Bernhard Günther «Hommage à Klaus Nomi» Zu Olga Neuwirths

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Bernhard Günther «Hommage à Klaus Nomi» Zu Olga Neuwirths
Bernhard Günther
«Hommage à Klaus Nomi»
Zu Olga Neuwirths Zyklus
«Ja, so könnte es anfangen, hier, einfach so, auf eine etwas schwer­­fällige und langsame Weise, an diesem neutralen
Ort, der allen und niemandem gehört, wo die Leute aneinander vorbeigehen, fast ohne sich zu sehen, wo das Leben
im Haus gedämpft und gleichmäßig nachhallt.» In einem Stiegenhaus beginnt, fast beiläufig, Das Leben.
Gebrauchsanweisung, der letzte Roman von Georges Perec. Mit diesen ersten Worten beginnt auch Olga Neu­wirth
ihre kompositorische Lektüre von La vie. Mode d’emploi. Dem nüchternen Erzähler überlässt die Komponistin die
rund 900 Seiten starke «Gebrauchsanweisung» Perecs allerdings nur für wenige Sekunden. Sofort treten zwei
Countertenöre in den Vordergrund, singen, flüstern, raunen, nennen Schauplätze von Perecs unzähligen Geschichten
(der Roman erzählt von einem einzigen Pariser Mietshaus und dessen Bewohnern): ein Atelier, ein Vestibül, Keller,
Eingangshalle. Die unermüdliche Dichte des Romans, seine in sich kreisenden Wechsel von Schau­plätzen, die üppige
Folge skurriler Geschichten, die Vielfalt der Erzähltech­ni­ken halten auch Olga Neuwirths Komposition La vie – …
ulcé­rant(e) (1995) in ständiger Bewegung.
Hörbar wird zunächst ein quirliger Wechsel zwischen geheimnisvollen Elektronik-Klängen und aufgeregt kreischenden Klari­nettentönen, sensationsheischendem Geplapper und leichtfüßigem Kinderlied, zwischen schwelgerischen Renaissanceklängen und großspurigem Dreinfahren. Die zahlreichen «Regieanwei-sungen» der Partitur sind
dem ausdrucksreichen Stück durchaus anzuhören. Sowenig aber Georges Perec über seinen mitreißenden
Erzählungen sich raffiniertes Konstruieren nehmen ließ, sowenig geht es auch bei Olga Neuwirth allein um eine
abwechslungsreiche Klangoberfläche. In Perecs Roman ist zum einen häufig die Rede von einem reichen Exzentriker
namens Bartle­booth, der sein Leben damit verbringt, seine eigenen Aquarelle in komplizierte Puzzles zerlegen zu lassen, um sie zuletzt wieder zusammenzusetzen. Zum anderen legt mit seinem Roman auch der Autor den Lesern ein
vertracktes Puzzle vor, dessen verstreute Geschichten erst nach und nach einen Überblick ermöglichen. In Literatur
und Film, den beiden Künsten, auf die Olga Neuwirth sich häufig bezieht, gibt es zahlreiche gelungene Verbindungen
von erzähltem Inhalt und erzähltechnischer Bauweise. Im Be­reich der Musik ist es dagegen eine alte Gewohnheit,
Inhalt und Form, Handwerk und Ästhetik voneinander zu trennen, und nicht selten – wie im altmodischen
Begriffspaar «Kopf und Bauch» – wurden beide gegeneinander ausgespielt. Die Eintei­lung in eine «Zeit der Moderne»
(assoziiert mit strenger Kon­struk­tion, etwa dem Serialismus der Nachkriegszeit) und eine darauf folgende «Zeit der
Postmoderne» (als Rückkehr zur Sinnenfreude) gehört zu den schematischen Bemühungen, Neue Musik begrifflich
zu fassen. Obwohl nur die wenigsten Kom­ponisten sich ausschließlich dem einen oder dem anderen Lager zurechnen
würden, ist diese simple Einteilung durchaus im Um­lauf. Vielleicht ist es tatsächlich eine Generationenfrage, vielleicht macht sich auch die begeisterte Beschäftigung mit Film und Literatur bemerkbar: In Olga Neuwirths Musik
scheint die Mischung zwischen Sinnlichkeit und Konstruktion längst ohne langes Entweder-oder zu funktionieren.
Für die hörbare Überfülle von La vie – … ulcérant(e) geht Olga Neuwirth textlich über die Romanvorlage hinaus. Die
Sänger zitieren mehrfach John Blows Ode to the Death of Henry Purcell, werfen sich be­geistert Primzahlen zu (wie in
der vom Neuropsychologen Oliver Sacks berichteten Geschichte von einem Zwillingspaar, das mittels Zahlen angeregte Unterhaltungen führte), und gegen Ende finden sich von Perec, aber nicht aus dem Roman stammende
Anagramme des Wortes «ulcération» (etwa: Geschwür, Schwärung, Wucherung). «Das Leben – … wuchernd», so
etwa ließen sich die beiden Teile des Titels übersetzen, deren Verbin­dung von der Komponistin nicht festgelegt wird.
