Der Schah in der Schachtel - Folkwang Universität der Künste

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Der Schah in der Schachtel - Folkwang Universität der Künste
Matthias Gründig
Der Schah in der Schachtel
Soziale Bildpraktiken
im Zeitalter der Carte de visite
Die Forschungen zu diesem Buch wurden im Rahmen der Projektgruppe
„Laboratorium der Objekte“ durchgeführt. Die Arbeit der Projektgruppe
und die Drucklegung dieser Publikation verdanken sich der großzügigen
Unterstützung durch die Stiftung Mercator und ihrer Initiative
„SammLehr – an Objekten lehren und lernen“.
© Jonas Verlag für Kunst und Literatur GmbH Marburg 2016
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Layout & Satz: Petra Florath, Berlin
Druck: Westermann Druck Zwickau GmbH
ISBN: 978-3-89445-530-9
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://
d-nb.de abrufbar.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Zum Sammlungsobjekt Carte de visite 7
Jetzt ein Leuchtturm
Carl Haussknecht als reisender Sammler
9
Auf gleicher Höhe mit seinem Instrument
Disdéri und die Industrialisierung fotografischer Ästhetik
24
Katalog
41
Freundschaftsbekundungen
Fotografische Netzwerke der Bekanntschaft in Syrien
137
Ein magischer Schlüssel
Politische und kulturelle Repräsentation im Osmanischen Reich
151
Löcher im Berg
Bekanntheit und Bekanntschaft zwischen Persien und Europa
171
Ohne auf das Widersprochene zu verzichten
Kommerzielle Typenfotografie im Kaukasus
185
Die Schwärze der Kiste
Sammlungsforschung und Kontingenz
191
Anmerkungen
196
Literaturverzeichnis
220
Internetquellen
229
Abbildungsverzeichnis
231
Dank
232
Vorwort
Zum Sammlungsobjekt Carte de visite
Fotografische Schätze sind nicht immer an große Namen gebunden. Weder
müssen sie umfangreich noch künstlerisch wertvoll sein. Sie lassen sich nicht
nur in Museen finden, sondern auch dort, wo man sie kaum erwartet – in Universitätssammlungen zum Beispiel. Die fotografische Sammlung des Botanikers Carl Haussknechts (1838–1903) im Besitz des Jenaer Herbarium Hauss­
knecht ist gerade dies: eine unscheinbare fotografische Schatzkiste. Viele der
darin enthaltenen Bilder sind mittlerweile um die 150 Jahre alt. Visuell und
medienhistorisch verweisen Haussknechts Cartes de visite- und Cabinet-Bilder
auf die Anfänge der Industrialisierung fotografischer Techniken. Ihre stoffliche
Beschaffenheit, die genormten Maße und verwendeten Materialien berichten
dabei von der Schnelligkeit, mit der sich, von Paris am Ende der 1850er Jahre
ausgehend, die Visitenkarten-Fotografie global verbreitete, und von einem
internationalen Wissenstransfer, der diese überhaupt erst ermöglichte. Sie lassen sich mit fotografischen Märkten in Verbindung bringen, mit bestimmten
Werbestrategien und rechtlichen Rahmenbedingungen. Jedes der 89 Bilder
erzählt seine ganz eigene Geschichte, legt seinen eigenen Bericht zu der Zeit ab,
in der es entstand.
Dennoch sind die Fotografien mehr als Objekte der Mediengeschichte und
der Zeitzeugenschaft, sind sie doch immer auch Dokumente persönlicher
Begegnungen und sozialer Prozesse. Mit ihrer Hilfe lässt sich ein ganzes Netzwerk um Haussknecht herum konstruieren, ein Netzwerk von Freunden, Bekannten, mehr oder minder großen Bekanntheiten, von Fotografen und ihren Mo­
dellen, von Ärzten, Missionaren, Reisenden, Botanikern, aber auch Staatschefs,
Ministern und Geheimbündlern. Bei den mal starken, mal losen Verknüpfungen dieser bewusst konstruierten Netzstruktur handelt es sich teils um unmittelbare Begegnungen der Dargestellten mit Haussknecht, teils aber auch um
unverhoffte, mittelbare Kontakte, die auf ganz individuelle Weise davon berichten, warum Fotografie sich wann und in welchem Maß in verschiedenen Gebieten der Erde etablieren konnte. Sie ermöglichen den Betrachterinnen und
Betrachtern, sich ein Bild des jungen Carl Haussknecht zu machen, von seinen
breit gefächerten Interessen, die neben der Botanik auch die Ethnologie und
Zum Sammlungsobjekt Carte de visite
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Anthropologie betrafen, die das eigene Zeitgeschehen ebenso im Auge hatten
wie die vermeintlich orientalische Frauenwelt. Gleichzeitig geben sie immer
neue Rätsel auf, deren Lösung sich manchmal im Feld des Möglichen, manchmal aber auch gar nicht finden lässt.
Eine Schatzkiste ist die Sammlung Haussknecht auch in Anbetracht ihrer
vielgestaltigen Ästhetik. Fotografischer Amateur und Profi treffen hier aufeinander, Dilettantismus (im besten Wortsinn) auf Ökonomie und Gewinnstreben. Fremdes und Bekanntes steht beisammen wie Schönes und Lehrreiches.
Trotz aller Normierung und Industrialisierung, die dem Ruf der Carte der visite
geschadet hat und sie für die Foto-Geschichtsschreibung lange Zeit nur wenig
interessant erscheinen ließ, präsentieren viele der von Haussknecht gesammelten Bilder immer neue Lösungen auf die Frage, was eine Fotografie ist, und im
Einzelnen auch, was wir uns unter einer Carte de visite vorstellen können.
Denn Haussknechts Bilder sind mehr als einfache kleine Fotografien auf visitenkartengroßen Pappen. Sie handeln von einer Ästhetik des Originals wie von
jener der Kopie, von der der industriellen Massenware wie ihrer amateurhaften
Nachahmung unter dem sozialen Druck eigener Bildhaftigkeit; vom Tauschen,
vom Schenken, immer aber auch vom Zeigen und Betrachten. Nicht zuletzt
markieren sie in diesem heterogenen Feld der Betrachtungsweisen die Ambiguität, die unauflösliche Vielschichtigkeit der Fotografie im Allgemeinen und
von einzelnen Fotografien im Speziellen. Darin liegt der große Wert von Carl
Haussknechts Cartes de visite: Sie vereinen das Große und das Kleine, sind Globalisierung, Industrie und Massenware, wie auch Handwerk, Einzelstück und
Geschenk. Sie sind, und hierüber sollten wir uns keinesfalls zu schnell beruhigen, zu gleicher Zeit Orient und thüringische Provinz.