Schuld und Sünde
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Schuld und Sünde
SCHULD UND SÜNDE Eberhard Schockenhoff Die Zusammengehörigkeit dieser beiden Grundbegriffe der religiösen Sprache ist für die Sinndeutung entscheidend, die der christliche Glaube vom menschlichen Dasein gibt. Nur dort, wo sie in der richtigen Weise gesehen wird und wo ihre Balance im Leben der Menschen gelingt, bewahrt auch der christliche Glaube sein inneres Gleichgewicht. Wird die Rede von der Sünde isoliert, übersteigert sie sich zur Anklage und Überforderung des Menschen. Christliches Ethos verfällt dann der Perversion einer Sündenmoral, die das Leben nur von den überall lauernden Gefahren und von dem ständig zugegenen Reiz der Übertretung moralischer Gebote her sieht. Verliert dagegen die Rede von Schuld und Sünde ihren Anhalt im tatsächlichen Erleben der Menschen, oder wird sie als Ausdruck einer prinzipiell lebensfeindlichen Haltung diffamiert, so verflacht die Botschaft von der Vergebung und die Einladung zur Umkehr zu einer netten Harmlosigkeit. Sie ängstigt niemanden mehr und verursacht keine Depressionen, aber abseits der psychiatrischen Kliniken, im "Normalzustand" des bürgerlichen Bewußtseins, läßt sich ebenso gut ohne sie leben. Wie sich in einer Welt ohne Gott, die keine Vergebung und keine Möglichkeit der Umkehr kennt, schuldig gewordenes Dasein rechtfertigen läßt, diese Frage wird aus dem lebensweltlichen Erfahrungsbezug der Menschen abgetrennt und allenfalls in das Gebiet der Literatur überwiesen, von wo aus sie sich freilich erneut zu Wort meldet. Für das christliche Verständnis von Sünde und Umkehr, Schuld und Vergebung bleibt dagegen wesentlich, daß sie nur miteinander ins rechte Licht rücken. Das ganze Ausmaß menschlicher Schuld und die unheilvolle Macht der Sünde werden erst von ihrer Überwindung durch den Tod und die Auferstehung Jesu her sichtbar. Die Rede von Sünde und Schuld gewinnt ihre ganze Tiefenschärfe erst von der durch Christus bewirkten Versöhnung her, aber umgekehrt wird auch die Botschaft des Evangeliums zum Angebot der "billigen Gnade" (Dietrich Bonhoeffer), wenn sie nicht als die von außen kommende Befreiung des Menschen aus seiner Verlorenheit an die Sünde verstanden wird. Schuld und Vergebung, Sünde und Umkehr sind so zwei Relationsgrößen, die aufeinander verweisen und nur in diesem Relationsgefüge richtig verstanden werden. Wenn Karl Rahner in seinem "Grundkurs des Glaubens" schreibt: "Schuld und Sünde sind zweifellos ein zentrales Thema für das Christentum; denn dieses versteht sich ja als Erlösungsreligion, als das Ereignis der Vergebung der Schuld durch Gott selbst und seiner Tat an uns in Jesus Christus - in seinem Tod und seiner Auferstehung" und wenn er dies noch weiter präzisiert: "Insofern wäre jede Einführung in den Begriff des Christentums mangelhaft, wäre nicht von der Schuld und der Verlorenheit des Menschen, von der Notwendigkeit einer Rettung aus einem radikalen Unheil, von Erlösungsbedürftigkeit und Erlösung die Rede" (S. 97), dann verweist er auf den zentralen Rang, die Sünde und Umkehr im christlichen Glauben einnehmen. Der evangelische Theologe Gerhard Ebeling schreibt der christlichen Verkündigung und der Theologie sogar mit noch schärferen Worten die Mahnung ins Stammbuch: “Theologie ist nicht recht bei der Sache, wenn sie nicht von der Sünde redet.” (...356). Wahre Glaubenserkenntnis und wahre Gotteserkenntnis sind überhaupt nur dort möglich, wo sich der Mensch im Angesicht Gottes als Sünder erkennt. Denn, so liest man bei Ebeling weiter: “Wenn der Mensch nicht Sünder ist, ist Gott nicht Gott” (362). Dies mögen überspitzte Formulierungen sein, aber sie verweisen doch auf einen im durchschnittlichen Glaubensbewußtsein heutiger Christen oft übersehenen Zusammenhang. Die Sache des Christentums wird entstellt und verfälscht, wenn darin nicht auch von der Sünde des Menschen die Rede ist. Für den dänischen Philosophen Sören Kierkegaard ist die Erkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit sogar die notwendige Voraussetzung, um überhaupt Christ werden und Christ bleiben zu können. Er schreibt in seinem Tagebuch: “Das Sündenbewußtsein ist und bleibt die unumgängliche Bedingung (conditio sine qua non) für alles Christentum, und könnte jemand nur von ihm befreit werden, so könnte er auch nicht Christ werden” (TB, 324). Die eigentliche Schwierigkeit liegt jedoch darin, wie der Mensch von heute überhaupt in den Verstehenszirkel von Sünde und Umkehr hineingerät, der ihm ein Verständnis der Sache des Christentums erst ermöglicht: “Wenn der Mensch nicht begreift, ein wie großer Sünder er sei, dann kann er Gott nicht lieben; und wenn er nicht Gott liebt (...), so kann er nicht begreifen, ein wie großer Sünder er ist” (TB II 243). Erst die Liebe zu Gott läßt mich die Größe meiner Sünden erkennen und umgekehrt. Die Auskunft, daß die Botschaft der Erlösung eben die Antwort auf die Unheilsituation des Menschen ist, verbleibt noch außerhalb dieses Zirkels, solange der Mensch seine eigene Situation zwar als fehlerhaft und defizitär, aber nicht als schlechthin ausweglos erkennt. Der moderne Mensch erfährt sein Leben zwar in vielerlei Hinsicht als rechfertigungsbedürftig, aber im großen und ganzen läßt es sich auch mit den ihm anhaftenden Mängeln ganz gut leben. Daß dieses natürliche Leben einer "Krankheit zum Tode" verfallen ist, dafür gibt es in dem gesicherten Lebensgefühl unserer Zeit keinen zwingenden Anhaltspunkt und die bedrängenden Warnungen vor durch die Menschheit selbst heraufgeführten Katastrophen können die privaten Beschwichtigungsstrategien der einzelnen immer nur kurzfristig in Frage stellen. Der Verkündiger der christlichen Botschaft gleicht deshalb, wie Kierkegaard in dieser Schärfe als erster gesehen hat, einem Arzt, der seinen Patienten erst davon überzeugen muß, daß hinter seinem Gefühl strotzender Gesundheit eine tödliche Krankheit lauert. Ohne daß sie eine Erfahrungsdimension für die Rede von Sünde und Schuld zurückgewinnt, bleibt die christliche Rede von Erlösung und Vergebung in der Tat unwirklich und unwirksam. Aber läßt sich heute der von Kierkegaard vorgezeichnete Weg tatsächlich beschreiten, ohne daß die christliche Verkündigung der entgegengesetzten Versuchung verfällt, vor der in unserem Jahrhundert Dietrich Bonhoeffer am nachdrücklichsten gewarnt hat: "Ich möchte von Gott nicht an den Grenzen, sondern in der Mitte, nicht in den Schwächen, sondern in der Kraft, nicht also bei Tod und Schuld, sondern im Leben und im Guten des Menschen sprechen" (Widerstand und Ergebung, S. 307)? Wenn die christliche Theologie die Mahnung akzeptiert, daß sie den Menschen nicht nur in den "Kränkungen" seines Selbstbewußtseins (Sigmund Freud) mit der Botschaft des Evangeliums konfrontiert, sondern daß sie in seinem Leben und in dem Guten, das er vermag, von Gott spricht, dann muß sie auch in der Erfahrung menschlicher "Stärke" und menschlichen Gelingens die Spuren der Erfahrung von Sünde und Schuld aufzeigen können. Doch zuvor soll das Phänomen der Schuldverdrängung im gegenwärtigen Bewußtsein aufgezeigt und in seiner inneren Widersprüchlichkeit analysiert werden. 1. Die Verdrängung der Schuld im gegenwärtigen Bewußtsein Die Reserve, die sich im gegenwärtigen Bewußtsein gegenüber dem Begriff der Schuld, aber auch gegenüber korrespondierenden Vorstellungen wie Freiheit und Verantwortung aufgebaut hat, läßt sich an verschiedenen Lebensbereichen ablesen. Im juristischen Kontext ist das Phänomen der Schuld seit längerem obsolet geworden. Der metaphysische Schuldbegriff des deutschen Idealismus (Kant, Hegel) der den Straftäter als Person achten wollte, indem er ihn bei seiner Tat behaftete, ist in der großen Strafrechtsreform der 70er Jahre durch das Sozialschädlichkeitsprinzip ersetzt worden. Die Einsichten in die psychologische Bedingtheit und gesellschaftliche Abhängigkeit menschlichen Verhaltens haben der idealistischen Annahme den Boden entzogen, wonach der Verbrecher in der Zuerkennung seines Rechtes auf Strafe von der Rechtsgemeinschaft als Mensch geachtet werde. Das auf dieser Annahme basierende Schuldstrafrecht hat seine theoretische Geltung längst eingelöst, bevor es durch das neue "Maßnahmerecht" ersetzt wurde, dessen oberstes Ziel nicht Strafe und Wiedergutmachung, sondern Sozialverträglichkeit und Anpassungsverhalten sind. Der Begriff der Schuld spielt allenfalls indirekt noch eine Rolle, insofern bei der Festsetzung des Strafmaßes sogenannte Schuldminderungsgründe berücksichtigt werden. 