Zur Lage der Menschenrechte in Ruanda. Leben nach dem
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Zur Lage der Menschenrechte in Ruanda. Leben nach dem
Internationales Katholisches Missionswerk e.V. Fachstelle Menschenrechte Dr. Otmar Oehring (Hrsg.) Postfach 10 12 48 D-52012 Aachen Tel.: 02 41-75 07-00 Fax: 02 41-75 07-61-253 E-Mail: [email protected] © missio 2003 15 Human Rights Droits de l’Homme ISSN 1618-6222 missio-Bestell-Nr. 600 248 Menschenrechte Helmut Strizek Zur Lage der Menschenrechte in Ruanda. Leben nach dem Völkermord Das Anliegen der „Fachstelle Menschenrechte“ ist es, die Kenntnis über die Menschenrechtssituation in den Ländern Afrikas, Asiens und Ozeaniens zu fördern. Um diesem Ziel näher zu kommen engagieren wir uns in der menschenrechtlichen Netzwerkarbeit und fördern den Austausch der kirchlichen Partner missios in Afrika, Asien und Ozeanien mit kirchlichen und politischen Entscheidungsträgern in der Bundesrepublik Deutschland. In der Reihe „Menschenrechte“ werden Länderstudien, thematische Studien sowie die Ergebnisse von Fachtagungen publiziert. Die Publikation beschreibt die Lage der Menschenrechte in Ruanda. Leben nach dem Völkermord. Das Land hat 1994 einen Völkermord an der Tutsi-Bevölkerung, gleichzeitig schwere Menschenrechtsverletzungen von Seiten der vom Westen unterstützten siegreichen Rebellenarmee und 1996 die Vertreibung von Hutu-Flüchtlingen aus den Lagern im Osten des Kongo erlebt. Zur Jahreswende 2002/2003 wurde das Land noch immer von einer Übergangsregierung der in der Ruandischen Patriotischen Front (FPR) vereinigten militärischen Sieger von 1994 beherrscht. Die anderen politischen Parteien stehen unter Kuratel. Nachdem sich die Truppen der FPR Ende 2002 aus dem Kongo zurückziehen mussten, haben Frieden und der Aufbau demokratischer Ordnungen in Zentralafrika eine neue Chance bekommen. Das Christentum, vor allem die katholische Kirche, muss als Verteidiger der Menschenrechte nach den Jahren der politischen Wirren eine besondere Funktion bei diesem Aufbauwerk übernehmen. Es wird beschrieben, wie Ruanda historisch zu einem „katholischen Land“ wurde und welche auch die Kirche berührenden internationalen Verwicklungen zu den Wirren der 90er Jahre geführt haben. Die im Westen noch immer vorherrschende Lesart des von Hutu-Extremisten geplanten Tutsi-Völkermordes wird in Zusammenhang mit der noch immer nicht aufgeklärten Ermordung der Staatspräsidenten von Ruanda und Burundi am 6. April 1994 hinterfragt. Das ruandische Chaos nahm seinen Lauf, als der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am 21.April 1994 den in Ruanda anwesenden UNO-Blauhelmsoldaten verbot, die bedrohten Tutsi militärisch zu schützen. Die Welt wurde zum „Zuschauer beim Völkermord“ (Samantha Power). Helmut Strizek (*1942 in Groß-Gerau/Hessen) hat sein Berufsleben seit 1973 vornehmlich im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) in und mit Afrika verbracht. Er lebte von 1980-1983 in Ruanda und war von 1987 bis 1989 mit Projekten der deutschen EZ befasst. Seit 1992 beschäftigt er sich außerdienstlich mit den Vorgängen im Gebiet der Großen Seen Zentralafrikas. 1996 promovierte Strizek am Institut für Poltische Wissenschaft der Universität Hamburg über Ruanda und Burundi. 1998 Veröffentlichung eines Buches, das auch den 1. Kongo-Krieg (1996/1997) in das zentralafrikanische Gesamtgeschehen – vor allem auch mit Blick auf Uganda und Sudan – einordnet und die internationalen Verflechtungen aufzeigt. Seit 1994 Beiträge zu zentralafrikanischen Fragen – vor allem für die Zeitschrift INTERNATIONALES AFRIKAFORUM. Erschienene/Geplante Publikationen 1 Zur Lage der Menschenrechte in der VR China – Religionsfreiheit deutsch (2001) – Bestellnummer 600 201 englisch (2002) – Bestellnummer 600 211 französisch (2002) – Bestellnummer 600 221 2 Zur Lage der Menschenrechte in der DR Kongo: von 1997 bis 2001. Die schwierige Lage der Kirchen deutsch (2002) – Bestellnummer 600 202 englisch (2001) – Bestellnummer 600 212 französisch (2002) – Bestellnummer 600 222 3 Zur Lage der Menschenrechte in Indonesien Religionsfreiheit und Gewalt deutsch (2001) – Bestellnummer 600 203 englisch (2002) – Bestellnummer 600 213 französisch (2002) – Bestellnummer 600 223 4 Osttimor – der schwierige Weg zur Staatswerdung deutsch (2001) – Bestellnummer 600 204 englisch (2002) – Bestellnummer 600 214 französisch (2002) – Bestellnummer 600 224 5 Zur Lage der Menschenrechte in der Türkei – Laizismus = Religionsfreiheit? deutsch (2001) – Bestellnummer 600 205 englisch (2002) – Bestellnummer 600 215 französisch (2002) – Bestellnummer 600 225 6 Verfolgte Christen? Dokumentation einer internationalen Fachtagung Berlin, 14./15. September 2001 deutsch (2002) – Bestellnummer 600 206 englisch (2002) – Bestellnummer 600 216 französisch (2002) – Bestellnummer 600 226 7 Genitale Verstümmelung von Mädchen und Frauen Auswertung einer Befragung von Mitarbeiter/innen katholischer kirchlicher Einrichtungen aus 19 afrikanischen Staaten deutsch/englisch/französisch (2003) – Bestellnummer 600 207 8 Genitale Verstümelung von Mädchen und Frauen Situationsbericht aus dem Sudan deutsch/englisch/französisch (2002) – Bestellnummer 600 208 9 Zur Lage der Menschenrechte in Vietnam. Religionsfreiheit deutsch (2002) – Bestellnummer 600 230 englisch (2002) – Bestellnummer 600 231 französisch (2002) – Bestellnummer 600 232 10 Zur Lage der Menschenrechte in Sri Lanka. Einsatz der Kirche für Frieden und Menschenwürde deutsch (2002) – Bestellnummer 600 233 englisch (2002) – Bestellnummer 600 234 französisch (2002) – Bestellnummer 600 235 11 Zur Lage der Menschenrechte in Simbabwe. deutsch (2002) – Bestellnummer 600 236 englisch (2002) – Bestellnummer 600 237 französisch (2002) – Bestellnummer 600 238 12 Zur Lage der Menschenrechte in Südkorea. deutsch (in Vorbereitung) – Bestellnummer 600 239 englisch (in Vorbereitung) – Bestellnummer 600 240 französisch (in Vorbereitung) – Bestellnummer 600 241 13 Zur Lage der Menschenrechte im Sudan. deutsch (in Vorbereitung) – Bestellnummer 600 242 englisch (in Vorbereitung) – Bestellnummer 600 243 französisch (in Vorbereitung) – Bestellnummer 600 244 14 Zur Lage der Menschenrechte in Nigeria. deutsch (in Vorbereitung) – Bestellnummer 600 245 englisch (in Vorbereitung) – Bestellnummer 600 246 französisch (in Vorbereitung) – Bestellnummer 600 247 15 Zur Lage der Menschenrechte in Ruanda. deutsch (2003) – Bestellnummer 600 248 englisch (in Vorbereitung) – Bestellnummer 600 249 französisch (in Vorbereitung) – Bestellnummer 600 250 Alle Publikationen sind auch als PDF-Dateien verfügbar. http://www.missio-aachen.de/menschenrechte 1 Inhalt 2 Allgemeine Angaben zu Ruanda 3 1. Einführung 6 2. Ruanda. Land und Leute 7 3. Die Entwicklung des Landes bis 1990 3.1 Ruanda bis 1962 3.2 Die erste Republik (1962-73) 3.3 Die zweite Republik (1973-90) 3.3.1 Militärdiktatur 3.3.2 „Militärdemokratie” 7 12 12 15 15 18 18 22 22 25 26 28 30 30 31 4. Demokratisierung, FPR-Invasion und Bürgerkrieg (1990-Juli 1994) 4.1. Chronologie der Ereignisse 4.2 Demokratisierung im internationalen Kontext 4.3 Demokratisierung und Bürgerkrieg in Ruanda 1990-94 5. Schicksalsjahr 1994 und die erneute Militärherrschaft 5.1 Der Tod der Tutsi 5.2 Warum wurden die Tutsi nicht gerettet? 5.3 Die Hutu-Toten 5.4 Die Gründe für die Massentötungen 5.5 Die Rolle der katholischen Kirche 33 33 35 37 37 39 39 40 40 40 40 41 42 42 6. Ruanda 1994-2002 6.1 Erneute Militärherrschaft: Der FPR-Staat ab Juli 1994 6.2 Die Flüchtlingsfrage und die Kongo-Kriege 1996-2002 7. Die Lage der Menschenrechte in Ruanda Ende 2002 7.1 Politik 7.2 Justiz 7.2.1 Das Arusha-Tribunal 7.2.2 Lage der Gefängnisse 7.2.3 Gacaca 7.3 Wirtschaft und Gesellschaft 7.3.1 „Neue Eliten” 7.3.2 Siedlungspolitik Imidugudu 7.4 Katholische Kirche 7.5 Pressefreiheit 44 45 8. Perspektiven Demokratie als Voraussetzung der nationalen Versöhnung 46 9. Schlussbemerkung 48 51 54 Anhang 1: Literatur Anhang 2: Abkürzungsverzeichnis Anhang 3: Auszug aus einem Gespräch mit Bischof Perraudin vom 8.4.1995 Fußnoten 55 2 3 Allgemeine Angaben zu Ruanda1 Stand: 2001/2002 Staatsname Fläche geografische Lage Hauptstadt wichtige Städte Bevölkerung Anteil der Stadtbevölkerung Bevölkerungswachstum Analphabetenrate Staatssprachen Religion Staat Volksvertretung Verwaltungsgliederung Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf/Jahr Währung Einwohner pro Arzt Ruandische Republik 26 338 km2 29°-31° O/1°-3° S; Binnenland (1200 km Luftlinie zum indischen und 2000 km zum Atlantischen Ozean) im sog. Zwischenseengebiet (Länder zwischen Viktoria-See und der Seenkette vom Tanganjika- bis zum Albert-See Kigali ca. 237.000 Einwohner Ruhengeri ca. 30.000 Einwohner; Butare ca. 27.000 Einwohner; Gisenyi ca. 22.000 Einwohner 8,1 Millionen (Volkszählung 2002); mehr als 80% Hutu; 15% Tutsi; ca. 1% Twa 6% ca. 2,5% (vor dem Bürgerkrieg 1990 ca. 3,5%) ca. 52% Kinyarwanda, Englisch, Französisch ca. 55% rk, 20% prot., 5% musl., Rest konfessionslos (Schätzungen; derzeit keine verlässlichen Zahlen verfügbar.) Präsidialrepublik; Staatspräsident (seit 2000) und FPRVorsitzender: General Paul Kagamé Assemlée Nationale de Transition (Übergangsparlament seit Dez. 1994) 70 Sitze 12 Präfekturen, aufgeteilt in 116 Distrikte und Gemeinden 290 EUR Rwandan Franc (RWF); 1 Euro zum 13.12.2002: 536 RWF (7.2.2003: 554 RWF) ca. 25.000 (Kindersterblichkeit 12,4%; durchschnittliche HIVRate bei Erwachsenen ca. 12 %, in den Städten bis 30%) 1. Einführung Am 2. Februar 1900 traf der katholische Bischof Jean-Joseph Hirth2 vom Orden der Gesellschaft der Missionare Afrikas, wegen ihrer knöchellangen weißen Ordensgewänder „Weiße Väter” genannt, mit großem Gefolge3 am Hof des ruandischen Mwami (König) ein, der sich als irdischer Vertreter des göttlichen Wesens Imana verstand und daraus seinen Herrschaftsanspruch ableitete. Bischof Hirth war entschlossen, sich im Lande niederzulassen und Ruanda für das Christentum zu gewinnen. Die Verkündigung des christlichen Wortes wäre ohne die Unterstützung der drei Jahre zuvor etablierten deutschen Kolonialverwaltung nicht möglich und der spätere Siegeszug katholischer Missionierung ohne die belgische Mandatsmacht4 nicht denkbar gewesen. Mit der Unterstellung des Landes unter den Christ-König durch Mwami Mutara III. am 27.10.1946 war die Missionierungsphase „siegreich” beendet. Danach geriet auch die katholische Kirche in den Strudel der politischen und sozialen Machtkämpfe, die das Land vor der Unabhängigkeit am 1.7.1962 erschüttert hatten. Der vorhandene Interessenkonflikt zwischen der bäuerlichen Bevölkerungsmehrheit der Hutu und der politisch und wirtschaftlich bis 1959 führenden Minderheit der Tutsi entlud sich von 1959 bis 1962 in der sog. Sozialrevolution. Die christliche Durchdringung hat das Ende des Kolonialzeitalters überdauert. In den beiden seit der Unabhängigkeit 1962 gebildeten Republiken (Erste Republik 1962-1973 und Zweite Republik 1973-1994) war die katholische Kirche gleichsam Staatskirche. Aber die sozialen Konflikte waren nicht beendet und gerieten ab 1990 zunehmend und ab 1994 endgültig außer Kontrolle. Die bewaffnete Rückkehr des 1961 abgewählten Tutsi-Adels ab dem 1.10.1990 ist der eigentliche Auslöser für die Katastrophe des Jahres 1994. Die Welt hat zugeschaut. Niemand war 1994 nach der Ermordung des Staatspräsidenten Habyarimana bereit, der ausbrechenden Barbarei auf beiden Seiten der BürgerkriegsKampflinien Einhalt zu gebieten. Aber auch nach der „Apokalypse 1994” ist das Christentum (katholische Kirche und die zahlenmäßig schwächeren protestantischen Glaubensgemeinschaften) Teil der ruandischen Kultur und muss nun seinen Beitrag zur nationalen Versöhnung leisten. Die katholische Kirche war in ihrer Geschichte vor 1930 eher „Hutu-Kirche”, danach bis 1955 einseitig „Tutsi-Kirche”. Der Versuch, beim absehbaren Ende des Kolonialzeitalters ab 1956 Kirche des ganzen Volkes zu werden, war nur in kurzen Phasen erfolgreich. Sie wurde nach der Unabhängigkeit eine National- 4 kirche und als der Staat nach 1962 immer stärker „Hutu-Staat” wurde, gerieten auch innerhalb der Kirche die ethnischen Gruppen in Konflikt. Der Hutu-TutsiGegensatz prägte auch die Diskussionen im Klerus. Dennoch überwogen die Integrationsbemühungen und die Anstrengungen, die „ethnischen” Gegensätze zu überwinden. Erst während des Bürgerkriegs ab Oktober 1990 brachen die schon fast verheilten Wunden wieder auf. Das Aufeinandertreffen zweier Kulturen ab 1900 löste einen bis heute andauernden Prozess äußerer Herausforderung und innerer Reaktion aus5, der Ruanda nachhaltig verändert hat. Wie in kaum einem anderen Land waren Missionierung und Transformation der traditionellen Gesellschaft so stark ineinander verflochten wie in Ruanda6. Entscheidend war, dass das katholisch geprägte Belgien das Bildungswesen ab 1925 – wie auch im Kongo und Burundi – der Kirche formell überantwortet hat. Das Erscheinen der ersten Ausgabe der Zeitschrift Kinyamateka7, die von der Kirche in der Sprache des Volkes gedruckt wurde, im Juli 1933 war eine historische Wegmarke beim Übergang einer traditionellen zu einer zeitgenössischen Nation. Die christliche Botschaft erreichte in „moderner” Kommunikationsform größere Teile des Volkes, zuerst die christliche Adelsschicht und später über Vorleser aus den Reihen der Hutu-évolués8 auch die Landbevölkerung. Hier hörte sie erstmals von den Rechten der Menschen, an der Verwaltung der öffentlichen Dinge mitzuwirken. Demokratische Gedanken erreichten so auch diesen Teil Afrikas. Das Wort veränderte das Bewusstsein und bald auch die politische Realität. Dass jeder Mensch seine individuelle Würde und daraus ableitbare Rechte haben sollte, das verstanden die Menschen und begannen, ihre Rechte einzufordern. Sie empfanden es als skandalös, als eine ultra-konservative Adelsgruppe der Mehrheitsbevölkerung am 17.5.1958 in einem Schreiben an den König das Recht auf Gleichberechtigung absprach. Der folgende Satz machte aus königstreuen Hutu-Politikern Revolutionäre: „Die Beziehungen zwischen uns, den Tutsi, und ihnen, den Hutu, beruhten in allen Zeiten bis zum heutigen Tag auf einem Knechtschaftsverhältnis (servage); es gibt zwischen ihnen und uns also keinerlei Basis für eine Brüderlichkeit (fraternité) (...). Unsere Könige haben das Land der Hutu erobert und ihre Könige getötet und somit die Hutu unterworfen, wie können sie da jetzt vorgeben, unsere Brüder zu sein?”9 König Mutara III. und sein Nachfolger Kigeri V. folgten dem Ratschlag dieser Extremisten und verpassten die Chance, Könige des ganzen Volkes auf der Basis einer Verfassung zu werden, die Rechte und Pflichten beschreibt. Die verschiedenen Nachbeben der so ausgelösten Sozialrevolution haben das Land mit gewissen Ruhephasen seit 1959 erschüttert. In Umbruchsituationen wurden immer wieder – von beiden Seiten – die grundlegenden Menschenrechte missachtet. 5 Die katholische Kirche hat 1994 die Menschen aufgerufen, von der Gewalt abzulassen, war aber nicht stark genug, die mehrheitlich katholische Bevölkerung im Gebiet der Interimsregierung vom Massenmord an der Tutsi-Bevölkerung und in den von der FPR besetzten Gebieten vom Töten vieler Hutu-Bewohner10 abzuhalten. Sie darf sich jedoch unter dem Eindruck des Tutsi-Genozids nicht zur„Tutsi-Kirche” rückentwickeln. Auf Dauer wäre damit niemandem – auch nicht der Tutsi-Bevölkerung – gedient. Die geschichtlichen Katastrophen zwingen die Christen nun geradezu, die Einheit aller Ruanderinnen und Ruander zu verkörpern und in geschwisterlichem Geiste einen Weg in die Zukunft jenseits ethnischer Kampflinien zu weisen. Die 1900 von den Missionaren nach Ruanda getragene Botschaft der Nächstenliebe ist auch im säkularen Sinne die einzig tragfähige Zukunftsbotschaft. Nur bei strikter Wahrung der Menschenrechte werden sich Versöhnung, nationale Einheit und lebenswerte Zukunft gewinnen lassen. Dies kann gelingen, wenn auch die Weltgemeinschaft darauf achtet, dass nicht wieder Brandfackeln von außen in das Land geworfen werden können. Indem die Kirchen für Religionsfreiheit als integralem Bestandteil der Menschenrechte eintreten, werden sie zugleich zu Garanten für die Wahrung aller Menschenrechte, einschließlich des Rechts auf Bildung. 6 2. Ruanda. Land und Leute 7 3. Die Entwicklung des Landes bis 1990 3.1 Ruanda bis 1962 Ruanda hat heute ca. acht Millionen Einwohner und ist mit einer Gesamtfläche von 26.338 qkm (Belgien oder dem Bundesland Hessen vergleichbar) eines der am dichtesten besiedelten Gebiete Afrikas. Mit Ausnahme einer kleinen städtischen Schicht, leben die Menschen von Subsistenzlandwirtschaft in Streusiedlungen auf dem Land. Der Bananenanbau (Koch-, Süß- und Bierbananen) ist ein besonderes Merkmal dieses Berglandes. Kaffee und Tee sind die Hauptexportprodukte. Ruanda liegt im sog. Zwischenseengebiet am Westausläufer des afrikanischen Grabensystems nördlich des Tanganjika-Sees. Man spricht häufig vom „Land der 1000 Hügel”, da es – außer einigen sumpfigen Talgründen – faktisch über keine für mechanisierte Bodenbearbeitung geeigneten Ebenen verfügt. Die mittlere Höhenlage beträgt 1500 m ü.d.M. In dem äquatorialen Land herrscht deshalb ein gemäßigtes Klima. Die Ackerbaugrenze liegt bei 2000 m ü.d.M. Die Niederschläge, von Ost nach West zunehmend, betragen 1100 bis 1200 mm pro Jahr. (Hauptregenzeit zwischen Februar und Mai). Im Süden sind die Hügel flacher und werden nach Norden bis hin zur ost-westlich verlaufenden VirungaVulkankette als natürlicher Grenze zu Uganda immer steiler. Der höchste – schneebedeckte – Vulkan ist der Karisimbi (4507 m ü.d.M.). Die besten Böden vulkanischen Ursprungs findet man vor allem in den Steillagen des Nordens. Die Westgrenze bildet der Kivu-See, dessen Besonderheit das in tiefen Wasserschichten gelagerte Methangas ist. Die östlich am Kivu-See entlang laufende Bergkette bildet die Kongo-Nil-Wasserscheide. Im Osten wird das Land durch den Akagera-Fluss begrenzt. Die Südgrenze wird auf weite Strecken vom Akanyaru gebildet, einem der Zuflüsse des Akagera. Der wichtigste Zufluss des Akagera ist der Nyabarongo, der das Land in einem großen Süd-Nord-Süd-Bogen durchzieht. Er ist einer der Quellflüsse des Nils. Ruanda hat Grenzen mit der Demokratischen Republik Kongo (ehemals Zaire), Uganda, Tansania und Burundi. Mit Ausnahme einer teilweisen Westverschiebung der Grenze zu Uganda umfasst das Land heute – einschließlich des teilautonomen Nordens – das Territorium des früheren Königreichs Ruanda, das die Europäer bei ihrer Ankunft Ende des 19. Jahrhunderts vorgefunden haben. 1884/85 war in Berlin im Rahmen der sog. Kongo-Konferenz beschlossen worden, die damals weitgehend unbekannten Länder Ruanda und Burundi der Einfluss-Sphäre Deutschlands zu überlassen. Als 1894 Adolf Graf von Götzen dem Lande im Rahmen einer Afrikadurchquerung einen Besuch abstattete, leitete er damit de facto das Ende der autochthonen Souveränität ein. König Kigeri hatte nur eine Ahnung von der Bedeutung des Vorgangs, da er über das regionale Informationsnetz der Könige im Zwischenseengebiet gehört hatte, dass Menschen mit enorm wirksamen Waffen in Richtung seines Reiches vordrangen.11 Voll erfassen konnte er die Tragweite dieses Besuches allerdings nicht und sein Tod 1895 bewahrte ihn davor, die Machtteilung mit jenen Eindringlingen in der Praxis erleben zu müssen. Dies blieb seinem übernächsten Nachfolger12 Musinga nach 1897 vorbehalten. Musinga wurde als Kind inthronisiert. Die Regentschaft wurde von Kabare, dem Bruder seiner dem Bega-Clan entstammenden Mutter, ausgeübt. Kabare kooperierte mit den Deutschen und konnte erreichen, dass sie in der Nachfolgekrise den Machtanspruch Musingas anerkannten. Musinga war deshalb bei Übernahme der Königsfunktion in einer ambivalenten Situation. Er konnte mit Rücksicht auf die deutschen Schutzherren die Missionare nicht des Landes verweisen, obwohl sie begannen sein Gott-Königtum in Frage zu stellen. Schon die ersten Europäer, die mit dem Land in Kontakt kamen (der Österreichische Geograph Oscar Baumann 1892, der Kolonialoffizier Adolf Graf von Götzen 1894 und etwa gleichzeitig der deutsche Arzt und Forscher Richard Kandt), waren über die differenzierte Staatsorganisation verwundert, an deren Spitze ein Mwami (König) stand, dessen Herrschaftssymbol die königliche Trommel Kalinga war. Die aus beeindruckenden Langhornrindern bestehende königliche Herde war Ausdruck eines Rinderkultes, der das Leben des gesamten Volkes prägte. Der Staat wurde von Adelsgruppen getragen, die sich selbst Tutsi nannten. Ihnen war der Rinderbesitz vorbehalten. Die Ackerbau treibende und sich selbst als Hutu bezeichnende Bevölkerungsmehrheit konnte nur Rindernutzungsrechte erwerben, die ihr nach speziellem Ritual und gegen Dienstverpflichtung verliehen wurden. Die dritte, aber nur ca. 1% umfassende, Bevölkerungsgruppe bildeten die pygmoiden Twa, die von Jagd und Töpferei lebten und am Hof faktisch die Königsgarde stellten. Die meisten Historiker bezeichnen die Twa als Ethnie. Für die Hutu und Tutsi wird diese Bezeichnung zumeist abgelehnt, weil beide Gruppen – wie auch die Twa – die Staatssprache Kinyarwanda sprachen, den gleichen Gott verehrten, gemeinsam die Autorität des Mwami anerkannten. 8 Von Tutsi-Seite und einer burundisch-französischen Historikergruppe wird bestritten, dass die Unterscheidung zwischen Hutu und Tutsi auf unterschiedlichen ethnischen Zuwanderungsbewegungen beruht. Bei den beiden Bevölkerungsgruppen handle es sich um soziale Kategorien. Sie seien somit keine Ethnien. Dagegen beschreibt der Historiker Bernard Lugan (LUGAN 1997) einleuchtend, dass die beiden Volksgruppen auf die großen nacheiszeitlichen afrikanischen Wanderungsbewegungen nach der erneuten Austrocknung der Sahara zurückgehen. Dabei seien die Sahara-Bewohner (Rinderzüchter) nach Südosten und schließlich das Niltal hinauf gezogen, während westafrikanische Bantu-Gruppen (Ackerbauern) den so entstandenen Korridor zwischen Regenwald und Savanne für eine Wanderung zuerst nach Osten und dann durch das afrikanische Grabensystem nach Süden genutzt hätten. Dort seien sich beide Wanderungsbewegungen begegnet, was zu einer Reihe von wenig bekannten Assimilationsvorgängen geführt habe. Kinyarwanda und das verwandte Kirundi sind eindeutig Bantu-Sprachen. Und auch das von den Rinderzüchtern in Ruanda und Burundi zur Blüte gebrachte Herrschaftssystem enthält Elemente der Ordnungen der Bantu-Königreiche im Kongobecken. Der Rinderkult dagegen verweist auf Einflüsse, die über das Niltal aus dem Mittelmeerraum das Zwischenseengebiet erreicht haben könnten. Die Frage der Harmonie der Bevölkerungsgruppen im königlichen Ruanda wird je nach Interessenlage beantwortet. Während die Hutu sich schon Ende des 19. Jahrhunderts bei Richard Kandt, dem wichtigsten deutschen Forschungsreisenden und späteren kaiserlichen Residenten, über ihre Tutsi-Herren beklagten13, wird von der erwähnten Historikergruppe zumeist die Ansicht vertreten, das soziale Gefüge habe auf einem ausgewogenen Verhältnis des Gebens und Nehmens beruht, das erst im Kolonialzeitalter gestört worden sei. Andere Historiker, insbesondere Catharine Newbury (NEWBURY 1988), haben darauf hingewiesen, dass sich während der langen repressiven Herrschaftsperiode von König Kigeri IV. (1853-1895)14 aus der Nyiginya-Dynastie, die zudem in einer Nachfolgekrise mit weitreichenden Konsequenzen für das Verhältnis der Bevölkerungsgruppen endete, eine Art ethnisches Bewusstsein der Hutu herausgebildet habe. Der von Kigeri IV. bestimmte Nachfolger Mibambwe IV. wurde von der Bega-Familie gewaltsam gestürzt. Das von Kanjogera, einer der Königswitwen, inthronisierte Kind Musinga war formal im Rahmen der patrilinearen Erbfolge ein Nyiginya, faktisch hat aber die Bega-Familie im „Staatsstreich von Rucunshu” 1897 die Macht übernommen, da Kanjogera nun als Königin-Mutter – teilweise gegen ihren Nyiginya-Sohn – großen Einfluss am Hof ausüben konnte. Dieser Machtkampf hat bis zum heutigen Tag Auswirkungen auf die ruandische Innenpolitik. (Der letzte Nyiginya-König Kigeri V. ist weiterhin im Exil, während 1994 mit Paul 9 Kagame der Chef des Hauses Bega als eine Art „republikanischer Mwami” an die Macht gelangte und keine Anstrengungen unternahm, den König zurückzuholen.) Diese dynastische Auseinandersetzung hatte auch Rückwirkungen auf das soziale Gefüge insgesamt, da es der Witwe Kanjogera und ihrem Bruder Kabare gelungen ist, mit Hilfe der Deutschen auch die Gebiete unter die Herrschaft der Zentralregierung zu stellen, in denen Hutu-Könige15 eine große Autonomie (teilweise nach kriegerischen