Schuld und Sünde

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Schuld und Sünde
SCHULD UND SÜNDE
Eberhard Schockenhoff
Die Zusammengehörigkeit dieser beiden Grundbegriffe der religiösen Sprache ist für die
Sinndeutung entscheidend, die der christliche Glaube vom menschlichen Dasein gibt. Nur
dort, wo sie in der richtigen Weise gesehen wird und wo ihre Balance im Leben der Menschen
gelingt, bewahrt auch der christliche Glaube sein inneres Gleichgewicht. Wird die Rede von
der Sünde isoliert, übersteigert sie sich zur Anklage und Überforderung des Menschen.
Christliches Ethos verfällt dann der Perversion einer Sündenmoral, die das Leben nur von den
überall lauernden Gefahren und von dem ständig zugegenen Reiz der Übertretung moralischer
Gebote her sieht. Verliert dagegen die Rede von Schuld und Sünde ihren Anhalt im
tatsächlichen Erleben der Menschen, oder wird sie als Ausdruck einer prinzipiell
lebensfeindlichen Haltung diffamiert, so verflacht die Botschaft von der Vergebung und die
Einladung zur Umkehr zu einer netten Harmlosigkeit. Sie ängstigt niemanden mehr und
verursacht keine Depressionen, aber abseits der psychiatrischen Kliniken, im
"Normalzustand" des bürgerlichen Bewußtseins, läßt sich ebenso gut ohne sie leben. Wie sich
in einer Welt ohne Gott, die keine Vergebung und keine Möglichkeit der Umkehr kennt,
schuldig gewordenes Dasein rechtfertigen läßt, diese Frage wird aus dem lebensweltlichen
Erfahrungsbezug der Menschen abgetrennt und allenfalls in das Gebiet der Literatur
überwiesen, von wo aus sie sich freilich erneut zu Wort meldet.
Für das christliche Verständnis von Sünde und Umkehr, Schuld und Vergebung bleibt
dagegen wesentlich, daß sie nur miteinander ins rechte Licht rücken. Das ganze Ausmaß
menschlicher Schuld und die unheilvolle Macht der Sünde werden erst von ihrer
Überwindung durch den Tod und die Auferstehung Jesu her sichtbar. Die Rede von Sünde
und Schuld gewinnt ihre ganze Tiefenschärfe erst von der durch Christus bewirkten
Versöhnung her, aber umgekehrt wird auch die Botschaft des Evangeliums zum Angebot der
"billigen Gnade" (Dietrich Bonhoeffer), wenn sie nicht als die von außen kommende
Befreiung des Menschen aus seiner Verlorenheit an die Sünde verstanden wird. Schuld und
Vergebung, Sünde und Umkehr sind so zwei Relationsgrößen, die aufeinander verweisen und
nur in diesem Relationsgefüge richtig verstanden werden. Wenn Karl Rahner in seinem
"Grundkurs des Glaubens" schreibt: "Schuld und Sünde sind zweifellos ein zentrales Thema
für das Christentum; denn dieses versteht sich ja als Erlösungsreligion, als das Ereignis der
Vergebung der Schuld durch Gott selbst und seiner Tat an uns in Jesus Christus - in seinem
Tod und seiner Auferstehung" und wenn er dies noch weiter präzisiert: "Insofern wäre jede
Einführung in den Begriff des Christentums mangelhaft, wäre nicht von der Schuld und der
Verlorenheit des Menschen, von der Notwendigkeit einer Rettung aus einem radikalen
Unheil, von Erlösungsbedürftigkeit und Erlösung die Rede" (S. 97), dann verweist er auf den
zentralen Rang, die Sünde und Umkehr im christlichen Glauben einnehmen. Der evangelische
Theologe Gerhard Ebeling schreibt der christlichen Verkündigung und der Theologie sogar
mit noch schärferen Worten die Mahnung ins Stammbuch: “Theologie ist nicht recht bei der
Sache, wenn sie nicht von der Sünde redet.” (...356). Wahre Glaubenserkenntnis und wahre
Gotteserkenntnis sind überhaupt nur dort möglich, wo sich der Mensch im Angesicht Gottes
als Sünder erkennt. Denn, so liest man bei Ebeling weiter: “Wenn der Mensch nicht Sünder
ist, ist Gott nicht Gott” (362). Dies mögen überspitzte Formulierungen sein, aber sie
verweisen doch auf einen im durchschnittlichen Glaubensbewußtsein heutiger Christen oft
übersehenen Zusammenhang. Die Sache des Christentums wird entstellt und verfälscht, wenn
darin nicht auch von der Sünde des Menschen die Rede ist. Für den dänischen Philosophen
Sören Kierkegaard ist die Erkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit sogar die notwendige
Voraussetzung, um überhaupt Christ werden und Christ bleiben zu können. Er schreibt in
seinem Tagebuch: “Das Sündenbewußtsein ist und bleibt die unumgängliche Bedingung
(conditio sine qua non) für alles Christentum, und könnte jemand nur von ihm befreit werden,
so könnte er auch nicht Christ werden” (TB, 324).
Die eigentliche Schwierigkeit liegt jedoch darin, wie der Mensch von heute überhaupt in den
Verstehenszirkel von Sünde und Umkehr hineingerät, der ihm ein Verständnis der Sache des
Christentums erst ermöglicht: “Wenn der Mensch nicht begreift, ein wie großer Sünder er sei,
dann kann er Gott nicht lieben; und wenn er nicht Gott liebt (...), so kann er nicht begreifen,
ein wie großer Sünder er ist” (TB II 243). Erst die Liebe zu Gott läßt mich die Größe meiner
Sünden erkennen und umgekehrt. Die Auskunft, daß die Botschaft der Erlösung eben die
Antwort auf die Unheilsituation des Menschen ist, verbleibt noch außerhalb dieses Zirkels,
solange der Mensch seine eigene Situation zwar als fehlerhaft und defizitär, aber nicht als
schlechthin ausweglos erkennt. Der moderne Mensch erfährt sein Leben zwar in vielerlei
Hinsicht als rechfertigungsbedürftig, aber im großen und ganzen läßt es sich auch mit den ihm
anhaftenden Mängeln ganz gut leben. Daß dieses natürliche Leben einer "Krankheit zum
Tode" verfallen ist, dafür gibt es in dem gesicherten Lebensgefühl unserer Zeit keinen
zwingenden Anhaltspunkt und die bedrängenden Warnungen vor durch die Menschheit selbst
heraufgeführten Katastrophen können die privaten Beschwichtigungsstrategien der einzelnen
immer nur kurzfristig in Frage stellen.
Der Verkündiger der christlichen Botschaft gleicht deshalb, wie Kierkegaard in dieser
Schärfe als erster gesehen hat, einem Arzt, der seinen Patienten erst davon überzeugen muß,
daß hinter seinem Gefühl strotzender Gesundheit eine tödliche Krankheit lauert. Ohne daß sie
eine Erfahrungsdimension für die Rede von Sünde und Schuld zurückgewinnt, bleibt die
christliche Rede von Erlösung und Vergebung in der Tat unwirklich und unwirksam. Aber
läßt sich heute der von Kierkegaard vorgezeichnete Weg tatsächlich beschreiten, ohne daß die
christliche Verkündigung der entgegengesetzten Versuchung verfällt, vor der in unserem
Jahrhundert Dietrich Bonhoeffer am nachdrücklichsten gewarnt hat: "Ich möchte von Gott
nicht an den Grenzen, sondern in der Mitte, nicht in den Schwächen, sondern in der Kraft,
nicht also bei Tod und Schuld, sondern im Leben und im Guten des Menschen sprechen"
(Widerstand und Ergebung, S. 307)? Wenn die christliche Theologie die Mahnung akzeptiert,
daß sie den Menschen nicht nur in den "Kränkungen" seines Selbstbewußtseins (Sigmund
Freud) mit der Botschaft des Evangeliums konfrontiert, sondern daß sie in seinem Leben und
in dem Guten, das er vermag, von Gott spricht, dann muß sie auch in der Erfahrung
menschlicher "Stärke" und menschlichen Gelingens die Spuren der Erfahrung von Sünde und
Schuld aufzeigen können. Doch zuvor soll das Phänomen der Schuldverdrängung im
gegenwärtigen Bewußtsein aufgezeigt und in seiner inneren Widersprüchlichkeit analysiert
werden.
1. Die Verdrängung der Schuld im gegenwärtigen Bewußtsein
Die Reserve, die sich im gegenwärtigen Bewußtsein gegenüber dem Begriff der Schuld, aber
auch gegenüber korrespondierenden Vorstellungen wie Freiheit und Verantwortung aufgebaut
hat, läßt sich an verschiedenen Lebensbereichen ablesen. Im juristischen Kontext ist das
Phänomen der Schuld seit längerem obsolet geworden. Der metaphysische Schuldbegriff des
deutschen Idealismus (Kant, Hegel) der den Straftäter als Person achten wollte, indem er ihn
bei seiner Tat behaftete, ist in der großen Strafrechtsreform der 70er Jahre durch das
Sozialschädlichkeitsprinzip ersetzt worden. Die Einsichten in die psychologische Bedingtheit
und gesellschaftliche Abhängigkeit menschlichen Verhaltens haben der idealistischen
Annahme den Boden entzogen, wonach der Verbrecher in der Zuerkennung seines Rechtes
auf Strafe von der Rechtsgemeinschaft als Mensch geachtet werde. Das auf dieser Annahme
basierende Schuldstrafrecht hat seine theoretische Geltung längst eingelöst, bevor es durch
das neue "Maßnahmerecht" ersetzt wurde, dessen oberstes Ziel nicht Strafe und
Wiedergutmachung, sondern Sozialverträglichkeit und Anpassungsverhalten sind. Der Begriff
der Schuld spielt allenfalls indirekt noch eine Rolle, insofern bei der Festsetzung des
Strafmaßes sogenannte Schuldminderungsgründe berücksichtigt werden.
1.1. Schuld und Schuldgefühle in der psychoanalytischen Theorie
Vorbereitet wurde die Abkehr der Rechtswissenschaft vom Schuldprinzip vor allem durch die
Interpretation des Schuldbewußtseins in der Tiefenpsychologie dieses Jahrhunderts. Da sie,
vor allem was die Behandlung des Schuldphänomens anbelangt, lange Zeit unter dem
beherrschenden Einfluß von Sigmund Freud stand, soll dessen Analyse des
Schuldbewußtseins etwas breiter vorgestellt werden.