1.1. Schuld und Schuldgefühle in der psychoanalytischen Theorie Vorbereitet wurde die Abkehr der Rechtswissenschaft vom Schuldprinzip vor allem durch die Interpretation des Schuldbewußtseins in der Tiefenpsychologie dieses Jahrhunderts. Da sie, vor allem was die Behandlung des Schuldphänomens anbelangt, lange Zeit unter dem beherrschenden Einfluß von Sigmund Freud stand, soll dessen Analyse des Schuldbewußtseins etwas breiter vorgestellt werden. In der psychoanalytischen Behandlung begegnet Freud der Wirklichkeit menschlicher Schuld zunächst in der Form neurotischer Schuldgefühle. Dies ist für sein Verständnis des Schuldphänomens von ausschlaggebender Bedeutung; er gewinnt sein Grundmodell, nach dem er psychologische Gesetzmäßigkeiten von allgemeiner Gültigkeit beschreiben möchte, im Umgang mit kranken Menschen. Das macht die philosophische und theologische Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse so schwierig, denn einerseits begegnet im Zerrbild des Kranken immer auch ein Zug der "Pathologie des Normalen", andererseits handelt es sich aber wirklich um ein Zerrbild, das über die wahre Bedeutsamkeit der analysierten psychischen Phänomene keine zuverlässige Auskunft bereithält. Vor allem der junge Freud war darüberhinaus von einem mechanistischen Menschenbild und einem "antiphilosophischen Affekt" (R. Goetschi, Der Mensch und seine Schuld, S. 43) beherrscht, der ihn weniger nach dem Wesen der in Frage stehenden Phänomene, sondern mehr nach den hinter ihnen stehenden psychischen Kräften und deren auslösenden Mechanismen fragen ließ. So stellte sich für Freud das Schuldproblem vor allem als Frage nach dem Ursprung der Schuldgefühle, näherhin als die Frage nach der phylogenetischen und ontogenetischen Entwicklung des Schuldbewußtseins. In seinen Schriften "Totem und Tabu" und vor allem "Das Unbehagen in der Kultur" greift Freud den Darwinschen Gedanken der Ur-Horde auf und verwendet ihn zur phylogenetischen Erklärung des Schuldbewußtseins. Danach töteten die Brüder der Ur-Horde ihren Vater, wodurch das Schuldgefühl Eingang in die Menschheit fand. Sie konnten auf diese Urtat mit Reue und Schuldempfinden reagieren, weil sie dem Vater in einer ambivalenten Haltung von Liebe und Haß gegenüberstanden, aus der ihr Schuldgefühl resultierte. Da dieser Ambivalenzkonflikt gegenüber dem Vater sich in den kommenden Geschlechtern wiederholte, verstärkte sich auch das Schuldgefühl, das so auf eine verhängnisvolle Weise unvermeidlich wurde. Daß die Hypothese vom Vatermord phantastisch anmutet, besagt in den Augen Freuds dabei wenig, denn entscheidend ist nicht, ob spätere Generationen den Vater getötet oder sich der Tat enthalten haben, sondern allein das Bestehen der Aggressionsneigung und des Aggressionswunsches. Wenn Freud seine Schrift "Totem und Tabu" mit dem Satz beendet: "Im Anfang war die Tat" (Bd. 9, S. 194), so fordert er diese Schuldtat, die den Ursprung des Schuldgefühls erklären soll, nur für den Anfang des Menschengeschlechtes. Bei den späteren Generationen genügt schon der vom Über-Ich unterdrückte Aggressionswunsch, um die Genese der Schuldgefühle zu erklären. Besonders deutlich wird dies im Schuldempfinden des Neurotikers, der bereits seinen Wunsch für die vollbrachte Tat hält und die innere psychische Realität gegenüber der Wirklichkeit der Außenwelt krankhaft überschätzt. Bei solchen neurotischen Schuldgefühlen setzt auch ihre ontogenetische Erklärung ein, die Freud im Rahmen seiner mechanistischen Triebtheorie gibt. Häufig sind es infantile Sexualwünsche, die von ihrem unerreichbaren Objekt auf andere Triebgegenstände "verschoben" werden; die psychischen Auslöser des Schuldgefühles können aber auch nichtsexueller Natur sein. Ein junger Mann, der als Patient in Freuds Praxis kam, macht sich Vorwürfe, daß er beim Tod seines Vaters nicht anwesend war. Die Erinnerung daran quält ihn so entsetzlich, daß er sich schließlich die Schuld am Tod seines Vaters zuschreibt und sich selbst als Verbrecher betrachtet (Bd. 7, S. 398 f.). Im Laufe der Analyse stellt sich heraus, daß der Patient einen unbewußten Todeswunsch gegen seinen Vater hegte. Auf der bewußten Ebene liebte er ihn über alle Maßen, aber im Unterbewußten haßte er den Vater, weil dieser seiner Beziehung zu einer Frau im Wege zu stehen schien. Sein Schuldgefühl resultierte aus dieser verdrängten und nicht bewußt gewordenen Aggression gegen den Vater; sein Über-Ich und der Anspruch seines Ich-Ideals ließen die Bewußtwerdung dieser Aggressionsneigung nicht zu. Wichtig ist dabei nicht so sehr, wie Freud die unbewußten Triebverschiebungen im einzelnen Fall konkret erklärt, sondern wie er die Entstehung des Schuldbewußtseins überhaupt deutet. Es ist für ihn das unvermeidbare Ergebnis eines Konfliktes zwischen unseren unbewußten Triebwünschen und den Forderungen des Über-Ichs, die wir in unserer frühkindlichen Identifizierung mit der Erwachsenenwelt übernommen haben. Das Schuldgefühl entsteht so vor allem aus der Angst vor den Ansprüchen unseres Ich-Ideals, es ist für Freud der "Ausdruck einer Spannung zwischen Ich und Über-Ich" (Bd. 13, S. 379). Die Ausweglosigkeit der Schuldgefühle wird nach Freud noch dadurch verschärft, daß sie nicht nur in einer harten, sondern auch als Folge einer weichen und nachsichtigen Erziehung auftreten. Ein strenges Über-Ich ist dann nur die unvermeidliche Reaktion der kindlichen Psyche, die sich den Eltern gegenüber zu Liebe und Dankbarkeit verpflichtet fühlt und deshalb die eigenen Aggressionsneigungen noch rigider unterdrücken muß. Der entscheidende Grundzug an Freuds psychoanalytischer Erklärung der Schuldgefühle, der sich in diesem Punkt übriges auch bei Alfred Adler und seiner Erklärung des Schuldgefühls aus einer Analogie zum Minderwertigkeitskomplex findet, besteht nun darin, daß Schuldgefühle immer ein sekundäres Phänomen sind. Schuldig werden und schuldig sein gehört nach psychoanalytischer Auffassung nicht zu den ursprünglichen Möglichkeiten des Daseins, sondern entsteht erst als eine abgeleitete Reaktion, die dem Menschen durch die Auseinandersetzung mit seiner Umwelt abverlangt wird. Schuld ist vor allem eine Bürde, von der es sich zu befreien und eine Illusion, die es im Interesse des Menschen zu entlarven gilt. Letztlich wurzelt diese Interpretation in den deterministischen Grundannahmen des psychoanalytischen Menschenbildes, in denen für Freiheit und Verantwortung des einzelnen wenig Raum bleibt. Von Anfang an verstand sich die Psychoanalyse dabei auch als die Einlösung einer Hoffnung, die sich auf die Befreiung von religiösen Zwangsvorstellungen und vom Bild eines strafenden und zornigen Gottes bezogen. Insbesondere Friedrich Nietzsche hatte in seiner Schrift "Zur Genealogie der Moral" zwischen dem christlichen Gottesgedanken und dem Wachstum des menschlichen Schuldgefühls eine exakte Korrespondenz gesehen: "Die Heraufkunft des christlichen Gottes, als des Maximal-Gottes, der bisher erreicht worden ist, hat deshalb auch das Maximum des Schuldgefühls auf Erden zur Erscheinung gebracht" (Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. VI/2, 314). Mit dem von ihm selbst eingeläuteten Untergang des christlichen Gottesglaubens verband Nietzsche die Hoffnung, daß sich mit dem Tod Gottes auch die menschliche Schuld von selbst erledigen und zu einer träumerischen "zweiten Unschuld" führen würde. So weit ist Freud jedoch nicht gegangen. Seine Versuche, die stammes- und individualgeschichtliche Entwicklung des Schuldgefühls zu erklären, verfolgen zwar die Absicht, die Schuld selbst durch das Bewußtwerden ihrer Ursache als eine Illusion zu entlarven, aber daß er den Menschen auf psychoanalytischem Wege dauerhaft von dieser Illusion befreien könnte, das hat Freud nicht geglaubt. Der Weg der Schuldbewältigung, den die Psychoanalyse aufzeigt, beginnt zwar mit einer Art "Nichtigkeitserklärung" (Albert Görres, Kennt die Psychologie den Menschen?, S. 175), aber sie ist dennoch nicht in der Lage, beim gesunden und kranken Erwachsenen den Zustand einer völligen Schuldfreiheit wiederherzustellen, der vor der frühkindlichen Traumatisierung herrschte. Schon im Jahr 1952 konstatierte der Schweizer Psychotherapeut G. Bally deshalb unmißverständlich, daß der Traum einer auf dem Weg der Psychoanalyse von ihren Schuldgefühlen befreiten Menschheit ausgeträumt sei (C. Condrau, Schuld und Sünde, in: Christlicher Glaube Bd. 12, S. 99). Daß die Psychoanalyse wohl die Schuldgefühle des Menschen als Illusion entlarven, ihn aber dennoch nicht dauerhaft davon befreien kann, hängt mit einem empfindlichen Mangel der psychoanalytischen Methode zusammen. Da sie ihre Ergebnisse im Umgang mit neurotischen Patienten erzielt, hat sie kein Kriterium an der Hand, das falsche Schuldgefühle von echten unterscheiden könnte. Die Frage, ob es auch ursprüngliche, nicht-neurotische Schuld als Selbstverfehlung des Menschen gibt, taucht für Freud nicht einmal als ein mögliches Problem auf. Nur einmal kommt er auch darauf zu sprechen, daß es ein Schuldgefühl