Auseinandersetzungen sogar Selbständigkeit) hatten bewahren können. Das gesellschaftliche und politische Gewicht von Hutu und Tutsi veränderte sich unter der deutschen Kolonialverwaltung generell zulasten der Hutu. Dieser Prozess wurde unter belgischer Oberhoheit 1925 noch durch eine Verwaltungsreform verschärft, bei der die Hutu bisher vorhandene Einflussmöglichkeiten verloren. Zu Beginn der deutschen Kolonialherrschaft am Ende des 19. Jahrhunderts, die sich auf die vorhandenen Tutsi-Herrschaftsstrukturen stützte, verschafften die Weißen Väter den Hutu in den königlichen Zentralgebieten eine Art Gegengewicht, da sie ihre ersten Missionserfolge bei der armen Landbevölkerung verzeichnen konnten. Die von Bischof Hirth geleitete katholische Kirche war anfangs eine „Kirche der Armen.” Als ihr diese Position jedoch immer größere Schwierigkeiten auf der Seite des Tutsi-Adels einbrachte, erinnerte man sich der Anweisungen von Kardinal Lavigerie, des Gründers der Weißen Väter, sich in Afrika ganz besonders der Häuptlinge (Chefs) anzunehmen, da das Volk ihnen später automatisch folgen werde. Diese Strömung gewann die Oberhand, als nach der Vertreibung der Deutschen 1917 dem frankophonen Flügel der Weißen Väter unter belgischer Herrschaft faktisch das Missionierungsmonopol zufiel. Bischof Léon Classe, leitete von 1922 bis 1942 als vicaire apostolique die katholische Kirche in Ruanda. Mit seiner Hilfe brachte die belgische Mandatsmacht16 im von den Deutschen übernommenen System der indirekten Herrschaft das Machtmonopol des Tutsi-Adels zur vollen Blüte. Die Kirche rechtfertigte diese Strategie mit der vorgeblichen Höherwertigkeit der Tutsi im Vergleich zu den „rückständigeren Hutu”. Da dem Tutsi-Adel diese Charakterisierung schmeichelte, verinnerlichte er diese – auch schon in den Mythen des herrschenden Nyiginya-Clans angelegte – Selbstüberhöhung. Das Klima zwischen den Bevölkerungsgruppen vergiftete sich weiter. Die im Eingangszitat manifestierte Arroganz einer Adelsgruppe führte im Zuge der auf der weltpolitischen Tagesordnung stehenden Vorbereitung auf die staatliche Unabhängigkeit in Ruanda zu einer Hutu-Revolution. In Burundi, wo der Hutu-Tutsi-Gegensatz historisch weniger ausgeprägt war und „Mischehen” auch in Adelskreisen üblich waren, wurde hingegen die alte Machtordnung in die Unabhängigkeit hinübergerettet. Dort wurde deshalb der fortbestehende Herr- 10 schaftsanspruch der Tutsi theoretisch „ent-ethnisiert”. Da es die Tutsi überhaupt nur als Erfindung der Kolonialmacht gäbe, könne man auch nicht behaupten, die Macht läge in deren Händen. Wer die Bezeichnungen benutze, verwende – unabhängig davon, dass die Masse der Bevölkerung sich als Hutu bezeichne – rassistische Kategorien.17 (Die 1994 in Ruanda etablierte Tutsi-Herrschaft griff diese Theorie selbstredend wieder auf, lässt sie aber wegen allzu offenkundiger Unhaltbarkeit zunehmend fallen.) Am Ende der Kolonialzeit war Ruanda zwar ein katholisches Land, die Protestanten hatten den Nachteil nie mehr aufholen können, der ihnen aus der zeitweisen Verbannung wegen allzu großer Nähe zur deutschen Kolonialmacht nach 1917 entstanden war.18 Die Kirche war aber genauso zerrissen wie die ruandische Nation insgesamt. Der schon Mitte der vierziger Jahre langsam einsetzende Demokratisierungsprozess wirkte auf die Kirche zurück und schuf auch dort einen Hutu-Tutsi-Gegensatz. Insbesondere der aus der Schweiz stammende Bischof André Perraudin (Jg. 1913) empfand es als unerträglich, dass sich in der Kirche eine Gruppe, die von der Bevorzugung der Tutsi-Chef-Kinder im Bildungswesen besonders profitiert hatte, als höherwertig fühlte und häufig den Glaubensbrüdern und -schwestern mit Verachtung gegenübertrat.19 Diesem Übel wollte er entgegentreten. Nach seinem Verständnis konnte die Kirche in einem unabhängig werdenden Land nur dann überleben, wenn sie zur Volkskirche würde. Das völlige Unverständnis des Tutsi-Adels gegenüber solchen Gedanken führte zur völligen Entfremdung zwischen Königtum und katholischer Kirche. Der Tutsi-Klerus war allerdings verständiger. Die Kirche wurde Teil der republikanischen Bewegung, ohne dass dies die Absicht von Bischof Perraudin oder des ihn unterstützenden (protestantischen) Gouverneurs Jean-Paul Harroy war. Bischof Perraudin veröffentlichte am 11.2.1959 einen Fastenbrief, der wie ein Sprengsatz wirkte. Dort heißt es: „Das göttliche Gesetz von Gerechtigkeit und sozialer Barmherzigkeit (charité) erfordert, dass die Institutionen eines Landes so geschaffen sein müssen, dass sie für alle legitimen sozialen Gruppen die gleichen Grundrechte und die gleichen menschlichen Aufstiegschancen und Teilhabe an den öffentlichen Dingen sicherstellen. Institutionen, die ein Regime der Privilegien, des Favoritentums und der Protektion, sei es für Individuen oder für soziale Gruppen, gutheißen würden, wären nicht mit der christlichen Moral vereinbar.”20 Bischof Perraudin hat aus der Rückschau am 8.4.1995 diesen Fastenbrief erläutert und darauf hingewiesen, dass er ausschließlich aus seelsorgerischen Motiven und in Sorge um die Einheit der ruandischen katholischen Kirche gehandelt habe und keineswegs eine Pro-Hutu-Position vertreten wollte.21 Aber die Fastenbotschaft vom 11.2.1959 wurde als Unterstützung der Position des sog. Hutu-Manifests vom 24.3.1957 verstanden.22 Das Manifest, das die 11 Unterschrift von neun Hutu-Intellektuellen trägt, war eine Antwort auf ein als „Klarstellung”23 (Mise au point) bezeichnetes Dokument einer Gruppe von TutsiWürdenträgern vom 2.2.1957. Dort war die Behauptung aufgestellt worden, ein Hutu-Tutsi-Gegensatz bestehe überhaupt nicht. In Ruanda gäbe es nur ein Problem mit der weißen Kolonialverwaltung, die das Land nicht auf die Unabhängigkeit vorbereitet habe. Im „Hutu-Manifest” wird das dreifache Tutsi-Monopol auf politischer, sozio-ökonomischer und kultureller Ebene in Frage gestellt.24 Inspirator des Hutu-Manifests war Gregor Kayibanda, langjähriger Redakteur25 der katholischen Zeitschrift Kinyamateka. Er hatte diese Plattform – von Bischof Perraudin mehr geduldet als gefördert26 – für unzählige Artikel zur sozialen Frage in Ruanda nutzen können. Im September 1957 verließ er die Redaktion, weil er zur journalistischen Fortbildung nach Belgien entsandt worden war. Nach seiner Rückkehr 1958 wurde er faktisch zum „Berufspolitiker”. Während der Zeit seiner Abwesenheit war am 9.6.1958 der endgültige Bruch zwischen den HutuSprechern und der Dynastie erfolgt. Der König hatte nach einem im März 1958 zwischen fünf Hutu-Sprechern und fünf Tutsi-Adligen auf Veranlassung der UN geführten Meinungsaustausch27 dekretiert, die „Hutu-Frage” sei erledigt und jeder, der das Problem noch erwähne, werde strafrechtlich verfolgt. Der Fastenbrief von Bischof Perraudin vom 11.2.1959 erhielt auch vor diesem Hintergrund seine volle Bedeutung. In der gespannten Situation bedurfte es nur noch eines weiteren Funkens, um eine Explosion auszulösen. Dieser kam am 1.11.1959 in der Form einer Ohrfeige, die eine Gruppe von Tutsi-Jugendlichen nach dem Allerheiligen-Gottesdienst dem angesehenen Hutu-Sous-Chef Dominique Mbonyumutwa verabreicht hat. Von Allerheiligen 1959 bis zum September 1961 dauerte der teilweise blutig ausgetragene28 Machtkampf zwischen den Hutu-Parteien, der Königsmacht, der UN und der Treuhandmacht Belgien, der als die ruandische Sozialrevolution beschrieben wird. Dabei gelangte die von Grégoire Kayibanda geführte Partei MDR Parmehutu – deutlich vom Sonderresidenten und späteren Residenten Oberst Guy Logiest29 gefördert – nach dem sogenannten „Staatsstreich von Gitarama” am 28.1.1961 an die Macht. Bei dem Staatsstreich erklärte sich eine Versammlung aller gewählten Gemeinderäte zur Verfassunggebenden Versammlung und ließ am 25.9.1961 das Volk in einem Referendum über die künftige Ordnung abstimmen. Unter UN-Aufsicht wurde die Monarchie mit 80% der abgegebenen Stimmen abgeschafft.30 Die am gleichen Tag demokratisch gewählte Nationalversammlung bestimmte am 26.10.1961 Grégoire Kayibanda zum Staatschef. Am 1.7.1962 trat er sein Amt als erster Präsident der unabhängigen République Rwandaise an. 12 3.2 Die Erste Republik (1962-1973) Bei der formellen Unabhängigkeit zum 1.7.1962 als demokratische Republik war schon klar, dass die traditionellen Herrschaftsträger das Ergebnis der Volksabstimmung nicht akzeptieren wollten. Ein Teil von ihnen war nach den ersten Unruhen im November 1959 und der Absetzung aller Tutsi-Chefs durch Logiest schon ins Exil nach Burundi und Uganda gegangen. Ein noch größerer Teil folgte Ende 1963 nach dem gescheiterten Versuch, die Macht militärisch zurück zu erobern. Nach diesem „Blutweihnachten” entstand ein Klima des Tutsi-Hasses und etwa 10 000 bis 15 000 Tutsi-Opfer waren zu beklagen. Die Massen-Emigration war die unumgängliche Konsequenz. Lord Bertrand Russell, der Literatur-Nobelpreisträger von 1950, klagte die Kayibanda-Regierung des Völkermordes an. Das Problem der Emigranten begleitete die beiden Republiken und führte 1994 zum völligen Zusammenbruch des von den Hutu dominierten Staates. Es ist hier nicht der Ort zu entscheiden, wer besonders dafür verantwortlich war, dass die Erste Republik faktisch zu einem Einparteien-Staat, ja zu einem „Hutu-Staat”, geworden war. Es hat anfangs nicht an Angeboten zur Zusammenarbeit mit den in der Partei UNAR organisierten ehemaligen Machtträgern gefehlt. Ihre totale Verweigerungshaltung und ihr Traum von der – häufig versuchten – militärischen Rückeroberung der Macht ließen diese Versuche erlahmen. Die Tatsache, dass Staatspräsident Kayibanda mit einer der Tutsi-Bevölkerungsgruppe entstammenden Frau verheiratet war, lässt zumindest vermuten, dass er kein „eingefleischter Tutsi-Hasser” war und der Wille zur Zusammenarbeit bestand. Seine christlich-demokratische Grundhaltung erschloss ihm die Sympathie des Westens, während die Tutsi-Oligarchie in den Auseinandersetzungen um die staatliche Ordnung von 1957 bis 1962 die Unterstützung der Sowjetunion gefunden hatte und auch deshalb im Westen während des Kalten Kriegs als diskreditiert galt. Für den Westen war Kayibanda in seinen ersten Regierungsjahren auch wegen seiner persönlichen Bescheidenheit ein idealer „Entwicklungspräsident”. Im Lande stützte er sich vor allem auf Mitarbeiter aus dem Süden, was ihm das Misstrauen der sog. évolués31 aus dem Norden einbrachte. Denn im Norden blieb immer etwas von dem Stolz der Hutu-Fürsten erhalten, die lange ihre Autonomie gegen die im Süden angesiedelte Königsmacht verteidigt hatten. Sie fühlten sich von Kayibanda nicht ausreichend gewürdigt und rächten sich, als sie in der Zweiten Republik an die Hebel der Macht gelangten. 3.3 Die Zweite Republik (1973-1990) Der am 5.7.1973 erfolgte Militärputsch unter Führung des aus dem Norden stammenden Armeechefs Juvénal Habyarimana geht teilweise auf diesen Nord-Süd- 13 Gegensatz zurück, ist aber vor allem eine Rückwirkung des Völkermords, der 1972 in Burundi an den Hutu-évolués verübt worden war. Zwischen 100 000 und 300 000 Hutu, die eine Schulbildung genossen hatten, wurden – unter stillschweigender Duldung des Westens – im Sommer 1972 von der burundischen Armee ermordet und in Massengräbern verscharrt.32 In Ruanda erschallte der Ruf nach Rache. Erste Übergriffe gegen die Tutsi-Bevölkerung waren – insbesondere in den Sekundarschulen – schon erfolgt.33 Die Gefahr eines allgemeinen Hutu-Rachefeldzugs wurde von den neuen Militärmachthabern unterdrückt. Dafür erhielten sie im Westen viel Beifall. Sie versuchten, die Beteiligung der Bevölkerungsgruppen am öffentlichen Leben transparenter zu machen und wollten den Tutsi eine gewisse Garantie geben. Ihrem Bevölkerungsanteil entsprechend sollte ihnen eine Quote von ca. 15 % auf allen Ebenen eingeräumt werden. Da 1973 z.B. an den Sekundarschulen und an den Hochschulen ihr Anteil trotz HutuBevorzugung während der ersten Republik noch weit höher lag, fand diese Lösung nicht bei allen Tutsi Zustimmung. Dass die Quote beim Militär faktisch nicht galt und die Armee eine Hutu-Armee blieb, empfand man zu Recht als Diskriminierung. Als Ausdruck rassistischen Denkens wurde nach dem Tutsi-Völkermord 1994 die Beibehaltung der aus belgischer Zeit stammenden Eintragung der „ethnischen” Zugehörigkeit im Personalausweis angesehen. Obwohl zum Zeitpunkt des Tutsi-Völkermords diese Maßnahme schon abgeschafft, nur verwaltungsmäßig noch nicht umgesetzt war, sind im Sommer 1994 Tutsi teilweise aufgrund dieser Eintragung umgebracht worden. Man muss aber darauf hinweisen, dass der Völkermord an den Hutu in Burundi 1972 ohne eine solche Eintragung stattfand. Dort wie auch in Ruanda fanden die jeweiligen Völkermörder auch ohne Registrierung heraus, wer zu welcher Gruppe gehörte. Die Tatsache, dass mit dem Militärputsch von 1973 in Ruanda auch formal die demokratische Ordnung zerstört wurde, störte leider kaum jemanden. Man hatte im Westen offenbar den Glauben daran verloren, man könne auch in demokratischem Rahmen Probleme lösen und Entwicklung in Gang setzen. Man setzte auf „Entwicklungsdiktaturen”34. Im Nachbarland Burundi hatte eine aus der Provinz Bururi stammende Militärgruppe ohne erkennbaren Widerstand der internationalen Gemeinschaft schon 1966 die Macht ergriffen und auch in anderen Teilen Afrikas wurden – insbesondere wenn sie sich ausreichend antikommunistisch legitimierten – Militärregime zur Normalität. Der vom Geist des Kalten Krieges geprägte Westen weinte Grégoire Kayibanda auch deshalb nicht allzu sehr nach, weil er im Laufe der Zeit immer deutlicher zum Links-Katholizismus neigte, den manche – auch in der katholischen Kirche – schon als verkappten Kommunismus beargwöhnten. In dieser Hinsicht war der traditionelle Katholik Juvénal Habyarimana völlig unverdächtig. 