In der psychoanalytischen Behandlung begegnet Freud der Wirklichkeit menschlicher Schuld
zunächst in der Form neurotischer Schuldgefühle. Dies ist für sein Verständnis des
Schuldphänomens von ausschlaggebender Bedeutung; er gewinnt sein Grundmodell, nach
dem er psychologische Gesetzmäßigkeiten von allgemeiner Gültigkeit beschreiben möchte,
im Umgang mit kranken Menschen. Das macht die philosophische und theologische
Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse so schwierig, denn einerseits begegnet im Zerrbild
des Kranken immer auch ein Zug der "Pathologie des Normalen", andererseits handelt es sich
aber wirklich um ein Zerrbild, das über die wahre Bedeutsamkeit der analysierten psychischen
Phänomene keine zuverlässige Auskunft bereithält. Vor allem der junge Freud war
darüberhinaus von einem mechanistischen Menschenbild und einem "antiphilosophischen
Affekt" (R. Goetschi, Der Mensch und seine Schuld, S. 43) beherrscht, der ihn weniger nach
dem Wesen der in Frage stehenden Phänomene, sondern mehr nach den hinter ihnen
stehenden psychischen Kräften und deren auslösenden Mechanismen fragen ließ.
So stellte sich für Freud das Schuldproblem vor allem als Frage nach dem Ursprung der
Schuldgefühle, näherhin als die Frage nach der phylogenetischen und ontogenetischen
Entwicklung des Schuldbewußtseins. In seinen Schriften "Totem und Tabu" und vor allem
"Das Unbehagen in der Kultur" greift Freud den Darwinschen Gedanken der Ur-Horde auf
und verwendet ihn zur phylogenetischen Erklärung des Schuldbewußtseins. Danach töteten
die Brüder der Ur-Horde ihren Vater, wodurch das Schuldgefühl Eingang in die Menschheit
fand. Sie konnten auf diese Urtat mit Reue und Schuldempfinden reagieren, weil sie dem
Vater in einer ambivalenten Haltung von Liebe und Haß gegenüberstanden, aus der ihr
Schuldgefühl resultierte. Da dieser Ambivalenzkonflikt gegenüber dem Vater sich in den
kommenden Geschlechtern wiederholte, verstärkte sich auch das Schuldgefühl, das so auf
eine verhängnisvolle Weise unvermeidlich wurde. Daß die Hypothese vom Vatermord
phantastisch anmutet, besagt in den Augen Freuds dabei wenig, denn entscheidend ist nicht,
ob spätere Generationen den Vater getötet oder sich der Tat enthalten haben, sondern allein
das Bestehen der Aggressionsneigung und des Aggressionswunsches. Wenn Freud seine
Schrift "Totem und Tabu" mit dem Satz beendet: "Im Anfang war die Tat" (Bd. 9, S. 194), so
fordert er diese Schuldtat, die den Ursprung des Schuldgefühls erklären soll, nur für den
Anfang des Menschengeschlechtes. Bei den späteren Generationen genügt schon der vom
Über-Ich unterdrückte Aggressionswunsch, um die Genese der Schuldgefühle zu erklären.
Besonders deutlich wird dies im Schuldempfinden des Neurotikers, der bereits seinen Wunsch
für die vollbrachte Tat hält und die innere psychische Realität gegenüber der Wirklichkeit der
Außenwelt krankhaft überschätzt.
Bei solchen neurotischen Schuldgefühlen setzt auch ihre ontogenetische Erklärung ein, die
Freud im Rahmen seiner mechanistischen Triebtheorie gibt. Häufig sind es infantile
Sexualwünsche, die von ihrem unerreichbaren Objekt auf andere Triebgegenstände
"verschoben" werden; die psychischen Auslöser des Schuldgefühles können aber auch nichtsexueller Natur sein. Ein junger Mann, der als Patient in Freuds Praxis kam, macht sich
Vorwürfe, daß er beim Tod seines Vaters nicht anwesend war. Die Erinnerung daran quält ihn
so entsetzlich, daß er sich schließlich die Schuld am Tod seines Vaters zuschreibt und sich
selbst als Verbrecher betrachtet (Bd. 7, S. 398 f.). Im Laufe der Analyse stellt sich heraus, daß
der Patient einen unbewußten Todeswunsch gegen seinen Vater hegte. Auf der bewußten
Ebene liebte er ihn über alle Maßen, aber im Unterbewußten haßte er den Vater, weil dieser
seiner Beziehung zu einer Frau im Wege zu stehen schien. Sein Schuldgefühl resultierte aus
dieser verdrängten und nicht bewußt gewordenen Aggression gegen den Vater; sein Über-Ich
und der Anspruch seines Ich-Ideals ließen die Bewußtwerdung dieser Aggressionsneigung
nicht zu.
Wichtig ist dabei nicht so sehr, wie Freud die unbewußten Triebverschiebungen im einzelnen
Fall konkret erklärt, sondern wie er die Entstehung des Schuldbewußtseins überhaupt deutet.
Es ist für ihn das unvermeidbare Ergebnis eines Konfliktes zwischen unseren unbewußten
Triebwünschen und den Forderungen des Über-Ichs, die wir in unserer frühkindlichen
Identifizierung mit der Erwachsenenwelt übernommen haben. Das Schuldgefühl entsteht so
vor allem aus der Angst vor den Ansprüchen unseres Ich-Ideals, es ist für Freud der
"Ausdruck einer Spannung zwischen Ich und Über-Ich" (Bd. 13, S. 379). Die
Ausweglosigkeit der Schuldgefühle wird nach Freud noch dadurch verschärft, daß sie nicht
nur in einer harten, sondern auch als Folge einer weichen und nachsichtigen Erziehung
auftreten. Ein strenges Über-Ich ist dann nur die unvermeidliche Reaktion der kindlichen
Psyche, die sich den Eltern gegenüber zu Liebe und Dankbarkeit verpflichtet fühlt und
deshalb die eigenen Aggressionsneigungen noch rigider unterdrücken muß.
Der entscheidende Grundzug an Freuds psychoanalytischer Erklärung der Schuldgefühle, der
sich in diesem Punkt übriges auch bei Alfred Adler und seiner Erklärung des Schuldgefühls
aus einer Analogie zum Minderwertigkeitskomplex findet, besteht nun darin, daß
Schuldgefühle immer ein sekundäres Phänomen sind. Schuldig werden und schuldig sein
gehört nach psychoanalytischer Auffassung nicht zu den ursprünglichen Möglichkeiten des
Daseins, sondern entsteht erst als eine abgeleitete Reaktion, die dem Menschen durch die
Auseinandersetzung mit seiner Umwelt abverlangt wird. Schuld ist vor allem eine Bürde, von
der es sich zu befreien und eine Illusion, die es im Interesse des Menschen zu entlarven gilt.
Letztlich wurzelt diese Interpretation in den deterministischen Grundannahmen des
psychoanalytischen Menschenbildes, in denen für Freiheit und Verantwortung des einzelnen
wenig Raum bleibt. Von Anfang an verstand sich die Psychoanalyse dabei auch als die
Einlösung einer Hoffnung, die sich auf die Befreiung von religiösen Zwangsvorstellungen
und vom Bild eines strafenden und zornigen Gottes bezogen. Insbesondere Friedrich
Nietzsche hatte in seiner Schrift "Zur Genealogie der Moral" zwischen dem christlichen
Gottesgedanken und dem Wachstum des menschlichen Schuldgefühls eine exakte
Korrespondenz gesehen: "Die Heraufkunft des christlichen Gottes, als des Maximal-Gottes,
der bisher erreicht worden ist, hat deshalb auch das Maximum des Schuldgefühls auf Erden
zur Erscheinung gebracht" (Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. VI/2, 314). Mit dem von
ihm selbst eingeläuteten Untergang des christlichen Gottesglaubens verband Nietzsche die
Hoffnung, daß sich mit dem Tod Gottes auch die menschliche Schuld von selbst erledigen
und zu einer träumerischen "zweiten Unschuld" führen würde.
So weit ist Freud jedoch nicht gegangen. Seine Versuche, die stammes- und
individualgeschichtliche Entwicklung des Schuldgefühls zu erklären, verfolgen zwar die
Absicht, die Schuld selbst durch das Bewußtwerden ihrer Ursache als eine Illusion zu
entlarven, aber daß er den Menschen auf psychoanalytischem Wege dauerhaft von dieser
Illusion befreien könnte, das hat Freud nicht geglaubt. Der Weg der Schuldbewältigung, den
die Psychoanalyse aufzeigt, beginnt zwar mit einer Art "Nichtigkeitserklärung" (Albert
Görres, Kennt die Psychologie den Menschen?, S. 175), aber sie ist dennoch nicht in der
Lage, beim gesunden und kranken Erwachsenen den Zustand einer völligen Schuldfreiheit
wiederherzustellen, der vor der frühkindlichen Traumatisierung herrschte. Schon im Jahr
1952 konstatierte der Schweizer Psychotherapeut G. Bally deshalb unmißverständlich, daß der
Traum einer auf dem Weg der Psychoanalyse von ihren Schuldgefühlen befreiten Menschheit
ausgeträumt sei (C. Condrau, Schuld und Sünde, in: Christlicher Glaube Bd. 12, S. 99).