gibt, daß nicht durch unbewußte Aggressionswünsche hervorgerufen wird, sondern das der aggressiven Tat nachfolgt. Es ist also auch für Freud immerhin denkbar, "daß man sich schuldig fühlt, weil man wirklich etwas, was nicht zu rechtfertigen ist, getan hat" (Das Unbehagen in der Kultur, Bd. 14, 491). Ein solches nicht-krankhaftes Schuldgefühl nennt Freud "Schuldgefühl aus Reue". Aber er schließt es aus seinen psychoanalytischen Erwägungen von vornherein aus, weil die vollbrachte Unrechtstat für das Individuum als Aggressionsentladung zum einen triebökonomisch von Vorteil ist, und weil zum andern das Phänomen der Reue das Schuldgefühl nicht erklären kann, da es voraussetzt, "daß ein Gewissen, die Bereitschaft sich schuldig zu fühlen, bereits vor der Tat bestand" (a.a.O.). Das bringt in Freuds Analyse des Schuldphänomens von Anfang an eine nicht aufgeklärte Zweideutigkeit hinein: einerseits beschränkt er sich methodisch bewußt auf das neurotische und krankhafte Schuldgefühl, andererseits weitet er seine an kranken Menschen gewonnenen Einsichten unter der Hand immer wieder zu einer anthropologischen Gesamtperspektive aus. Dadurch wird die Möglichkeit, daß es auch echte Schuldgefühle des Menschen gibt, die sich gegenüber ihrer tiefenpsychologischen Auflösung resistent verhalten, von vornherein verdrängt: Schuld wird so mit einer neurotischen Fehlentwicklung identifiziert, sie ist Krankheit, Illusion, falsches Bewußtsein. Die spätere psychoanalytische Entwicklung ist wie in vielen anderen Punkten, auch in der Analyse des Schuldphänomens über Freud hinausgegangen. Nachdem die psychotherapeutische Praxis offenbar selbst erwies, daß sich das Phänomen der Schuld nicht einfach von selbst erledigen läßt, ging sie vor allem in dem Konzept der sog. Daseinsanalyse dazu über, Schuldig-Werden und Schuldig-Sein als einen ursprünglichen Grundzug des menschlichen Daseins zu verstehen. Vor allem auch die anthropologisch orientierten neueren Ansätze der Psychotherapie stehen für das Anliegen, die in der analytischen Situation aufbrechenden Schuldgefühle ernst zu nehmen und sie in ihrem anthropologischen Gehalt zu erkennen. Als sinnvoller Teil einer anthropologischen Gesamtaufgabe kann ein Schuldgefühl aber nur dann angenommen werden, wenn es auch tatsächlich "Schuld" anzeigt. Das gilt sogar dann, wenn das Schuldgefühl auf den ersten Blick unsinnig erscheint. Insbesondere Werner von Siebenthal hat darauf bestanden, daß zwischen dem Schuldgefühl und der anthropologischen Größe "Schuld" eine wirkliche Korrespondenz herrscht und daß es deshalb eine unaufhebbare Beziehung zwischen beiden Größen gibt. Das Schuldgefühl auch des kranken Menschen verweist deshalb immer auf eine existentielle Schuld, die zwar nicht sittliche Schuld im strikten Sinn ist, aber immer eine existentielle Gefährdung des Menschseins anzeigt (vgl. R. Goetschi, a.a.O., S. 245, S. 311). Solche anthropologischen Ansätze der Psychoanalyse erleichtern natürlich der Theologie die Aufnahme des Gesprächs, weil hier eine gemeinsame Frageebene viel leichter zu sehen ist als in der Auseinandersetzung mit Freud. Doch bleibt gerade die Auseinandersetzung mit Freud für die Theologie noch weithin eine unerledigte Aufgabe. Er bekommt zwar das Phänomen der Schuld nicht in seinem Charakter als Selbstwiderspruch des Menschen in den Blick, aber er beschreibt mit seinen Fallbeispielen neurotischer Schuldgefühle doch einen Anteil, der in vielen Fällen auch im "normalen" Glaubensbewußtsein mancher Christen vorkommt. Vor allem würde es sich die Theologie zu einfach machen, wenn sie der Psychoanalyse eine schiedlich-friedliche Trennung der beiderseitigen Interessenssphären nach dem Motto vorschlagen wollte: ihr seid für die "falschen", wir sind für die "echten" Schuldgefühle zuständig (wie man dies im Anschluß an Paul Tillich lange Zeit versuchte). So einfach ist die Lage nicht, denn zunächst einmal lassen sich in der individuellen Biographie "falsche" Schuldgefühle von "echter" Schuld immer nur schwer voneinander trennen, und zum anderen ist dem modernen Menschen gerade der Zugang zur Selbsterfahrung echter, nicht-auflösbarer Schuld weithin abhanden gekommen. Das weitgehende Unverständnis gegenüber dem Begriff der Schuld bleibt dabei selbst den Psychotherapeuten nicht verborgen, die ihre Beobachtungen vor allem an kranken Menschen machen. In seinem Buch "Kennt die Psychologie den Menschen?" diagnostiziert Albert Görres einen nahezu völligen Ausfall des Schuldbewußtseins: "Die religiöse Situation der Gegenwart ist bis in die psychiatrische Klinik hinein gekennzeichnet durch ein Erlöschen des Wissens um Schuld" (a.a.O., S. 187). Aber auch der Soziologe, der unter Absehung von individuellen Besonderheiten mehr die Makrostrukturen menschlichen Verhaltens untersucht, kommt zu einem gleichen Ergebnis: "Die sprachlichen Weltdeutungsschemata von Sünde, Bösem und Schuld leisten zur Orientierung im Handeln der Menschen keinen Beitrag mehr" (Chr. Gremmels, Die Sünde - das Böse - die Schuld. Soziologische Aspekte, in: G. Altner (Hrsg.) Die Sünde - das Böse - die Schuld, Stuttgart 1971, S. 34). 1.2. Das Schuldphänomen in der gegenwärtigen Literatur In der Literatur unserer Tage wird der Ausfall des Schuldbewußtseins mit schonungsloser Deutlichkeit beschrieben. Die Literatur steht dem wirklichem Leben ja oft näher als die theoretischen Analysen der Wissenschaft. Sie kann deshalb mit Hilfe ihrer Erzählungen und Bilder Geschehnisse, Verschiebungen und Verlagerungen des wirklichen Lebens ins Bewußtsein heben, lange bevor uns dafür die angemessenen soziologischen und psychologischen Deutungskategorien zur Verfügung stehen. Vor allem kann sie die Verlagerung des Schuldphänomens differenzierter beschreiben, als es Begriffe wie "Ausfall" oder "Verdrängung" vermögen. Dieses Bemühen um eine scharfe Nachzeichnung auch der gegenläufigen Bewegungen des wirklichen Lebens zeigt sich etwa in dem paradoxen Titel einer Erzählung von Siegfried Lenz "Schuldhafte Schuldlosigkeit", unter dem vor einigen Jahren auch eine germanistische Studie zum Thema "Schuld" in der modernen Literatur erschien. (J. Kopperschmidt, in: J. Blank, Der Mensch am Ende der Moral, Düsseldorf 1971, S. 35-61). In seinem Roman "Das Wunder des Malachias" beschreibt Bruce Marshall wie leicht die Menschen bereit sind, dem Gerücht von der Selbsterledigung der Sünde Glauben zu schenken. "Da hatte einer im 19. Jahrhundert das Gerücht aufgebracht, die Sünde sei gar keine Sünde, und seitdem war mit den Leuten auf gar keine Weise und überhaupt nicht mehr auszukommen" (zitiert nach A. Auer, Ist die Sünde eine Beleidigung Gottes?)... Nicht, daß die Menschen nicht auch früher gesündigt hätten: "Tanzgelegenheiten, ein Babylon neben dem anderen und nichtsnutzige ein bißchen mit den Augen zwinkernde junge Mädchen hatte es immer gegeben .... aber neuerdings, wenn sie sündigten, sagten die Leute, sie täten recht, und jeder könne beanspruchen, so unmoralisch zu sein wie alle anderen." Aber wenn das Wort "Sünde" erst einmal als Einschüchterungswaffe der Pfarrer erkannt ist und seine Rolle als Daumenschraube für den einzelnen nicht mehr zu spielen vermag, löst die damit gemeinte Sache sich dennoch nicht einfach in Nichts auf. In dem Maß, in dem die Menschen ihr persönliches Schuldbewußtsein verlieren, wachsen die öffentlichen Schuldsprüche, die nach der Art eines Sündenbockmechanismus für kollektive Mißstände und Fehlentwicklungen nach Verantwortlichen suchen. Die Sünde verläßt den engeren Kreis unserer privaten Lebensbeziehungen, aber sie kehrt als eine allgemeine Komplizenschaft, als ein verdrängtes Mitschuldigsein aller wieder. Der kollektive Unschuldswahn, in dem keiner sich von persönlicher Schuld betroffen weiß, verkehrt sich mit Hilfe eines subtilen psychologischen Verlagerungsmechanismus in die demonstrativ zur Schau gestellte Bereitschaft zum öffentlichen Schuldbekenntnis, das für den einzelnen gleichwohl folgenlos bleibt. Friedrich Dürrenmatt, der in seinem Theaterstück "Der Besuch der alten Dame" beschreibt, wie alle zwischenmenschlichen Beziehungen von einer Unmenschlichkeit höherer Ordnung, nämlich des politischen Gemeinwesens der Bürger, zersetzt werden, hat dies in seiner Rede über "Theaterprobleme" aus dem Jahr 1954 auch theoretisch analysiert. Er beschreibt darin die "Schuld der Gesellschaft" als eine kollektive Schuld, in der die Verantwortlichkeit des einzelnen aufgegangen ist: "In der Wurstelei unseres Jahrhunderts, in diesem Kehraus der weißen Rasse gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr. Alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt... Wir sind zu kollektiv schuldig, zu kollektiv gebettet in die Sünde unserer Väter und Vorväter. Wir sind nur noch Kindeskinder. Das ist unser Pech, nicht