14 Der konservativ geprägte Teil der katholischen Kirche fand in Habyarimana einen geradezu idealen Partner. Er suchte Ausgleich in der Volksgruppenfrage, förderte das Ansehen aller christlichen Kirchen, vermied im Bildungswesen jegliche Konfrontation und löckte auch in der Frage der Empfängnisverhütung nicht allzu sehr wider den Stachel. Nach 1994 wurde eine völlig unzulässige Linie zwischen seiner engen Kooperation mit der Kirche und dem Geist der Totschläger gezogen. Die langjährige (1977-1985) Mitgliedschaft des 1976 zum Erzbischof ernannten Vincent Nsengiyumva im Zentralkomitee der 1975 gegründeten Staatspartei MRND verschärfte keineswegs die „ethnische Frage”. Im Gegenteil: sie wirkte mäßigend. Die insbesondere nach den Ereignissen vom Frühjahr 1972 auf Ausgleich angelegte katholische Kirche mahnte Habyarimana, die in seinem Programm enthaltene nationale Einheit nicht ad acta zu legen. Die ruandischen Bischöfe hatten schon am 23.2.1973 die „Tutsi-Jagd” an den Sekundar- und Hochschulen in Ruanda als „rassistische Verfolgungen” gebrandmarkt und am 24.3.1973 aufgedeckt, dass schon 400 bis 500 Tote zu beklagen waren. Bischof Perraudin wurde daraufhin mit absolut gegensätzlichen Vorwürfen eingedeckt. Das von radikalen Tutsi dominierte burundische Radio nannte ihn einen „ProHutu-Agenten der belgischen Gewerkschaften”, wogegen die radikalen Hutu-Studenten in Belgien ihn als „Pro-Tutsi-Reaktionär” titulierten.35 Innerhalb der MRND gewannen die Anti-Tutsi-Kräfte erst an Boden, als Nsengiyumva – immerhin schon am 23.12.1985 – der „dringlichen” Empfehlung des Papstes Folge geleistet und sich aus dem Zentralkomitee der MRND zurückgezogen hatte.36 Die Mitgliedschaft im ZK der MRND vor 1985 kann also keineswegs als Billigung der Radikalisierung der Partei im Bürgerkrieg ab 1990 gedeutet werden. Wirklich bedeutsam – und deshalb auch lange von Rom toleriert – war diese Mitgliedschaft für die Frage der Empfängnisverhütung. Hier hielt die Kirche selbst in diesem überbevölkerten Land an ihrer pro-natalistischen Position fest und hinderte Habyarimana, eine aktive Familienplanungspolitik zu treiben. Die Bevölkerungsbehörde ONAPO (Office National pour la Population) hatte eher Alibifunktion. Die schon häufiger erwähnte katholische Zeitschrift Kinyamateka wurde trotz der seit Jugendtagen andauernden persönlichen Freundschaft zwischen Erzbischof Vincent Nsengiyumva37 und dem Präsidenten zum Kern der kirchlichen Opposition gegen das „System Habyarimana”. Dies besonders unter dem Einfluss von Thaddée Nsengiyumva, seit Januar 1988 Koadjutor und ab 7.10.1989 als Nachfolger von Bischof Perraudin Bischof der Diözese Kabgayi.38 15 3.3.1 Militärdiktatur Nach dem Putsch der Militärs am 5.7.1973 wurde die Macht bis 1975 allein von einem aus elf Offizieren bestehenden und von Habyarimana geleiteten Militärrat39 ausgeübt. Er stoppte Übergriffe auf die Tutsi-Bevölkerung und bis zu seinem Tod am 6.4.1994 blieb Habyarimana bei dieser Linie. Weniger zimperlich ging sein Regime in den Anfangsjahren mit den gestürzten Hutu aus dem Süden um. Sie „verstarben” in beachtlicher Zahl in den Gefängnissen des Nordens. James Gasana spricht in seiner vorzüglichen Analyse der Machtstrukturen der Ära Habyarimana (GASANA 2002) von einer Art Bündnis der im Lande verbliebenen und wirtschaftlich erfolgreichen Tutsi-Elite mit den Hutu-Machtträgern aus dem Norden zum Nachteil der entmachteten Herrschaftsgruppen aus dem Süden. Dieser Nord-Süd-Gegensatz überdauerte auch die „Verwandlung” Habyarimanas in einen zivilen – aber sich weiterhin auf das Militär stützenden – Präsidenten. 3.3.2 „Militärdemokratie” Die nach 1975 etablierte, schrittweise um demokratische Elemente ergänzte und bis zum Zeitpunkt der pluralen Öffnung des Habyarimana-Regimes 1991/1992 andauernde Herrschaftsordnung lässt sich am besten als „Militärdemokratie” beschreiben. Kern der Macht bildete die Armee, obgleich ihre Offiziere in der Regierung immer weniger vertreten waren. Oberst Kanyarengwe und Major Lizinde, zwei der Träger des Putsches von 1973, sahen sich zunehmend in ihren Machterwartungen enttäuscht und wagten im Frühjahr 1980 gar einen – allerdings kläglich gescheiterten – Umsturzversuch. Major Lizinde hatte 1979 in einem Buch (LIZINDE 1979) faktisch zur Weiterführung der Hutu-Revolution aufgerufen und den Tutsi-Feind zu instrumentalisieren versucht. Es gehört zu den Absonderlichkeiten der ruandischen Geschichte, dass die FPR, die Speerspitze der TutsiRückeroberungsbewegung, zur Kaschierung ihres wahren Charakters und zur Demonstration ihres Anspruchs, eine nationale Befreiungsbewegung zu sein, die beiden später für ihre Zwecke geschickt instrumentalisiert hat. Kanyarengwe konnte sich 1980 durch Flucht ins Exil einem Prozess entziehen, dem sich Lizinde stellen musste. Während die Welt ein hartes Urteil gegen Lizinde verstand, bereitete die Einbeziehung des potentiellen Machtkonkurrenten Donat Murego in den Prozess in weiten Kreisen „Bauchschmerzen”. Es war zu offenkundig, dass dieser aus dem Süden stammende frühere enge Mitarbeiter von Kayibanda mit dem Putschversuch nichts zu tun hatte, aber dennoch zu zehn Jahren Haft im Staatssicherheitsgefängnis in Ruhengeri verurteilt wurde. Murego trat nach seiner Entlassung 1991 in der neu gegründeten Partei MDR als besonders scharfer Kritiker des „Systems Habyarimana” auf, das sich auf 16 Politiker aus dem Norden stützte. Das ist menschlich verständlich, war aber eine schwere Hypothek für Kompromissfindungen in dem 1991 einsetzenden Demokratisierungsprozess. Die Demokratisierung kam nach dem Ende des Kalten Krieges auf die weltpolitische Tagesordnung und traf auf große Sympathie im Lande. Habyarimana wurde nicht mehr als „Vater der Nation” akzeptiert. Zumindest die städtischen Eliten wollten Machtteilung. Habyarimana sah sich zudem wachsendem internationalen Druck ausgesetzt, als der französische Staatspräsident Mitterrand beim franko-afrikanischen Gipfel in La Baule im Juni 1990 in völliger Übereinstimmung mit den USA die während des Kalten Krieges verbündeten Militärherrscher aufforderte, die politische Bühne in geordneter Formation zu verlassen, oder sich zumindest demokratischen Wahlen zu stellen. Habyarimana gab im September 1990 das Machtmonopol seiner Bewegungs-Partei MRND auf. Der demokratische Wind des Wandels hatte auch Kigali erreicht. Im Herbst 1990 wurden tief greifende Reformen in Gang gebracht. Und unter dem Einfluss des Papst-Besuchs wurde auch ein anderes, für das überbevölkerte Land schwieriges Problem, ernsthaft angepackt. Die Verhandlungen über Möglichkeiten zur Rückkehr von mittlerweile rund einer halben Million Exil-Tutsi wurden beschleunigt.40 Die Öffnung des Regimes fand in einem ökonomisch äußerst schwierigen Umfeld statt. Seit Mitte der 80er Jahre waren die Preise für das Hauptexportprodukt Kaffee verfallen, die Agrarproduktion stagnierte, auf dem Lande breitete sich eine nie gekannte Armut aus. Und dies, obwohl Ruanda von allen Seiten Entwikklungshilfe erhielt und lange Zeit als ein Entwicklungsmusterland galt. James Gasana hat die katastrophale Lage auf dem Land aus eigener Anschauung als Landwirtschaftsminister ab 1990 erlebt und liefert in verschiedenen Schriften41 eine erschütternde Beschreibung der Situation, die das Regime aber herunterzuspielen versuchte. Gasana wirft den Eliten des Landes, denen bewusst war, dass der „nationale Kuchen” immer kleiner wurde, generell vor, sich mit der ländlichen Armut nicht befasst zu haben. „Mit dem Anwachsen der politischen, finanziellen und moralischen Korruption hat die Zweite Republik die Institution des Elends der Armen gleichsam konsolidiert. Die Armut der ländlichen Massen wurde zu einer natürlichen Ressource für die Eliten. Sie ‚eigneten’ sich die Armut der Armen an, nicht um deren Schicksal zu erleichtern, sondern um von den Früchten der internationalen Hilfen zu profitieren”. (GASANA 2002:50) Der innere Kreis von Menschen, der sich um die aus einer alten Hutu-Adelsfamilie des Nordens stammende Präsidentengattin Agathe Kanziga-Habyarimana gebildet hatte, wurde „akazu” (das Häuschen) genannt. Diejenigen, die nicht zum kleinen Kreis der Privilegierten gehörten, sahen mit wachsendem Unmut, wie das Häuschen geradezu panisch in einer Stimmung von „fin de 17 règne”42 immer schamloser seine „Schäfchen ins Trockene” zu bringen versuchte. Die Ermordung des Habyarimana-Vertrauten Oberst S. Mayuya am 18.4.1988 durch den Tutsi-Major Biroli43 spielte hierbei eine große Rolle. Biroli wurde von der Polizei verhaftet, als er in seine Heimatpräfektur Gikongoro zurückfuhr. Wohl um die Aufklärung des Falles zu verhindern, wurde er kurze Zeit später in Kigali ermordet. Der Untersuchungsbericht über diesen Mord ist nie veröffentlicht worden. Der Fall löste jedoch weitere schwerwiegende Konsequenzen aus. Denn nun fürchtete Pasteur Bizimungu, der der Familie von Oberst Mayuya persönlich verbundene Chef der staatlichen Elektrizitäts- und Wasserbehörde ELECTROGAZ, ebenfalls um sein Leben, ging ins Exil und schloss sich später der Rebellenorganisation FPR an.44 Der Kampf um die knappen Ressourcen zwischen Nord und Süd wurde immer erbitterter geführt. Das soziale Gefüge des Landes war zum Zerreißen gespannt. Aber anders als man es nach dem Putschversuch von 1980 hätte erwarten können, spielte die Tutsi-Frage nur insofern eine Rolle, als einige besonders erfolgreiche Angehörige dieser Volksgruppe sich im Umkreis des akazu spektakulär wohl zu fühlen schienen. Das hing auch damit zusammen, dass man in Burundi auf gutem Wege schien, mit einer demokratischen Öffnung auch diesen Gegensatz zu überwinden. Und tatsächlich wurde im Juni 1993 der gemäßigte und keineswegs an der Instrumentalisierung der Tutsi-Frage interessierte Hutu Melchior Ndadaye zum Präsidenten gewählt. Schon drei Monate später wurde er von Angehörigen der Armee ermordet, die von Tutsi dominiert wurde. Damit wurden nicht nur in Burundi „the sleeping dogs of ethnic division” (MASIRE 2000: E.S.17 ) geweckt. Die Menschen erinnerten sich des juristisch niemals aufgearbeiteten Genozids an der Hutu-Elite aus dem Jahr 1972. Aber dies ist ein Vorgriff auf die Ereignisse. Denn bis zum 1.10.1990 schlief in Ruanda das „rassistische Raubtier”. An diesem Tag wurde es jedoch heftig geschüttelt. Von Uganda aus überfiel die FPR, eine Gruppe von Tutsi-Exilanten45, das Land ihrer Vorfahren. 18 4. Demokratisierung, FPR-Invasion und Bürgerkrieg (1990-Juli 1994) 4.1 Chronologie der Ereignisse Juni 1990: Der französische Staatspräsident Mitterrand verkündet beim frankoafrikanischen Gipfel in der Kurstadt La Baule (Bretagne), in Übereinstimmung mit der amerikanischen Afrikapolitik, nach dem Ende des Kalten Krieges dränge der Westen auf demokratische Reformen seiner Partnerländer. Frankreich sei bereit, den Übergangsprozess auch militärisch abzusichern. 