SozialAktuell 1/2015: Vernetzungstagung zum KES
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SozialAktuell 1/2015: Vernetzungstagung zum KES
A V E N I R S O C I A L | Kinder- und Erwachsenenschutz Korsett oder Bikini? Die Vernetzungstagung zum Kindes- und Erwachsenenschutz als Beitrag zur Ausgleichung des aktuellen Ungleichgewichts zwischen Recht und Sozialer Arbeit Text: Silvia Domeniconi Pfister Bilder: Hochschule Luzern Mit Damenwäsche hatte die Vernetzungs tagung zum Kindes- und Erwachsenenschutz an der Hochschule Luzern (HSLU) vom 7. November 2014 nur am Rande zu tun. Aber die Frage, ob die Massschneiderung für Sozialarbeitende zum Korsett wird oder ob Sozialarbeitende wesentlich dazu bei tragen, für KlientInnen ein passendes Bikini bzw. Badehose zu schneidern, kann als Me tapher für das Vorhaben der Tagung gelten. Die Tagung, angeboten von der HSLU in Kooperation mit der FHNW und AvenirSocial, hatte sich zum Ziel gesetzt, die berufspolitische Position der Professionellen Sozialer Arbeit im Bereich des Kindes- und Erwachsenenschutzes (KES) zu stärken. Diana Wider, Dozentin HSLU, hatte durch die Tagung geführt und einleitend festgestellt, dass das Recht im neuen KES mehr Gewicht hat als die Soziale Arbeit und dass es darum geht, dieses Ungleichgewicht wieder in eine gute Balance zu bringen. Im Zentrum der Tagung stand die Rolle der Profession und der Professionellen Sozialer Arbeit. Und wen wunderts? Betrachtet man die Rollenübernahme als Ergebnis des Verhaltens in Bezug auf Erwartungen, wie Christoph Heck, Vizepräsident der KESB Winterthur-Andelfingen, ausführte, so ist die Rollenunsicherheit nicht nur verständlich, sondern auch erklärbar. Das neue Erwachsenenschutzrecht hat vollzogen, woran wir seit Jahrzehnten arbeiten: die faktische Anerkennung der Sozialen Arbeit als Profession – auf Augenhöhe mit JuristInnen, PsychologInnen und PädagogInnen. 42 führende Profession zu sein. Bei ihr liegen Wissen und Können für die Erfüllung der wesentlichen Aufgaben: für einen adäquaten Umgang mit «originellen» Menschen, für die rasche und richtige Einschätzung von Gefährdungslagen, für die Wahl wirkungsvoller Methoden, die Kenntnisse sozialer Unterstützungsangebote usw. Die Professionalisierung der Behörde führt aber nicht nur in der Behörde selber, sondern im gesamten KES-Bereich zu höheren Erwartungen an die Professionalität der Sozialarbeitenden. Plötzlich sind in der KESB statt Laien BerufskollegInnen, welche die Arbeit auch fachlich beurteilen, und JuristInnen, welche den Anspruch stellen, dass die Verfahren rechtlich korrekt ablaufen und die Produkte, beispielsweise die Berichte, juristisch verwertbar sind. Anpassung des Verhaltens Sind aber die Erwartungen an die Sozial arbeitenden gestiegen, muss sich deren Verhalten anpassen, um die ihr zugedachte Rolle auch einnehmen zu können. Und hier lautet die Gretchenfrage: Tun sie dies? Und noch heikler: Können sie das? Aber auch: Wollen sie das? Nehmen wir die Soziale Arbeit hat das Potenzial, im Bereich des KES die führende Profession zu sein Steigende Erwartungen Mit Anerkennung sind jedoch auch immer Erwartungen verbunden. Soziale Arbeit hat das Potenzial, im Bereich des KES die Korsett-Bikini-Metapher wieder auf, könnten wir fragen: Wie gut gelingt es Abklärenden Mass zu nehmen? Und was tragen Behördenmitglieder dazu bei, dass Stoffe gewählt werden, welche genügend Elastizität bieten für Veränderungen? Und wie gelingt es BerufsbesitändInnen, mit den KlientInnen das Bikini mal zu flicken oder auszuweiten oder darum besorgt zu sein, dass es neu geschneidert wird? Silvia Domeniconi Pfister ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Sozialarbeit und Recht der Hochschule Luzern– Soziale Arbeit. Es bleibt viel zu tun Die sechs Workshops am Nachmittag zeigten Handlungsbedarf auf und gaben erste Antworten darauf. Stefan Armenti, Vizepräsident der KESB Region Solothurn, zeigte den Professionalisierungsbedarf auf. Er ging von den Strukturmerkmalen einer Profession aus und stellte fest, dass Soziale Arbeit noch nicht über geeignete SozialAktuell | Nr. 1_Januar 2015 Methoden für die soziale Diagnostik verfügt und so auch Mühe hat, einen Zusammenhang zwischen Problemdefinition und Fallbearbeitung herzustellen. Die anderen Workshops leisteten dazu bereits wertvolle Beiträge: Daniel Rosch, Dozent HSLU, vollzog gleich selber die Diagnostik, bezog sie aber auf die Begründung bestehender Herausforderungen und Konflikte in der Zusammen arbeit zwischen KESB und BerufsbeiständInnen und deren Organisationen. Er legte dabei den Fokus auf die vom Gesetz den Akteuren zugeschriebenen Aufgaben, welche teilweise klar auseinander gehalten werden können, sich aber auch überschneiden. Und aus der Diagnose leitete er folgerichtig mögliche Interventionen zur Problemlösung ab: die Fokussierung auf die Aufgaben, die Akzeptanz