LET`S TALK ABOUT
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FOKUS S ie haben zumindest eines erreicht – sie haben Schlagzeilen gemacht: Bushido, Frauenarzt, Sido, Lady Ray, Bass Sultan Hengst, King Orgasmus und wie sie alle heißen. So hörte der Stern in den Songs der so genannten „Pornorapper” die „Begleitmusik zur sexuellen Verwahrlosung“. Wenn die Massenmedien heute auflagenwirksam aus musikalischen Provokationen Skandale produzieren, übersehen sie gern, wie alt das Thema „Musik und Sex“ eigentlich ist; viel älter als die „Pornorapper“, viel älter als Falcos musikalischer Missbrauch einer kindlichen Jeanny, viel älter als Jane Birkins gestöhntes Je t’aime und auch viel älter als das kreisende Becken Elvis Presleys, die alle zu ihrer Zeit als Zeichen für den Verfall von Sitte und Moral gebrandmarkt wurden. Nicht erst die populäre Musik und nicht erst die Musik im Zeitalter der Geldwirtschaft kennen die enge Verbindung von Musik mit Erotik: „Sex sells“. Aber das Geld ist nicht der einzige Grund für diese intime Liaison. Glaubt man Charles Darwin und seinen modernen Nachfolgern aus der so genannten „Biomusicology“, diente die Musik schon immer der „natürlichen Zuchtwahl“, der erfolgreichen Werbung des Männchens um das Weibchen. Betrachtet man allerdings nicht nur Singvögel, Gibbons oder Buckelwale, sondern die menschliche Musik, kommen schnell Zweifel, ob das Klavierspielen tatsächlich, wie es Johannes Heesters in einem Lied behauptete, unweigerlich Glück bei den Frauen nach sich zieht. Dietrich Helms über die intime Liaison von Musik und Erotik LET’S TALK ABOUT Wenn es wirklich die Musik wäre, die Männer, und seien sie so alt wie Mick Jagger, für Frauen attraktiv macht (und nicht ihr finanzieller Erfolg), müsste dann nicht die Musikpädagogik eine viel entscheidendere Funktion in unserer Gesellschaft erfüllen? Es gibt einen feinen, aber entscheidenden Unterschied zwischen den Balzlauten von Tieren und der Musik: Der Zebrafink meint es durchaus ernst, wenn er singend um ein Weibchen wirbt. Die Kommunikation von Menschen mit Musik dagegen hat immer auch einen uneigentlichen Charakter. Es ist, als ob Musik die Sprache in Anführungszeichen setzt. Gesprochen kann man den Worten „Ich liebe dich“ vielleicht glauben. Doch was ist davon zu halten, wenn diese Worte gesungen werden? Diese Unsicherheit und Uneindeutigkeit schließt die Musik als geeignetes direktes Medium der Partnerwahl aus. Indirekt kann sie freilich durchaus hilfreich sein. Sonderwelt Musik Betrachtet man die Musik nicht aus biologischer, sondern aus anthropologischer Perspektive kann man eine Gemeinsamkeit der meisten musikalischen Kulturen in Gegen- wart und Geschichte feststellen: In vielen Kulturen markiert die Musik eine Sonderwelt, die sich vom Alltag unterscheidet. Der liturgische Gesang des Priesters, die gesungenen Beschwörungen des Schamanen symbolisieren die Nicht-Alltäglichkeit, das ÜberWeltliche des Sprechens mit dem Göttlichen. Die Melodie des Schlafliedes lässt die Aufregungen des Tages vergessen und leitet über in das Reich der Träume. Tanz und Tanzmusik machen erst ein Fest zum Fest, das den Alltag vergessen lassen will. Voulez-vous…? Solange Musik gemacht wird, gelten andere, nicht-alltägliche Regeln der Kommunikation. Das lässt sich besonders gut am Beispiel des Festes, der privaten Party, aber auch am institutionalisierten Fest der Diskothek zeigen. Solange die Musik spielt, sind in der Kommunikation Dinge erlaubt, die man im Alltag nicht wagen würde: Beim Tanz kann man öffentlich den eigenen Körper in seiner