LET`S TALK ABOUT

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LET`S TALK ABOUT
FOKUS
S
ie haben zumindest eines
erreicht – sie haben Schlagzeilen gemacht: Bushido, Frauenarzt, Sido, Lady Ray, Bass Sultan
Hengst, King Orgasmus und wie
sie alle heißen. So hörte der Stern
in den Songs der so genannten
„Pornorapper” die „Begleitmusik
zur sexuellen Verwahrlosung“.
Wenn die Massenmedien heute auflagenwirksam aus musikalischen Provokationen
Skandale produzieren, übersehen sie gern,
wie alt das Thema „Musik und Sex“ eigentlich ist; viel älter als die „Pornorapper“, viel
älter als Falcos musikalischer Missbrauch einer kindlichen Jeanny, viel älter als Jane Birkins gestöhntes Je t’aime und auch viel älter
als das kreisende Becken Elvis Presleys, die
alle zu ihrer Zeit als Zeichen für den Verfall
von Sitte und Moral gebrandmarkt wurden.
Nicht erst die populäre Musik und nicht erst
die Musik im Zeitalter der Geldwirtschaft kennen die enge Verbindung von Musik mit Erotik:
„Sex sells“. Aber das Geld ist nicht der einzige Grund für diese intime Liaison.
Glaubt man Charles Darwin und seinen
modernen Nachfolgern aus der so genannten „Biomusicology“, diente die Musik schon
immer der „natürlichen Zuchtwahl“, der erfolgreichen Werbung des Männchens um das
Weibchen. Betrachtet man allerdings nicht
nur Singvögel, Gibbons oder Buckelwale,
sondern die menschliche Musik, kommen
schnell Zweifel, ob das Klavierspielen tatsächlich, wie es Johannes Heesters in einem Lied
behauptete, unweigerlich Glück bei den Frauen
nach sich zieht.
Dietrich Helms über die intime Liaison von Musik und Erotik
LET’S TALK ABOUT
Wenn es wirklich die Musik wäre, die
Männer, und seien sie so alt wie Mick Jagger,
für Frauen attraktiv macht (und nicht ihr finanzieller Erfolg), müsste dann nicht die
Musikpädagogik eine viel entscheidendere
Funktion in unserer Gesellschaft erfüllen? Es
gibt einen feinen, aber entscheidenden Unterschied zwischen den Balzlauten von Tieren und der Musik: Der Zebrafink meint es
durchaus ernst, wenn er singend um ein
Weibchen wirbt. Die Kommunikation von
Menschen mit Musik dagegen hat immer auch
einen uneigentlichen Charakter. Es ist, als ob
Musik die Sprache in Anführungszeichen setzt.
Gesprochen kann man den Worten „Ich liebe dich“ vielleicht glauben. Doch was ist davon
zu halten, wenn diese Worte gesungen werden? Diese Unsicherheit und Uneindeutigkeit schließt die Musik als geeignetes direktes Medium der Partnerwahl aus. Indirekt kann
sie freilich durchaus hilfreich sein.
Sonderwelt Musik
Betrachtet man die Musik nicht aus biologischer, sondern aus anthropologischer Perspektive kann man eine Gemeinsamkeit der
meisten musikalischen Kulturen in Gegen-
wart und Geschichte feststellen: In vielen
Kulturen markiert die Musik eine Sonderwelt, die sich vom Alltag unterscheidet. Der
liturgische Gesang des Priesters, die gesungenen Beschwörungen des Schamanen symbolisieren die Nicht-Alltäglichkeit, das ÜberWeltliche des Sprechens mit dem Göttlichen.
Die Melodie des Schlafliedes lässt die Aufregungen des Tages vergessen und leitet über
in das Reich der Träume. Tanz und Tanzmusik machen erst ein Fest zum Fest, das
den Alltag vergessen lassen will.
Voulez-vous…?
Solange Musik gemacht wird, gelten andere, nicht-alltägliche Regeln der Kommunikation. Das lässt sich besonders gut am Beispiel des Festes, der privaten Party, aber auch
am institutionalisierten Fest der Diskothek zeigen. Solange die Musik spielt, sind in der Kommunikation Dinge erlaubt, die man im Alltag nicht wagen würde: Beim Tanz kann man
öffentlich den eigenen Körper in seiner individuellen Schönheit den Blicken der anderen präsentieren. Beim Tanz kann man einem
Gegenüber körperlich nahe kommen, ihn
anfassen oder sogar umfassen. Man kann sich
vergessen, ausflippen, verrückt spielen. Man
kann den Text des Songs mitsingen und
Menschen Dinge ins Gesicht sagen, die auszusprechen man im Alltag nie gewagt hätte.