Daß die Psychoanalyse wohl die Schuldgefühle des Menschen als Illusion entlarven, ihn aber
dennoch nicht dauerhaft davon befreien kann, hängt mit einem empfindlichen Mangel der
psychoanalytischen Methode zusammen. Da sie ihre Ergebnisse im Umgang mit neurotischen
Patienten erzielt, hat sie kein Kriterium an der Hand, das falsche Schuldgefühle von echten
unterscheiden könnte. Die Frage, ob es auch ursprüngliche, nicht-neurotische Schuld als
Selbstverfehlung des Menschen gibt, taucht für Freud nicht einmal als ein mögliches Problem
auf. Nur einmal kommt er auch darauf zu sprechen, daß es ein Schuldgefühl gibt, daß nicht
durch unbewußte Aggressionswünsche hervorgerufen wird, sondern das der aggressiven Tat
nachfolgt. Es ist also auch für Freud immerhin denkbar, "daß man sich schuldig fühlt, weil
man wirklich etwas, was nicht zu rechtfertigen ist, getan hat" (Das Unbehagen in der Kultur,
Bd. 14, 491). Ein solches nicht-krankhaftes Schuldgefühl nennt Freud "Schuldgefühl aus
Reue". Aber er schließt es aus seinen psychoanalytischen Erwägungen von vornherein aus,
weil die vollbrachte Unrechtstat für das Individuum als Aggressionsentladung zum einen
triebökonomisch von Vorteil ist, und weil zum andern das Phänomen der Reue das
Schuldgefühl nicht erklären kann, da es voraussetzt, "daß ein Gewissen, die Bereitschaft sich
schuldig zu fühlen, bereits vor der Tat bestand" (a.a.O.). Das bringt in Freuds Analyse des
Schuldphänomens von Anfang an eine nicht aufgeklärte Zweideutigkeit hinein: einerseits
beschränkt er sich methodisch bewußt auf das neurotische und krankhafte Schuldgefühl,
andererseits weitet er seine an kranken Menschen gewonnenen Einsichten unter der Hand
immer wieder zu einer anthropologischen Gesamtperspektive aus. Dadurch wird die
Möglichkeit, daß es auch echte Schuldgefühle des Menschen gibt, die sich gegenüber ihrer
tiefenpsychologischen Auflösung resistent verhalten, von vornherein verdrängt: Schuld wird
so mit einer neurotischen Fehlentwicklung identifiziert, sie ist Krankheit, Illusion, falsches
Bewußtsein.
Die spätere psychoanalytische Entwicklung ist wie in vielen anderen Punkten, auch in der
Analyse des Schuldphänomens über Freud hinausgegangen. Nachdem die
psychotherapeutische Praxis offenbar selbst erwies, daß sich das Phänomen der Schuld nicht
einfach von selbst erledigen läßt, ging sie vor allem in dem Konzept der sog. Daseinsanalyse
dazu über, Schuldig-Werden und Schuldig-Sein als einen ursprünglichen Grundzug des
menschlichen Daseins zu verstehen. Vor allem auch die anthropologisch orientierten neueren
Ansätze der Psychotherapie stehen für das Anliegen, die in der analytischen Situation
aufbrechenden Schuldgefühle ernst zu nehmen und sie in ihrem anthropologischen Gehalt zu
erkennen. Als sinnvoller Teil einer anthropologischen Gesamtaufgabe kann ein Schuldgefühl
aber nur dann angenommen werden, wenn es auch tatsächlich "Schuld" anzeigt. Das gilt sogar
dann, wenn das Schuldgefühl auf den ersten Blick unsinnig erscheint. Insbesondere Werner
von Siebenthal hat darauf bestanden, daß zwischen dem Schuldgefühl und der
anthropologischen Größe "Schuld" eine wirkliche Korrespondenz herrscht und daß es deshalb
eine unaufhebbare Beziehung zwischen beiden Größen gibt. Das Schuldgefühl auch des
kranken Menschen verweist deshalb immer auf eine existentielle Schuld, die zwar nicht
sittliche Schuld im strikten Sinn ist, aber immer eine existentielle Gefährdung des
Menschseins anzeigt (vgl. R. Goetschi, a.a.O., S. 245, S. 311).
Solche anthropologischen Ansätze der Psychoanalyse erleichtern natürlich der Theologie die
Aufnahme des Gesprächs, weil hier eine gemeinsame Frageebene viel leichter zu sehen ist als
in der Auseinandersetzung mit Freud. Doch bleibt gerade die Auseinandersetzung mit Freud
für die Theologie noch weithin eine unerledigte Aufgabe. Er bekommt zwar das Phänomen
der Schuld nicht in seinem Charakter als Selbstwiderspruch des Menschen in den Blick, aber
er beschreibt mit seinen Fallbeispielen neurotischer Schuldgefühle doch einen Anteil, der in
vielen Fällen auch im "normalen" Glaubensbewußtsein mancher Christen vorkommt. Vor
allem würde es sich die Theologie zu einfach machen, wenn sie der Psychoanalyse eine
schiedlich-friedliche Trennung der beiderseitigen Interessenssphären nach dem Motto
vorschlagen wollte: ihr seid für die "falschen", wir sind für die "echten" Schuldgefühle
zuständig (wie man dies im Anschluß an Paul Tillich lange Zeit versuchte). So einfach ist die
Lage nicht, denn zunächst einmal lassen sich in der individuellen Biographie "falsche"
Schuldgefühle von "echter" Schuld immer nur schwer voneinander trennen, und zum anderen
ist dem modernen Menschen gerade der Zugang zur Selbsterfahrung echter, nicht-auflösbarer
Schuld weithin abhanden gekommen.
Das weitgehende Unverständnis gegenüber dem Begriff der Schuld bleibt dabei selbst den
Psychotherapeuten nicht verborgen, die ihre Beobachtungen vor allem an kranken Menschen
machen. In seinem Buch "Kennt die Psychologie den Menschen?" diagnostiziert Albert
Görres einen nahezu völligen Ausfall des Schuldbewußtseins: "Die religiöse Situation der
Gegenwart ist bis in die psychiatrische Klinik hinein gekennzeichnet durch ein Erlöschen des
Wissens um Schuld" (a.a.O., S. 187). Aber auch der Soziologe, der unter Absehung von
individuellen Besonderheiten mehr die Makrostrukturen menschlichen Verhaltens untersucht,
kommt zu einem gleichen Ergebnis: "Die sprachlichen Weltdeutungsschemata von Sünde,
Bösem und Schuld leisten zur Orientierung im Handeln der Menschen keinen Beitrag mehr"
(Chr. Gremmels, Die Sünde - das Böse - die Schuld. Soziologische Aspekte, in: G. Altner
(Hrsg.) Die Sünde - das Böse - die Schuld, Stuttgart 1971, S. 34).
1.2. Das Schuldphänomen in der gegenwärtigen Literatur
In der Literatur unserer Tage wird der Ausfall des Schuldbewußtseins mit schonungsloser
Deutlichkeit beschrieben. Die Literatur steht dem wirklichem Leben ja oft näher als die
theoretischen Analysen der Wissenschaft. Sie kann deshalb mit Hilfe ihrer Erzählungen und
Bilder Geschehnisse, Verschiebungen und Verlagerungen des wirklichen Lebens ins
Bewußtsein heben, lange bevor uns dafür die angemessenen soziologischen und
psychologischen Deutungskategorien zur Verfügung stehen. Vor allem kann sie die
Verlagerung des Schuldphänomens differenzierter beschreiben, als es Begriffe wie "Ausfall"
oder "Verdrängung" vermögen. Dieses Bemühen um eine scharfe Nachzeichnung auch der
gegenläufigen Bewegungen des wirklichen Lebens zeigt sich etwa in dem paradoxen Titel
einer Erzählung von Siegfried Lenz "Schuldhafte Schuldlosigkeit", unter dem vor einigen
Jahren auch eine germanistische Studie zum Thema "Schuld" in der modernen Literatur
erschien. (J. Kopperschmidt, in: J. Blank, Der Mensch am Ende der Moral, Düsseldorf 1971,
S. 35-61).
In seinem Roman "Das Wunder des Malachias" beschreibt Bruce Marshall wie leicht die
Menschen bereit sind, dem Gerücht von der Selbsterledigung der Sünde Glauben zu
schenken. "Da hatte einer im 19. Jahrhundert das Gerücht aufgebracht, die Sünde sei gar
keine Sünde, und seitdem war mit den Leuten auf gar keine Weise und überhaupt nicht mehr
auszukommen" (zitiert nach A. Auer, Ist die Sünde eine Beleidigung Gottes?)... Nicht, daß die
Menschen nicht auch früher gesündigt hätten: "Tanzgelegenheiten, ein Babylon neben dem
anderen und nichtsnutzige ein bißchen mit den Augen zwinkernde junge Mädchen hatte es
immer gegeben .... aber neuerdings, wenn sie sündigten, sagten die Leute, sie täten recht, und
jeder könne beanspruchen, so unmoralisch zu sein wie alle anderen."
Aber wenn das Wort "Sünde" erst einmal als Einschüchterungswaffe der Pfarrer erkannt ist
und seine Rolle als Daumenschraube für den einzelnen nicht mehr zu spielen vermag, löst die
damit gemeinte Sache sich dennoch nicht einfach in Nichts auf. In dem Maß, in dem die
Menschen ihr persönliches Schuldbewußtsein verlieren, wachsen die öffentlichen
Schuldsprüche, die nach der Art eines Sündenbockmechanismus für kollektive Mißstände und
Fehlentwicklungen nach Verantwortlichen suchen. Die Sünde verläßt den engeren Kreis
unserer privaten Lebensbeziehungen, aber sie kehrt als eine allgemeine Komplizenschaft, als
ein verdrängtes Mitschuldigsein aller wieder. Der kollektive Unschuldswahn, in dem keiner
sich von persönlicher Schuld betroffen weiß, verkehrt sich mit Hilfe eines subtilen
psychologischen Verlagerungsmechanismus in die demonstrativ zur Schau gestellte
Bereitschaft zum öffentlichen Schuldbekenntnis, das für den einzelnen gleichwohl folgenlos
bleibt. Friedrich Dürrenmatt, der in seinem Theaterstück "Der Besuch der alten Dame"
beschreibt, wie alle zwischenmenschlichen Beziehungen von einer Unmenschlichkeit höherer
Ordnung, nämlich des politischen Gemeinwesens der Bürger, zersetzt werden, hat dies in
seiner Rede über "Theaterprobleme" aus dem Jahr 1954 auch theoretisch analysiert. Er
beschreibt darin die "Schuld der Gesellschaft" als eine kollektive Schuld, in der die
Verantwortlichkeit des einzelnen aufgegangen ist: "In der Wurstelei unseres Jahrhunderts, in
diesem Kehraus der weißen Rasse gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen
mehr. Alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt... Wir sind zu kollektiv schuldig,
zu kollektiv gebettet in die Sünde unserer Väter und Vorväter. Wir sind nur noch
Kindeskinder. Das ist unser Pech, nicht unsere Schuld" (J. Kopperschmidt, a.a.O., S. 35).
