Der
Einstieg in Six Sigma ist eine erste Qualifizierungsstufe, der sog. Yellow Belt und hat zum
Ziel Grundlagen des DMAIC-Zyklus zu vermitteln. Nach dieser in der Regel 2-3 tägigen
Schulung soll anhand eines Projektes, das der Lernende ein Projekt im eigenem
Verantwortungsbereich umsetzen können. Mitunter finden sich Themen, die in das Managen
der eigenen Tätigkeit hineingreifen. Bearbeitet werden beispielsweise Probleme des
Zeitmanagements, der Selbstorganisation, Kooperationsschwierigkeiten mit Kolleg/innen
oder Kommunikationsprobleme mit dem Vorgesetzten.
Unserer Erfahrung nach sind viele Mitarbeiter/innen bereits darüber erfreut, eine Methodik
der Problemlösung kennen zu lernen. Wichtig ist hierbei, dass die Geschulten auch die
Gelegenheit erhalten, ein Projekt – möglichst während der Arbeitszeit - umzusetzen. Viele
konnten unter Anleitung eines Six Sigma Coaches die erlernte Methodik zur Verbesserung
der eigenen Tätigkeit oder Erhöhung der eigenen Kompetenzen nutzen. Beispiele waren
dafür, die Gestaltung einer effizienteren Zeitplanung durch Verschiebung der Prioritäten,
Verbesserung des Ablagesystems, das das lästige und zeitraubende Suchen nach Dateien
verringerte. Auch psychosoziale Aspekte, wie ein anderer Umgang mit Kollegen, die ständig
in der Tür stehen und verhindern, dass man mit der eigenen Arbeit vorankommt, wurden
Gegenstand von Six Sigma Projekten. Die Kundenanforderung war in diesen Fällen durch die
Mitarbeiter/innen (Mitarbeiter=Kunde) selbst gestellt. Ihr persönliches Anliegen bzw.
Wohlbefinden, z.B. durch die Zielstellung, 20% mehr Zeit für konzeptionelle Aufgaben zu
erhalten oder die Zeit der Dateiensuche um 50% zu reduzieren. Die jeweilige Zielstellung
blieb den Personen selbst überlassen. Sie hätten natürlich auch die Gelegenheit, Ziele aus der
Zielvereinbarung mit dem Vorgesetzten anhand eines Six Sigma Projekts zu bearbeiten. Die
Durchführung individueller Projekte ermöglichte die Reflexion der eigenen
Leistungsfähigkeit und deren Verbesserung. Diese Beispiele zeigen, dass Six Sigma zu einer
Professionalisierung der eigenen Arbeit beitragen kann und Werkzeuge liefert, die die
Kompetenz zum Selbstmanagement erhöhen kann.
Beispiel 3: Six Sigma und Mitarbeitergesundheit
Sehr häufig tauchte in der Messphase eines Six Sigma Projektes die Erkenntnis auf, dass das
subjektive Gefühl über eine erbrachte Leistung trügerisch sein kann. Erst durch objektives
Messen der eigenen Ergebnisse, die für den Kunden relevant sind, konnte man zu einer
realistischen Einschätzung über die eigene Leistungsfähigkeit gelangen. In einem
individuellen Projekt hatten wir als Coach mit einer Mitarbeiterin der Personalabteilung
folgende Erfahrung: Die Mitarbeiterin hatte ständig das Gefühl nicht genug zu schaffen und
machte sich Sorgen, ob ihre Klienten nicht unzufrieden sind. Durch liegen gebliebene
Vorgänge im Personalservice ist sie häufig mit einem schlechten Gewissen nach Hause
gegangen oder abends länger geblieben, um die vermeintlichen Versäumnisse nachzuholen.