unsere Schuld" (J. Kopperschmidt, a.a.O., S. 35). Im ersten Finale von Berthold Brechts Dreigroschenoper wird die "Schuld der Verhältnisse" durch die Anklage des berühmten Kehrverses skandiert: "Die Welt ist arm, der Mensch ist schlecht. Wir wären gut - anstatt so roh; doch die Verhältnisse, sie sind nicht so!". Viele der zeitgenössischen Romane und Theaterstücke haben das kollektive Schuldigwerden der Gesellschaft, das Versagen ihrer moralischen Autoritäten (vgl. Rolf Hochhut, Der Stellvertreter) und das sich Verstecken des einzelnen hinter der gemeinsamen Schuld aller zum Thema. Max Frisch beschreibt in seinem 1961 erschienenem Stück "Andorra" die gemeinsame Ursünde aller Menschen, die darin besteht, daß sie sich voneinander ein Bild machen und sich gegenseitig in dieses Rollenbild hineindrängen. Andorra steht als Name für die Gesellschaft, die sich ein Bild von ihren Außenseitern - in diesem Fall: von den "Juden" gemacht hat. Obwohl Andri, wie am Ende des Stückes deutlich wird, gar kein Jude ist, sondern der uneheliche Sohn des Lehrers der kleinen Stadt, wird er zum Juden gemacht, und auch er selbst benimmt sich so, indem er die Vorurteile der anderen übernimmt und sich in seine Rolle hineindrängen läßt. Am Ende trifft ihn das Schicksal aller verfolgten Juden und er stirbt den Tod am Pfahl. Alle andorranischen Bürger müssen in den öffentlichen Zeugenstand treten und allesamt beteuern sie ihre Unschuld. Sie waren Opfer ihrer kollektiven Verblendung, aber keiner fühlte sich als Mittäter. Nur der Pater bekannte sich schuldig, aber auch er hat nur gebetet, als man den Jungen abholte. Die Sensibilität für mögliche persönliche Schuld, die zunächst völlig aus dem Bewußtsein verschwunden schien, taucht in der Literatur der letzten beiden Jahrzehnte in neuer Form wieder auf. Sie erscheint als Annahme der gemeinsamen Schuld, in der Form der Mitschuld als dem einzig noch verbleibenden moralischen Umgang mit der Schuld. Wenn die Schuld ein Kollektivphänomen geworden ist, das alle einschließt, dann gibt es nicht mehr Schuldige und Unschuldige, sondern nur noch solche, die sich von dem allgemeinen Unschuldswahn blenden lassen, und solche, die ihren Schuldanteil an der gemeinsamen Schuld annehmen. Am Ende Trilogie "Zeit der Schuldlosen" von Siegfried Lenz sagt der Konsul, der sich selbst erschießt, um seinen Mitgefangenen die Freiheit zu ermöglichen, obwohl er das Attentat nicht begangen hat: "Ich habe den Verdacht, daß die Unschuld allmählich auf die Seite derer geraten ist, die bereit sind, die Schuld auf sich zu nehmen." (a.a.O., S. 48). Solche literarischen Beobachtungen und Schlaglichter geben auch der Theologie einen Hinweis darauf, daß die Schulderfahrung im gegenwärtigen Bewußtsein zwar anonym, aber nicht schlechthin "ortlos" geworden ist. Die Anonymität seiner Schulderfahrung ist gerade die Weise, durch die der moderne Mensch sich schuldig macht. So ist die Wiederentdeckung der Schuld und ihre Annahme als Mitschuld an der Schuld aller bereits der erste Akt ihrer Überwindung. Nicht die Schuld entspringt einem falschen Bewußtsein, wenngleich es auch diesen Mißbrauch der religiösen Rede gegeben hat, sondern die verbreitete Unschuld zeigt sich als Wahn, als kollektive Verblendung, aus der das Individuum nur aussteigen kann, wenn es sich selbst für seine Schuld verantwortlich weiß. Die Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland sieht deshalb im Bekenntnis zu Sünde und Schuld nicht ein abgetrotztes Unterdrückungsinstrumentarium, sondern ein Hoffnungselement für unsere Zeit. "Das Christentum widersteht mit seiner Rede von Sünde und Schuld jenem heimlichen Unschuldswahn, der sich in unserer Gesellschaft ausbreitet und mit dem wir Schuld und Versagen, wenn überhaupt, immer nur bei den anderen suchen, bei den Feinden und Gegnern, bei der Vergangenheit, bei der Natur, bei Veranlagung und Milieu". (Beschlüsse der Vollversammlung Bd. 1, S. 93). Dem "heimlichen Unschuldswahn" entspricht zudem ein "unheimlicher Entschuldigungsmechanismus" durch den wir die Erfolge und das Gelingen unseres Tuns uns selbst zuschreiben, aber ständig auf der Suche nach Schuldigen sind, denen wir die Verantwortung für die Katastrophen und die "Nachtseite" der von uns betriebenen Geschichte aufladen können. Demgegenüber bewährt sich die Hoffnungskraft des Glaubens darin, daß sie dem Kult der Schuldlosigkeit widersteht und dem Abgrund der Schulderfahrung standhält. "Und so führt uns unsere christliche Hoffnung nicht an unserer Schulderfahrung vorbei; sie gebietet uns vielmehr realistisch an unserem Schuldbewußtsein festzuhalten - auch uns gerade in einer Gesellschaft, die zurecht um mehr Freiheit und Mündigkeit für alle kämpft und deshalb im besonderem Maß empfindlich ist für den Mißbrauch, der mit der Rede von Schuld getrieben werden kann und in der Geschichte des Christentums auch getrieben worden ist" (a.a.O., S. 94). Diese Sätze sind in den letzten Jahren häufig wieder abgedruckt und zitiert worden, und dies keineswegs zu unrecht. Sie weisen uns nämlich einen Weg, wie die christliche Verkündigung heute von Sünde und Schuld reden kann, ohne den Menschen dadurch in einer religiösen Abhängigkeit zu halten, die ihm den befreienden Charakter des Evangeliums gar nicht mehr erfahren läßt. 1.3. Anthropologische Zugangswege zur Schulderfahrung Freilich muß die Theologie, wenn sie den Teufelskreis von heimlichem Unschuldswahn und übersteigerter Schuldzuweisung an die anderen wirklich durchbrechen will, auch Zugänge zu der verschütteten Erfahrung persönlicher Schuld freilegen. Das ist in einer Zeit, in der wir es gewohnt sind, alles zu "verstehen" und damit insgeheim auch zu billigen, nicht einfach. Es setzt die Bereitschaft voraus, daß ich die Verantwortung für mein Handeln selbst übernehme und sie nicht an anonyme Fremdinstanzen wie meine Erziehung, meine Gene, das mächtige Beispiel der anderen oder einfach das "Milieu" delegiere. In vielen Bereichen unseres kollektiv geprägten Verhaltens kann die Bereitschaft zu solcher Schuldannahme, wie die Analyse der Gegenwartsliteratur gezeigt hat, nur im Eingeständnis meiner Mitschuld am strukturellen Schuldigsein der Gesellschaft bestehen. Es gibt aber daneben auch eine Schulderfahrung in der ich mir selbst zugelastet bleibe und in der ich mich durch keinen anderen vertreten lassen kann. Wie der Mensch auch heute persönliche Schuld erfahren kann, zeigt eine fundamentale Unterscheidung menschlicher Handlungsbereiche, von der erstmals Aristoteles gesprochen hat. Er unterschied zwischen Poiesis und Praxis als den beiden grundlegenden Weisen menschlichen Tätigseins. Mit Begriffen unserer Sprache können wir diese Differenz etwa so wiedergeben: In vielen Ausschnitten unseres täglichen Lebens sind wir nur in einem Teilbereich unseres Menschseins gefordert, nämlich in unserer Fähigkeit zu pragmatischem und funktionalem Handeln. Unsere handwerkliche Geschicklichkeit, unsere künstlerischen Fähigkeiten im weitesten Sinn und vor allem unsere beruflichen Qualifikationen und unser Fachwissen gehören zu diesem Bereich, der in der arbeitsteiligen Industriegesellschaft einen hohen, wenn nicht gar den höchsten Wert besitzt. Es ist die Welt des homo faber, die Welt des Machbaren und die Welt des Planbaren, die jedem seinen Wert von seiner Funktionstüchtigkeit für das Ganze her zuspricht. Hier gilt das Grundgesetz: "Wir sind, was wir machen". Daneben gibt es aber noch eine andere Form des Handelns, die für das Gelingen unseres Menschseins ursprünglicher und bei weitem wichtiger ist. Aristoteles nennt sie im ausgezeichneten Sinn "Praxis", ein Handeln also, das nur dem Menschen möglich ist. Es ist nicht auf die Verwirklichung äußerer Güter, nicht auf ein "Herstellen" bezogen, sondern trägt seinen Sinn in sich selbst. Wir können es heute als "Sinnhandeln" oder "Ausdruckshandeln" bezeichnen. Dazu gehört vor allem das Erlebnis von Kommunikation und Gemeinschaft, die Erfahrung von Freundschaft und Liebe wie überhaupt alle personalen Beziehungsformen von der privaten Kleingruppe bis zur politischen Verantwortung in der Öffentlichkeit. Es wäre falsch, diesen Bereich des kommunikativen Handelns als die eigentliche und einzige Domäne des Menschseins anzusehen und alles funktionale Handeln nur den äußeren Entfremdungsbedingungen des Daseins zuzuschreiben. Aber ihm kommt für das Gelingen des Lebens eine entscheidende Bedeutung zu, gerade auch deshalb, weil hier ganz andere Gesetzesmäßigkeiten gelten als in dem technischen Handlungsbereich. Hier heißt der Grundsatz: "Wir sind, die wir sind", und, in deutlicher Umkehrung gegenüber dem funktionalem Handeln: "Was wir sind, können wir nicht machen". Der fundamentale Unterschied zwischen funktionalem Handeln und kommunikativem Handeln erweist sich nun sowohl