Im ersten Finale von Berthold Brechts Dreigroschenoper wird die "Schuld der Verhältnisse"
durch die Anklage des berühmten Kehrverses skandiert: "Die Welt ist arm, der Mensch ist
schlecht. Wir wären gut - anstatt so roh; doch die Verhältnisse, sie sind nicht so!". Viele der
zeitgenössischen Romane und Theaterstücke haben das kollektive Schuldigwerden der
Gesellschaft, das Versagen ihrer moralischen Autoritäten (vgl. Rolf Hochhut, Der
Stellvertreter) und das sich Verstecken des einzelnen hinter der gemeinsamen Schuld aller
zum Thema. Max Frisch beschreibt in seinem 1961 erschienenem Stück "Andorra" die
gemeinsame Ursünde aller Menschen, die darin besteht, daß sie sich voneinander ein Bild
machen und sich gegenseitig in dieses Rollenbild hineindrängen. Andorra steht als Name für
die Gesellschaft, die sich ein Bild von ihren Außenseitern - in diesem Fall: von den "Juden" gemacht hat. Obwohl Andri, wie am Ende des Stückes deutlich wird, gar kein Jude ist,
sondern der uneheliche Sohn des Lehrers der kleinen Stadt, wird er zum Juden gemacht, und
auch er selbst benimmt sich so, indem er die Vorurteile der anderen übernimmt und sich in
seine Rolle hineindrängen läßt. Am Ende trifft ihn das Schicksal aller verfolgten Juden und er
stirbt den Tod am Pfahl. Alle andorranischen Bürger müssen in den öffentlichen Zeugenstand
treten und allesamt beteuern sie ihre Unschuld. Sie waren Opfer ihrer kollektiven
Verblendung, aber keiner fühlte sich als Mittäter. Nur der Pater bekannte sich schuldig, aber
auch er hat nur gebetet, als man den Jungen abholte.
Die Sensibilität für mögliche persönliche Schuld, die zunächst völlig aus dem Bewußtsein
verschwunden schien, taucht in der Literatur der letzten beiden Jahrzehnte in neuer Form
wieder auf. Sie erscheint als Annahme der gemeinsamen Schuld, in der Form der Mitschuld
als dem einzig noch verbleibenden moralischen Umgang mit der Schuld. Wenn die Schuld ein
Kollektivphänomen geworden ist, das alle einschließt, dann gibt es nicht mehr Schuldige und
Unschuldige, sondern nur noch solche, die sich von dem allgemeinen Unschuldswahn blenden
lassen, und solche, die ihren Schuldanteil an der gemeinsamen Schuld annehmen. Am Ende
Trilogie "Zeit der Schuldlosen" von Siegfried Lenz sagt der Konsul, der sich selbst erschießt,
um seinen Mitgefangenen die Freiheit zu ermöglichen, obwohl er das Attentat nicht begangen
hat: "Ich habe den Verdacht, daß die Unschuld allmählich auf die Seite derer geraten ist, die
bereit sind, die Schuld auf sich zu nehmen." (a.a.O., S. 48).
Solche literarischen Beobachtungen und Schlaglichter geben auch der Theologie einen
Hinweis darauf, daß die Schulderfahrung im gegenwärtigen Bewußtsein zwar anonym, aber
nicht schlechthin "ortlos" geworden ist. Die Anonymität seiner Schulderfahrung ist gerade die
Weise, durch die der moderne Mensch sich schuldig macht. So ist die Wiederentdeckung der
Schuld und ihre Annahme als Mitschuld an der Schuld aller bereits der erste Akt ihrer
Überwindung. Nicht die Schuld entspringt einem falschen Bewußtsein, wenngleich es auch
diesen Mißbrauch der religiösen Rede gegeben hat, sondern die verbreitete Unschuld zeigt
sich als Wahn, als kollektive Verblendung, aus der das Individuum nur aussteigen kann, wenn
es sich selbst für seine Schuld verantwortlich weiß. Die Gemeinsame Synode der Bistümer in
der Bundesrepublik Deutschland sieht deshalb im Bekenntnis zu Sünde und Schuld nicht ein
abgetrotztes Unterdrückungsinstrumentarium, sondern ein Hoffnungselement für unsere Zeit.
"Das Christentum widersteht mit seiner Rede von Sünde und Schuld jenem heimlichen
Unschuldswahn, der sich in unserer Gesellschaft ausbreitet und mit dem wir Schuld und
Versagen, wenn überhaupt, immer nur bei den anderen suchen, bei den Feinden und Gegnern,
bei der Vergangenheit, bei der Natur, bei Veranlagung und Milieu". (Beschlüsse der
Vollversammlung Bd. 1, S. 93). Dem "heimlichen Unschuldswahn" entspricht zudem ein
"unheimlicher Entschuldigungsmechanismus" durch den wir die Erfolge und das Gelingen
unseres Tuns uns selbst zuschreiben, aber ständig auf der Suche nach Schuldigen sind, denen
wir die Verantwortung für die Katastrophen und die "Nachtseite" der von uns betriebenen
Geschichte aufladen können. Demgegenüber bewährt sich die Hoffnungskraft des Glaubens
darin, daß sie dem Kult der Schuldlosigkeit widersteht und dem Abgrund der Schulderfahrung
standhält. "Und so führt uns unsere christliche Hoffnung nicht an unserer Schulderfahrung
vorbei; sie gebietet uns vielmehr realistisch an unserem Schuldbewußtsein festzuhalten - auch
uns gerade in einer Gesellschaft, die zurecht um mehr Freiheit und Mündigkeit für alle kämpft
und deshalb im besonderem Maß empfindlich ist für den Mißbrauch, der mit der Rede von
Schuld getrieben werden kann und in der Geschichte des Christentums auch getrieben worden
ist" (a.a.O., S. 94). Diese Sätze sind in den letzten Jahren häufig wieder abgedruckt und zitiert
worden, und dies keineswegs zu unrecht. Sie weisen uns nämlich einen Weg, wie die
christliche Verkündigung heute von Sünde und Schuld reden kann, ohne den Menschen
dadurch in einer religiösen Abhängigkeit zu halten, die ihm den befreienden Charakter des
Evangeliums gar nicht mehr erfahren läßt.
1.3. Anthropologische Zugangswege zur Schulderfahrung
Freilich muß die Theologie, wenn sie den Teufelskreis von heimlichem Unschuldswahn und
übersteigerter Schuldzuweisung an die anderen wirklich durchbrechen will, auch Zugänge zu
der verschütteten Erfahrung persönlicher Schuld freilegen. Das ist in einer Zeit, in der wir es
gewohnt sind, alles zu "verstehen" und damit insgeheim auch zu billigen, nicht einfach. Es
setzt die Bereitschaft voraus, daß ich die Verantwortung für mein Handeln selbst übernehme
und sie nicht an anonyme Fremdinstanzen wie meine Erziehung, meine Gene, das mächtige
Beispiel der anderen oder einfach das "Milieu" delegiere. In vielen Bereichen unseres
kollektiv geprägten Verhaltens kann die Bereitschaft zu solcher Schuldannahme, wie die
Analyse der Gegenwartsliteratur gezeigt hat, nur im Eingeständnis meiner Mitschuld am
strukturellen Schuldigsein der Gesellschaft bestehen. Es gibt aber daneben auch eine
Schulderfahrung in der ich mir selbst zugelastet bleibe und in der ich mich durch keinen
anderen vertreten lassen kann.
Wie der Mensch auch heute persönliche Schuld erfahren kann, zeigt eine fundamentale
Unterscheidung menschlicher Handlungsbereiche, von der erstmals Aristoteles gesprochen
hat. Er unterschied zwischen Poiesis und Praxis als den beiden grundlegenden Weisen
menschlichen Tätigseins. Mit Begriffen unserer Sprache können wir diese Differenz etwa so
wiedergeben: In vielen Ausschnitten unseres täglichen Lebens sind wir nur in einem
Teilbereich unseres Menschseins gefordert, nämlich in unserer Fähigkeit zu pragmatischem
und funktionalem Handeln. Unsere handwerkliche Geschicklichkeit, unsere künstlerischen
Fähigkeiten im weitesten Sinn und vor allem unsere beruflichen Qualifikationen und unser
Fachwissen gehören zu diesem Bereich, der in der arbeitsteiligen Industriegesellschaft einen
hohen, wenn nicht gar den höchsten Wert besitzt. Es ist die Welt des homo faber, die Welt des
Machbaren und die Welt des Planbaren, die jedem seinen Wert von seiner
Funktionstüchtigkeit für das Ganze her zuspricht. Hier gilt das Grundgesetz: "Wir sind, was
wir machen".
Daneben gibt es aber noch eine andere Form des Handelns, die für das Gelingen unseres
Menschseins ursprünglicher und bei weitem wichtiger ist. Aristoteles nennt sie im
ausgezeichneten Sinn "Praxis", ein Handeln also, das nur dem Menschen möglich ist. Es ist
nicht auf die Verwirklichung äußerer Güter, nicht auf ein "Herstellen" bezogen, sondern trägt
seinen Sinn in sich selbst. Wir können es heute als "Sinnhandeln" oder "Ausdruckshandeln"
bezeichnen. Dazu gehört vor allem das Erlebnis von Kommunikation und Gemeinschaft, die
Erfahrung von Freundschaft und Liebe wie überhaupt alle personalen Beziehungsformen von
der privaten Kleingruppe bis zur politischen Verantwortung in der Öffentlichkeit. Es wäre
falsch, diesen Bereich des kommunikativen Handelns als die eigentliche und einzige Domäne
des Menschseins anzusehen und alles funktionale Handeln nur den äußeren
Entfremdungsbedingungen des Daseins zuzuschreiben. Aber ihm kommt für das Gelingen des
Lebens eine entscheidende Bedeutung zu, gerade auch deshalb, weil hier ganz andere
Gesetzesmäßigkeiten gelten als in dem technischen Handlungsbereich. Hier heißt der
Grundsatz: "Wir sind, die wir sind", und, in deutlicher Umkehrung gegenüber dem
funktionalem Handeln: "Was wir sind, können wir nicht machen".