individuellen Schönheit den Blicken der anderen präsentieren. Beim Tanz kann man einem Gegenüber körperlich nahe kommen, ihn anfassen oder sogar umfassen. Man kann sich vergessen, ausflippen, verrückt spielen. Man kann den Text des Songs mitsingen und Menschen Dinge ins Gesicht sagen, die auszusprechen man im Alltag nie gewagt hätte. Zum Beispiel im Chor mit Labelle: Voulezvous coucher avec moi? Oder zusammen mit Tic Tac Toe: Ich find’ Dich Scheiße. Endet die Musik, endet das Fest, und alles wird wieder zurück auf „normal“ geschaltet. Wer jetzt noch die körperliche Nähe aufrechterhält, wer seinen Tanzpartner weiterhin festhält, wer auch ohne Musikbegleitung „Ich liebe dich“ sagt, muss eine Hürde, muss wieder Hemmungen überwinden, denn er macht ein Geständnis, meint es ernst. ! Sich beim Tanzen näher kommen: Solange die Musik spielt, sind in der Kommunikation Dinge erlaubt, die man im Alltag nicht wagen würde. © Stefan Latz/pixelio.de 10 MUSIK ORUM „Grasen gan“ Die direkte Sprache – explicit lyrics – ist keine ausschließliche Eigenschaft der populären Musik der Gegenwart. Das folgende Lied findet sich in einem 1540 gedruckten Liederbuch, dessen Herausgeber schreibt, er wolle mit seinen Notendrucken die Moral heben, denn seine Lieder hielten die Jugend vom Saufen und Spielen ab. „Es wolt ein meydlein grasen gan fick mich lieber Peter und do die roten rößlein ston fick mich mer du hasts ein ehr kanstus nit ich will dichs lern fick mich lieber Peter" Aus: Georg Forster: Der Ander theil, kurtzweiliger guter frischer Teutscher Liedlein, zu singen vast lustig, Nürnberg 1540. @ Sandra Nabbefeld/pixelio.de / bearb. »Let’s talk about sex, baby, Let’s talk about you and me, Let’s talk about all the good things And the bad things that may be« Salt’N’Pepa (US-amerikanische HipHop-Band) MUSIK ORUM 11 FOKUS Dieses „Sprechen und Handeln in Anführungszeichen“, diese uneigentliche Kommunikation, die Musik erzeugt, ist eine große Chance für Kulturen, in denen öffentliche Darstellung von Erotik tabuisiert und verboten ist. Erotik ist unverzichtbar zur Anbahnung von Sex (und dessen biologischer Funktion der Fortpflanzung). Gleichzeitig enthält sie jedoch auch eine große soziale Sprengkraft, so dass sie in den meisten Kulturen streng reglementiert wird. Unsere Gesellschaft unterscheidet etwa nach wie vor zwischen öffentlichem und privatem Verhalten. Solange es in den vier eigenen Wänden verschlossen bleibt, ist auch einem Ehrenmann oder einer Ehrenfrau unmoralisches Verhalten möglich. Durch Tabuisierung und Verdrängung der Erotik in die Privatheit entfällt allerdings die Möglichkeit, erotisches Verhalten durch die Beobachtung anderer zu lernen. So bilden viele Gesellschaften Sonderräume aus, in denen es erlaubt ist, Erotik – in gewissen Maßen – zu beobachten oder auch selbst zu erproben. Medien wie das Fernsehen, die Literatur oder die bildende Kunst erlauben den Blick in eine fiktive Privatheit und Intimität. Sonderräume, deren fiktiver Charakter durch die Musik markiert wird, unterscheiden sich hiervon, denn hier kann man, statt nur zu beobachten, erotisches Verhalten auch selbst erproben – und zwar öffentlich: Der Karneval ist ein ideales, sehr altes Beispiel für einen solchen Sonderraum, aber auch die private Party oder die Stripteasebar. Auf dem Fest kann man flirten, seinen Körper präsentieren, erotische Signale senden und die Körperlichkeit anderer schamlos beobachten, unverbindlich und spielerisch. Der uneigentliche Charakter musikalischen Verhaltens macht es leicht, Hemmungen zu überwinden – die freilich