in seinem Gelingen als auch in seinem Scheitern. Wenn menschliches Bezugshandeln "gelingt", so kann keiner der daran beteiligten den Erfolg einfach sich selber zuschreiben. Wir beherrschen unsere zwischenmenschliche Kommunikation nicht so, wie wir technische Handlungsabläufe effizient kontrollieren können. So ist das Ergebnis nicht einfach unser "Werk", dessen Herstellung wir geplant und exakt berechnet haben, sondern ein "Ereignis", das sich unter uns einstellt, und das uns, auch wenn wir dafür Verantwortung tragen, prinzipiell unverfügbar bleibt. Noch deutlicher wird dieser Unterschied aber im Scheitern des Handelns. Im Bereich des funktionalen Handelns sprechen wir einfach von einem "Fehler", der uns unterlaufen ist, und den wir in den allermeisten Fällen auch selbst wieder "korrigieren" können. Es macht geradezu ein Wesensmerkmal dieser technischen Handlungsabläufe aus, daß sie auf dem Wechsel von Versuch und Irrtum beruhen und die Reparaturmöglichkeit im Schadensfall immer schon eingebaut haben. Genau dies aber gilt im Bereich des kommunikativen Beziehungshandelns nicht. Wer mutwillig eine Freundschaft zerstört oder unverantwortlich eine Liebesbeziehung aufs Spiel setzt, der kann die zerbrochene Beziehung nicht einfach dadurch wieder herstellen, daß er seinen "Fehler" korrigiert. Er wird die Erfahrung machen, daß menschliche Beziehungen auf gegenseitiger Freiheit beruhen und zwar einseitig zerstörbar, aber nicht einfach "wiederherstellbar" sind. Wir sprechen deshalb in diesem Bereich menschlichen Handelns auch nicht mehr davon, daß wir einen Fehler gemacht haben, sondern daß wir "schuldig" geworden sind. Selbst dort, wo uns das Wort "Schuld" nicht über die Lippen geht, und wir nur sagen können: "das war mein Fehler", meinen wir mehr, als wenn wir von einem falschen Handgriff oder einem fehlerhaften Teilchen in technischen Prozessen reden. Diese haben wir zumeist auch dann in der Hand, wenn etwas schief läuft, menschliche Beziehungen dagegen entgleiten uns, wenn wir sie durch eigene Schuld gefährden. Nicht, daß es nicht auch in ihnen die Möglichkeit der Wiederherstellung gibt. Aber sie liegt nicht mehr in der Hand dessen, der schuldig geworden ist, sondern in der Hand des anderen. Darin zeigt sich, daß die Schuld den Schuldigen selbst in eine von ihm aus gesehen ausweglose Situation der Unfreiheit führt; er wird der Gefangene seiner Tat und kann sich nicht selbst aus ihren Folgen befreien. Er kann sich das Wort der Vergebung nicht selbst zusprechen, sondern bleibt darauf angewiesen, daß der andere einen neuen, aus seiner Sicht unverdienten und unableitbaren Anfang setzt. Darin wird eine tiefe Asymmetrie sichtbar, auf der unser Leben aufgebaut ist: Wir können vieles aus eigener Macht zerstören, das wir nicht aus ebenso freiem Entschluß wieder herstellen können. Im zwischenmenschlichen Bereich herrscht nicht die Zuordnung von "Schadensfall" und "Reparatur", sondern die von "Schuld" und "Vergebung". Dies wird in den unmittelbaren Beziehungen von Liebe und Freundschaft am deutlichsten erfahrbar, es gilt aber darüber hinaus für alles kommunikative Sinnhandeln. Für Aristoteles zählt dazu ausdrücklich auch der Bereich des Politischen im weitesten Sinn der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Das erklärt auch, warum etwa Politiker sich so schwer tun, ihre "Fehler" öffentlich einzugestehen. Sie wären ja nicht nur das Eingeständnis einer leicht korrigierbaren Fehlentscheidung, sondern das Bekenntnis einer "Schuld", für die "Vergebung" zu erwarten in einer gnadenlosen Öffentlichkeit aussichtslos ist. Die gleiche Asymmetrie, wonach wir zerstören können, was wiederherzustellen unsere Kraft übersteigt, gilt aber nicht nur im vertraut-personalen und im öffentlichen Lebensraum, sondern auch in unserer Beziehung zu Gott. Vielleicht enthüllt erst die Asymmetrie gegenüber Gott den letzten Grund dafür, daß unsere Beziehungen untereinander so stark von Schuldabwehr und Schuldverdrängung bestimmt sind. Wo der Mensch, dessen Transzendenzbezug verstellt ist und der in die zerstörerischen Möglichkeiten seiner eigenen Freiheit eingemauert bleibt, sein Schuldigwerden ohne Aussicht auf Gnade und Vergebung erfährt, da muß er dieser Gnadenlosigkeit aus dem Weg gehen, indem er seine Schuld verdrängt. Schuld läßt sich nicht wie ein Schaden wiedergutmachen, Schuld ruft nach Vergebung und Umkehr. (S. 240, Grundaussage der theologischen Anthropologie) 2. Kierkegaard: die Angst als Ursprung der Sünde Die Begegnung mit den vielfältigen Symbolen des Bösen soll uns heute aber nicht nur zeigen, wie sich die Schulderfahrung von dem ursprünglichen Makel über die Sünde zur rein innerlichen Schuld verschoben hat, sondern sie soll uns auch das Weiterwirken der alten Symbole und die Wiederanknüpfung an ihren Erfahrungspotential ermöglichen. Der Weg verläuft nicht nur rein negativ, so daß das religiöse Symbol der Sünde das magische Symbol des Makels zerstört, um dann seinerseits von dem ethischen Symbol der Schuld aufgehoben zu werden. Es gibt daneben auch den Weg der positiven Anknüpfung oder zumindest die Einladung zur Wiederentdeckung der Erfahrungsschichten, die sich in den ursprünglichen Symbolen der Schuld niederschlagen. Deren Transformation in die jeweils nächste Stufe läßt sich durch die Wiederholung des Weges vom Mythos zum Logos nicht rückgängig machen, aber sie bietet die Chance einer Begegnung, in der sich dem Menschen ein vollständigeres und tieferes Verständnis seiner selbst eröffnet. Die "zweite Naivität" kann nicht zur ersten zurückkehren, aber sie kann die Verluste ausgleichen und die Verarmung beheben, die dem Menschen seine Befreiung von der ursprünglichen Naivität gekostet hat. So sieht Ricoeur in der Wiedererlangung unserer Fähigkeit, die Urerfahrung der Schuld "ins Wort" zu bringen und uns ihr in der Sprache des Bekenntnisses zu stellen, einen entscheidenden Beitrag zur Wiedererlangung unseres unverkürzten Menschseins. Die Begegnung mit der Symbolik des Bösen zeigt die verschiedenen Aspekte, die der Schulderfahrung des Menschen ursprünglich anhaften. Wie die unerklärliche Realität des Bösen, sein objektives Vorhandensein in der Welt, aber mit der subjektiven Schulderfahrung des einzelnen verbunden ist, und wie dieser sich in seiner individuellen Verantwortung zugleich einer überindividuellen Mächtigkeit des Bösen unterworfen weiß, vor diesen Fragen kann das Denken nicht einfach haltmachen. Auch wenn es sie nicht lösen kann, so muß es sie dennoch einkreisen und gewissermaßen gegen sie andenken. Die Erbsündenlehre des christlichen Glaubens stellt den Versuch dar, diesen Zusammenhang aufzuhellen; sie läßt sich zwar nicht philosophisch rekonstruieren, aber die philosophische Kritik kann zum einen das Ungenügende ihrer traditionellen Formulierung aufweisen und zum anderen das Problembewußtsein dafür schärfen, worin ihre eigentliche Denkleistung zu suchen ist. Die kritische Auseinandersetzung mit dem Erbsündendogma, die sich im Raum der katholischen Theologie erst zu Beginn dieses Jahrhunderts durch den Streit um den Monogenismus vollzog, fand im Raum der Philosophie und der protestantischen Theologie bereits ein Jahrhundert zuvor statt. Die Kritik an der traditionellen Formulierung der kirchlichen Erbsündenlehre, die damals Friedrich Schleiermacher und vor allem der dänische Philosoph Kierkegaard formulierten, ist heute weithin theologisch rezipiert. Sie hat in den letzten Jahren neue Aktualität gewonnen, weil einer ihrer Kerngehalte, die philosophische Deutung der Angst, eine wesentliche Voraussetzung für die psychologische Interpretation des christlichen Glaubens durch den umstrittenen Theologen Eugen Drewermann darstellt. Um den Bezugspunkt der eindringlichen Analysen richtig zu verstehen, durch die Kierkegaard den Begriff der Angst zerlegt, muß man die radikale Kritik vor Augen halten, die Schleiermacher an zwei zentralen Aussagen des kirchlichen Erbsündendogmas anbrachte. Entsprechend seiner Grundkonzeption, wonach die dogmatischen Inhalte des christlichen Glaubens immer nur Aussagen über das fromme Selbstbewußtsein der Gläubigen enthalten, reduziert er die Tragweite der Erbsündenlehre auf die Anerkennung der allgemeinen Erlösungsbedürftigkeit, die sich als solche im gläubigen Selbstbewußtsein aufweisen läßt (Die christliche Glaubenslehre § 71). Die Erbsündenlehre erscheint ihm als Ausdruck des christlichen "Gemeinbewußtseins", das sie als eine "Gesamttat und Gesamtschuld des menschlichen Geschlechtes" versteht (a.a.O.). Dadurch sind insbesondere zwei Aussagen der klassischen Erbsündenlehre abgelehnt: Erstens darf der Zusammenhang zwischen dem Bewußtsein einer ursprünglichen Sündhaftigkeit mit der allgemeinen Erlösungsbedürftigkeit nicht als Strafe verstanden werden, weil es für