Der fundamentale Unterschied zwischen funktionalem Handeln und kommunikativem
Handeln erweist sich nun sowohl in seinem Gelingen als auch in seinem Scheitern. Wenn
menschliches Bezugshandeln "gelingt", so kann keiner der daran beteiligten den Erfolg
einfach sich selber zuschreiben. Wir beherrschen unsere zwischenmenschliche
Kommunikation nicht so, wie wir technische Handlungsabläufe effizient kontrollieren
können. So ist das Ergebnis nicht einfach unser "Werk", dessen Herstellung wir geplant und
exakt berechnet haben, sondern ein "Ereignis", das sich unter uns einstellt, und das uns, auch
wenn wir dafür Verantwortung tragen, prinzipiell unverfügbar bleibt. Noch deutlicher wird
dieser Unterschied aber im Scheitern des Handelns. Im Bereich des funktionalen Handelns
sprechen wir einfach von einem "Fehler", der uns unterlaufen ist, und den wir in den
allermeisten Fällen auch selbst wieder "korrigieren" können. Es macht geradezu ein
Wesensmerkmal dieser technischen Handlungsabläufe aus, daß sie auf dem Wechsel von
Versuch und Irrtum beruhen und die Reparaturmöglichkeit im Schadensfall immer schon
eingebaut haben.
Genau dies aber gilt im Bereich des kommunikativen Beziehungshandelns nicht. Wer
mutwillig eine Freundschaft zerstört oder unverantwortlich eine Liebesbeziehung aufs Spiel
setzt, der kann die zerbrochene Beziehung nicht einfach dadurch wieder herstellen, daß er
seinen "Fehler" korrigiert. Er wird die Erfahrung machen, daß menschliche Beziehungen auf
gegenseitiger Freiheit beruhen und zwar einseitig zerstörbar, aber nicht einfach
"wiederherstellbar" sind. Wir sprechen deshalb in diesem Bereich menschlichen Handelns
auch nicht mehr davon, daß wir einen Fehler gemacht haben, sondern daß wir "schuldig"
geworden sind. Selbst dort, wo uns das Wort "Schuld" nicht über die Lippen geht, und wir nur
sagen können: "das war mein Fehler", meinen wir mehr, als wenn wir von einem falschen
Handgriff oder einem fehlerhaften Teilchen in technischen Prozessen reden. Diese haben wir
zumeist auch dann in der Hand, wenn etwas schief läuft, menschliche Beziehungen dagegen
entgleiten uns, wenn wir sie durch eigene Schuld gefährden. Nicht, daß es nicht auch in ihnen
die Möglichkeit der Wiederherstellung gibt. Aber sie liegt nicht mehr in der Hand dessen, der
schuldig geworden ist, sondern in der Hand des anderen. Darin zeigt sich, daß die Schuld den
Schuldigen selbst in eine von ihm aus gesehen ausweglose Situation der Unfreiheit führt; er
wird der Gefangene seiner Tat und kann sich nicht selbst aus ihren Folgen befreien. Er kann
sich das Wort der Vergebung nicht selbst zusprechen, sondern bleibt darauf angewiesen, daß
der andere einen neuen, aus seiner Sicht unverdienten und unableitbaren Anfang setzt.
Darin wird eine tiefe Asymmetrie sichtbar, auf der unser Leben aufgebaut ist: Wir können
vieles aus eigener Macht zerstören, das wir nicht aus ebenso freiem Entschluß wieder
herstellen können. Im zwischenmenschlichen Bereich herrscht nicht die Zuordnung von
"Schadensfall" und "Reparatur", sondern die von "Schuld" und "Vergebung". Dies wird in
den unmittelbaren Beziehungen von Liebe und Freundschaft am deutlichsten erfahrbar, es gilt
aber darüber hinaus für alles kommunikative Sinnhandeln. Für Aristoteles zählt dazu
ausdrücklich auch der Bereich des Politischen im weitesten Sinn der gesellschaftlichen
Öffentlichkeit. Das erklärt auch, warum etwa Politiker sich so schwer tun, ihre "Fehler"
öffentlich einzugestehen. Sie wären ja nicht nur das Eingeständnis einer leicht korrigierbaren
Fehlentscheidung, sondern das Bekenntnis einer "Schuld", für die "Vergebung" zu erwarten in
einer gnadenlosen Öffentlichkeit aussichtslos ist. Die gleiche Asymmetrie, wonach wir
zerstören können, was wiederherzustellen unsere Kraft übersteigt, gilt aber nicht nur im
vertraut-personalen und im öffentlichen Lebensraum, sondern auch in unserer Beziehung zu
Gott. Vielleicht enthüllt erst die Asymmetrie gegenüber Gott den letzten Grund dafür, daß
unsere Beziehungen untereinander so stark von Schuldabwehr und Schuldverdrängung
bestimmt sind. Wo der Mensch, dessen Transzendenzbezug verstellt ist und der in die
zerstörerischen Möglichkeiten seiner eigenen Freiheit eingemauert bleibt, sein
Schuldigwerden ohne Aussicht auf Gnade und Vergebung erfährt, da muß er dieser
Gnadenlosigkeit aus dem Weg gehen, indem er seine Schuld verdrängt. Schuld läßt sich nicht
wie ein Schaden wiedergutmachen, Schuld ruft nach Vergebung und Umkehr. (S. 240,
Grundaussage der theologischen Anthropologie)
2. Kierkegaard: die Angst als Ursprung der Sünde
Die Begegnung mit den vielfältigen Symbolen des Bösen soll uns heute aber nicht nur zeigen,
wie sich die Schulderfahrung von dem ursprünglichen Makel über die Sünde zur rein
innerlichen Schuld verschoben hat, sondern sie soll uns auch das Weiterwirken der alten
Symbole und die Wiederanknüpfung an ihren Erfahrungspotential ermöglichen. Der Weg
verläuft nicht nur rein negativ, so daß das religiöse Symbol der Sünde das magische Symbol
des Makels zerstört, um dann seinerseits von dem ethischen Symbol der Schuld aufgehoben zu
werden. Es gibt daneben auch den Weg der positiven Anknüpfung oder zumindest die
Einladung zur Wiederentdeckung der Erfahrungsschichten, die sich in den ursprünglichen
Symbolen der Schuld niederschlagen. Deren Transformation in die jeweils nächste Stufe läßt
sich durch die Wiederholung des Weges vom Mythos zum Logos nicht rückgängig machen,
aber sie bietet die Chance einer Begegnung, in der sich dem Menschen ein vollständigeres
und tieferes Verständnis seiner selbst eröffnet. Die "zweite Naivität" kann nicht zur ersten
zurückkehren, aber sie kann die Verluste ausgleichen und die Verarmung beheben, die dem
Menschen seine Befreiung von der ursprünglichen Naivität gekostet hat. So sieht Ricoeur in
der Wiedererlangung unserer Fähigkeit, die Urerfahrung der Schuld "ins Wort" zu bringen
und uns ihr in der Sprache des Bekenntnisses zu stellen, einen entscheidenden Beitrag zur
Wiedererlangung unseres unverkürzten Menschseins.
Die Begegnung mit der Symbolik des Bösen zeigt die verschiedenen Aspekte, die der
Schulderfahrung des Menschen ursprünglich anhaften. Wie die unerklärliche Realität des
Bösen, sein objektives Vorhandensein in der Welt, aber mit der subjektiven Schulderfahrung
des einzelnen verbunden ist, und wie dieser sich in seiner individuellen Verantwortung
zugleich einer überindividuellen Mächtigkeit des Bösen unterworfen weiß, vor diesen Fragen
kann das Denken nicht einfach haltmachen. Auch wenn es sie nicht lösen kann, so muß es sie
dennoch einkreisen und gewissermaßen gegen sie andenken. Die Erbsündenlehre des
christlichen Glaubens stellt den Versuch dar, diesen Zusammenhang aufzuhellen; sie läßt sich
zwar nicht philosophisch rekonstruieren, aber die philosophische Kritik kann zum einen das
Ungenügende ihrer traditionellen Formulierung aufweisen und zum anderen das
Problembewußtsein dafür schärfen, worin ihre eigentliche Denkleistung zu suchen ist. Die
kritische Auseinandersetzung mit dem Erbsündendogma, die sich im Raum der katholischen
Theologie erst zu Beginn dieses Jahrhunderts durch den Streit um den Monogenismus vollzog,
fand im Raum der Philosophie und der protestantischen Theologie bereits ein Jahrhundert
zuvor statt. Die Kritik an der traditionellen Formulierung der kirchlichen Erbsündenlehre, die
damals Friedrich Schleiermacher und vor allem der dänische Philosoph Kierkegaard
formulierten, ist heute weithin theologisch rezipiert. Sie hat in den letzten Jahren neue
Aktualität gewonnen, weil einer ihrer Kerngehalte, die philosophische Deutung der Angst,
eine wesentliche Voraussetzung für die psychologische Interpretation des christlichen
Glaubens durch den umstrittenen Theologen Eugen Drewermann darstellt.
Um den Bezugspunkt der eindringlichen Analysen richtig zu verstehen, durch die
Kierkegaard den Begriff der Angst zerlegt, muß man die radikale Kritik vor Augen halten, die
Schleiermacher an zwei zentralen Aussagen des kirchlichen Erbsündendogmas anbrachte.
Entsprechend seiner Grundkonzeption, wonach die dogmatischen Inhalte des christlichen
Glaubens immer nur Aussagen über das fromme Selbstbewußtsein der Gläubigen enthalten,
reduziert er die Tragweite der Erbsündenlehre auf die Anerkennung der allgemeinen
Erlösungsbedürftigkeit, die sich als solche im gläubigen Selbstbewußtsein aufweisen läßt (Die
christliche Glaubenslehre § 71). Die Erbsündenlehre erscheint ihm als Ausdruck des
christlichen "Gemeinbewußtseins", das sie als eine "Gesamttat und Gesamtschuld des
menschlichen Geschlechtes" versteht (a.a.O.). Dadurch sind insbesondere zwei Aussagen der
klassischen Erbsündenlehre abgelehnt: Erstens darf der Zusammenhang zwischen dem
Bewußtsein einer ursprünglichen Sündhaftigkeit mit der allgemeinen Erlösungsbedürftigkeit
nicht als Strafe verstanden werden, weil es für eine solche Strafwürdigkeit in der christlichen
Frömmigkeit keinen Anhaltspunkt gibt. Zum anderen sind den theologischen Spekulationen
über den Urstand des Menschen und insbesondere über die angebliche Veränderung der
menschlichen Natur durch den Sündenfall des ersten Menschenpaares der Boden entzogen (§
72). Solche theologischen Konstruktionen sind ohne jeden Wert für das religiöse Gefühl; sie
bleiben unanschaulich und sind als Ausdrücke unseres christlichen Selbstbewußtseins nicht
denkbar.