«Die Kunst des Puzzle», so wird Perec im Vorwort der Partitur zitiert, «ist keine Summe von Elementen, die man
zuerst einmal aussondern und analysieren müsste, sondern eine Gesamtheit, das heißt eine Form, eine Struktur … es
sind nicht die Elemente, die das Ganze be­stim­men, sondern das Ganze bestimmt die Elemente.»
Alle drei der durch Pausen getrennten Abschnitte beginnen von neuem im Stiegenhaus. Teil I nennt Orte, Details,
fast wie das Inhaltsverzeichnis einer Gebrauchsanweisung. Im Teil II blitzen einige Überschriften tragikomischer
Lebensgeschichten auf, zum Beispiel erwähnt der Sprecher einen Trapezkünstler, dessen tödlicher Sprung in die Tiefe
prompt von den beiden Counter­tenören mit einem lang gezogenen «Aaaaah» angedeutet wird. In Teil III verliert sich
das Puzzle schließlich in sich selbst, als «Fol­ge von Ereignissen, die sich gegenseitig aufheben». Die zu Be­ginn des
Stücks siebenstelligen Primzahlpaare schrumpfen allmählich auf Volksschulniveau; die Geschichten zerfallen zu
flüchtigen Erinnerungen, «ewig und zugleich ephemer». Das Spektakel zieht vorüber und keine der volltönend vorgebrachten Geschichten gibt Aufschluss über die Bedeutung des Ganzen. Letzte Frage: «Did you ever see the devil
with a night-cap on?» Die Antwort lautet: «No.» Der Teufel schläft nicht. Nächste Frage?
Gerne bedient sich die Popmusik im «Klassik-Bereich» – zahlreiche Fälle sind aus Funk und Fernsehen bekannt
(auch Re­mem­ber ist ein Rückgriff Klaus Nomis auf Henry Purcells Oper Dido and Aeneas von 1689) und sind kaum
mehr dazu angetan, Verwunderung hervorzurufen. Für die Hommage à Klaus Nomi langt die «Ernste Musik» einmal
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kräftig in die Mottenkiste des Pop. Das allerdings ist erstaunlich genug, denn Popsongs er­wartet man im Weichbild
der Neuen Musik immer noch ebenso wenig wie vielleicht in den 50er Jahren die Stille, die John Cage seinem
Publikum vorsetzte. Vordergründige Überraschungseffekte waren keinesfalls der Beweggrund für die Bearbeitung
der Musik des exzentrischen Falsett-Popsängers mit legendären Bühnenshows; als lustige Provokation sollte man
diesen Pro­gramm­punkt nicht missverstehen. Die ernüchternde Komik, die in der Begegnung inkommensurabler
musikalischer Kulturen liegt, trifft die Sache schon eher. Vor allem aber ist das Wort «Hommage» ernst zu nehmen:
«Seit meinem 12. Lebensjahr verfolgen mich seine Songs», bekennt Olga Neuwirth und verweist nicht nur auf ihr
ausgeprägtes Faible für androgyne Stimmlagen (dem sich schließlich mehrere Kompositionen mit Countertenor verdanken), sondern auch auf Nomis eigenartiges Changieren zwischen Ernst und Exaltiertheit: «Ich glaube, er hat die
Men­schen wie von einer Raumstation aus genauestens beobachtet und analysiert, bevor es zu diesen ätzenden,
zarten, leichten, ­tragischen und ironischen Songs kam.»
Anzeichen eines Generationenwechsels in der zeitgenössischen Musik – davon ist gerade im Zusammenhang mit
Olga Neuwirth nicht selten die Rede – ist wohl vor allem dies: Überlieferte Trenn­linien und Tabus geraten spielerisch
in Vergessenheit. Dass ein seltsamer Pionier der Popkultur unversehens in ein Konzert mit Musik von Olga Neuwirth
gerät, gibt nicht nur Einblick in die Plattensammlung einer jungen Komponistin, sondern zeigt auch, dass es längst
an der Zeit ist, erstarrte Klischee­bilder von «Neuer Musik» einer Revision zu unterziehen.