alle wieder da sind, wenn das Fest, wenn die Musik zu Ende ist. Es sei denn, es gelingt, die Verzauberung der Musik für eine Weile in die Zeit danach hinüberzuretten – und die Liebe oder die Erotik damit wahr und aus dem Spiel Ernst werden zu lassen. So hilft die Musik, die hohen Hemmschwellen der Alltagskommunikation zu überwinden, Liebe und Erotik zu stiften, trotz aller noch so hohen Hürden von Tugend und Moral. Viele Mädchen, so schimpft der deutsche Humanist Agrippa von Nettesheim am Anfang des 16. Jahrhunderts, verlören auf dem Heimweg vom Tanz ihre Unschuld, mehr noch gerieten in diese Gefahr – keuscher als zuvor sei nach dem Tanz keine gewesen. Und auch heute noch gibt es Moralapostel, die die Tanzmusik am liebsten verbieten würden (oder 12 MUSIK ORUM Quelle: Die Musik des Altertums, Laaber-Verlag, 1989 Soziale Sprengkraft Gar nicht prüde: Bereits auf Wandmalereien der Ägypter (18. Dynastie/ca. 1550-1300 v. Chr., oben) und in frühesten Schriftquellen der Menschheitsgeschichte, den Keilschrifttafeln aus den frühen Hochkulturen Mesopotamiens (unten), finden sich Hinweise und Lieder, die die Erotik lehren. unverbindlich zu erproben, untersagt, entfiele damit die Möglichkeit, Erotik zu lernen. Damit ginge das einzige System kommunikativer Codes verloren, das gleichberechtigten Geschlechtsverkehr in gegenseitigem, lustvollem Einvernehmen herbeiführt. Ohne Erotik wird Sex im günstigsten Fall zum reinen Fortpflanzungsakt ohne die bindende und verbindende Kraft gegenseitigen Verstehens – oder, und das ist wahrscheinlicher, zu roher Gewalt. Es kommt in der Gesellschaft darauf an, die Balance zu finden: auf der einen Seite die anarchische Kraft einer ungezügelten Erotik zu kontrollieren, auf der anderen Seite die ebenso schädlichen Auswirkungen einer vollständigen Tabuisierung zu vermeiden. Die Musik hat hier die wichtige Funktion, außerhalb der Alltagskommunikation Sonderräume der Kommunikation zu markieren, die den Ausgleich zwischen den Extremen schaffen. Tabus auf die Probe gestellt Quelle: Babylonischer Liebesgarten, C. H. Beck, München 1999 tatsächlich verbieten wie die Taliban in Afghanistan). Doch man denke an die sozialen Konsequenzen eines konsequenten Verbots von Tanzmusik: Würden in einer Gesellschaft alle Möglichkeiten, Erotik zu beobachten und Wie ein Impfstoff, der die Immunabwehr des Körpers mit Hilfe von geschwächten Erregern herausfordert und damit stärkt, stellt Musik mit provozierenden Inhalten immer wieder die Tabus einer Gesellschaft auf die Probe. Sie provoziert Skandale und damit eine Diskussion um das, was noch moralisch akzeptabel ist. Und auch wenn der Anlass dieser Diskussion nur ein Musikstück, d. h. eine Fiktion, ein Spiel und gar nicht so ernst gemeint war, ist ihr Ergebnis die Neudefinition oder auch Verstärkung von dem, was die Gesellschaft als moralisches Verhalten im Alltag akzeptiert. „Zum Schoße gehen“ Im folgenden sumerischen Lied eines heranreifenden Mädchens vor der Hochzeitsnacht wird geschildert, wie sie sich reinigt und kleidet. Der Bräutigam bringt Lämmer und Zicklein in ihr Haus. Während sie dann auf ihn wartet, stimmt sie ein Hochzeitslied an: „Jetzt haben sich meine Brüste entwickelt, jetzt sind an meiner Vagina Haare gewachsen, Darüber, daß wir zum Schoße des Mannes gehen werden, wollen wir uns wieder und wieder freuen! Laß uns tanzen, laß uns tanzen! Oh (Göttin) Bau, über meine Vagina wollen wir uns freuen! Laß uns tanzen, laß uns tanzen! Nachher ist es schön für ihn, ist es schön für ihn!