Das ist von Schleiermachers Voraussetzung her durchaus konsequent gedacht: Wenn
dogmatische Aussagen sich nur auf Inhalte des religiösen Bewußtseins beziehen, können sie
nur das zum Ausdruck bringen, worin alle Menschen übereinkommen; eine besondere
Stellung Adams oder eine qualitative Veränderung durch das erste Auftreten der Sünde sind
so von vornherein ausgeschlossen. Die Sünde Adams ist so nichts anderes als die erste Sünde
eines jeden Menschen; die ersten Menschen sind durch ihre erste Sünde nur die "Erstlinge der
Sündigkeit", nicht aber der Grund für eine das gesamte Menschengeschlecht betreffende
Veränderung unserer Natur. Die entscheidende Frage, wie dann die jeweils "erste" Sünde aller
einzelnen Menschen zu erklären sei, versucht Schleiermacher durch den Hinweis auf die
allgemeine Daseinsverfassung des Menschen zu beantworten. Er spricht von einer "unzeitlich
überall und immer der menschlichen Natur anhaftenden Ursündlichkeit" (a.a.O.), die mit ihrer
ursprünglichen Vollkommenheit zugleich besteht. Er sieht also in der menschlichen Natur so
etwas wie eine Disponiertheit zum Sündigen angelegt, die ihrer Vollkommenheit jedoch
keinen Abbruch tut. In dieser Annahme, zu der sich Schleiermacher durch seine Kritik am
kirchlichen Erbsündendogma gezwungen sieht, liegt nun der Ansatzpunkt für das
Streitgespräch, das Kierkegaard aufnimmt. Er schließt sich Schleiermacher an, was den
kritischen Teil der von ihm vorgetragenen Revision angeht. Er wirft ihm aber zugleich vor,
daß er bei dem Versuch, den positiven Gehalt des Erbsündendogmas zu formulieren, genauso
geistlos bleibt, wie diese selbst.
Daß sich die allgemeine Sündigkeit der Menschen nicht durch naturhafte Infizierung,
gleichsam wie die Seuche der "Kuhpocken" ausbreitet, in dieser Kritik gibt Kierkegaard
Schleiermacher vollkommen recht. Adam hat nicht als Repräsentant der menschlichen Natur,
sondern für sich selbst gesündigt. Auch von ihm gilt, was Kierkegaard im Blick auf jeden
Menschen sagt: "Der Begriff Sünde und Schuld setzt eben den einzelnen als den einzelnen"
(Der Begriff Angst, S. 280). Wo von Sünde die Rede ist, da ist der einzelne als er selbst, nicht
in seinem Verhältnis zur ganzen Welt oder zu einem imaginären Punkt am Anfang der
Geschichte gedacht. Dennoch ist in der überlieferten Erbsündenlehre der richtige Gedanke
aufbewahrt, daß der Mensch auch als Sünder nicht allein bleibt, sondern mit seiner Tat
eingebettet ist in die umgreifende Geschichte der ganzen Menschheit. Kierkegaard bestimmt
diesen unaufgebbaren Kern, den er aus der unzureichenden Form der kirchlichen Lehre
herauskristallisiert dahin, daß "der Mensch Individuum ist und als solches zu gleicher Zeit er
selbst und das ganze Geschlecht, dergestalt, daß das ganze Geschlecht am Individuum teilhat,
und das Individuum am ganzen Geschlecht" (a.a.O., S. 205).
Zwischen Adams Sünde und unserer Sünde besteht deshalb sehr wohl ein Zusammenhang,
wenn dieser auch nicht als eine qualitative Veränderung unserer menschlichen Natur zu
bestimmen ist. Die gemeinsame Geschichte der Sünde, durch die wir mit allen Menschen
verbunden sind, ist für Kierkegaard eine rein quantitative Bestimmung, die nur eine
Disposition des einzelnen zur Sünde begründet (a.a.O., S. 215. 292). Darin übernimmt er also
den Schleiermacherschen Gedanken der gemeinsamen "Ursündlichkeit". Dieser aber kann das
gerade nicht erklären, was er doch begründen soll: das Auftreten der "ersten" Sünde. Diese ist
nämlich nicht nur in quantitativer Hinsicht, als der Beginn Nr. 1 der nachfolgenden
Zahlenreihe, sondern qualitativ etwas Neues. "Das ist das Geheimnis des Ersten und dessen
Ärgernis für die abstrakte Verständigkeit, die da meint: einmal ist keinmal, aber vielmal ist
etwas, während es doch durchaus umgekehrt steht, da die vielen Male entweder jedes für sich
ebenso viel bedeuten wie das erste Mal, oder zusammen längst nicht so viel" (S. 207). Darin
liegt das Ärgernis der Sünde für den Verstand und mithin ihre Sperrigkeit gegen alles
philosophische Begreifen, daß sie sich gegen jede Erklärung widersetzt: "Die neue Qualität
kommt zum Vorschein mit dem Ersten, mit dem Sprung, mit der Plötzlichkeit des
Rätselhaften" (S. 208). Darum wußte freilich auch die klassische Erbsündenlehre, wenn sie
das erste Auftreten der Sünde als eine Entscheidung der menschlichen Freiheit und als eine
ursprüngliche Wahl zwischen Gut und Böse dachte. Der Gedanke, daß die menschliche
Freiheit sich spontan und grundlos, oder rein aus dem Motiv einer hochmütigen Rebellion
gegen Gott für das Böse entscheiden kann, setzt aber seinerseits bereits eine irgendwie
geartete Anfälligkeit der Freiheit für das Böse voraus. Das Aufkommen der Sünde durch eine
bereits vorhandene Hinneigung des Willens zu ihr zu erklären, stellt aber gerade keine
Erklärung dar, denn sie setzt das Zu-Erklärende bereits voraus.
In dieser Kritik hat Schleiermacher recht, er bleibt nur darin oberflächlich, daß er sich mit
dem banalen Hinweis auf die allgemeine "Ursündlichkeit" des Menschen begnügt. So einfach
darf es sich das Denken nicht machen, wenn es die Realität des Bösen und die unerklärliche
Wirklichkeit der Sünde nicht verharmlosen will. Anstelle der "Gedankenlosigkeit", die den
Menschen einfachhin zwischen Gut und Böse wählen läßt, sucht Kierkegaard deshalb nach
einer weiteren "Zwischenbestimmung", die den rätselhaften Sprung der Sünde möglich
macht. Er entdeckt diese Zwischenbestimmung in der Angst. Sie ist für ihn eine Bestimmung
des "träumenden Geistes", die sich von der Furcht dadurch unterscheidet, daß sie sich nicht
auf einen konkreten Gegenstand richtet. In der Angst ängstigt sich der Mensch vor sich selber,
insbesondere vor seiner Freiheit und der aus ihr aufsteigenden Möglichkeiten. Kierkegaard
will also das Phänomen der Sünde von dem tieferliegenden Erlebnis der Angst her deuten und
gelangt so zur Umkehrung der These, die hinter dem klassischen Verständnis der biblischen
Sündenfallgeschichte steht: Der Mensch hat nicht Angst, weil er gesündigt hat (vgl. Gen 3,7 8), sondern er wird schuldig aus Angst. In der Angst rührt der Mensch an das Nichts und von
dieser Berührung mit dem Nichts bleibt er fortan gekennzeichnet.
Als "die ängstigende Möglichkeit, zu können", ist das Nichts in ihn selbst hineingedrungen.
Mit dem Wissen um Gut und Böse hat der Mensch seine Unschuld verloren; mit dem Setzen
des Unterschiedes ist zugleich die Angst in die Welt des Menschen gekommen. "Das Verbot
ängstigt ihn, weil das Verbot die Möglichkeit der Freiheit in ihm weckt" (S. 223). Diese in die
Welt hinein geratene Möglichkeit zur Sünde, das Können der Freiheit zum Bösen, nennt
Kierkegaard die "objektive" Angst. Sie ist eine quantitative Bestimmung, an der die ganze
Schöpfung Anteil hat, weil durch die Sünde auch "über das nichtmenschliche Dasein ein ganz
anderes Licht fiel" (a.a.O., S. 237 - 239). "Subjektive" Angst ist dagegen der bodenlose Grund,
aus dem für den einzelnen die Möglichkeit der Sünde hervorsteigt. Sie ist einem Schwindel
vergleichbar, der den Menschen überfällt, wenn er in einen tiefen Abgrund hinabschaut. Ein
solcher "Schwindel der Freiheit" befällt den Menschen, wenn "die Freiheit nun niederschaut
in ihre eigene Möglichkeit, und sodann die Endlichkeit packt sich daran zu halten". Dieses
Mißverhältnis zwischen dem gähnenden Abgrund des Nichts, in den die Freiheit hinabstarrt
und dem "Geländer" ihrer eigenen Endlichkeit, das gewissermaßen zu schwach ist, sie vor
dem Absturz zu bewahren, ist der eigentliche Ermöglichungsgrund der Sünde. Weiter als zur
Einsicht in diese Disproportion, die im Menschen Angst hervorruft, kann keine Philosophie
und keine Psychologie mehr vordringen. Jenseits dieser Grenze liegt das Faktum der Sünde,
das mit einem qualitativen Sprung in die Welt eintritt und aus allen vorangehenden Analysen
nicht mehr ableitbar ist. Auch die schärfste psychologische Beschreibung kann nur die beiden
Endpunkte des Übergangs zur Sünde erfassen, diesen selber bekommt sie nicht in den Blick.
"Den gleichen Augenblick ist alles verändert, und indem die Freiheit sich wieder aufrichtet
sieht sie, daß sie schuldig ist. Zwischen diesen beiden Augenblicken liegt der Sprung, den
keine Wissenschaft erklärt hat oder erklären kann" (a.a.O., S. 241).