5.7.1990: Der ruandische Staatspräsident Habyarimana kündigt als Folge des franko-afrikanischen Gipfels in La Baule demokratische Strukturreformen an. 24.9.1990: Der für den 25.9.1990 angekündigte Besuch einer Delegation ruandischer Exil-Tutsi wurde abgesagt, obwohl die Verhandlungen über die Möglichkeiten der Flüchtlingsrückkehr bisher erfolgreich verlaufen waren. 27.9.1990: Habyarimana kündigt die Einberufung einer nationalen Kommission zur Vorbereitung einer demokratischen Verfassung an. 1.10.1990: 3000-4000 FPR-Soldaten unter der Führung des FPR-Chefs Fred Rwigyema und seiner Stellvertreter Peter Bayingana und Chris Bunyenyezi greifen von Uganda aus Ruanda an. 2.10.1990: Rwigyema kommt ums Leben. Danach wird der Angriff von der ruandischen Armee mit Hilfe von französischen Beratern und zairischen Soldaten gestoppt. Hohe FPR-Verluste. 17.10.1990: Paul Kagame kommt von einer Militärausbildung in den USA zurück und wird Militärchef der FPR. 23.10.1990: Die beiden FPR-Führer Peter Bayingana und Chris Bunyenyezi kommen unter ungeklärten Umständen um. Ende Oktober 1990: Die FPR-Soldaten ziehen sich nach Uganda zurück. Paul Kagame baut Guerilla-Einheiten auf. Oktober/November 1990: In Kigali werden mehrere Tausend Tutsi interniert, weil sie der Komplizenschaft mit der FPR verdächtigt werden. 13.11.1990: Habyarimana kündigt die Öffnung des Regimes und den Aufbau eines Mehrparteiensystems an. (Der Hinweis auf die ethnische Zugehörigkeit in den Personalausweisen soll abgeschafft werden.) 20.11.1990:Waffenstillstandsgespräche zwischen Habyarimana und dem ugandischen Staatschef Museveni in Mwanza (Tansania). Dezember 1990: Die Zeitschrift KANGURA veröffentlicht rassistische, gegen die Tutsi gerichtete „10 Gebote”. 19 23.1.1991: Der FPR gelingt es, kurzfristig die Stadt Ruhengeri im Norden des Landes einzunehmen und einige politische Gefangene (darunter Théoneste Lizinde) zu befreien. Danach erste Massaker gegen die Tutsi-nahe Gruppe der Bagogwe. 29.3.1991: Waffenstillstandsabkommen zwischen Ruanda und der FPR in Kinshasa. 28.4.1991: Der Kongress der Staatspartei MRND gibt das Machtmonopol auf, ändert die Satzung, um unter dem Namen MRNDD (Mouvement Républicain National pour la Démocratie et le Développement) eine politische Partei werden zu können. 10.6.1991: Annahme der neuen Verfassung mit Einführung des Mehrparteiensystems durch das Parlament, den Conseil National de Développement (CND). 18.6.1991: Das Parteiengesetz tritt in Kraft. 5.7.1991: Die MRNDD wird gemäß dem neuen Parteiengesetz als politische Partei registriert. Habyarimana bleibt Vorsitzender. Juli 1991: Nach dem neuen Parteiengesetz auch Zulassung der Parteien MDR, PL, PSD, PDC und zehn weiterer kleiner Parteien. 7.9.1991: Bildung eines Bündnisses der Oppositionsparteien MDR, PL, PSD und PDC 16.9.1991: Ergänzung des Waffenstillstandsabkommens von Kinshasa in Gbadolite/Zaire. 13.10.1991: Berufung des angesehenen Sylvestre Nsanzimana zum neuen Ministerpräsidenten (allerdings ohne Parteienunterstützung). 23.3.1992: Gründung der radikalen Hutu-Partei CDR. 16.4.1992: Abkommen von MRNDD und dem Oppositionsbündnis über die Bildung einer Koalitionsregierung unter Ministerpräsident Dismas Nsengiyaremye. Ziel der Regierung ist ein Friedensabkommen mit der FPR. 22.4.1992: Um MRNDD-Vorsitzender bleiben zu können, legt Habyarimana den Oberbefehl über die Armee nieder und scheidet aus dem aktiven Militärdienst aus. Mai 1992: Wiederwahl von Habyarimana als Parteivorsitzender. Mathieu Ngirumpatse wird Generalsekretär. 24.5.1992: Erstes informelles Treffen zwischen Außenminister Boniface Ngulinzira (MDR) und der FPR in Kampala. 29.5.1992: Erstes Treffen der Parteien des bisherigen Oppositionsbündnisses mit der FPR in Brüssel. Ende Mai/Anfang Juni 1992: Unter Bruch der Waffenstillstands-Abkommen greift die FPR im Norden an und kann einige Gebiete dauerhaft besetzen. Damit Auslösung einer ersten Hutu-Flüchtlingswelle nach Süden, ca. 350 000 Menschen. Die Anti-Tutsi-Stimmung im Lande wächst. 12.7.1992: Unterzeichnung eines neuen Waffenstillstands-Abkommens zwischen der Regierung und Pasteur Bizimungu für die FPR. 20 18.8.1992-9.1.1993: Verschiedene Teilabkommen für eine künftige Machtteilung mit der FPR. 8.2.1993: Die FPR bricht die Abkommen und rückt militärisch bis kurz vor Kigali vor. Der Angriff wird u.a. mit französischer Unterstützung gestoppt. Aber neue Flüchtlingswelle. Seit diesem Zeitpunkt leben ca. eine Million Hutu in miserabelsten Lagern in der Nähe von Kigali. Als Folge des FPR-Angriffs brechen die Parteien des Oppositionsbündnisses in Pro- und Anti-FPR-Flügel auseinander. Das Land wird praktisch unregierbar. 9.3.1993: Dennoch erneute Waffenstillstands-Vereinbarungen zwischen der Regierung und der FPR. 22.6.1993: Der UNO-Sicherheitsrat billigt die Entsendung einer UN-Beobachtermission nach Kigali zur Förderung des Friedensprozesses. 5.7.1993: Habyarimana kandidiert beim Parteitag der MRNDD nicht mehr für den Vorsitz. Mathieu Ngirumpatse wird als Repräsentant des Reformflügels neuer MRNDD-Vorsitzender und Joseph Nzirorera – gleichsam als Vertreter des akazu Generalsekretär. 17.7.1993: Bruch der Koalitionsregierung. (Habyarimana ernennt auf Vorschlag des MDR-Vorsitzenden Faustin Twagiramungu ohne Parteienkonsultation Agathe Uwilingiyimana zur Ministerpräsidentin. Beide werden daraufhin aus der MDR ausgeschlossen.) 4.8.1993: Dennoch formeller Friedensschluss und Machtteilungs-Abkommen von Arusha zwischen Habyarimana und dem politischen FPR-Vorsitzenden Alexis Kanyarengwe. 5.10.1993: Der UNO-Sicherheitsrat beschließt die Umwandlung der Beobachtermission in eine Friedensüberwachsungsmission UNAMIR. (Chef wird der kanadische General Roméo Dallaire.) 21.10.1993: Der erst kurz zuvor gewählte burundische Präsident Melchior Ndadaye wird von Angehörigen der von Tutsi-Offizieren dominierten Armee ermordet. Bei Beginn des Bürgerkriegs in Burundi fliehen viele Hutu nach Ruanda. Das löst dort eine Krise bei der Umsetzung des Arusha-Abkommens vom 4.8.1993 aus. 28.12.1993: Die im Arusha-Abkommen vorgesehene FPR-Einheit trifft in Kigali ein. Januar-April 1994: Vergebliche Versuche zur Bildung der im Arusha-Abkommen unter Führung von Twagiramungu vorgesehenen Übergangsregierung. 6.4.1994: Habyarimana fliegt nach Dar-es-Salaam, wo er bei einer Regionalkonferenz der unverzüglichen Bildung der Übergangsregierung zustimmt. Bei seiner Rückkehr nach Kigali wird die ruandische Präsidentenmaschine um 20.30 Uhr abgeschossen. Noch in der Nacht beginnt eine Welle von Morden an Politikern, denen FPR-Sympathien nachgesagt werden. 21 7.4.1994: Beginn des Krieges zur endgültigen Machtübernahme der FPR und Ausweitung der Mordwelle gegen die zivile Tutsi-Bevölkerung, u.a. Tod der Ministerpräsidentin Agathe Uwilingiyimana und der zehn belgischen Blauhelmsoldaten, die sie hätten schützen sollen. 8./9.4.1994: Die FPR-kritischen Flügel der Parteien bilden eine Interimsregierung unter Staatspräsident Sindikubwabo und Ministerpräsident Kambanda. Die FPR lehnt Waffenstillstands-Verhandlungen ab. 9.-12.4.1994: Europäische Truppen evakuieren ihre Staatsbürger und weigern sich, gegen die „Totschläger” vorzugehen. (Selbst das Tutsi-Personal der Botschaften wird schutzlos dem Tod preisgegeben und die leer anfliegenden Flugzeuge werden gegen den Wunsch von UNO-General Dallaire nicht zur Versorgung der UNO-Soldaten genutzt.) 12.4.1994: Die belgischen Blauhelmsoldaten erhalten den Befehl, das Gelände der Berufsschule ETO zu räumen und überlassen ca. 2000 Menschen (vor allem Tutsi, aber auch bedrohte Hutu wie z.B. Außenminister Ngulinzira), die sich in ihrem Schutz befanden, ihren vor dem Gelände wartenden Mördern. Die Interimsregierung flieht aus Kigali und residiert vorübergehend in Gitarama/Süd-Westen. (Später weitere Flucht nach Gikongoro im Westen und schließlich Mitte Juli Flucht nach Bukavu/Ost-Zaire.) 21.4.1994: Der UN-Sicherheitsrat beschließt, die UN-Soldaten von 2500 auf ein symbolisches Kontingent von 270 Mann zu reduzieren und überantwortet damit die im ganzen Land bedrohten Tutsi ihren Mördern. Danach können sich die Mordwellen in einen Völkermord verwandeln. Die hauptsächlich dafür verantwortlichen Jugend-Milizen können im Gebiet der faktisch nicht mehr existenten Interims-Regierung46 frei agieren. Die UN darf sie nicht bekämpfen. Die USA verhindern, dass die ruandischen Massaker als Genozid bezeichnet werden. Mai-Juli 1994: Die USA verhindern die Umsetzung des Beschlusses des UN-Sicherheitsrates vom 17.5.1994, die UNAMIR auf 5500 Mann aufzustocken, während die FPR die Eroberung des Landes fortsetzen kann. (Das erste Kontingent der Blauhelme trifft erst nach dem Sieg der FPR ein.) Juni 1994: Im Einklang mit dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und mit Zustimmung der FPR richtet Frankreich eine Schutzzone im Südwesten des Landes ein (sog. Operation Türkis), nachdem sichergestellt war, dass damit die militärischen Operationen der FPR nicht gestört würden. 17.7.1994: Sieg der FPR in Ruanda und Errichtung einer – anfangs etwas verdekkten – FPR-Militärdiktatur. Ca. zwei Millionen Menschen verlassen Ruanda. Errichtung von Flüchtlingslagern in Tansania, Burundi und vor allem Ost-Zaire. 22 4.2 Demokratisierung im internationalen Kontext Im Rückblick muss man feststellen, dass die im Spätsommer 1990 in Ruanda eingeleitete Demokratisierung ab Herbst 1993 keine Realisierungschance mehr hatte. Der nach dem Fall der Berliner Mauer mit der Mitterrand-Rede im Juni 1990 in La Baule international spektakulär eingeleitete „Wind des Wandels” hatte sich insbesondere für Zentralafrika gedreht. Der heutige Staatspräsident von Mali, Amadou Toumani Touré, hat schon 1994 seine treffsichere Beobachtung zu Protokoll gegeben: „Bei der Konferenz in La Baule im Juni 1990 hat man uns gleichsam verkündet, von nun an werde von den afrikanischen Staaten eine Art ‚demokratisches Führungszeugnis’ gefordert. 1993 legte man eine andere Platte auf. Jetzt hieß es: ‚Demokratie ist gut und recht, aber nun kommt es auf Effizienz an’.”47 Fast zeitgleich mit der Amtsübernahme der Clinton-Administration kamen Militärregime als Verbündete wieder in Mode. So brach in Zaire der mit der von den USA finanzierten Nationalen Souveränen Konferenz in Gang gesetzte Reformprozess ab und Mobutu konnte unwidersprochen die internationale Bühne wieder betreten. In Burundi unternahm der Westen nichts, als der erst im Juni 1993 demokratisch gewählte gemäßigte Hutu-Präsident Ndadaye von der Armee am 21.10.1993 ermordet wurde. Der Chef der südsudanesischen Befreiungsbewegung John Garang wurde zu einem der „neuen Führer” Afrikas hochstilisiert und auch in Eritrea und Äthiopien wurde der nach dem Sturz des Militärherrschers Mengistu nötige demokratische Dialog abgebrochen. Die militärischen Sieger wurden akzeptiert. Das keineswegs demokratisch glänzende Regime von Yoweri Museveni wurde in höchsten Tönen gelobt. In Ruanda deutete sich an, dass der Westen nicht mehr an der im Arusha-Abkommen vom 4.8.1993 vorgesehenen demokratischen Machtteilung des Staates mit der FPR interessiert war, sondern dass der militärische Sieg der Angreifer favorisiert wurde. Im Nachhinein lässt sich auch erkennen, dass der FPR-Angriff vom 1.10.1990 – damals allerdings noch ohne breite internationale Zustimmung – schon darauf abzielte, die Demokratisierungswelle zu unterlaufen, da sich die Nachfahren des Feudal-Adels niemals Chancen auf einen Wahlsieg in Ruanda ausrechnen konnten. Für sie war Eile geboten und die schlechte Vorbereitung führte zu einem anfänglichen Scheitern des Unternehmens. 4.3 Demokratisierung und Bürgerkrieg in Ruanda 1990-1994 1990 bestand noch demokratische Hoffnung, als die FPR-Invasion mit Hilfe französischer und zairischer Truppen schnell gestoppt wurde, ihre Anführer im Lauf des Oktobers 1990 ums Leben kamen und sich die FPR-Kämpfer nach schweren Verlusten Ende Oktober 1990 nach Uganda zurückziehen mussten. 