Zum Beispiel im Chor mit Labelle: Voulezvous coucher avec moi? Oder zusammen mit
Tic Tac Toe: Ich find’ Dich Scheiße.
Endet die Musik, endet das Fest, und alles
wird wieder zurück auf „normal“ geschaltet.
Wer jetzt noch die körperliche Nähe aufrechterhält, wer seinen Tanzpartner weiterhin festhält, wer auch ohne Musikbegleitung „Ich liebe
dich“ sagt, muss eine Hürde, muss wieder
Hemmungen überwinden, denn er macht ein
Geständnis, meint es ernst.
!
Sich beim Tanzen näher kommen:
Solange die Musik spielt, sind in der
Kommunikation Dinge erlaubt, die man
im Alltag nicht wagen würde.
© Stefan Latz/pixelio.de
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MUSIK ORUM
„Grasen gan“
Die direkte Sprache – explicit lyrics –
ist keine ausschließliche Eigenschaft
der populären Musik der Gegenwart.
Das folgende Lied findet sich in einem
1540 gedruckten Liederbuch, dessen
Herausgeber schreibt, er wolle mit
seinen Notendrucken die Moral heben,
denn seine Lieder hielten die Jugend
vom Saufen und Spielen ab.
„Es wolt ein meydlein grasen gan
fick mich lieber Peter
und do die roten rößlein ston
fick mich mer
du hasts ein ehr
kanstus nit ich will dichs lern
fick mich lieber Peter"
Aus: Georg Forster: Der Ander theil, kurtzweiliger guter frischer Teutscher Liedlein, zu singen
vast lustig, Nürnberg 1540.
@ Sandra Nabbefeld/pixelio.de / bearb.
»Let’s talk about sex, baby,
Let’s talk about you and me,
Let’s talk about all the good things
And the bad things that may be«
Salt’N’Pepa
(US-amerikanische HipHop-Band)
MUSIK ORUM
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FOKUS
Dieses „Sprechen und Handeln in Anführungszeichen“, diese uneigentliche Kommunikation, die Musik erzeugt, ist eine große
Chance für Kulturen, in denen öffentliche
Darstellung von Erotik tabuisiert und verboten ist. Erotik ist unverzichtbar zur Anbahnung
von Sex (und dessen biologischer Funktion
der Fortpflanzung). Gleichzeitig enthält sie
jedoch auch eine große soziale Sprengkraft,
so dass sie in den meisten Kulturen streng
reglementiert wird. Unsere Gesellschaft unterscheidet etwa nach wie vor zwischen öffentlichem und privatem Verhalten. Solange
es in den vier eigenen Wänden verschlossen
bleibt, ist auch einem Ehrenmann oder einer
Ehrenfrau unmoralisches Verhalten möglich.
Durch Tabuisierung und Verdrängung der
Erotik in die Privatheit entfällt allerdings die
Möglichkeit, erotisches Verhalten durch die
Beobachtung anderer zu lernen.
So bilden viele Gesellschaften Sonderräume
aus, in denen es erlaubt ist, Erotik – in gewissen Maßen – zu beobachten oder auch selbst
zu erproben. Medien wie das Fernsehen, die
Literatur oder die bildende Kunst erlauben
den Blick in eine fiktive Privatheit und Intimität. Sonderräume, deren fiktiver Charakter durch die Musik markiert wird, unterscheiden sich hiervon, denn hier kann man, statt
nur zu beobachten, erotisches Verhalten auch
selbst erproben – und zwar öffentlich: Der
Karneval ist ein ideales, sehr altes Beispiel für
einen solchen Sonderraum, aber auch die
private Party oder die Stripteasebar. Auf dem
Fest kann man flirten, seinen Körper präsentieren, erotische Signale senden und die Körperlichkeit anderer schamlos beobachten,
unverbindlich und spielerisch.
Der uneigentliche Charakter musikalischen
Verhaltens macht es leicht, Hemmungen zu
überwinden – die freilich alle wieder da sind,
wenn das Fest, wenn die Musik zu Ende ist.