Wenn die Freiheit nun nicht nur vor der schwindelerregenden Größe ihrer eigenen
Möglichkeit ertaumelt, sondern in diesem Zustand erstarrt, geht sie in die Verzweiflung über.
In ihr erblickt Kierkegaard mit einem Bild von Eugen Drewermann gesagt, gewissermaßen
den "Gefrierzustand der Angst" und den wesentlichen Inbegriff der Sünde. Verzweiflung
befällt den Menschen, der das Mißverhältnis seiner Freiheit in sich entdeckt und deshalb aus
lauter Angst in einem Mißverhältnis zu sich selber lebt. Diese Situation der Verzweiflung ist
aussichtslos; sie läßt dem Menschen nur die Wahl, daß er nicht sein will, was er ist, oder daß
er sein will, was er nicht ist. Als Ausdruck dieses Mißverhältnisses sind Angst und Sünde
aber nicht nur Bestimmungen der niederen Sphäre des Menschen, wie Schleiermacher
annahm, der die Sündigkeit des Menschen nur als Widerstand des Fleisches gegen die
Bestimmung des Geistes sah. Sünde und Angst gehören vielmehr zur Geistigkeit und Freiheit
des Menschen, also zu seinem Wesen selbst. (Im Hintergrund steht die These Kierkegaards,
wonach der Mensch als eine vom Geist getragene Synthesis von Leib und Seele zu denken ist.
Der Mensch ist, wie er in den berühmten Anfangssätzen seiner Schrift "Die Krankheit zum
Tode" ausführt, das "Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält"). Als ein zugleich
körperliches und geistiges Wesen ist der Mensch zwischen die beiden Pole der Endlichkeit
und Unendlichkeit, in die Spannung zwischen dem Zeitlichen und der Ewigkeit, zwischen
Freiheit und Notwendigkeit gestellt. Es macht die eigentliche Existenzaufgabe des Menschen
aus, zwischen diesen auseinanderdrängenden Polen seines Daseins eine "Synthesis" zu setzen,
durch die er sein endliches Dasein vor dem Unendlichen verantworten kann.
Die Kierkegaardsche Analyse der Verzweiflung, als eines vergeblichen Versuchs des Daseins,
sein zu wollen, was es nicht ist, und nicht sein zu wollen, was es ist, entdeckt nun in dieser
verzweifelten Form menschlicher Selbstüberschreitung - theologisch gesprochen: in dem
Seinwollen wie Gott - die eigentliche Urform der Sünde. Drewermann hat diese Bestimmung
der Sünde als Angst und verzweifelte Selbstüberhebung des Menschen aufgenommen und in
eine Beziehung zu den vier Grundformen der Neurose gesetzt, wie sie die klassische
Psychoanalyse kennt. Die Depression entspricht dabei einer "Verzweiflung der
Unendlichkeit", die Schizophrenie dem verzweifelten Wunsch, nur das Endliche zu kennen,
die Zwangsneurose stellt sich als eine "Verzweiflung der Notwendigkeit" dar und der
Hysteriker zeigt sich zuletzt als ein "Verzweifelter der Möglichkeit". Diese vier Grundformen
der neurotischen Verzweiflung setzt er sodann in eine nochmalige Beziehung zu den vier
Auszeichnungen des göttlichen Seins, die in der klassischen Metaphysik Gott vorbehalten
sind: schlechthinige Notwendigkeit, Vollkommenheit, Unendlichkeit und die absolute
Selbstursprünglichkeit. In dieser Korrespondenz zwischen den vier Formen der Verzweiflung
und den vier Möglichkeiten der neurotischen Selbstüberhebung des Menschen sieht
Drewermann einen psychologischen Anhaltspunkt für die theologische Deutung der Sünde,
die deren eigentlichen Kern als das Sein-Wollen-wie-Gott aufdeckt.
So gelingt es Drewermann zweifellos auf eindrucksvolle Weise, Existenzphilosophie,
Tiefenpsychologie und Theologie in ein Gespräch zu bringen, das für alle Seiten fruchtbar
sein kann. Die kritische Anfrage, die an ein solches Unterfangen zu stellen ist, lautet aber, ob
er in diesem "Gespräch" auch wirklich alle drei Dialogpartner zueinander vermittelt, oder ob
dabei insgeheim nicht doch die Problemsicht eines einzigen maßgebend für die anderen wird.
Indem er die Kierkegaardsche Bestimmung der Sünde als Angst übernimmt, beschränkt er
aber den möglichen Horizont einer theologischen Aussage von vornherein auf das, was an ihr
als psychologische Bedeutung erfaßt werden kann. Eine theologische Auseinandersetzung mit
Drewermanns Programm einer tiefenpsychologischen Interpretation des christlichen Glaubens
muß deshalb, wenn sie wirklich zu den geistesgeschichtlichen Wurzeln des gegenwärtigen
Streites vordringen will, die Kierkegaardsche Verhältnisbestimmung von Sünde und Angst
problematisieren.
Die Grundfrage, die dabei nochmals aufgerollt werden muß, ist durch Kierkegaards Kritik an
der herkömmlichen Erbsündenlehre nur scheinbar erledigt. Ob die Sünde eine Folge der Angst
ist oder ob die Angst nicht vielmehr erst aus der Störung des ursprünglichen
Gottesverhältnisses erwächst, die das Nein der Sünde hervorgerufen hat, das ist eine
Entscheidung von erheblicher Tragweite für die gesamte Wirklichkeitsdeutung des
christlichen Glaubens. In ihr geht es um mehr als um ein beliebiges Gedankenspiel nach dem
Motto: "Was war zuerst da - das Huhn oder das Ei". Die Antwort auf diese Frage entscheidet
darüber, ob das Grundverhältnis des Menschen zur Wirklichkeit, die Bestimmung seines
Daseins in der Welt, durch Angst oder durch Vertrauen und Zustimmung bezeichnet wird.
Sicherlich ist es richtig zu sagen, daß der Mensch im Glauben und im Vertrauen auf die
Möglichkeiten Gottes seine Angst überwinden kann. Der gläubige Mensch hat die Freiheit
und Macht, auch seine Angst anzunehmen, ja sie, wie Kierkegaard sagt, in Dienst zu nehmen.
"Die Angst wird ihm ein dienender Geist, der wider Willen ihn führt, wohin er, der
Geängstigte, will" (S. 345). Die Frage ist nur, ob der Glaube in dieser Funktion einer
Umwandlung und Dienstbarmachung der Angst aufgeht oder ob er die Angst nicht gerade
dadurch überwindet, daß er ihre Herkunft aus einem Nein des Menschen zu Gott aufdeckt, an
dessen Stelle er das bedingungslose Ja eines letzten Vertrauens setzt.
Die klassische Theologie hat in ihrer Interpretation der biblischen Sündenfallsgeschichte die
Angst und Verzweiflung des Menschen auf seine Entfremdung von Gott zurückgeführt. Sie
sieht das ganze Ausmaß dieser Entfremdung, die sich auf das Verhältnis zwischen Mensch
und Mitmensch, sichtbar in dem Symbol der Scham und dem Generationenkonflikt, auf das
Verhältnis des Menschen zu seiner leiblichen Konstitution, deutlich geworden in der Mühe
seiner Arbeit, und im Verhältnis des Menschen zu der ihn umgebenen Natur, vom Mythos des
Sündenfalls dargestellt in seiner Feindschaft mit den Tieren und in der Unfruchtbarkeit des
Ackers, auf vielfältige Art auswirkt. Aber hinter dieser Entfremdung des Menschen mit sich
selbst und seiner Natur sieht sie die Selbstentfremdung des Menschen von Gott walten, durch
die er aus dem rechten Verhältnis zum Ursprung aller Wirklichkeit herausfällt ist und dadurch
auch sein Verhältnis zu sich selbst zerstört.
Gegen diese theologische Interpretation des menschlichen Daseins im Lichte des
Sündenfallmythos würde sicher auch Kierkegaard keinen Einspruch erheben. Aber er würde
seine Frage wiederholen, wie diese Selbstentfremdung des Menschen von Gott als eine
Möglichkeit der menschlichen Freiheit denkbar ist. Die Antwort der klassischen Theologie
auf diese Frage war freilich nicht so geistlos, wie er annahm, auch wenn sie tatsächlich ohne
seine psychologische "Zwischenbestimmung" der Angst auskam. Es ist historisch falsch,
wenn Kierkegaard annimmt, die Theologie habe die Frage nach dem Ursprung der Sünde nur
als die Frage nach dem liberum arbitrium und seiner Wahlmöglichkeit zwischen Gut und
Böse gestellt. Vielmehr verschärfte sie die Frage, wie der Mensch sich von Gott als dem
Ursprung alles Guten abwenden konnte, gerade dadurch, daß sie die Freiheit selbst im
umfassenden Sinn als Freiheit zum Guten verstand. Das Problem lautet so nicht nur, wie der
Mensch zwischen Gut und Böse wählen kann, ohne nicht schon zuvor eine Hinneigung zum
Bösen in sich zu verspüren. Im Blick auf den ursprünglichen Begriff der Freiheit als der
Fähigkeit des Menschen zum Guten wird es zu der Frage verschärft: wie ist eine willentliche
Abkehr des Menschen vom Guten, auf das er doch seiner eigenen Natur und der ganzen
Ausrichtung seiner Freiheit nach hinzielt, überhaupt denkbar? Die christliche Anthropologie
hat dieses Problem immer als eine beunruhigende Frage empfunden, auf die es keine
beruhigende Antwort geben kann.
Das Schwanken vor dem Bösen und die Freiheit seines Willens, das Böse in der Kraft eigener
Entscheidung zu wollen, erwächst dem Menschen, wie Thomas in einem irritierenden
Gedanken ausführt, aus der Berührung mit dem "Nichts", aus dem er herkommt und das ihn
gezeichnet hat (De veritate 22,6 ad 3; 24,1 ad 16; 24,7). Durch seinen "Ursprung aus dem
Nichts" kommt dem Willen seine "flexibilitas", sein Schwanken vor dem Bösen zu. Das Ausdem-Nichts-Herkommen ist aber nur die dunkle Kehrseite für das, was der christliche Glaube
unter dem Begriff der Kreatürlichkeit versteht. Dadurch wird die Dunkelheit des Daseins
nicht wegerklärt und nicht in das fahle Licht einer naiven, gottseligen Daseinsfreude getaucht.