eine solche Strafwürdigkeit in der christlichen Frömmigkeit keinen Anhaltspunkt gibt. Zum anderen sind den theologischen Spekulationen über den Urstand des Menschen und insbesondere über die angebliche Veränderung der menschlichen Natur durch den Sündenfall des ersten Menschenpaares der Boden entzogen (§ 72). Solche theologischen Konstruktionen sind ohne jeden Wert für das religiöse Gefühl; sie bleiben unanschaulich und sind als Ausdrücke unseres christlichen Selbstbewußtseins nicht denkbar. Das ist von Schleiermachers Voraussetzung her durchaus konsequent gedacht: Wenn dogmatische Aussagen sich nur auf Inhalte des religiösen Bewußtseins beziehen, können sie nur das zum Ausdruck bringen, worin alle Menschen übereinkommen; eine besondere Stellung Adams oder eine qualitative Veränderung durch das erste Auftreten der Sünde sind so von vornherein ausgeschlossen. Die Sünde Adams ist so nichts anderes als die erste Sünde eines jeden Menschen; die ersten Menschen sind durch ihre erste Sünde nur die "Erstlinge der Sündigkeit", nicht aber der Grund für eine das gesamte Menschengeschlecht betreffende Veränderung unserer Natur. Die entscheidende Frage, wie dann die jeweils "erste" Sünde aller einzelnen Menschen zu erklären sei, versucht Schleiermacher durch den Hinweis auf die allgemeine Daseinsverfassung des Menschen zu beantworten. Er spricht von einer "unzeitlich überall und immer der menschlichen Natur anhaftenden Ursündlichkeit" (a.a.O.), die mit ihrer ursprünglichen Vollkommenheit zugleich besteht. Er sieht also in der menschlichen Natur so etwas wie eine Disponiertheit zum Sündigen angelegt, die ihrer Vollkommenheit jedoch keinen Abbruch tut. In dieser Annahme, zu der sich Schleiermacher durch seine Kritik am kirchlichen Erbsündendogma gezwungen sieht, liegt nun der Ansatzpunkt für das Streitgespräch, das Kierkegaard aufnimmt. Er schließt sich Schleiermacher an, was den kritischen Teil der von ihm vorgetragenen Revision angeht. Er wirft ihm aber zugleich vor, daß er bei dem Versuch, den positiven Gehalt des Erbsündendogmas zu formulieren, genauso geistlos bleibt, wie diese selbst. Daß sich die allgemeine Sündigkeit der Menschen nicht durch naturhafte Infizierung, gleichsam wie die Seuche der "Kuhpocken" ausbreitet, in dieser Kritik gibt Kierkegaard Schleiermacher vollkommen recht. Adam hat nicht als Repräsentant der menschlichen Natur, sondern für sich selbst gesündigt. Auch von ihm gilt, was Kierkegaard im Blick auf jeden Menschen sagt: "Der Begriff Sünde und Schuld setzt eben den einzelnen als den einzelnen" (Der Begriff Angst, S. 280). Wo von Sünde die Rede ist, da ist der einzelne als er selbst, nicht in seinem Verhältnis zur ganzen Welt oder zu einem imaginären Punkt am Anfang der Geschichte gedacht. Dennoch ist in der überlieferten Erbsündenlehre der richtige Gedanke aufbewahrt, daß der Mensch auch als Sünder nicht allein bleibt, sondern mit seiner Tat eingebettet ist in die umgreifende Geschichte der ganzen Menschheit. Kierkegaard bestimmt diesen unaufgebbaren Kern, den er aus der unzureichenden Form der kirchlichen Lehre herauskristallisiert dahin, daß "der Mensch Individuum ist und als solches zu gleicher Zeit er selbst und das ganze Geschlecht, dergestalt, daß das ganze Geschlecht am Individuum teilhat, und das Individuum am ganzen Geschlecht" (a.a.O., S. 205). Zwischen Adams Sünde und unserer Sünde besteht deshalb sehr wohl ein Zusammenhang, wenn dieser auch nicht als eine qualitative Veränderung unserer menschlichen Natur zu bestimmen ist. Die gemeinsame Geschichte der Sünde, durch die wir mit allen Menschen verbunden sind, ist für Kierkegaard eine rein quantitative Bestimmung, die nur eine Disposition des einzelnen zur Sünde begründet (a.a.O., S. 215. 292). Darin übernimmt er also den Schleiermacherschen Gedanken der gemeinsamen "Ursündlichkeit". Dieser aber kann das gerade nicht erklären, was er doch begründen soll: das Auftreten der "ersten" Sünde. Diese ist nämlich nicht nur in quantitativer Hinsicht, als der Beginn Nr. 1 der nachfolgenden Zahlenreihe, sondern qualitativ etwas Neues. "Das ist das Geheimnis des Ersten und dessen Ärgernis für die abstrakte Verständigkeit, die da meint: einmal ist keinmal, aber vielmal ist etwas, während es doch durchaus umgekehrt steht, da die vielen Male entweder jedes für sich ebenso viel bedeuten wie das erste Mal, oder zusammen längst nicht so viel" (S. 207). Darin liegt das Ärgernis der Sünde für den Verstand und mithin ihre Sperrigkeit gegen alles philosophische Begreifen, daß sie sich gegen jede Erklärung widersetzt: "Die neue Qualität kommt zum Vorschein mit dem Ersten, mit dem Sprung, mit der Plötzlichkeit des Rätselhaften" (S. 208). Darum wußte freilich auch die klassische Erbsündenlehre, wenn sie das erste Auftreten der Sünde als eine Entscheidung der menschlichen Freiheit und als eine ursprüngliche Wahl zwischen Gut und Böse dachte. Der Gedanke, daß die menschliche Freiheit sich spontan und grundlos, oder rein aus dem Motiv einer hochmütigen Rebellion gegen Gott für das Böse entscheiden kann, setzt aber seinerseits bereits eine irgendwie geartete Anfälligkeit der Freiheit für das Böse voraus. Das Aufkommen der Sünde durch eine bereits vorhandene Hinneigung des Willens zu ihr zu erklären, stellt aber gerade keine Erklärung dar, denn sie setzt das Zu-Erklärende bereits voraus. In dieser Kritik hat Schleiermacher recht, er bleibt nur darin oberflächlich, daß er sich mit dem banalen Hinweis auf die allgemeine "Ursündlichkeit" des Menschen begnügt. So einfach darf es sich das Denken nicht machen, wenn es die Realität des Bösen und die unerklärliche Wirklichkeit der Sünde nicht verharmlosen will. Anstelle der "Gedankenlosigkeit", die den Menschen einfachhin zwischen Gut und Böse wählen läßt, sucht Kierkegaard deshalb nach einer weiteren "Zwischenbestimmung", die den rätselhaften Sprung der Sünde möglich macht. Er entdeckt diese Zwischenbestimmung in der Angst. Sie ist für ihn eine Bestimmung des "träumenden Geistes", die sich von der Furcht dadurch unterscheidet, daß sie sich nicht auf einen konkreten Gegenstand richtet. In der Angst ängstigt sich der Mensch vor sich selber, insbesondere vor seiner Freiheit und der aus ihr aufsteigenden Möglichkeiten. Kierkegaard will also das Phänomen der Sünde von dem tieferliegenden Erlebnis der Angst her deuten und gelangt so zur Umkehrung der These, die hinter dem klassischen Verständnis der biblischen Sündenfallgeschichte steht: Der Mensch hat nicht Angst, weil er gesündigt hat (vgl. Gen 3,7 8), sondern er wird schuldig aus Angst. In der Angst rührt der Mensch an das Nichts und von dieser Berührung mit dem Nichts bleibt er fortan gekennzeichnet. Als "die ängstigende Möglichkeit, zu können", ist das Nichts in ihn selbst hineingedrungen. Mit dem Wissen um Gut und Böse hat der Mensch seine Unschuld verloren; mit dem Setzen des Unterschiedes ist zugleich die Angst in die Welt des Menschen gekommen. "Das Verbot ängstigt ihn, weil das Verbot die Möglichkeit der Freiheit in ihm weckt" (S. 223). Diese in die Welt hinein geratene Möglichkeit zur Sünde, das Können der Freiheit zum Bösen, nennt Kierkegaard die "objektive" Angst. Sie ist eine quantitative Bestimmung, an der die ganze Schöpfung Anteil hat, weil durch die Sünde auch "über das nichtmenschliche Dasein ein ganz anderes Licht fiel" (a.a.O., S. 237 - 239). "Subjektive" Angst ist dagegen der bodenlose Grund, aus dem für den einzelnen die Möglichkeit der Sünde hervorsteigt. Sie ist einem Schwindel vergleichbar, der den Menschen überfällt, wenn er in einen tiefen Abgrund hinabschaut. Ein solcher "Schwindel der Freiheit" befällt den Menschen, wenn "die Freiheit nun niederschaut in ihre eigene Möglichkeit, und sodann die Endlichkeit packt sich daran zu halten". Dieses Mißverhältnis zwischen dem gähnenden Abgrund des Nichts, in den die Freiheit hinabstarrt und dem "Geländer" ihrer eigenen Endlichkeit, das gewissermaßen zu schwach ist, sie vor dem Absturz zu bewahren, ist der eigentliche Ermöglichungsgrund der Sünde. Weiter als zur Einsicht in diese Disproportion, die im Menschen Angst hervorruft, kann keine Philosophie und keine Psychologie mehr vordringen. Jenseits dieser Grenze liegt das Faktum der Sünde, das mit einem qualitativen Sprung in die Welt eintritt und aus allen vorangehenden Analysen nicht mehr ableitbar ist. Auch die schärfste psychologische Beschreibung kann nur die beiden Endpunkte des Übergangs zur Sünde erfassen, diesen selber bekommt sie nicht in den Blick. "Den gleichen Augenblick ist alles verändert, und indem die Freiheit sich wieder aufrichtet sieht sie, daß sie schuldig ist. Zwischen diesen beiden Augenblicken liegt der Sprung, den keine Wissenschaft erklärt hat oder erklären kann" (a.a.O., S. 241). Wenn die Freiheit nun