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Folge waren mitunter Schlafstörungen und Gereiztheit. Erst durch das Six Sigma Projekt,
konnte sie diese unbefriedigende Situation auflösen, indem sie überlegte, was vom Kunden
gewünscht wird und was sie davon objektiv schafft. Nachdem sie ihre eigenen
Arbeitsergebnisse quantifizierte, konnte sie feststellen, dass sie „besser“ ist als sie dachte und
die Kundenanforderungen bereits im vollen Umfang erfüllte. Das subjektive Gefühl war dabei
weitaus negativer als ihre reale Leistungsfähigkeit. So musste sie nicht ihre Leistungen
erhöhen, konnte aber besser schlafen, kam ausgeruht zur Arbeit und war wesentlich
motivierte als vorher. Der Effekt dieses Projekts lag in der Erhöhung der Arbeitszufriedenheit
und Motivation.
Verfolgt man den Gedanken des Unternehmens, dass auch die Mitarbeitergesundheit zu den
Messkriterien für Verbesserungsprojekte zählt, ist man von Zielen des betrieblichen
Gesundheitsmanagements nicht mehr weit entfernt. Ein Six Sigma Projekt zur
Prozessverbesserung, das mit dem Ziel durchgeführt wird, die Häufigkeit der Unfälle oder
der arbeitsbedingten Erkrankungen zu reduzieren, hat demzufolge die gleiche Zielstellung wie
ein Sicherheits- oder Gesundheitszirkel (vgl. Preußner-Moritz, 2008).
Beispiel 4: Six Sigma und Teamarbeit
In der Personalabteilung eines großen internationalen Konzerns wurde von uns zusammen mit
dem Team von 16 Mitarbeiter/innen eine Balanced Scorecard (BSC) eingerichtet. Das Team
legte die Ziele für die Prozessoptimierung fest. Darüber hinaus wurde in der BSC
festgehalten, welche Qualifizierung die Mitarbeiter/innen brauchen, um die Prozessziele zu
erreichen. Das Resultat waren Abteilungsziele, die vom gesamten Team erarbeitet und mit
Hilfe von Six Sigma Projekten umgesetzt wurden. Hier kam hinzu, dass die Führungskraft
dieses Teams einen entsprechend mitarbeiterorientierten Führungsstil hatte, welcher die
eigenständige Abarbeitung der vom Team gesteckten Ziele begünstigte.
Prozessverbesserung findet in Projekten statt, die nicht selten durch ein interdisziplinäres und
abteilungsübergreifendes Team zusammengesetzt sind. Die Rahmenbedingungen und
Arbeitsweise einer Six Sigma Projektgruppe ähneln denen der betrieblichen
Problemlösegruppen wie sie schon im Qualitätsmanagement oder Gesundheitsmanagement
zur Anwendung gebracht werden. Insofern kann davon gesprochen werden, dass der Six
Sigma Ansatz im Kern partizipationsorientiert ist. Diese Arbeitsweise könnte mit einer
partizipativ orientierten Arbeitsgestaltung (vgl. Ulich, 2005) durchaus verglichen werden. Es
bestehen Möglichkeiten für die Beschäftigten, sich einzubringen, sich am Ergebnis zu
beteiligen und an der Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen aktiv mitzuwirken.
Zusammenfassung
Die Praxiserfahrungen mit Lean Six Sigma zeigen, dass dieser Managementansatz für den
Dienstleistungsbereich geeignet ist. Er hat außerdem das Potenzial, über die reine
Effizienzsteigerung hinaus das Wohlbefinden und die Zufriedenheit der Mitarbeiter positiv zu
beeinflussen, die zu einer erhöhten Servicequalität führt.
Zusammenfassend stellen wir die folgenden Thesen auf:
 Six Sigma und Lean Methoden sind für die Prozessoptimierung im
Dienstleistungsbereich einsetzbar.
 Lean Six Sigma ermöglicht es im Dienstleistungsbereich, den Output bzw. das Ergebnis
zu objektivieren und messbar zu machen.
 Lean Six Sigma kann durch die Objektivierung von Servicequalität Sicherheit in der
Arbeitsgestaltung für Führungskräfte und Beschäftigte schaffen.
 Der unternehmensweite Einführungsprozess von Six Sigma ist qualifizierend und
kompetenzsteigernd.
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


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Six Sigma schafft bzw. braucht eine Unternehmenskultur, die strukturiertes Problemlösen
durch Mitarbeiter/innen zulässt.