Vielmehr bleibt es dabei: creatura est tenebra in quantum est ex nihilo - "Die Natur ist
dunkel, sofern sie aus dem Nichts stammt" (De veritate 18,2 ad 5). Aber dieses Dunkel ist
eingeborgen in das Licht, das von Gott her auf sie fällt und in dem sie sich erst als Kreatur
verstehen kann. Deshalb lautet die letzte Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der
Sünde: Die Abkehr von Gott, der Mißbrauch der Freiheit und die Zerstörung des Guten finden
den Grund ihrer Möglichkeit in nichts anderem als darin, daß der Mensch Kreatur ist.
Aufgrund seiner Kreatürlichkeit, durch seine Herkunft aus dem Nichts, ist dem Menschen die
Möglichkeit zur Sünde gegeben.
Das ist in der Tat eine beunruhigende Antwort, denn sie besagt nichts weniger, als daß die
Möglichkeit zur Sünde zur inneren Bauform der natürlichen Existenz des Menschen gehört
und daß die Wirklichkeit des Nichts, aus dem er herkommt, darin noch immer irgendwie
anwesend ist. Wie immer man die Antwort der christlichen Theologie beurteilt, eines kann
man ihr nicht vorwerfen: daß sie das Böse verharmlost und die Sünde wegerklärt. Vielmehr
führt sie das Denken an eine Grenze heran, hinter der sich ein Geheimnis im strikten Sinn
auftut, das er nur anerkennen oder abweisen kann. Die einzige Frage, die sich dem Menschen
vor dem unergründlichen Geheimnis des Daseins noch stellt, ist die, ob er sich ihm
rückhaltlos anvertrauen, oder ob er sich in sich selbst verschließen soll. Die Beantwortung
dieser Frage ist dem Denken nicht als eine Wahlmöglichkeit zwischen zwei gleichermaßen
möglichen Alternativen gegeben. (Darin hat Kierkegaard recht). In ihr hat sich der Mensch
vielmehr immer schon entschieden, längst bevor er im Denken, soweit das überhaupt möglich
ist, die Gründe seines Entschiedenseins auslotet.
Dieses Immer-schon-Entschiedensein in der Alternative von Vertrauen und Verzweiflung
benennt die christliche Theologie, sofern es der Ausdruck einer ursprünglichen Zustimmung
ist, mit dem einfachen biblischen Wort "Glaube". Erst wo der Mensch seine Entschiedenheit
für Gott in Frage stellt und dem Nein der Sünde in sich Raum gibt, tritt die Angst hervor, die
den Menschen an seine bereits überwundene Herkunft aus dem Nichts erinnert. Es macht
deshalb einen großen Unterschied aus, ob die Sünde eine Folge der Angst ist, oder ob die
Angst erst als Folge der Sünde und der durch sie bewirkten Störung unseres Verhältnisses zu
Gott hervortritt. Im ersten Fall bleibt das Daseinsgefühl des Menschen dadurch bestimmt, daß
er seiner Grundbefindlichkeit des Sich-ängstigen-Müssens im Glauben immer wieder ein
kleines Stück Sicherheit und Vertrauen abtrotzen kann. Im zweiten Fall ist das Dasein von der
vertrauensvollen Gewißheit des Glaubens getragen, daß alle Angst und Ungewißheit, die in
seiner noch ausstehenden Lebenszeit auf den Menschen zukommen, von dem Grundgefühl
der Geborgenheit umschlossen bleiben, durch das das Urvertrauen des Glaubens sich als die
erste Bestimmung des Daseins äußert.
3. Martin Heidegger: Schuld als Existential
Bevor wir uns nun dem eigentlichen theologischen Verständnis von Sünde und Schuld
zuwenden können, müssen wir noch bei einer letzten philosophischen Auslegung der Schuld
verweilen, die bereits nahe an die theologische heranführt. Gemeint ist das Schuldverständnis
Martin Heideggers, das insbesondere für die verschiedenen Richtungen der anthropologisch
orientierten Psychoanalyse bedeutsam wurde. Auch Heidegger geht es darum, hinter das
"vulgäre" Schuldverständnis zurückzugehen und danach zu fragen, wie das moralische
Schuldigwerden im Sinne der Maßstäbe von Gut und Böse überhaupt möglich ist. Wenn das
alltägliche Verständnis von Schuld auch unzureichend ist, so setzt Heidegger doch bei seiner
Analyse ein, weil erst von ihm aus eine Antwort auf die Frage nach dem existentiellen Sinn
der Schuld möglich wird. Dieses alltägliche Schuldverständnis, wie es "Sein und Zeit"
analysiert, entfaltet sich in mehreren Stufen. Schuldigsein bedeutet zunächst:
1. Jemand etwas "schulden", wie es der Fall ist, wenn ich jemand etwas Ausgeliehenes nicht
zurückgebe. Es läßt sich auch umschreiben als ein "Schulden haben bei..." (S. 282)
2. Kann es heißen "schuldsein an", d.h. soviel wie Ursache sein oder Veranlassung für etwas
sein. Diese Bedeutung läßt sich umschreiben als "schuldhaben an..." Damit ist jedoch noch
nicht notwendig der Gedanke der Verantwortlichkeit für das gegeben, wovon ich Ursache bin;
dieser tritt erst in der nächsten Bedeutung hervor. Schuldigsein kann also
3. bedeuten "sich schuldig machen", d.h., das Recht eines anderen verletzen und sich strafbar
machen. Hier meint der alltägliche Schuldbegriff also einklagbare Schuld im juristischen
Sinn. Dahinter kann aber
4. auch schuldig sein im Sinne eines "Schuldigwerdens an anderen" stehen. Das geschieht
nicht allein durch die Verletzung eines Rechtsanspruches, sondern dadurch, "daß ich Schuld
habe daran, daß der andere in seiner Existenz gefährdet, irregeleitet oder gar gebrochen wird"
(a.a.O.). Dieses Schuldigsein, das auch dort gegeben sein kann, wo ich keine öffentlichen
Gesetze verletze, bestimmt Heidegger noch sehr formal als ein "Grund sein für einen Mangel
im Dasein eines anderen" (a.a.O.).
Erst diese letzte Form von Schuld ist für ihn im strengen Sinne ein Schuldigsein des ganzen
Menschen. So sieht Heidegger erst hier in der Schuld "die Verletzung einer sittlichen
Forderung" (a.a.O.). Für Heidegger ist jedoch darin der existentiale Sinn der Schuld noch
immer nicht erreicht. Er tritt erst dort hervor, wo die "vulgären Schuldphänomene", die aus
dem besorgenden und verrechnenden Umgang mit dem anderen herrühren, ausfallen und die
Idee der Schuld nicht mehr auf dem Begriff des moralischen Sollens oder des Gesetzes
bezogen wird. Dann erst tritt hervor, daß das Dasein als solches bereits schuldig ist, bevor es
in einem der aufgezählten Sinne schuldig werden kann. "Das Schuldigsein resultiert nicht erst
aus einer Verschuldung, sondern umgekehrt: diese wird erst möglich aufgrund eines
ursprünglichen Schuldigseins" (S. 284). Erst dieses ursprüngliche Schuldigsein des Daseins
ist die Bedingung dafür, daß wir auch im moralischen Sinn schuldig werden können, indem
wir uns gegenüber dem Maßstab von Gut und Böse verfehlen.
Es ist schwer zu sehen, was diese in bedeutungsschweren Worten vorgetragene Analyse der
Schuld noch mit der tatsächlichen Schulderfahrung der Menschen zu tun haben soll. Was
bedeutet Schuldigwerden überhaupt noch, wenn ich immer schon schuldig bin und aufgrund
meiner existentialen Daseinsverfassung auch immer schuldig bleiben werde? Heidegger
antwortet auf diesen naheliegenden Einwand mit einer Gegenfrage: "Ist Schuld nur ‚da’, wenn
ein Schuldbewußtsein wach wird, oder bekundet sich darin, daß die Schuld ‚schläft’, nicht
gerade das ursprüngliche Schuldigsein?" Er beantwortet sie sofort: "Ursprünglicher als jedes
Wissen darum ist das Schuldigsein" (S. 286). Nun ist die Unterscheidung zwischen
Schuldigsein und einem bewußten Schuldgefühl ohne weiteres einleuchtend, aber sie kann
noch nicht begreiflich machen, warum das Dasein als Ganzes unausweichlich schuldig sein
soll. Das wird erst verständlich, wenn man sich daran erinnert, daß Heidegger das Dasein als
ein "Seinkönnen" bestimmt. "Dasein ist nicht ein vorhandenes, das als Zugabe noch besitzt,
etwas zu können, sondern es ist primär Möglichsein. Dasein ist je das, was es sein kann, und
wie seine Möglichkeit ist" (S. 143). Das Dasein ist nie das, was es "eigentlich" sein kann, und
eben in diesem Zurückbleiben hinter seinen eigenen Möglichkeiten besteht seine Schuld. Sie
bedeutet, "daß im Dasein immer noch etwas aussteht, was als Seinkönnen seiner selbst noch
nicht wirklich geworden ist. Im Wesen der Grundverfassung des Daseins liegt demnach eine
ständige Unabgeschlossenheit" (S. 236). Schuldigsein meint also diesen "Ausstand an
Seinkönnen" (a.a.O.), den das Dasein niemals einholen kann. Damit ist wohl klar geworden,
was Heidegger in seiner dunklen Ausdrucksweise meint. Nicht ersichtlich ist aber, warum er
dafür das Wort "Schuldigsein" wählt. "Es ist schwer einzusehen, wie allein schon das Wählen
einer bestimmten Möglichkeit "Schuldigsein" bedeuten soll" (René Goetschi, Der Mensch und
seine Schuld, S. 259). So bleibt es letztlich unklar, ob Heidegger mit seinem Begriff der
existentialen Schuld des Daseins wirklich etwas Tieferes gesehen hat als in dem Gedanken
der Endlichkeit des Menschen ausgedrückt ist. Daß dieser als ein endliches Wesen immer
hinter seinen eigenen Möglichkeiten zurückbleibt und nur eine begrenzte Zahl davon
verwirklichen kann, ist ja auf eine viel unprätentiösere Art bereits mit dem Begriff der
Endlichkeit gesagt.

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