23 Die Analogie zu allen früheren gescheiterten bewaffneten Rückkehrversuchen des Tutsi-Adels schien sich zu bestätigen. Aber die Reaktion Kigalis auf den Angriff arbeitete der FPR in die Hände und beschädigte nachhaltig das Ansehen Habyarimanas. Er ließ ca. 8000 Tutsi in Kigali internieren, weil man sie kollektiv verdächtigte, 5. Kolonne der Aggressoren zu sein. Erst im Frühjahr 1991 wurden sie auf Veranlassung des damaligen Justizministers Sylvestre Nsanzimana nach entsprechendem internationalen Druck freigelassen. Da war das Kind aber schon in den Brunnen gefallen. Dennoch: trotz schwerer Wirtschaftskrise und der durch Realteilung – bei schnell wachsender Bevölkerung – immer dramatischer werdenden Bodenknappheit und beginnender sozialer Krisen wurde die innere Demokratisierung fortgeführt. Aber jeder Demokratisierungsschritt musste Habyarimana abgerungen werden und so konnte das Land politisch aus diesem Vorgang kaum Nutzen ziehen. Politischer Mord und auch schon ethnisch gefärbte Massaker standen auf der Tagesordnung. Bei allen schlimmen Dingen, die sich zwischen dem 1.10. 1990 und dem 6. April 1994 ereignet hatten, war es geradezu erstaunlich, dass der Ausbruch ethnisch verbrämter Gewalt immer wieder eingedämmt werden konnte. Folgende Feststellung Gasanas ist nachvollziehbar: „Die Pluralität der politischen Kräfte am Beginn der 90er Jahre hätte es jeder politischen Strömung unmöglich gemacht, im Geheimen Dispositionen für staatlich organisierte ethnische Vernichtung zu treffen. Anstrengungen verschiedener Protagonisten, Chaos zu verbreiten und allgemeine ethnische Konfrontationen zu provozieren, sind misslungen. Zum Beispiel konnte man im Oktober 1990 in Kibilira eine schnelle Abwehr-Reaktion von Habyarimana beobachten. Er befahl dem Innenminister J.M.V. Mugemana und dem Präfekten von Gisenyi, F. Nshunguyinka, die Ordnung wieder herzustellen. Im März 1992 erlebte man in der Bugesera eine Situation, die leicht zu einer allgemeinen landesweiten ethnischen Konfrontation hätte führen können. Aber der damalige Ministerpräsident S. Nsanzimana unternahm alles, um die Ruhe wieder herzustellen. Im Januar 1993 zielten die Demonstrationen der MRND darauf ab, das Land ins Chaos zu stürzen, aber es ist uns48 durch klare Befehle an die Gendarmerie zur Eindämmung der Demonstrationen gelungen, größere Schäden zu verhindern.”49 Als Folge des waffenstillstandswidrigen FPR-Angriffs vom 8.2.1993 brachen die demokratischen Parteien in FPR-freundliche und FPR-feindliche Flügel auseinander. Die Demokratiebewegung war faktisch zusammengebrochen und konnte keinen mäßigenden Einfluss mehr auf die immer stärker werdenden politischen Turbulenzen ausüben. Die schnelle Aufblähung der Armee nach dem FPRAngriff vom Oktober 1990 und die Disziplinlosigkeit der schlecht ausgebildeten neuen Soldaten hat dem Staat ebenfalls großen Schaden zugefügt. Die Armee ver- 24 lor ihre Schlagkraft, förderte aber eine Militarisierung des Landes. Für die weitere politische Entwicklung hat sich der Bruch innerhalb der MDR-Partei im Juli 1993 besonders nachteilig ausgewirkt. Die Pro- und Anti-FPR-Flügel neutralisierten sich und so verließ die bedeutendste demokratische Partei faktisch die politische Szene. Gleichzeitig verschlechterte sich auch das internationale Klima. Als es nämlich im Oktober 1993 darum ging, die im Arusha-Abkommen vom 4.8.1993 vorgesehene Blauhelm-Einheit UNAMIR (United Nations Assistance Mission for Rwanda) zur Überwachung der Umsetzung des Friedensprozesses einzusetzen, hatten die USA schon das Interesse an diesem Mandat verloren. Denn unglükklicherweise musste die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Madeleine Albright, über dieses neue UN-Engagement zu einem Zeitpunkt verhandeln, als sich die US-Regierung nach dem spektakulären Tod von 18 amerikanischen Blauhelmen in Somalia am 3. Oktober 1993 vornahm, sich militärisch völlig aus Afrika zurückzuziehen. Konsequenterweise versuchte die US-Regierung, das UNAMIRMandat so begrenzt wie möglich zu halten und verweigerte den Einsatz amerikanischer Blauhelmsoldaten. Und trotz bisheriger Unterstützung des Demokratisierungsprozesses in Burundi unternahmen die USA nach der Ermordung des erst kurz vorher gewählten burundischen Staatspräsidenten Ndadaye am 21.10.1993 keine Schritte, um die demokratische Ordnung wieder herzustellen. Im Juli 1996 unterstützte der Westen50 schließlich offen die erneute Machtergreifung des 1993 abgewählten Militärherrschers Pierre Buyoya. Insgesamt ist festzuhalten, dass die Menschenrechte während des Bürgerkrieges in Ruanda von beiden Kampfparteien massiv verletzt wurden, dass es aber der FPR bisher weitgehend gelungen ist, das Geschehen in den von ihr kontrollierten Gebieten einer öffentlichen Erörterung zu entziehen. Entgegen allen häufig vorgetragenen Beschuldigungen darf der Historiker heute als gesichert ansehen, dass Staatspräsident Habyarimana persönlich keine den ethnischen Hass fördernde Politik betrieben hat, aber eine Reihe von politischen Fehlern begangen hat, die solche Anschuldigungen ermöglichen. Er erschien immer als Getriebener, der sich erst in letzter Sekunde von den Erwartungen seiner Großfamilie distanzieren konnte. Seine Haltung und auch seine vielfach belegten Warnungen an seine Mitarbeiter, nicht in die gestellte Falle ethnischer Auseinandersetzung zu tappen, bezeugten dies. Erst sein Tod und der sofort danach unter Bruch aller Waffenstillstandsvereinbarungen unternommene Angriff der FPR ließ alle Dämme brechen. Die Apokalypse wurde Realität. 25 5. Das Schicksalsjahr 1994 und die erneute Militärherrschaft Am 6. April 1994 wurde die Maschine des ruandischen Präsidenten beim Anflug auf die Hauptstadt Kigali um 20.30 Uhr OZ abgeschossen. Die Maschine stürzte in den Garten der in der Nähe des Flughafens gelegenen Präsidentenvilla. Alle an Bord befindlichen Personen, auch die drei französischen Besatzungsmitglieder, fanden den Tod. Die Tatsache, dass sich neben Präsident Habyarimana der erst kürzlich von der Nationalversammlung in Bujumbura eingesetzte burundische Hutu-Staatspräsident Ntaryamira, der ruandische Generalstabschef Nsabimana und andere zum akazu gerechnete Militärs an Bord befanden, schließt nach menschlichem Ermessen aus, dass das Attentat von extremen Hutu-Kreisen veranlasst wurde. Habyarimana kam aus Dar-es-Salaam, wo er nach beträchtlichem internationalen Druck zustimmte, die im Arusha-Abkommen vorgesehene Übergangsregierung unverzüglich einzusetzen. Selbst wenn seine Gegner aus dem radikalen Hutu-Lager dies hätten verhindern wollen, so hätte es für keinen der Gegner des Arusha-Abkommens Sinn gemacht, den burundischen Präsidenten und den ebenfalls an Bord befindlichen Kern der ruandischen Armee zu eliminieren. Andererseits wussten die Attentäter, dass mit dem Attentat der Widerstand gegen eine Machtübernahme durch die FPR gebrochen würde. Denn nach dem Abzug des französischen Militärkontingents im Dezember 1993, das zweimal den militärischen Sieg der FPR verhindert hatte, standen einem FPR-Sieg nur noch Habyarimana und die im Flugzeug befindlichen – teilweise „Arusha-feindlichen” – Militärs im Weg. Der Staat wurde durch das Attentat führungslos. Wie alle Beobachter wussten auch die Attentäter, dass ein so geschaffenes politisches Vakuum die Gefahr von Massakern entlang der ethnischen Trennungslinie herauf beschwor.51 Schließlich lebten im Umkreis von Kigali ca. eine Million Menschen unter miserabelsten Umständen in behelfsmäßigen Lagern. Wer diesen zumeist jungen Leuten ohne Lebens- und Arbeitsperspektive die Möglichkeit gab, Rache zu nehmen, wusste, dass sie keine Unterscheidung zwischen der Tutsi-Armee und der zivilen Tutsi-Bevölkerung im Land machen würden. Sie brauchten keine Pläne. Sie schlugen zusammen mit der Präsidentengarde los, als der Staat führungslos geworden war und die FPR am nächsten Tag zum Eroberungsangriff aufbrach. Nach dem Attentat wurde zudem deutlich, dass auf Hutu-Seite niemand auf das Ereignis vorbereitet war. Im „Hutu-Lager” herrschte nach dem Attentat 26 Chaos, das nur Oberst Bagosora zu einem – sofort gescheiterten – Militärputsch hatte nutzen wollen. Die FPR dagegen war vorbereitet und griff sofort auf allen Fronten an. Die Tatsache, dass die ebenfalls führungslose Präsidentengarde direkt nach dem Attentat loszog und die Politiker umbrachte, von denen man wusste, dass sie für eine Machtteilung mit der FPR eintraten, widerspricht dem nicht. Es handelte sich um politischen Mord, der seit einiger Zeit in Ruanda gang und gäbe geworden war – auf beiden Seiten. Die Frage der konkreten Verantwortung für das Attentat vom 6. April 1994 kann nicht abschließend beantwortet werden, solange eine ernsthafte Untersuchung dieses Attentats von den USA, Großbritannien, Belgien, seltsamerweise auch von Frankreich (trotz des Todes seiner drei Besatzungsmitglieder) sowie den UN verhindert wird. Die großen Untersuchungsberichte des belgischen Senats, der französischen Nationalversammlung, der OAU (sog. Masire-Bericht) und der UN (sog. Carlsson-Bericht) klammern genau diese Frage aus. Man ist folglich noch immer auf Plausibilitätsüberlegungen – die allerdings durch eine Reihe von Aussagen von FPR-Abtrünnigen gestützt werden – angewiesen. Die Hauptfinanziers der Siegerregierung, die USA, Großbritannien und die Europäische Union, haben ganz auf Untersuchungen dieser Frage verzichtet. Sie dürfen nicht verwundert sein, wenn die Vermutung immer weiter Platz greift, sie könnten in das Attentat verwickelt sein. Das Attentat war der Auslöser für den Völkermord an der nach 1959 im Lande verbliebenen Tutsi-Bevölkerung. Wahrscheinlich mehr als eine halbe Million Tutsi sind in einer Zeitspanne von nur dreieinhalb Monaten umgebracht worden. Der kanadische General Roméo Dallaire, der Chef der UN-Blauhelme, verzweifelte, weil er der Tutsi-Bevölkerung, der seine Sympathie galt, nicht helfen durfte. Er wusste, dass man viele hätte retten können, hätte man seine Soldaten angemessen ausgestattet und ihm die entsprechenden Befehle erteilt. 5.1 Der Tod der Tutsi Das vielleicht Tragischste am Tutsi-Völkermord ist die heute unumstrittene Erkenntnis, dass er zu verhindern gewesen wäre. Der Titel des sog. MasireBerichts der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) ist seine Botschaft: „Der Völkermord, den man hätte stoppen können”. Die Literatur zur Untermauerung der Aussage ist erdrückend.52 Die Tatsache, dass der Tutsi-Völkermord zu verhindern gewesen wäre, enthebt allerdings diejenigen, die die Verbrechen begangen haben, nicht ihrer Schuld. Das Geschehen ist nicht entschuldbar. Auch nicht im Bürgerkrieg. 27 Eine Reihe von Umständen hat den Tutsi-Genozid möglich gemacht. a. Am 12. April 1994 – das Mordgeschehen hatte schon beträchtliche Ausmaße angenommen und die Außenwelt wusste davon – erhielten die belgischen Blauhelmsoldaten den Befehl, das Gelände der Berufsschule ETO zu verlassen und sich dabei nicht um die ca. 2000 Menschen – vornehmlich Tutsi, aber auch bedrohte Hutu-Politiker wie der Außenminister Ngulinzira – zu kümmern, die bei ihnen Schutz gesucht hatten. Sie wurden ihren Mördern überantwortet, die schon schreiend und drohend vor dem Lager auf diesen Moment gewartet hatten. b. Das Mordgeschehen an der Tutsi-Bevölkerung konnte sich zu einem Völkermord ausweiten, als am 21.4.1994 der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschloss, dem UN-General Dallaire die Möglichkeiten zum Eingreifen zu entziehen. Das UN-Kontingent wurde von 2500 auf die nur noch symbolische Größe von 270 Soldaten reduziert. c. Trotz der Etablierung einer Interimsregierung unter Staatspräsident Sindikubwabo und Ministerpräsident Kambanda am 8./9.4.1994 blieb das Land bis zum Sieg der FPR führungslos. Zwei Tage nach ihrer Einsetzung begab sich die Regierung auf die Flucht bis sie Mitte Juli 1994 über verschiedene Etappen im benachbarten Zaire als Exilregierung ankam. d. Die USA und Großbritannien haben die Umsetzung eines korrigierenden Beschlusses des UN-Sicherheitsrates vom 29. April 1994, doch 5500 UN-Soldaten nach Ruanda zu entsenden, verhindert. e. Im Interesse ihres militärischen Sieges hat die FPR keinerlei Anstrengungen zur Rettung der Tutsi unternommen. Die Aussagen von Deo Kagiraneza vor dem belgischen Senatsausschuss sind eindeutig. Er sagte, die Tutsi seien „einem politischen Kalkül geopfert worden.”53 Die FPR hat die internationale Gemeinschaft nicht um ein Eingreifen gebeten. Sie hat im Gegenteil dem belgischen Außenminister Claes, wie im belgischen Untersuchungsausschuss dokumentiert, gegenüber gedroht, die Belgier als Feinde zu bekämpfen, wenn sie nach der Evakuierung ihrer Landsleute Mitte April