“ Aus: Volkert Haas: Babylonischer Liebesgarten. Erotik und Sexualität im Alten Orient, München 1999. Moral, Tugend, Anstand, guter Geschmack sind keine schriftlich niedergelegten Gesetzessammlungen und zum Glück keine Verhaltenskodizes, die bei uns eine herrschende Minderheit diktiert. Ihre Inhalte müssen in einer demokratischen Gesellschaft immer und ständig in der Diskussion neu definiert werden. Ihre Grenzen können nur durch ständige Grenzverletzung, durch ständige Provokation bewusst bleiben und aufrechterhalten werden. So hat der Skandal durchaus eine gesellschaftliche Funktion. Da Musikstücke, wie z. B. auch Romane, Kunstprodukte sind, können sie freilich provozieren, ohne dass damit die Gesellschaft selbst und ihre Werte in Frage gestellt werden. Musik provoziert in Quarantäne, hält die Diskussion am Laufen, ohne – unter normalen Umständen – gefährlich zu werden. Liederliche Lieder: Die Tradition des Mittelalters mit ihren anzüglichen Texten setzt sich bis in die Neuzeit fort. Ein Beispiel aus den 1970er Jahren ist die Liedsammlung „Ohne Hemd und ohne Höschen“ – unter dem Titel produzierte die Polydor eine ganze Reihe erfolgreicher Schallplatten. Musik braucht Erotik Erotik macht individuell. Wer Zeichen der Erotik sendet, versucht die Aufmerksamkeit des Angesprochenen auf den eigenen Körper zu lenken, ihn zu fixieren auf die eigene Schönheit, die eigene Geschlechtlichkeit, die eigene körperliche Lust. Erotisches Verhalten sagt: „Schau mich an und erlaube mir, dich anzuschauen!“ Während man in alltäglicher Kommunikation darauf bedacht ist, dem Gegenüber in die Augen zu schauen und doch oft an ihm vorbei blickt, ist hier der schamlose Blick auf den Körper erlaubt. Konzerte haben daher oft eine erotische Wirkung: Die Zuschauer dürfen, ja sie sollen sogar die Musiker auf der Bühne genau betrachten, die sich da auch in ihrer Körperlichkeit darstellen. Bereits die Kirchenväter in der Spätantike verdammten alle, die sich öffentlich präsentierten – nicht nur Musiker, auch Redner – als Anstifter zur sündigen Sinnlichkeit. Im 14. Jahrhundert drohte Thomas von Aquin allen, die öffentlich Musik machen und dabei dem Publikum den Körper präsentieren, die ewige Verdammnis ohne jede Aussicht auf Erlösung an. Die Kastraten der Barockoper müssen auf ihr Publikum eine ähnliche Wirkung gehabt haben wie moderne Popstars. Die Zurschaustellung ihrer hochgezüchteten stimmlichen Virtuosität, ihrer extremen Körperlichkeit verlieh ihnen eine ungeheure Sinnlichkeit. Für eine Frau, die ihren guten Ruf wahren wollte, war (teilweise noch bis in die Gegenwart) die Bühne Tabu. Mit dem öffentlichen Auftritt macht frau auch ihren Körper öffentlich; sie gerät in den Ruf einer „öffentlichen Frau“. Die strenge Kleiderordnung und die reduzierten Bewegungen der Musikerinnen und Musiker des bürgerlichen Konzertbetriebs, d. h. von Konzerten so genannter „klassischer“ Musik, erklären sich wohl zum Teil auch aus dem Versuch heraus, die Sinnlichkeit des Musizierens zu kontrollieren. Für Musiker ist Individualität – und das heißt ja auch Wiedererkennbarkeit auf einem heiß umkämpften Markt – wichtig. Sie müssen sicherstellen, dass das Publikum ihre Individualität wahrnimmt. Im Gegensatz zu Komponisten können Musiker Individualität nur durch ihre Körperlichkeit darstellen: durch ihre Virtuosität, ihre Fingerfertigkeit, ihre Stimme, aber auch durch ihr Aussehen. Selbstverständlich ist dies auch durch die Präsentation von Hässlichkeit oder sogar körperliche Abnormitäten möglich. Doch im Mainstream wirkungsvoller, weil positiv besetzt, ist hier der Einsatz von Erotik. Erotik ist Bestandteil