von Überschneidungen und ein bewusster und flexibler Umgang damit einerseits und ausgehandelte, klare Aufgabenteilungen anderseits. Ebenfalls um die Zusammenarbeit zwischen BerufsbeiständInnen und KESB ging es im Workshop von Regula Widmer, Soziale Dienste Langenthal. Ihre Frage nach dem sozialarbeiterischen Handlungsspielraum der BerufsbeiständInnen angesichts von KESB-Beschlüssen, welche sehr konkrete Handlungsanweisungen an die KlientInnen und die Sozialarbeitenden enthalten, kann in die Korsett-Bikini-Metapher eingeordnet werden. Packen wirs an! Der Workshop von Silvia Domeniconi Pfister, wissenschaftliche Mitarbeiterin HSLU, zeigte auf, wie ein systematisches Vorgehen bei der Berichterstattung, also eine wissenschaftliche Methode wie z. B. die Allgemeine Normative Handlungstheorie (Staub-Bernasconi/Obrecht), die Qualität von Abklärungs- oder Rechenschaftsberichten verbessern und die von Stefan Armenti aufgezeigten Strukturmerkmale der Profession erfüllen hilft. In den Berichten können Antworten auf alle relevanten Verbandsnachrichten | A V E N I R S O C I A L Fragen und Aspekte für die Entscheidungsfindung gegeben und so bedeutender Einfluss auf den Entscheid der KESB und die Massschneiderung genommen werden. Auch Beat Schmocker, Dozent HSLU, hatte eine wissenschaftlich abgestützte Methode anzubieten. Er zeigte in seinem Workshop Instrumente für ethische Entscheidungsfindung auf der Basis des Berufskodexes auf. Denn unabhängig von Aufgabe, Rolle oder Disziplin, müssen im KES dauernd Entscheide mit oder über Betroffene gefällt werden, bei welcher moralische Normen und ethische Werte in Bezug auf die Legitimation der Profession und ihrer Intervention bewusst und transparent gemacht und gegeneinander abgewogen werden müssen. Der Beitrag von Regula Bärlocher, Berufsbeiständin Soziale Dienste Zürich, lässt Hoffnung schöpfen. In ihrem Workshop berichtete sie von den Erkenntnissen aus ihrer Master-Thesis. Ihre Untersuchung hatte unter anderem ergeben, dass die interdisziplinäre Zusammenarbeit in der KESB als «Suche und Pflege des Ergänzenden mit dem Ziel des Konsenses» erlebt wird. Darin ist das spezifische Wissen der einzelnen Disziplinen bedeutend, und die Beiträge der Sozialen Arbeit werden durchaus akzeptiert. Ja, es bleibt viel zu tun für die Soziale Arbeit, wenn sie sich zur führenden Profession entwickeln und nicht ein «Schrumpfdasein als Hilfsprofession», wie Kay Biesel und Stefan Schnurr von der Fachhochschule Nordwestschweiz es nannten, fristen möchte. Aber die ReferentInnen der Tagung beschränkten sich nicht ausschliesslich auf die Nabelschau, sondern zeigten auch die Zusammenhänge auf, in welchen wir stehen: So stellte Christoph Heck die Unsicherheit betreffend Rollen und Zusammenarbeit in den Zusammenhang der Organisationsentwicklung der neuen KESBs, welche alle involvierten Akteure mit sich rissen. Hinzu kommen die unterschiedlichen Stati und Positionen der verschiedenen Professionen, welche einen natürlichen Wettbewerb untereinander auslösen. Und nicht zuletzt hat das neue Gesetz – wie Astrid Estermann, Leiterin des Bereichs Erwachsenenschutz der Stadt Luzern, aufzeigte – die Selbstbestimmung der Menschen ins Zentrum gerückt. Diese steht in grossem Spannungsfeld zur Standardisierung und Risikominimierung, welche unter dem Druck knapper Mittel unabdingbar wurden. Stefan Blülle, Leiter Kinder- und Jugenddienst Basel, spannte als Tagungsbeobachter zum Schluss der Tagung den Bogen noch weiter auf und nahm weitere Akteure in die Pflicht: Insbesondere die So zialpolitik ist gefordert, um die soziale Grundversorgung so auszubauen, dass echte Subsidiarität möglich ist, weil den Menschen primär auf freiwilliger Basis Unterstützung angeboten werden soll. Zudem wurde aber aus allen Tagungsinputs klar, dass die Prozesse für die Neuorganisation und der Kompetenzaufbau für die neuen Aufgaben Zeit brauchen, welche von den KESB und den Organisationen der BerufsbeiständInnen gemeinsam eingefordert und von der Sozialpolitik gewährt werde sollte. Dazu bräuchte es jedoch auch politische Akteure, welche für Lösungen Hand bieten, statt die sozialen Sicherungssysteme zu diffamieren, systematisch abzubauen und danach zu beklagen, dass sie schlecht funktionieren. Um all dies zu erreichen, müssen sich alle beteiligten Organisationen, inklusive Berufsverband und Hochschulen, zusammenschliessen und eine Argumentationsmacht aufbauen, um die strukturell bereits vorgesehene Posi tionsmacht auch zu übernehmen und Definitionsmacht auszuüben. Die Tagung war ein Beitrag dazu und Stéphane Beuchat, Co-Geschäftsleiter AvenirSocial, nahm im Schlusswort den Ball auf und versprach die Unterstützung dieses Vorhabens durch AvenirSocial. Falls Sie Lust auf Mehr bekommen haben, finden Sie alle Tagungsunterlagen auf www.hslu.ch/vernetzungstagung-kes. Nr. 1_Januar 2015 | SozialAktuell 43