Es sei denn, es gelingt, die Verzauberung der
Musik für eine Weile in die Zeit danach hinüberzuretten – und die Liebe oder die Erotik damit wahr und aus dem Spiel Ernst werden zu lassen. So hilft die Musik, die hohen
Hemmschwellen der Alltagskommunikation
zu überwinden, Liebe und Erotik zu stiften,
trotz aller noch so hohen Hürden von Tugend und Moral.
Viele Mädchen, so schimpft der deutsche
Humanist Agrippa von Nettesheim am Anfang des 16. Jahrhunderts, verlören auf dem
Heimweg vom Tanz ihre Unschuld, mehr noch
gerieten in diese Gefahr – keuscher als zuvor
sei nach dem Tanz keine gewesen. Und auch
heute noch gibt es Moralapostel, die die Tanzmusik am liebsten verbieten würden (oder
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MUSIK ORUM
Quelle: Die Musik des Altertums, Laaber-Verlag, 1989
Soziale Sprengkraft
Gar nicht prüde: Bereits auf Wandmalereien
der Ägypter (18. Dynastie/ca. 1550-1300 v.
Chr., oben) und in frühesten Schriftquellen
der Menschheitsgeschichte, den Keilschrifttafeln aus den frühen Hochkulturen Mesopotamiens (unten), finden sich Hinweise und
Lieder, die die Erotik lehren.
unverbindlich zu erproben, untersagt, entfiele damit die Möglichkeit, Erotik zu lernen.
Damit ginge das einzige System kommunikativer Codes verloren, das gleichberechtigten Geschlechtsverkehr in gegenseitigem, lustvollem Einvernehmen herbeiführt. Ohne
Erotik wird Sex im günstigsten Fall zum reinen Fortpflanzungsakt ohne die bindende und
verbindende Kraft gegenseitigen Verstehens
– oder, und das ist wahrscheinlicher, zu roher Gewalt.
Es kommt in der Gesellschaft darauf an,
die Balance zu finden: auf der einen Seite
die anarchische Kraft einer ungezügelten Erotik
zu kontrollieren, auf der anderen Seite die
ebenso schädlichen Auswirkungen einer vollständigen Tabuisierung zu vermeiden. Die
Musik hat hier die wichtige Funktion, außerhalb der Alltagskommunikation Sonderräume der Kommunikation zu markieren,
die den Ausgleich zwischen den Extremen
schaffen.
Tabus auf die Probe gestellt
Quelle: Babylonischer Liebesgarten, C. H. Beck, München 1999
tatsächlich verbieten wie die Taliban in Afghanistan). Doch man denke an die sozialen
Konsequenzen eines konsequenten Verbots
von Tanzmusik: Würden in einer Gesellschaft
alle Möglichkeiten, Erotik zu beobachten und
Wie ein Impfstoff, der die Immunabwehr
des Körpers mit Hilfe von geschwächten Erregern herausfordert und damit stärkt, stellt
Musik mit provozierenden Inhalten immer
wieder die Tabus einer Gesellschaft auf die
Probe. Sie provoziert Skandale und damit eine
Diskussion um das, was noch moralisch akzeptabel ist. Und auch wenn der Anlass dieser Diskussion nur ein Musikstück, d. h. eine
Fiktion, ein Spiel und gar nicht so ernst gemeint war, ist ihr Ergebnis die Neudefinition
oder auch Verstärkung von dem, was die
Gesellschaft als moralisches Verhalten im Alltag
akzeptiert.
„Zum Schoße gehen“
Im folgenden sumerischen Lied eines heranreifenden Mädchens vor der
Hochzeitsnacht wird geschildert, wie sie sich reinigt und kleidet.
Der Bräutigam bringt Lämmer und Zicklein in ihr Haus. Während sie dann
auf ihn wartet, stimmt sie ein Hochzeitslied an:
„Jetzt haben sich meine Brüste entwickelt,
jetzt sind an meiner Vagina Haare gewachsen,
Darüber, daß wir zum Schoße des Mannes gehen werden,
wollen wir uns wieder und wieder freuen!
Laß uns tanzen, laß uns tanzen!
Oh (Göttin) Bau, über meine Vagina wollen wir uns
freuen! Laß uns tanzen, laß uns tanzen!