Die Bearbeitung Olga Neuwirths rückt Nomis Lieder in die Nähe von «Klassik-Sounds»: Der Drum-Computer
bleibt ausgeschaltet, Streichinstrumente sind hörbar, ein professioneller Coun­tertenor übernimmt den Vokalpart. Die
Instrumentierung ist jedoch teilweise durchaus schrill und geräuschhaft, eine leicht verstimmte E-Gitarre spielt verschmierte Melodien, Trompete und Bassklarinette fügen Echos hinzu und verstärken harmonische und rhythmische
Details. Drei der von Olga Neuwirth ausgewählten Lieder kreisen um die Liebe: In So simple beteuert der Singende
unablässig, er sei nur ein einfacher Mann und tue sein Bestes. Remember basiert auf Purcells Schlussarie der Dido,
die nach Aeneas’ Abschied in den Armen ihrer Kammerfrau stirbt. Can’t help it («Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe
eingestellt») klingt in Nomis Fassung, im Marschrhythmus anstelle des lang­samen Walzers gesungen, eher wild-entschlossen als schwelgerisch. In Witch, dem vierten Lied, wird irgendwo zwischen Bier­zelt und Bierernst die böse Hexe
vom Wizard of Oz eingeschmol­zen und der Abend endet in einem ausgelassen-kitschigen Finale.
So simple
I’m just a simple man.
I have to do the simple things
that a simple man can.
You are holding out your hand.
You want to know the simple things
in my simple plan,
and: I know there’s so much to share,
So what else can I do?
Yes, I’m a simple man
come on and take my hand
Now and forever never to be lonely.
Yes, I’m a simple man,
I do the best I can.
Now we’re together,
just remember hold me.
But I’m a simple man.
Love is just a simple thought
a little bit the worse
for we are like a thief who got caught.
Oh! – it’s just a thing you bought.
It’s just another thin white lie
that everybody got taught.
I can see you look to me,
so what else can I do?
Yes, I’m a simple man
come on and take my hand
Now and forever never to be lonely.
Yes, I’m a simple man,
I do the best I can.
Now we’re together,
just remember hold me.
But I’m a simple man.
I do the best I can
I draw a simple, simple plan,
I hope you understand
I’m just a simple man
I’m holding out my hand.
It’s just a simple, simple plan,
I hope you understand.
Yes, I’m a simple man,
I do the best I can.
Now we’re together,
just remember hold me.
It’s so simple!
Text und Musik: Kristian Hoffman, nach Simple Man
Remember
Thy hand, Belinda, darkness shades me,
On thy bosom let me rest,
More I would, but death invades me.
Death is now a welcome guest.
When I am laid, am laid in earth,
may my wrongs create
No trouble, no trouble in thy breast.
Remember me, remember me, but ah! – forget my fate.
Musik: Henry Purcell, «Death», aus Dido and Aeneas
Text: Nahum Tate
Can’t help it
Falling in love again,
never wanted to,
what I am to do,
can’t help it.
Love’s always been my game,
play it as I may,
I was made that way,
can’t help it.
They cluster to me
like moths around the flame,
and if their wings burn
I’m not to blame.
Falling in love again,
never wanted to,
what I am to do,
can’t help it.
Ich bin von Kopf bis Fuß
auf Liebe eingestellt,
ja! das ist meine Welt
und sonst gar nichts.
Ich kann nur,
was soll ich machen,
lieben nur, das ist meine Natur
und sonst gar nichts.
Menschen umschwirr’n mich
wie Motten das Licht,
doch wenn sie verbrennen,
ja, dafür kann ich nicht.
Ich bin von Kopf bis Fuß
auf Liebe eingestellt,
ja! das ist meine Welt
und sonst gar nichts.
Falling in love again,
never wanted to,
what I am to do,
can’t help it.
Love’s always been my game,
play it as I may,
I was made that way,
can’t help it.
They cluster to me
like moths around the flame,
and if their wings burn
I’m not to blame.
Falling in love again,
never wanted to,
what I am to do,
can’t help it.
Musik und deutscher Text: Friedrich Holländer
Englischer Text: Sammy Lerner
The Witch
Ding dong the witch is dead,
the wicked witch.
Ding dong, the wicked witch is dead.
Wake up, you sleepy heads,
rub your eyes, get out of bed.
Ding dong, the wicked witch is dead,
she’s gone to where the goblins go below,
below, below yo ho,
so let’s all up and sing,
and ring the bells up heigh-ho,
the merry O,
sing it high, sing it low.
Let them know wicked witch is dead –
Ding dong the witch is dead,
Ding dong the witch is dead,
the wicked witch.
Ding dong, the wicked witch is dead.
Wake up, you sleepy heads,
rub your eyes, get out of bed.
Ding dong the wicked witch is dead …
Let them know the witch is dead.
Ah! nä, nä, nä, nä …
she’s gone to …
It really was no miracle what
happened was just t(h)is: I’m melting!
Musik: Harold Arlen
Text: E. Y. Harburg, nach «Ding dong» aus The Wizard of Oz
Bernhard Günther: «Hommage à Klaus Nomi». Zu Olga Neuwirts Zyklus, in: Katalog Wien
Modern 2004, hrsg. von Berno Odo Polzer und Thomas Schäfer, Saarbrücken: Pfau 2004, S.
91-93.