nicht das Land verließen.54 Alison Des Forges (DES FORGES 1999)55 hat sich der Qual der Beschreibung der unvorstellbaren Schlächtereien unterzogen. Ein Buch des Grauens ist entstanden. Es musste geschrieben werden. Niemand wird danach je den Tutsi-Völkermord leugnen können. Dafür gilt ihr und der herausgebenden Institution „Human Rights Watch” Anerkennung56, auch wenn Zweifel an der Hauptthese, der Völkermord sei von HutuSeite von langer Hand vorbereitet worden, erlaubt sein müssen. Die Mörder waren nicht eigentlich bewaffnet. Sie schlugen ihre Opfer mit Macheten und Knüppeln tot. Die derzeit nachvollziehbarste Zahl über die Tutsi-Opfer hat Kuperman (KUPER- 28 MAN 2001: 20) vorgelegt. Wenn man die Zahl der vor den Massenmorden im Land Lebenden Tutsi mit den nach dem Genozid vorgefundenen vergleicht, muss man von ca. 500.000 Toten ausgehen. (Er beziffert die Zahl der insgesamt in Ruanda zwischen April 1994 und dem Frühjahr 1995 zu beklagenden Opfer auf 1,1 Millionen und gibt damit einen ersten Hinweis auf die „missing” Hutu, d.h. auf die verschwundenen Hutu.) Einer bewaffneten Intervention hätten die zumeist unter dem Sammelnamen als Interahamwe („die zusammenstehen”) bezeichneten Hutu-Milizen nichts entgegenzusetzen gehabt. Unfassbar ist die Reduzierung der UN-BlauhelmTruppe auf eine symbolische Restgröße von 270 Mann. Barnett beschreibt, dass es in New York ein gewisses Misstrauen gab, General Dallaire würde sich möglicherweise nicht an die ihn einschränkenden Weisungen halten. (BARNETT 2002: 82) Nach dem 21. April 1994 war sicher, dass er nicht in das Kriegsgeschehen eingreifen konnte. Denn jeder Eingriff, auch wenn er nur zum Schutz der bedrohten Zivilbevölkerung erfolgt wäre, hätte den Vormarsch der FPR behindert. Deshalb hat man wohl das Mordgeschehen in Kauf genommen und erst dann zugelassen, es als Völkermord zu bezeichnen, als der FPR-Sieg sicher war. Dass die USA und Großbritannien auf dem Sicherheitsratsbeschluss vom 21.4.1994 in Kenntnis der Gefahren für die bedrohten Tutsi bestanden haben, ist erforscht. Linda Melvern konnte ihr Buch Rwanda: A people betrayed auf der Basis der ihr zugespielten geheimen Besprechungen des Sicherheitsrates schreiben. (MELVERN 2000) Zweifel sind trotz einschränkender Hinweise von Michael Barnett (BARNETT 2002) nicht mehr möglich. Auch die nicht wirklich schlüssigen Überlegungen von Alan Kuperman (KUPERMAN 2001), ob der Völkermord militärisch zu verhindern gewesen wäre, ändern daran nichts. 5.2 Warum wurden die Tutsi nicht gerettet? Eine auf Beweisen beruhende Antwort auf die Frage, warum die USA und Großbritannien die Rettung der Tutsi verhindert haben, steht noch aus. Dass Präsident Clinton die Dinge verschleierte, als er im März 1998 bei seinem Kurzbesuch in Ruanda sagte, er sei nicht richtig informiert gewesen, ist unstrittig. Aber was steckte wirklich dahinter? Es gibt nur Indizien, die James Gasana in seinem schon mehrfach erwähnten Buch „Du Parti-Etat à l’Etat-Garnison” darlegt.57 Er wie auch andere58 vermuten seit geraumer Zeit eine „hidden Agenda” (verborgene Tagesordnung), die zum Chaos in Zentralafrika beigetragen hat. Die noch zu erhärtende Vermutung geht dahin, dass die USA und Großbritannien insbesondere seit dem Amtsantritt von Präsident Clinton am 20.1.1993 ihre Afrikapolitik auf den Kampf gegen das islamistische Regime in Khartum konzentriert haben. Nach 29 dem Debakel in Somalia im Oktober 1993 sollte dies jedoch ohne den Einsatz amerikanischer Soldaten geschehen. Aus diesem Grunde wurde während des beginnenden Völkermordes in Ruanda eine entsprechende Präsidenten-Direktive eilig finalisiert und am 5. Mai 1994 als Presidential Decision Directive-25 von Clinton unterschrieben. Es galt also, militärische Verbündete zu finden und zu unterstützen, die zum Kampf gegen Khartum bereit waren. Der ugandische Staatschef Yoweri Museveni, der direkt von den Kämpfen im Südsudan betroffen war, machte sich zum Wortführer einer pro-amerikanischen Allianz. Bei einer vom Prayer Breakfast 1992 in Kampala organisierten Konferenz gelang es Museveni – nach Ansicht des Konferenzteilnehmers Gasana59 –, „diese protestantische westliche Lobby davon zu überzeugen, dass er der richtige Mann sei, den man in diesem geostrategischen Kontext brauche.” (GASANA 2002: 77) Er erbat sich im Gegenzug Schutz vor der „Demokratisierungswelle”, die von Außenminister Baker60 im Einklang mit Präsident Mitterrand – wie schon geschildert – 1990 in Gang gesetzt worden war. Zur Arrondierung des um den Sudan liegenden Gürtels von Militärregierungen (Eritrea, Äthiopien, Uganda, SPLA im Südsudan und Zaire) empfahl Museveni, der FPR zum Sieg zu verhelfen. Der unmittelbar bevorstehende Tod des wieder akzeptierten Verbündeten Mobutu ließ es ratsam erscheinen, auch Zaire nach dem Tod von Mobutu unter die Kontrolle eines verbündeten Militärregimes zu bringen.61 Dabei waren die in Ost-Zaire lebenden Flüchtlinge im wahrsten Sinne des Wortes „im Wege”. Dass sich der zur Herstellung einer Militärdiktatur von Ruanda62 „ausgewählte” Alt-Kommunist Laurent Kabila aus der Sicht der USA als „Flop” erwies, gehört zu den großen Fehleinschätzungen der Afrikapolitik der Ära Clinton. Herman Cohen, einer der wichtigen Akteure der amerikanischen Afrikapolitik während der Amtszeit von Bush sen., hat Vermutungen bestärkt, hinter den Vorgängen in Zentralafrika zwischen 1993 und 2000 könnte eine unsichtbare Hand am Werke gewesen sein. Er sagte in einem am 16.10.2002 in französischer Sprache geführten Interview63, in Zentralafrika finde seit 1996 ein „Stellvertreterkrieg” statt und hat damit einen gewagten, aber längst überfälligen Tabubruch begangen. Bisher hatte insbesondere die anglophone Welt als Erklärungsmuster für alle Probleme in Zentralafrika die Entschlossenheit der ruandischen Hutu zur Umsetzung ihrer Völkermord-Pläne herangezogen. Cohen empfahl, wieder auf die von den republikanischen Vorgängern von Clinton/Albright verfolgte Politik zur Stabilisierung Afrikas mit Hilfe der „weichen Demokratisierungslinie” zurück zu kommen. 30 5.3 Die Hutu-Toten Die Massenschlächtereien, die parallel zum Tutsi-Genozid 1994 in den von der FPR kontrollierten Gebieten (insbesondere in der Präfektur Byumba) stattfanden, entziehen sich bisher einer wissenschaftlichen Erforschung. Die Siegerregierung hatte kein Interesse, ihr Wissen preiszugeben. Und Kuperman bestätigt, dass alle „amerikanischen Geheimdienstberichte aus der Zeit des Genozid geheim gehalten werden.” (KUPERMAN 2001: 23) Seine detaillierten Schilderungen über die bei der Defense Intelligence Agency (DIA) vorhandenen Satelliten-Fotos aus der Zeit unmittelbar nach dem Abschuss der Präsidentenmaschine (S.32f.) deuten darauf hin, dass auch Erkenntnisse über die von der FPR besetzten Gebiete vorhanden sein müssen. Auch ohne diese Beweise kann man die Hutu-Toten jedoch nicht leugnen64 und künftige Historiker werden sich auch dieses dunklen Kapitels der ruandischen Geschichte annehmen müssen. 5.4 Die Gründe für die Massentötungen Bei beiden Massentötungen war es das Ziel, die jeweils andere ethnische Gruppe in möglichst großem Umfang zu vernichten.65 Beide sind das Produkt von Umständen, die abwendbar gewesen wären. Beim Tutsi-Genozid hätte man der amorphen Masse der Täter leicht militärisch Herr werden können. Aber es gehört auch zur Wahrheit, dass die FPR weder die internationale Gemeinschaft zu Hilfe gerufen hat, noch zu einer von der Interimsregierung angebotenen Waffenruhe und Maßnahmen zur Eindämmung der Schlächtereien bereit war. Ohne Rücksicht auf die Folgen für ihn selbst hat das frühere FPR-Vorstandsmitglied Deus Kagiraneza am 1. März 2002 anlässlich einer Anhörung des belgischen Senats eingestanden, die Tutsi seien im Interesse des militärischen Sieges der FPR „geopfert” worden. Das Morden im FPR-Gebiet wäre durch massiven Druck der Staaten des Sicherheitsrates und die Androhung des Einsatzes substantieller militärischer Mittel gegen die FPR ebenfalls zu verhindern gewesen. Denn die Waffen der FPR kamen von außen. Von wem und in welchem Ausmaß gilt immer noch als Staatsgeheimnis. Es bleibt festzuhalten: So bedeutsam die Rivalitäten zwischen den Bevölkerungsgruppen auch gewesen sein mochten, sie hätten keineswegs zwangsläufig zu den Völkermorden führen müssen. Ohne exogene Faktoren wäre der Zusammenbruch aller „garde-fous” (Schutzgeländer) der ruandischen Gesellschaft nicht möglich gewesen. Gasana hat – wie schon erwähnt – ausführlich beschrieben, dass es in den Jahren 1991 bis 1994 immer wieder gelungen ist, gefährli- 31 che Situationen insbesondere mit Hilfe der loyalen Gendarmerie im Zaum zu halten. „Die menschliche Bestie” auf beiden Seiten der Kampflinie wurde erst durch mehrere Faktoren freigesetzt: (a) Die offenkundige Option der anglophonen Welt und Belgiens zugunsten eines militärischen Sieges der FPR ab Herbst 1993, (b) das deutliche Abrücken Frankreichs von der „La Baule-Politik” zum Schutz von Staaten im demokratischen Transformationsprozess, (c) die Entschlossenheit der USA, nach Somalia nicht einmal zur Verhinderung von Völkermord nochmals amerikanische Soldaten nach Afrika zu entsenden. Auch die Kirchen wurden in den Strudel hineingerissen. 5.5. Die Rolle der katholischen Kirche Der Versuch • einiger belgischer Liberaler, • einiger noch immer in der laizistischen Konfrontation zur Kirche befangener Gruppen in Frankreich, • einiger pazifistischer Gruppen und evangelikaler protestantischer Gruppen in den USA und Großbritannien, • aber auch einiger linkskatholischer Gruppen66, der katholischen Kirche eine aktive Täterrolle zuzuweisen, hat einige Jahre den Blick auf die Wahrheit verstellt. Der Blutzoll an Priestern und Kirchenpersonal – wiederum auf beiden Seiten der Kampflinie – spricht eher für eine Opferrolle67. Der Kirche eine globale – über einige Einzelfälle hinausgehende – Täterrolle nachzuweisen, kann nicht gelingen. Abbé Vénuste Linguyeneza hat Folgendes bezeugt: „Alle Priester der Diözese Byumba68 sind umgebracht worden, alle, die im April 1994 dort gelebt hatten, ohne auch nur einen einzigen zu verschonen.”69 James Gasana bestätigt: „Auf gesamtstaatlicher Ebene hat allein die katholische Kirche 300 Priester und Ordensleute in den Massakern verloren.”(GASANA 2002:304) Gasana weist zudem darauf hin, dass man bis heute über die Zahl der Opfer anderer Konfessionen im Dunkeln tappt. Zu den Opfern ist in doppeltem Sinne auch Abbé André Sibomana zu rechnen. Er wurde für seine freimütigen Artikel in Kinyamateka über die Missstände der späten Habyarimana-Zeit 1990 sogar angeklagt und erst freigesprochen, nachdem sich der Papst während seines Besuches im September 1990 des Falles angenommen hatte.70 Während des Bürgerkrieges griff er den Staat bei allen ethnischen Übergriffen an. Und ausgerechnet ihm hat später die FPR – er war zu diesem Zeitpunkt Diözesanverwalter von Kabgayi – eine dringend nötige ärztliche Behandlung im Ausland verweigert. Er musste qualvoll sterben. Generell war Kinyamateka seit 1980 die kritische Stimme des Landes. Auf Druck des 32 damaligen Erziehungsministers Nsekalije hatte Chefredakteur Abbé Silvio Sindambiwe seine Funktion Mitte der 80er Jahre aufgeben müssen und kam am 7.11.1989 unter mysteriösen Umständen ums Leben. Ein unparteiischer Blick auf die Geschichte zeigt, dass – trotz der bei Ian Linden (LINDEN 1999) geschilderten Hutu-Tutsi-Konflikte innerhalb des Klerus die katholische Kirche seit 1962 in Ruanda eine Integrationsrolle wahrgenommen hat und dafür vom Exil kritisiert wurde. Viele Tutsi-Priester wie der Wissenschaftler Alexis Kagame sind bewusst im Lande geblieben und standen loyal zum neuen von Hutu geführten Staat. Dies gilt auch für die lange Zeit mehrheitlich der TutsiVolksgruppe entstammenden Bischöfe. Ganz besonders zu erwähnen ist dabei Jean-Baptiste Gahamanyi, der langjährige Bischof von Butare.71 Auch wird heute zumeist vergessen, dass der 1952 ordinierte erste afrikanische Bischof des Landes, Aloys Bigirumwami, Tutsi war und das soziale Engagement des von ihm ordinierten Bischofs Perraudin ausdrücklich geteilt hat. Wäre es gelungen, das Integrationskonzept dieser beiden Kirchenführer dem Tutsi-Adel verständlich zu machen, die Geschichte wäre anders verlaufen. Die Gruppe, die in der Partei RADER die Integration politisch versuchen wollte, blieb leider eine kleine Minderheit. Der Rest des Adels träumte von der militärischen Rückeroberung der per Volksentscheid verlorenen Macht. Die ruandische Nation ist seit dem Sommer 1994 in ihren beiden Komponenten traumatisiert. Der Erkenntnisprozess, dass nicht nur die Hutu schuldig geworden sind, sondern auch auf der siegreichen Seite der Barrikade 1994 und vor allem auch 1996/97 bei der – noch zu schildernden – Vertreibung der Hutu-Flüchtlinge und bei den beiden Kongo-Kriegen Schuld aufgehäuft wurde, steht erst am Beginn. Noch sieht es nicht so aus, als könne nationale Versöhnung von dem doppelten Schuldeingeständnis ausgehen. Ein solches könnte vermutlich eine tragfähige Basis für einen Neuanfang bilden. 