nicht nur vor der schwindelerregenden Größe ihrer eigenen Möglichkeit ertaumelt, sondern in diesem Zustand erstarrt, geht sie in die Verzweiflung über. In ihr erblickt Kierkegaard mit einem Bild von Eugen Drewermann gesagt, gewissermaßen den "Gefrierzustand der Angst" und den wesentlichen Inbegriff der Sünde. Verzweiflung befällt den Menschen, der das Mißverhältnis seiner Freiheit in sich entdeckt und deshalb aus lauter Angst in einem Mißverhältnis zu sich selber lebt. Diese Situation der Verzweiflung ist aussichtslos; sie läßt dem Menschen nur die Wahl, daß er nicht sein will, was er ist, oder daß er sein will, was er nicht ist. Als Ausdruck dieses Mißverhältnisses sind Angst und Sünde aber nicht nur Bestimmungen der niederen Sphäre des Menschen, wie Schleiermacher annahm, der die Sündigkeit des Menschen nur als Widerstand des Fleisches gegen die Bestimmung des Geistes sah. Sünde und Angst gehören vielmehr zur Geistigkeit und Freiheit des Menschen, also zu seinem Wesen selbst. (Im Hintergrund steht die These Kierkegaards, wonach der Mensch als eine vom Geist getragene Synthesis von Leib und Seele zu denken ist. Der Mensch ist, wie er in den berühmten Anfangssätzen seiner Schrift "Die Krankheit zum Tode" ausführt, das "Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält"). Als ein zugleich körperliches und geistiges Wesen ist der Mensch zwischen die beiden Pole der Endlichkeit und Unendlichkeit, in die Spannung zwischen dem Zeitlichen und der Ewigkeit, zwischen Freiheit und Notwendigkeit gestellt. Es macht die eigentliche Existenzaufgabe des Menschen aus, zwischen diesen auseinanderdrängenden Polen seines Daseins eine "Synthesis" zu setzen, durch die er sein endliches Dasein vor dem Unendlichen verantworten kann. Die Kierkegaardsche Analyse der Verzweiflung, als eines vergeblichen Versuchs des Daseins, sein zu wollen, was es nicht ist, und nicht sein zu wollen, was es ist, entdeckt nun in dieser verzweifelten Form menschlicher Selbstüberschreitung - theologisch gesprochen: in dem Seinwollen wie Gott - die eigentliche Urform der Sünde. Drewermann hat diese Bestimmung der Sünde als Angst und verzweifelte Selbstüberhebung des Menschen aufgenommen und in eine Beziehung zu den vier Grundformen der Neurose gesetzt, wie sie die klassische Psychoanalyse kennt. Die Depression entspricht dabei einer "Verzweiflung der Unendlichkeit", die Schizophrenie dem verzweifelten Wunsch, nur das Endliche zu kennen, die Zwangsneurose stellt sich als eine "Verzweiflung der Notwendigkeit" dar und der Hysteriker zeigt sich zuletzt als ein "Verzweifelter der Möglichkeit". Diese vier Grundformen der neurotischen Verzweiflung setzt er sodann in eine nochmalige Beziehung zu den vier Auszeichnungen des göttlichen Seins, die in der klassischen Metaphysik Gott vorbehalten sind: schlechthinige Notwendigkeit, Vollkommenheit, Unendlichkeit und die absolute Selbstursprünglichkeit. In dieser Korrespondenz zwischen den vier Formen der Verzweiflung und den vier Möglichkeiten der neurotischen Selbstüberhebung des Menschen sieht Drewermann einen psychologischen Anhaltspunkt für die theologische Deutung der Sünde, die deren eigentlichen Kern als das Sein-Wollen-wie-Gott aufdeckt. So gelingt es Drewermann zweifellos auf eindrucksvolle Weise, Existenzphilosophie, Tiefenpsychologie und Theologie in ein Gespräch zu bringen, das für alle Seiten fruchtbar sein kann. Die kritische Anfrage, die an ein solches Unterfangen zu stellen ist, lautet aber, ob er in diesem "Gespräch" auch wirklich alle drei Dialogpartner zueinander vermittelt, oder ob dabei insgeheim nicht doch die Problemsicht eines einzigen maßgebend für die anderen wird. Indem er die Kierkegaardsche Bestimmung der Sünde als Angst übernimmt, beschränkt er aber den möglichen Horizont einer theologischen Aussage von vornherein auf das, was an ihr als psychologische Bedeutung erfaßt werden kann. Eine theologische Auseinandersetzung mit Drewermanns Programm einer tiefenpsychologischen Interpretation des christlichen Glaubens muß deshalb, wenn sie wirklich zu den geistesgeschichtlichen Wurzeln des gegenwärtigen Streites vordringen will, die Kierkegaardsche Verhältnisbestimmung von Sünde und Angst problematisieren. Die Grundfrage, die dabei nochmals aufgerollt werden muß, ist durch Kierkegaards Kritik an der herkömmlichen Erbsündenlehre nur scheinbar erledigt. Ob die Sünde eine Folge der Angst ist oder ob die Angst nicht vielmehr erst aus der Störung des ursprünglichen Gottesverhältnisses erwächst, die das Nein der Sünde hervorgerufen hat, das ist eine Entscheidung von erheblicher Tragweite für die gesamte Wirklichkeitsdeutung des christlichen Glaubens. In ihr geht es um mehr als um ein beliebiges Gedankenspiel nach dem Motto: "Was war zuerst da - das Huhn oder das Ei". Die Antwort auf diese Frage entscheidet darüber, ob das Grundverhältnis des Menschen zur Wirklichkeit, die Bestimmung seines Daseins in der Welt, durch Angst oder durch Vertrauen und Zustimmung bezeichnet wird. Sicherlich ist es richtig zu sagen, daß der Mensch im Glauben und im Vertrauen auf die Möglichkeiten Gottes seine Angst überwinden kann. Der gläubige Mensch hat die Freiheit und Macht, auch seine Angst anzunehmen, ja sie, wie Kierkegaard sagt, in Dienst zu nehmen. "Die Angst wird ihm ein dienender Geist, der wider Willen ihn führt, wohin er, der Geängstigte, will" (S. 345). Die Frage ist nur, ob der Glaube in dieser Funktion einer Umwandlung und Dienstbarmachung der Angst aufgeht oder ob er die Angst nicht gerade dadurch überwindet, daß er ihre Herkunft aus einem Nein des Menschen zu Gott aufdeckt, an dessen Stelle er das bedingungslose Ja eines letzten Vertrauens setzt. Die klassische Theologie hat in ihrer Interpretation der biblischen Sündenfallsgeschichte die Angst und Verzweiflung des Menschen auf seine Entfremdung von Gott zurückgeführt. Sie sieht das ganze Ausmaß dieser Entfremdung, die sich auf das Verhältnis zwischen Mensch und Mitmensch, sichtbar in dem Symbol der Scham und dem Generationenkonflikt, auf das Verhältnis des Menschen zu seiner leiblichen Konstitution, deutlich geworden in der Mühe seiner Arbeit, und im Verhältnis des Menschen zu der ihn umgebenen Natur, vom Mythos des Sündenfalls dargestellt in seiner Feindschaft mit den Tieren und in der Unfruchtbarkeit des Ackers, auf vielfältige Art auswirkt. Aber hinter dieser Entfremdung des Menschen mit sich selbst und seiner Natur sieht sie die Selbstentfremdung des Menschen von Gott walten, durch die er aus dem rechten Verhältnis zum Ursprung aller Wirklichkeit herausfällt ist und dadurch auch sein Verhältnis zu sich selbst zerstört. Gegen diese theologische Interpretation des menschlichen Daseins im Lichte des Sündenfallmythos würde sicher auch Kierkegaard keinen Einspruch erheben. Aber er würde seine Frage wiederholen, wie diese Selbstentfremdung des Menschen von Gott als eine Möglichkeit der menschlichen Freiheit denkbar ist. Die Antwort der klassischen Theologie auf diese Frage war freilich nicht so geistlos, wie er annahm, auch wenn sie tatsächlich ohne seine psychologische "Zwischenbestimmung" der Angst auskam. Es ist historisch falsch, wenn Kierkegaard annimmt, die Theologie habe die Frage nach dem Ursprung der Sünde nur als die Frage nach dem liberum arbitrium und seiner Wahlmöglichkeit zwischen Gut und Böse gestellt. Vielmehr verschärfte sie die Frage, wie der Mensch sich von Gott als dem Ursprung alles Guten abwenden konnte, gerade dadurch, daß sie die Freiheit selbst im umfassenden Sinn als Freiheit zum Guten verstand. Das Problem lautet so nicht nur, wie der Mensch zwischen Gut und Böse wählen kann, ohne nicht schon zuvor eine Hinneigung zum Bösen in sich zu verspüren. Im Blick auf den ursprünglichen Begriff der Freiheit als der Fähigkeit des Menschen zum Guten wird es zu der Frage verschärft: wie ist eine willentliche Abkehr des Menschen vom Guten, auf das er doch seiner eigenen Natur und der ganzen Ausrichtung seiner Freiheit nach hinzielt, überhaupt denkbar? Die christliche Anthropologie hat dieses Problem immer als eine beunruhigende Frage empfunden, auf die es keine beruhigende Antwort geben kann. Das Schwanken vor dem Bösen und die Freiheit seines Willens, das Böse in der Kraft eigener Entscheidung zu wollen, erwächst dem Menschen, wie Thomas in einem irritierenden Gedanken ausführt, aus der Berührung mit dem "Nichts", aus dem er herkommt und das ihn gezeichnet hat (De veritate 22,6 ad 3; 24,1 ad 16; 24,7). Durch seinen "Ursprung aus dem Nichts" kommt dem Willen seine "flexibilitas", sein Schwanken vor dem Bösen zu. Das Ausdem-Nichts-Herkommen ist aber nur die dunkle Kehrseite für das, was der christliche Glaube unter dem Begriff der Kreatürlichkeit versteht. Dadurch wird die Dunkelheit des Daseins nicht wegerklärt