Nachher ist es schön für ihn, ist es schön für ihn!“
Aus: Volkert Haas: Babylonischer Liebesgarten. Erotik und Sexualität im
Alten Orient, München 1999.
Moral, Tugend, Anstand, guter Geschmack
sind keine schriftlich niedergelegten Gesetzessammlungen und zum Glück keine Verhaltenskodizes, die bei uns eine herrschende
Minderheit diktiert. Ihre Inhalte müssen in
einer demokratischen Gesellschaft immer und
ständig in der Diskussion neu definiert werden. Ihre Grenzen können nur durch ständige Grenzverletzung, durch ständige Provokation bewusst bleiben und aufrechterhalten
werden. So hat der Skandal durchaus eine
gesellschaftliche Funktion. Da Musikstücke,
wie z. B. auch Romane, Kunstprodukte sind,
können sie freilich provozieren, ohne dass
damit die Gesellschaft selbst und ihre Werte
in Frage gestellt werden. Musik provoziert in
Quarantäne, hält die Diskussion am Laufen,
ohne – unter normalen Umständen – gefährlich zu werden.
Liederliche Lieder: Die Tradition des Mittelalters mit ihren anzüglichen Texten setzt sich
bis in die Neuzeit fort. Ein Beispiel aus den
1970er Jahren ist die Liedsammlung „Ohne
Hemd und ohne Höschen“ – unter dem Titel
produzierte die Polydor eine ganze Reihe
erfolgreicher Schallplatten.
Musik braucht Erotik
Erotik macht individuell. Wer Zeichen der
Erotik sendet, versucht die Aufmerksamkeit
des Angesprochenen auf den eigenen Körper zu lenken, ihn zu fixieren auf die eigene
Schönheit, die eigene Geschlechtlichkeit, die
eigene körperliche Lust. Erotisches Verhalten sagt: „Schau mich an und erlaube mir,
dich anzuschauen!“ Während man in alltäglicher Kommunikation darauf bedacht ist, dem
Gegenüber in die Augen zu schauen und doch
oft an ihm vorbei blickt, ist hier der schamlose Blick auf den Körper erlaubt.
Konzerte haben daher oft eine erotische
Wirkung: Die Zuschauer dürfen, ja sie sollen
sogar die Musiker auf der Bühne genau betrachten, die sich da auch in ihrer Körperlichkeit darstellen. Bereits die Kirchenväter
in der Spätantike verdammten alle, die sich
öffentlich präsentierten – nicht nur Musiker,
auch Redner – als Anstifter zur sündigen Sinnlichkeit. Im 14. Jahrhundert drohte Thomas
von Aquin allen, die öffentlich Musik machen und dabei dem Publikum den Körper
präsentieren, die ewige Verdammnis ohne
jede Aussicht auf Erlösung an. Die Kastraten
der Barockoper müssen auf ihr Publikum eine
ähnliche Wirkung gehabt haben wie moderne Popstars. Die Zurschaustellung ihrer hochgezüchteten stimmlichen Virtuosität, ihrer
extremen Körperlichkeit verlieh ihnen eine
ungeheure Sinnlichkeit. Für eine Frau, die ihren
guten Ruf wahren wollte, war (teilweise noch
bis in die Gegenwart) die Bühne Tabu. Mit
dem öffentlichen Auftritt macht frau auch
ihren Körper öffentlich; sie gerät in den Ruf
einer „öffentlichen Frau“. Die strenge Kleiderordnung und die reduzierten Bewegungen der Musikerinnen und Musiker des bürgerlichen Konzertbetriebs, d. h. von Konzerten
so genannter „klassischer“ Musik, erklären sich
wohl zum Teil auch aus dem Versuch heraus,
die Sinnlichkeit des Musizierens zu kontrollieren.
Für Musiker ist Individualität – und das
heißt ja auch Wiedererkennbarkeit auf einem
heiß umkämpften Markt – wichtig. Sie müssen sicherstellen, dass das Publikum ihre Individualität wahrnimmt. Im Gegensatz zu
Komponisten können Musiker Individualität
nur durch ihre Körperlichkeit darstellen: durch
ihre Virtuosität, ihre Fingerfertigkeit, ihre Stimme, aber auch durch ihr Aussehen. Selbstverständlich ist dies auch durch die Präsentation von Hässlichkeit oder sogar körperliche
Abnormitäten möglich. Doch im Mainstream
wirkungsvoller, weil positiv besetzt, ist hier
der Einsatz von Erotik. Erotik ist Bestandteil
der Ästhetik aller vorgeführten Musik, nicht
nur, weil Sex sich angeblich gut verkauft.