Das strukturierte Problemlösen mit zeitlich befristeten Projektgruppen ist ähnlich dem
von betrieblichen Problemlösegruppen und damit mitarbeiterorientiert.
Prozessoptimierung mit Lean Six Sigma kann im Einklang mit partizipationsorientierter
Arbeitsgestaltung geschehen.
Erhöhung der Servicequalität durch Prozessoptimierung kann nur im Einklang mit
Aspekten der gesundheitsförderlichen Gestaltung von Arbeitsplätzen geschehen.
Lean Six Sigma gibt Instrumente des Selbstmanagements und erhöht dadurch die
Professionalisierung der Arbeit, die zur besseren Servicequalität beiträgt.
Dass Lean Six Sigma auch in der Dienstleistung erfolgreich zur Anwendung gebracht werden
kann, wird heute wohl kaum jemand bestreiten (vgl. Georges 2009). Aus unserer Sicht liegt in
Lean Six Sigma Projekten aber auch ein bislang noch ungenutztes Potenzial zur Verbesserung
der Arbeitsbedingungen, wie die ausgewählten Beispiele gezeigt haben. Die beschriebenen
Lean Six Sigma Initiativen sind durchaus mit Ansätzen aus der Personal- und
Organisationsentwicklung vergleichbar. Sie haben darüber hinaus gezeigt, dass
Qualitätssicherung und Humanisierung der Arbeit kein Widerspruch sein müssen. Wenn beide
Aspekte sinnvoll und effektiv miteinander verbunden werden, können sie gemeinsam einen
noch größeren Beitrag zum Unternehmenserfolg leisten. Es wird vor allem in der Optimierung
der
Dienstleistungsqualität
darum
gehen
die
Effizienzsteigerung
mit
der
Mitarbeiterzufriedenheit bzw. -gesundheit zu verbinden. Gerade diese Verknüpfung ist
zentral, denn nur dort, wo die Menschen zufrieden mit ihrer Arbeit sind, sind sie auch
motiviert, gute Arbeitsleistungen bzw. Service zu erbringen.
Literatur
Bornhöft, F. & Faulhaber, N. (2007). Lean Six Sigma erfolgreich implementieren. Frankfurt:
Frankfurt School Verlag.
Liker, J. K. (2007). Der Toyota-Weg. München: FinanzBuchVerlag.
Magnusson, K, Kroslid, D. Bergmann, B. (2004). Six Sigma umsetzen. Die neue
Qualitätsstrategie für Unternehmen. München: Hanser.
Meffert, H. & Bruhn, M. (2004). Dienstleistungsmarketing. Grundlagen – Konzepte –
Methoden (4., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage). Wiesbaden: Gabler Verlag.
Müller, B. Münch, E. & Badura, B. (1997). Gesundheitsförderliche Organisationsgestaltung
im Krankenhaus. Weinheim: Juventa.
Georges, M. (2009 i.D.). Lean Six Sigma für Dienstleistungen. Berlin: Springer.
Preußner-Moritz, I. (2008). Betriebliche Gesundheitsförderung durch Beteiligung.
Saarbrücken: VDM Dr. Müller.
Rother, M. & Shook, J. (2006). SEHEN LERNEN mit Wertstromdesign die Wertschöpfung
erhöhen und Verschwendung beseitigen (Version 1.2). Aachen: Lean Management Institut.
Töpfer, A. (2003). Anforderung an die Unternehmenskultur bei der Einführung von Six
Sigma. In A. Töpfer (Hrsg). Six Sigma. Konzeption und Erfolgsbeispiele. Berlin: Springer.
Ulich, E. (2005). Arbeitspsychologie. (6., überarbeitete und erweiterte Auflage). Zürich: vdf
Hochschulverlag/ Stuttgart: Schäffer Poeschel.
www.6sigma-tc.de (2009): Six Sigma bringt Zuverlässigkeit. Management & Krankenhaus
(H.4), 23.
www.tqm.de
Zeithaml, V.A., Berry, L.L. & Parasuraman, A., (1988): SERVQUAL. Communication and
Control Processes in the Delivery of Service Quality. Journal of Markekting , 52(4), 35-48.