und nicht in das fahle Licht einer naiven, gottseligen Daseinsfreude getaucht. Vielmehr bleibt es dabei: creatura est tenebra in quantum est ex nihilo - "Die Natur ist dunkel, sofern sie aus dem Nichts stammt" (De veritate 18,2 ad 5). Aber dieses Dunkel ist eingeborgen in das Licht, das von Gott her auf sie fällt und in dem sie sich erst als Kreatur verstehen kann. Deshalb lautet die letzte Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der Sünde: Die Abkehr von Gott, der Mißbrauch der Freiheit und die Zerstörung des Guten finden den Grund ihrer Möglichkeit in nichts anderem als darin, daß der Mensch Kreatur ist. Aufgrund seiner Kreatürlichkeit, durch seine Herkunft aus dem Nichts, ist dem Menschen die Möglichkeit zur Sünde gegeben. Das ist in der Tat eine beunruhigende Antwort, denn sie besagt nichts weniger, als daß die Möglichkeit zur Sünde zur inneren Bauform der natürlichen Existenz des Menschen gehört und daß die Wirklichkeit des Nichts, aus dem er herkommt, darin noch immer irgendwie anwesend ist. Wie immer man die Antwort der christlichen Theologie beurteilt, eines kann man ihr nicht vorwerfen: daß sie das Böse verharmlost und die Sünde wegerklärt. Vielmehr führt sie das Denken an eine Grenze heran, hinter der sich ein Geheimnis im strikten Sinn auftut, das er nur anerkennen oder abweisen kann. Die einzige Frage, die sich dem Menschen vor dem unergründlichen Geheimnis des Daseins noch stellt, ist die, ob er sich ihm rückhaltlos anvertrauen, oder ob er sich in sich selbst verschließen soll. Die Beantwortung dieser Frage ist dem Denken nicht als eine Wahlmöglichkeit zwischen zwei gleichermaßen möglichen Alternativen gegeben. (Darin hat Kierkegaard recht). In ihr hat sich der Mensch vielmehr immer schon entschieden, längst bevor er im Denken, soweit das überhaupt möglich ist, die Gründe seines Entschiedenseins auslotet. Dieses Immer-schon-Entschiedensein in der Alternative von Vertrauen und Verzweiflung benennt die christliche Theologie, sofern es der Ausdruck einer ursprünglichen Zustimmung ist, mit dem einfachen biblischen Wort "Glaube". Erst wo der Mensch seine Entschiedenheit für Gott in Frage stellt und dem Nein der Sünde in sich Raum gibt, tritt die Angst hervor, die den Menschen an seine bereits überwundene Herkunft aus dem Nichts erinnert. Es macht deshalb einen großen Unterschied aus, ob die Sünde eine Folge der Angst ist, oder ob die Angst erst als Folge der Sünde und der durch sie bewirkten Störung unseres Verhältnisses zu Gott hervortritt. Im ersten Fall bleibt das Daseinsgefühl des Menschen dadurch bestimmt, daß er seiner Grundbefindlichkeit des Sich-ängstigen-Müssens im Glauben immer wieder ein kleines Stück Sicherheit und Vertrauen abtrotzen kann. Im zweiten Fall ist das Dasein von der vertrauensvollen Gewißheit des Glaubens getragen, daß alle Angst und Ungewißheit, die in seiner noch ausstehenden Lebenszeit auf den Menschen zukommen, von dem Grundgefühl der Geborgenheit umschlossen bleiben, durch das das Urvertrauen des Glaubens sich als die erste Bestimmung des Daseins äußert. 3. Martin Heidegger: Schuld als Existential Bevor wir uns nun dem eigentlichen theologischen Verständnis von Sünde und Schuld zuwenden können, müssen wir noch bei einer letzten philosophischen Auslegung der Schuld verweilen, die bereits nahe an die theologische heranführt. Gemeint ist das Schuldverständnis Martin Heideggers, das insbesondere für die verschiedenen Richtungen der anthropologisch orientierten Psychoanalyse bedeutsam wurde. Auch Heidegger geht es darum, hinter das "vulgäre" Schuldverständnis zurückzugehen und danach zu fragen, wie das moralische Schuldigwerden im Sinne der Maßstäbe von Gut und Böse überhaupt möglich ist. Wenn das alltägliche Verständnis von Schuld auch unzureichend ist, so setzt Heidegger doch bei seiner Analyse ein, weil erst von ihm aus eine Antwort auf die Frage nach dem existentiellen Sinn der Schuld möglich wird. Dieses alltägliche Schuldverständnis, wie es "Sein und Zeit" analysiert, entfaltet sich in mehreren Stufen. Schuldigsein bedeutet zunächst: 1. Jemand etwas "schulden", wie es der Fall ist, wenn ich jemand etwas Ausgeliehenes nicht zurückgebe. Es läßt sich auch umschreiben als ein "Schulden haben bei..." (S. 282) 2. Kann es heißen "schuldsein an", d.h. soviel wie Ursache sein oder Veranlassung für etwas sein. Diese Bedeutung läßt sich umschreiben als "schuldhaben an..." Damit ist jedoch noch nicht notwendig der Gedanke der Verantwortlichkeit für das gegeben, wovon ich Ursache bin; dieser tritt erst in der nächsten Bedeutung hervor. Schuldigsein kann also 3. bedeuten "sich schuldig machen", d.h., das Recht eines anderen verletzen und sich strafbar machen. Hier meint der alltägliche Schuldbegriff also einklagbare Schuld im juristischen Sinn. Dahinter kann aber 4. auch schuldig sein im Sinne eines "Schuldigwerdens an anderen" stehen. Das geschieht nicht allein durch die Verletzung eines Rechtsanspruches, sondern dadurch, "daß ich Schuld habe daran, daß der andere in seiner Existenz gefährdet, irregeleitet oder gar gebrochen wird" (a.a.O.). Dieses Schuldigsein, das auch dort gegeben sein kann, wo ich keine öffentlichen Gesetze verletze, bestimmt Heidegger noch sehr formal als ein "Grund sein für einen Mangel im Dasein eines anderen" (a.a.O.). Erst diese letzte Form von Schuld ist für ihn im strengen Sinne ein Schuldigsein des ganzen Menschen. So sieht Heidegger erst hier in der Schuld "die Verletzung einer sittlichen Forderung" (a.a.O.). Für Heidegger ist jedoch darin der existentiale Sinn der Schuld noch immer nicht erreicht. Er tritt erst dort hervor, wo die "vulgären Schuldphänomene", die aus dem besorgenden und verrechnenden Umgang mit dem anderen herrühren, ausfallen und die Idee der Schuld nicht mehr auf dem Begriff des moralischen Sollens oder des Gesetzes bezogen wird. Dann erst tritt hervor, daß das Dasein als solches bereits schuldig ist, bevor es in einem der aufgezählten Sinne schuldig werden kann. "Das Schuldigsein resultiert nicht erst aus einer Verschuldung, sondern umgekehrt: diese wird erst möglich aufgrund eines ursprünglichen Schuldigseins" (S. 284). Erst dieses ursprüngliche Schuldigsein des Daseins ist die Bedingung dafür, daß wir auch im moralischen Sinn schuldig werden können, indem wir uns gegenüber dem Maßstab von Gut und Böse verfehlen. Es ist schwer zu sehen, was diese in bedeutungsschweren Worten vorgetragene Analyse der Schuld noch mit der tatsächlichen Schulderfahrung der Menschen zu tun haben soll. Was bedeutet Schuldigwerden überhaupt noch, wenn ich immer schon schuldig bin und aufgrund meiner existentialen Daseinsverfassung auch immer schuldig bleiben werde? Heidegger antwortet auf diesen naheliegenden Einwand mit einer Gegenfrage: "Ist Schuld nur ‚da’, wenn ein Schuldbewußtsein wach wird, oder bekundet sich darin, daß die Schuld ‚schläft’, nicht gerade das ursprüngliche Schuldigsein?" Er beantwortet sie sofort: "Ursprünglicher als jedes Wissen darum ist das Schuldigsein" (S. 286). Nun ist die Unterscheidung zwischen Schuldigsein und einem bewußten Schuldgefühl ohne weiteres einleuchtend, aber sie kann noch nicht begreiflich machen, warum das Dasein als Ganzes unausweichlich schuldig sein soll. Das wird erst verständlich, wenn man sich daran erinnert, daß Heidegger das Dasein als ein "Seinkönnen" bestimmt. "Dasein ist nicht ein vorhandenes, das als Zugabe noch besitzt, etwas zu können, sondern es ist primär Möglichsein. Dasein ist je das, was es sein kann, und wie seine Möglichkeit ist" (S. 143). Das Dasein ist nie das, was es "eigentlich" sein kann, und eben in diesem Zurückbleiben hinter seinen eigenen Möglichkeiten besteht seine Schuld. Sie bedeutet, "daß im Dasein immer noch etwas aussteht, was als Seinkönnen seiner selbst noch nicht wirklich geworden ist. Im Wesen der Grundverfassung des Daseins liegt demnach eine ständige Unabgeschlossenheit" (S. 236). Schuldigsein meint also diesen "Ausstand an Seinkönnen" (a.a.O.), den das Dasein niemals einholen kann. Damit ist wohl klar geworden, was Heidegger in seiner dunklen Ausdrucksweise meint. Nicht ersichtlich ist aber, warum er dafür das Wort "Schuldigsein" wählt. "Es ist schwer einzusehen, wie allein schon das Wählen einer bestimmten Möglichkeit "Schuldigsein" bedeuten soll" (René Goetschi, Der Mensch und seine Schuld, S. 259). So bleibt es letztlich unklar, ob Heidegger mit seinem Begriff der existentialen Schuld des Daseins wirklich etwas Tieferes gesehen hat als in dem Gedanken der Endlichkeit des Menschen ausgedrückt ist. Daß dieser als ein endliches Wesen immer hinter seinen eigenen Möglichkeiten zurückbleibt und nur eine begrenzte Zahl davon verwirklichen kann, ist ja auf eine viel unprätentiösere Art bereits mit dem Begriff der Endlichkeit gesagt.