der Ästhetik aller vorgeführten Musik, nicht nur, weil Sex sich angeblich gut verkauft. Wenn der Musiker die Reaktionen des Publikums auf seine Songs respektive seinen Erfolg vorwiegend durch empirisch gemessene Aufmerksamkeit erfährt — durch Hitlisten, Airplay-Charts, Ticketverkäufe, Einschaltquoten —, ist seine wichtigste Qualifikation die Kunst, Aufmerksamkeit zu erzeugen. Zwar verschrecken explizite Texte und offensichtliche Zuschaustellung von Körperlichkeit etliche, die sich mit Grausen von der Ware abwenden, doch diejenigen, die weiter zuschauen und -hören, sind umso stärker gefesselt: Kundenbindung durch vorgetäuschtes intimes Partnerverhalten. Erotik ist sogar, wie insgesamt die Präsentation des Körpers des Musikers, ein Stilmittel der aufgeführten Musik, das hilft, Genres zu unterscheiden: • der Musiker der „klassischen“ Musik in Abendgarderobe, mit Bewegungen, die zwar zur Koordination der Musiker, nicht aber zur Animation des Publikums dienen dürfen, • der klassische Schlagersänger, der zwar nach seinem Text „so heiß wie ein Vulkan“ sein müsste, und doch nur unverbindlich lächelnd mit seinen Bewegungen den Rhythmus andeutet, • die Sängerin der Discomusik im hautengen, kleinen Glitzerkleid, der man das „I feel love“ schon an der hauchigen Stimme, ja am Stöhnen anhört und an ihren Bewegungen ansieht, • der Rapper schließlich, der von Sex spricht, aber Macht und Gewalt meint. Musiker müssen Grenzen überschreiten, um auf einem massenhaften Markt überhaupt eine Chance zu haben, Gehör zu finden. Sie können virtuoser spielen als ihre Vorgänger und Konkurrenten oder auch in ihren Texten gewagtere Themen ansprechen, gewagtere Kleidung tragen, gewagtere Sounds produzieren oder auch gewagter tanzen. Industrialisierung und Globalisierung des Musikgeschäfts haben diesen Wettbewerb der Provokation verschärft. Schuld sind sie daran jedoch nicht, denn dieses Prinzip galt auch schon für die Spielleute des Mittelalters, die auf Jahrmärkten um die Gunst des Publikums buhlten. „Sag’ mir, was du hörst, und ich sag’ dir, wer du bist.“ Selbst das Publikum profitiert von diesen Provokationen. Eine wichtige Funktion der Musik in der Gesellschaft ist die Darstellung von Distinktionsmerkmalen. Am Beispiel der französischen Gesellschaft hat Pierre Bourdieu eindringlich nachgewiesen, dass sich soziale Gruppen – er spricht von „Klassen“ – sich durch ihren Musikgeschmack voneinander zu unterscheiden suchen. Was für soziale Gruppen gilt, gilt auch für das Individuum: „Sag’ mir, was du hörst, und ich sag’ dir, wer du bist.“ Besonders im Jugendalter stellt die Musik nach wie vor ein wichtiges Hilfsmittel der Individuation, der Entwicklung eines Ichs, dar. Musik, die auf welche Art auch immer MUSIK ORUM 13 FOKUS Gesten der Dominanz: Pornorapper King Orgasmus. provoziert, von der sich viele mit Grausen abwenden, verhilft den wenigen, die sie sich zu eigen machen, zur Distinktion. Bekennen sie sich öffentlich zu ihrer Musik, stellen sie damit nach außen ihre Individualität dar. Gleichzeitig ergeben sich hieraus auch neue soziale Gruppen von Fans. Gerade für die Abgrenzung der Jugend von der Welt der Erwachsenen ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre war die Provokation durch eine körperliche, erotische, exzessive Musik von großer Bedeutung. Erotik und Gewalt Heute hat Erotik in der Musik ihre provozierende Bedeutung weitgehend verloren. Eine sexy Stimme, körperbetonte Kleidung und laszive Bewegungen produzieren kaum noch einen Skandal. Sie sind fast selbstverständliche Hingucker, Aufmerksamkeitserreger, aber