Wenn der Musiker die Reaktionen des Publikums auf seine Songs respektive seinen Erfolg vorwiegend durch empirisch gemessene Aufmerksamkeit erfährt — durch Hitlisten,
Airplay-Charts, Ticketverkäufe, Einschaltquoten —, ist seine wichtigste Qualifikation die
Kunst, Aufmerksamkeit zu erzeugen. Zwar
verschrecken explizite Texte und offensichtliche Zuschaustellung von Körperlichkeit etliche, die sich mit Grausen von der Ware
abwenden, doch diejenigen, die weiter zuschauen und -hören, sind umso stärker gefesselt: Kundenbindung durch vorgetäuschtes intimes Partnerverhalten.
Erotik ist sogar, wie insgesamt die Präsentation des Körpers des Musikers, ein Stilmittel der aufgeführten Musik, das hilft, Genres
zu unterscheiden:
• der Musiker der „klassischen“ Musik in
Abendgarderobe, mit Bewegungen, die zwar
zur Koordination der Musiker, nicht aber zur
Animation des Publikums dienen dürfen,
• der klassische Schlagersänger, der zwar
nach seinem Text „so heiß wie ein Vulkan“
sein müsste, und doch nur unverbindlich lächelnd mit seinen Bewegungen den Rhythmus andeutet,
• die Sängerin der Discomusik im hautengen, kleinen Glitzerkleid, der man das „I
feel love“ schon an der hauchigen Stimme,
ja am Stöhnen anhört und an ihren Bewegungen ansieht,
• der Rapper schließlich, der von Sex spricht,
aber Macht und Gewalt meint.
Musiker müssen Grenzen überschreiten,
um auf einem massenhaften Markt überhaupt
eine Chance zu haben, Gehör zu finden. Sie
können virtuoser spielen als ihre Vorgänger
und Konkurrenten oder auch in ihren Texten gewagtere Themen ansprechen, gewagtere Kleidung tragen, gewagtere Sounds produzieren oder auch gewagter tanzen. Industrialisierung und Globalisierung des Musikgeschäfts haben diesen Wettbewerb der Provokation verschärft. Schuld sind sie daran
jedoch nicht, denn dieses Prinzip galt auch
schon für die Spielleute des Mittelalters, die
auf Jahrmärkten um die Gunst des Publikums
buhlten.
„Sag’ mir, was du hörst, und
ich sag’ dir, wer du bist.“
Selbst das Publikum profitiert von diesen
Provokationen. Eine wichtige Funktion der
Musik in der Gesellschaft ist die Darstellung
von Distinktionsmerkmalen. Am Beispiel der
französischen Gesellschaft hat Pierre Bourdieu eindringlich nachgewiesen, dass sich
soziale Gruppen – er spricht von „Klassen“ –
sich durch ihren Musikgeschmack voneinander zu unterscheiden suchen. Was für soziale Gruppen gilt, gilt auch für das Individuum:
„Sag’ mir, was du hörst, und ich sag’ dir, wer
du bist.“ Besonders im Jugendalter stellt die
Musik nach wie vor ein wichtiges Hilfsmittel
der Individuation, der Entwicklung eines Ichs,
dar. Musik, die auf welche Art auch immer
MUSIK ORUM
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FOKUS
Gesten der Dominanz:
Pornorapper King Orgasmus.
provoziert, von der sich viele mit Grausen
abwenden, verhilft den wenigen, die sie sich
zu eigen machen, zur Distinktion. Bekennen
sie sich öffentlich zu ihrer Musik, stellen sie
damit nach außen ihre Individualität dar.
Gleichzeitig ergeben sich hieraus auch neue
soziale Gruppen von Fans. Gerade für die
Abgrenzung der Jugend von der Welt der Erwachsenen ab der zweiten Hälfte der 1950er
Jahre war die Provokation durch eine körperliche, erotische, exzessive Musik von großer Bedeutung.
Erotik und Gewalt
Heute hat Erotik in der Musik ihre provozierende Bedeutung weitgehend verloren. Eine
sexy Stimme, körperbetonte Kleidung und
laszive Bewegungen produzieren kaum noch
einen Skandal. Sie sind fast selbstverständliche Hingucker, Aufmerksamkeitserreger, aber
keine Aufreger mehr. Man kann das kritisieren als Sittenverfall und die gegenwärtige
Gesellschaft als abgestumpft und „oversexed“
bezeichnen, man kann jedoch auch von einer sexuellen Befreiung sprechen.
Das größte Potenzial zur Provokation liegt
heute woanders. Bei den so genannten „Pornorappern“ geht es zwar auch um Sex, doch
ist dieser nicht mehr das Ergebnis erotischen
Werbens, sondern von Machtgebaren und
Gewalt. Die Stimmen der Rapper klingen nicht
erotisch, sondern aggressiv, arrogant; ihre Be-
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MUSIK ORUM
Musik provoziert Skandale und damit eine
Diskussion um das, was noch moralisch akzeptabel ist.
Musik markiert Sonderräume der Kommunikation, die den Ausgleich zwischen den
Extremen schaffen.
Musik provoziert in Quarantäne, ohne –
unter normalen Umständen – gefährlich zu
werden.
Musik muss nicht zwangsläufig zensiert werden, die Realität muss stark gemacht werden durch eindeutige Tabus von sexueller
Gewalt.
wegungen sind nicht lasziv, sondern Gesten
der Dominanz; ihre Texte sprechen nicht von
Liebe, sondern von Überlegenheit, Herrschaft
und Macht. Zu Recht ist hierüber eine Debatte entbrannt. Eine ganze Reihe von Songs
wurden von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien auf den Index gesetzt
– und wurden damit zu einer noch heißeren
Ware für alle, die auf der Suche nach der
Musik sind, mit der sie sich von anderen
unterscheiden können. Man sollte allerdings
vorsichtig sein, will man im Rap den unmittelbaren Grund für Gewaltbereitschaft und
sexuelle Verrohung „der Jugend“ sehen. Wissenschaftlich ist ein solcher Zusammenhang
nur schwer herzustellen.
Wie der Film, wie der Roman, wie das
Gedicht beschreibt der Song eine Fiktion, auch
wenn er scheinbar den Hörer mit „Du“ direkt anspricht. Solange der Spielcharakter klar
ist, solange allen bewusst ist, dass nach dem
Ende des Songs das Spiel vorbei ist und wieder
andere Regeln gelten, solange ist die Gefahr
einer unmittelbaren Beeinflussung gering.
Wenn die Erprobung des im Song vorgemachten Verhaltens in der Realität scheitert, kann
es sich kaum außerhalb der Musik durchsetzen. Allerdings beobachten wir auch eine zunehmende Verwischung der Grenzen von
Spiel und Realität. Musik ist längst nicht mehr
ausschließlicher Begleiter von Fest und Feierabend. Im Kaufhaus soll sie den Einkauf zu
einem Fest machen, beim Zahnarzt sugge-
rieren, dass doch alles ganz unterhaltsam ist,
der MP3-Player macht den Gang durch die
Stadt und die Fahrt mit dem Auto zu einem
Erlebnis.
Soll ein Überspringen des fiktiven Verhaltens in die Realität verhindert werden, so muss
nicht zwangsläufig Musik zensiert, sondern
vor allem die Realität stark gemacht werden,
durch eindeutige Tabus z. B. von sexueller
Gewalt, aber auch durch Alternativen wie
attraktive, sinnvolle Möglichkeiten, sich selbst
als Individuum darzustellen, zu entwickeln
und Aufmerksamkeit zu finden für die individuellen körperlichen und geistigen Bedürfnisse.
Von Autor Dietrich Helms erscheint in gemeinsamer
Herausgabe mit Thomas Phleps in diesem Herbst das
Buch Thema Nr. 1. Sex und populäre Musik (Bielefeld,
transcript 2010).
Der Autor
Dietrich Helms lehrt als Professor für Musikgeschichte
an der Universität Osnabrück. Er ist Vorsitzender des
Arbeitskreis Studium populärer Musik (ASPM) und Mitherausgeber der Beiträge zur Popularmusikforschung und
der online-Zeitschrift Samples (www.aspm-samples.de).
Zurzeit arbeitet er zusammen mit Sabine Meine an der
Herausgabe eines Bandes mit dem Arbeitstitel Amor
docet musicam. Musik und Liebe in der Frühen Neuzeit,
der 2011 erscheinen soll.

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