keine Aufreger mehr. Man kann das kritisieren als Sittenverfall und die gegenwärtige Gesellschaft als abgestumpft und „oversexed“ bezeichnen, man kann jedoch auch von einer sexuellen Befreiung sprechen. Das größte Potenzial zur Provokation liegt heute woanders. Bei den so genannten „Pornorappern“ geht es zwar auch um Sex, doch ist dieser nicht mehr das Ergebnis erotischen Werbens, sondern von Machtgebaren und Gewalt. Die Stimmen der Rapper klingen nicht erotisch, sondern aggressiv, arrogant; ihre Be- 14 MUSIK ORUM Musik provoziert Skandale und damit eine Diskussion um das, was noch moralisch akzeptabel ist. Musik markiert Sonderräume der Kommunikation, die den Ausgleich zwischen den Extremen schaffen. Musik provoziert in Quarantäne, ohne – unter normalen Umständen – gefährlich zu werden. Musik muss nicht zwangsläufig zensiert werden, die Realität muss stark gemacht werden durch eindeutige Tabus von sexueller Gewalt. wegungen sind nicht lasziv, sondern Gesten der Dominanz; ihre Texte sprechen nicht von Liebe, sondern von Überlegenheit, Herrschaft und Macht. Zu Recht ist hierüber eine Debatte entbrannt. Eine ganze Reihe von Songs wurden von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien auf den Index gesetzt – und wurden damit zu einer noch heißeren Ware für alle, die auf der Suche nach der Musik sind, mit der sie sich von anderen unterscheiden können. Man sollte allerdings vorsichtig sein, will man im Rap den unmittelbaren Grund für Gewaltbereitschaft und sexuelle Verrohung „der Jugend“ sehen. Wissenschaftlich ist ein solcher Zusammenhang nur schwer herzustellen. Wie der Film, wie der Roman, wie das Gedicht beschreibt der Song eine Fiktion, auch wenn er scheinbar den Hörer mit „Du“ direkt anspricht. Solange der Spielcharakter klar ist, solange allen bewusst ist, dass nach dem Ende des Songs das Spiel vorbei ist und wieder andere Regeln gelten, solange ist die Gefahr einer unmittelbaren Beeinflussung gering. Wenn die Erprobung des im Song vorgemachten Verhaltens in der Realität scheitert, kann es sich kaum außerhalb der Musik durchsetzen. Allerdings beobachten wir auch eine zunehmende Verwischung der Grenzen von Spiel und Realität. Musik ist längst nicht mehr ausschließlicher Begleiter von Fest und Feierabend. Im Kaufhaus soll sie den Einkauf zu einem Fest machen, beim Zahnarzt sugge- rieren, dass doch alles ganz unterhaltsam ist, der MP3-Player macht den Gang durch die Stadt und die Fahrt mit dem Auto zu einem Erlebnis. Soll ein Überspringen des fiktiven Verhaltens in die Realität verhindert werden, so muss nicht zwangsläufig Musik zensiert, sondern vor allem die Realität stark gemacht werden, durch eindeutige Tabus z. B. von sexueller Gewalt, aber auch durch Alternativen wie attraktive, sinnvolle Möglichkeiten, sich selbst als Individuum darzustellen, zu entwickeln und Aufmerksamkeit zu finden für die individuellen körperlichen und geistigen Bedürfnisse. Von Autor Dietrich Helms erscheint in gemeinsamer Herausgabe mit Thomas Phleps in diesem Herbst das Buch Thema Nr. 1. Sex und populäre Musik (Bielefeld, transcript 2010). Der Autor Dietrich Helms lehrt als Professor für Musikgeschichte an der Universität Osnabrück. Er ist Vorsitzender des Arbeitskreis Studium populärer Musik (ASPM) und Mitherausgeber der Beiträge zur Popularmusikforschung und der online-Zeitschrift Samples (www.aspm-samples.de). Zurzeit arbeitet er zusammen mit Sabine Meine an der Herausgabe eines Bandes mit dem Arbeitstitel Amor docet musicam. Musik und Liebe in der Frühen Neuzeit, der 2011 erscheinen soll.