33 6. Ruanda 1994-2002 6.1 Erneute Militärherrschaft – Der FPR-Staat ab Juli 1994 Der Sieg der FPR und die Unterstützung der militärischen Vertreibung des todkranken Mobutu zur Verhinderung der Etablierung einer nicht zum Kampf gegen das fundamentalistische Regime in Khartum bereiten demokratischen Regierung im Kongo war ein klarer Bruch der von Mitterrand und James Baker verfolgten „La Baule-Politik” der Stabilisierung durch Demokratisierung. Der Krieg sollte verhindern, dass nach dem Tod von Mobutu bei regulären Wahlen der Vorsitzende der demokratischen Partei UDPS, Tshisekedi, zum Staatspräsidenten gewählt würde. Er galt manchen als unsicherer Kantonist im Kampf gegen den Sudan. Gasana schreibt, bis 1992 habe man eine französisch-amerikanische Verständigung beobachten können, der FPR eine starke Verhandlungsposition bei den Machtteilungsgesprächen zu ermöglichen, aber ihr nicht die alleinige Macht per militärischer Eroberung zu überlassen. (GASANA 2002: 186) Aber schon während der Endphase der Verhandlungen über das Machtteilungsabkommen in Arusha im Sommer 1993 sei deutlich geworden, dass sich die US-Interessenlage verschoben hatte. Frankreich habe deutlich zu erkennen gegeben, dass es sich aus dem „bourbier rwandais” (ruandischen Morast)72 um jeden Preis zurückziehen wolle. So hätten sich die neue US-Administration und Großbritannien nach dem Abschluss des Arusha-Abkommens stillschweigend auf das Ziel einigen können, das ungeliebte Habyarimana-Regime fallen zu lassen, da es durch die Parteien mit „Hutu-Power”73-Tendenz unterstützt wurde, und nur noch die Pro-FPR-Flügel dieser Parteien zu fördern. Die Ermordung der beiden Hutu-Präsidenten Habyarimana und Ntaryamira spricht dafür, das Attentat vom 6. April 1994 in dieser Perspektive zu sehen.74 Das bestätigen auch die Aussagen einer Reihe von FPR-Dissidenten. Das Attentat war die Voraussetzung für den militärischen Sieg der FPR. Schon am 18.7.1994 wurde das von Paul Kagame etablierte Regime von allen westlichen Mächten – mit Ausnahme Frankreichs – anerkannt. Präsident Mitterrand fühlte sich durch den im Sinne des Arusha-Abkommens rechtswidrigen FPRDurchmarsch und den faktischen Bruch seiner Vereinbarungen mit der Regierung Bush sen. düpiert und war wohl auch tief betroffen, dass die internationale öffentliche Meinung ihn zu einem Hauptschuldigen am Völkermord erklärte, obwohl er doch bereit war, zur Verhinderung des Völkermords einzugreifen.75 Die deutsche Bundesregierung, die bis zu dessen Ermordung zu den treuesten Freunden Habyarimanas gehört hatte, reihte sich nach dem FPR-Sieg sofort 34 in den Kreis der besonders engagierten Förderer Paul Kagames ein.76 Weite Kreise der deutschen Öffentlichkeit und der politischen Parteien wiesen Frankreich eine Hauptschuld am Tutsi-Völkermord zu und erklärten, dass man aufgrund der Entschlossenheit der Hutu-Mörder nicht zum Schutz der bedrohten Tutsi hätte eingreifen können. Die nur ganz kurz in den Reihen der Grünen und der SPD diskutierte Frage, ob man bei einem Völkermord einfach wegsehen dürfe, wurde schnell beendet, da in beiden Parteien damals die Frage von Militäreinsätzen auch bei humanitären Aktionen tabu war. Die „ganz große Koalition” zur Unterstützung des FPR-Regimes hat sich in der 82-köpfigen Delegation manifestiert, die im Juli 1995 Außenminister Kinkel bei seiner Reise nach Ruanda begleitete. Ob es nach dem Völkermord Alternativen zur Unterstützung einer Militärdiktatur in Ruanda gegeben hätte und ob die Vertreibung der Flüchtlinge aus den Lagern in Ost-Zaire Ende 1996 zu rechtfertigen war, wurde in Deutschland so gut wie nicht diskutiert. Die katholische Kirche in Deutschland war durch die breit vertretenen Vorwürfe, die ruandische katholische Kirche sei für den Völkermord mitverantwortlich, sichtbar verunsichert. Ein einsamer Mahner, auch in Afrika und unter schweren Umständen demokratischen Prinzipien treu zu bleiben, war der CDU-Bundestagsabgeordnete Alois Graf von Waldburg-Zeil. Das von ihm mitherausgegebene Internationale Afrikaforum begleitete den Weg der neuen Herrscher seit 1994 kritisch. 1998 schrieb Waldburg-Zeil beispielsweise: „Erstaunlich ist ein Prozess, der sich nicht in Afrika, sondern in der westlichen Welt abspielt. (...) Als in Burundi im Herbst 1993 der Demokratisierungsfrühling mit der Ermordung des just gewählten Präsidenten Ndadaye unterbrochen wurde, als in Ruanda 1994 alle Verhandlungen im Chaos eines grässlichen Völkermordes endeten, machte sich auch im Westen eine Welle der Enttäuschung breit: Afrika tauge eben nicht für die Demokratie. Sicherheit sei wichtiger als Partizipation. (...) Das Merkwürdige ist aber, dass der Vorwurf an die Kolonialmächte weniger (das von ihnen angewendete Prinzip des divide et impera) betrifft als die durch die Missionare verbreitete Vorstellung – hier richtet sich der Zorn vor allem auf die Weißen Väter –, die von der Gleichheit der Menschen vor Gott sprachen. Ich selbst habe ungezählte Male von Repräsentanten aus dem Gebiet der Grossen Seen gehört, dass die säkularisierte Form dieses Gedankens die Forderung nach Demokratie sei.”77 Kagame und seinen Verbündeten war anfangs sehr an der Behauptung gelegen, das neue Regime sei keine reine FPR-Regierung und noch weniger sei das Land ein „Tutsi-Staat”. Nach der beeindruckenden Zahl von politischen Emigranten aus beiden Bevölkerungsgruppen78 tut sich selbst der Menschenrechtsbericht 2001 des State Department keinen Zwang mehr an und nennt das Kind beim Namen: „ Die zum größten Teil aus Tutsi bestehende Ruandisch Patriotische Front (FPR), die die Macht nach dem Bürgerkrieg und Genozid von 1994 übernahm, ist die 35 wichtigste politische Kraft und kontrolliert die Regierung der Nationalen Einheit”79 Das neue Regime ist ein FPR-Staat und der anfangs nur in der zweiten Reihe agierende Armeechef Paul Kagame ist inzwischen auch formell Vorsitzender der FPR und Staatschef. Politische Parteien (außer der früheren Staatspartei MRND) wurden zugelassen, haben sich aber verpflichten müssen, keine politischen Aktivitäten in der Öffentlichkeit zu entfalten. Staat und Armee kontrollieren die Bevölkerung lükkenlos. Es herrscht Ruhe im Lande und insofern ist das Regime seit 1994 stabil. 6.2 Die Flüchtlingsfrage und die Kongo-Kriege 1996-2002 Zu Beginn ihrer Amtszeit ab 17. Juli 1994 erklärte die neue Regierung unter Ministerpräsident Twagiramungu (MDR) und Innenminister Seth Sendashonga (FPR), sie sei an der Rückkehr der Flüchtlinge interessiert. Nur die Hauptverantwortlichen für den Tutsi-Genozid sollten dem 1994 beschlossenen Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda (TPIR/ICTR)80 im tansanischen Arusha überstellt werden. Die Praxis sprach von Beginn an eine andere Sprache. Ein Teil der Regierung sabotierte die Rückkehr der Flüchtlinge zuerst heimlich, dann offen. Der Wendepunkt war die gewaltsame Auflösung eines Flüchtlingslagers in Kibeho im April 1995 im Landesinneren. Das Lager war entstanden als tausende von Ruandern –Hutu und Tutsi – Zuflucht in der von Frankreich im Rahmen der „Operation Türkis” geschaffenen Schutzzone gesucht hatten. Nach dem Sieg der FPR verließen die Tutsi das Lager. Die verbliebenen Hutu wurden verdächtigt, am Völkermord mitgewirkt zu haben.81 Während Twagiramungu und insbesondere Sendashonga für eine geordnete Auflösung des Lagers eintraten, befahl der damalige Vizepräsident und Verteidigungsminister Kagame ohne Konsultation des Innenministers am 21./22. April 1995 die gewaltsame Auflösung des Lagers und damit faktisch die Tötung der Flüchtlinge82. Dies war ein Fanal. Ein größerer Abschreckungseffekt auf die Flüchtlinge war nicht denkbar. Die Flüchtlingsfrage spitzte sich zu. Für Seth Sendashonga leitete das „Kibeho-Erlebnis” den Bruch83 mit Kagame ein. (Seine Ermordung am 16. Mai 1998 in Nairobi dürfte die Folge sein.84) Ihm war klar geworden, dass die FPR nicht an der Rückkehr der Flüchtlinge interessiert war. Ministerpräsident Twagiramungu, der den Handlungsspielraum der MDR-Partei hatte erweitern wollen, und Innenminister Sendashonga, der in unzähligen Eingaben an Verteidigungsminister Kagame auf die Übergriffe der Armee aufmerksam gemacht hatte, verließen am 28.8.1995 – nicht ganz freiwillig – zusammen mit drei weiteren Ministern die Regierung und kurze Zeit später das Land. Der letzte Versuch, die Flüchtlingsfrage halbwegs friedlich zu lösen, hatte zuvor in Deutschland stattgefunden. Entgegen seiner Zusage ist Paul Kagame nicht 36 zum Treffen mit Museveni und Mobutu am 29./30.5.1995 in Bad Kreuznach erschienen. Mobutu hat dort zugesagt die Flüchtlinge gewaltsam nach Ruanda zu treiben, was offensichtlich nicht im Interesse von Kagame war. Mobutu musste die entsprechende Aktion aber am 23.8.1995 auf Druck der UNO abblasen, als offenkundig wurde, dass die Flüchtlinge dazu nicht bereit waren und es schon viele Tote gegeben hatte. Dabei wurde auch offenkundig, dass die zuvor gestreute Propaganda, die Flüchtlinge würden nicht zurückkehren, weil sie Geiseln der Hutu-Milizen in den Lagern seien, nicht stimmte. Hätten sie zurückkehren wollen, sie hätten die Mobutu-Aktion leicht zur „Flucht nach Hause” nutzen können. Einen ersten Hinweis, die FPR wolle die Flüchtlingslager in Ost-Zaire gewaltsam nach ihren Spielregeln auflösen und die Flüchtlinge nach Westen in den Wald treiben, gab zwei Tage nach der Regierungsumbildung vom 25.8.1995 ein Interview des ruandischen Botschafters in Washington. Er schloss die Möglichkeit eines militärischen Angriffs auf die Flüchtlingslager nicht aus.85 Ein Jahr später war die Zeit dafür reif. Im Sommer 1996 wurde bekannt, Mobutus Lebenszeit sei infolge des rapiden Fortschreitens seiner Krebserkrankung begrenzt. Museveni und Kagame konnten danach Washington davon überzeugen, dass die demokratische Lösung mit einem Staatspräsidenten Tshisekedi zur militärischen Überwindung des Regimes in Khartum schädlich sei. Die schon erwähnte „Lösung Kabila” wurde aus dem Hut gezaubert. Für die Erreichung seines Lebensziels, Mobutu zu stürzen und zu beerben, war Kabila zu allem bereit. Er hat sich verpflichtet, die Vernichtung der Flüchtlingslager als Teil des Befreiungskampfes zu decken und sich später am Kampf gegen Sudan zu beteiligen. Dem mit den USA am 16.11.1996 ausgehandelten86 Angriff der neu gebildeten Allianz AFDL auf die Lager war eine breit angelegte Öffentlichkeitskampagne vorausgegangen. Ihr Tenor: Man könne nun nicht länger die in den Lagern lebenden „Völkermörder” mästen. Der Krieg zum Sturz Mobutus und zur Etablierung der von Ruanda und Uganda getragenen und von den USA logistisch unterstützten Allianz verlief unerwartet schnell. Am 17.Mai 1997 dankte Mobutu ab und ging ins Exil, nachdem ihm Bill Richardson, der US-Botschafter bei den UN, Anfang Mai seine „Entlassungsurkunde” in Form eines ultimativen Briefes von Präsident Clinton in seiner Urwaldfestung Gbadolité überreicht hatte.87Ein Großteil der Flüchtlinge ist in den Wäldern des Kongo ums Leben gekommen. In Übereinstimmung mit dem Inhalt eines UN-Berichts88 kann man den Vorgang als Völkermord bezeichnen, weil ausschließlich eine ethnische Gruppe Opfer wurde. Vornehmlich Frauen, Alte, und Kinder fanden den Tod, da sich die Reste der bewaffneten Gruppen und die Milizenführer leichter hatten in Sicherheit bringen können. Ganz besonders eindrucksvoll hat Marie-Béatrice Umutesi das Schicksal dieser Flüchtlinge geschildert. (UMUTESI 2000) 37 Als sich Laurent Kabila der Verpflichtung zum Kampfbeistand gegen den Sudan im Sommer 1998 zu entziehen suchte, versuchten seine ruandischen Verbündeten vergeblich, ihn zu stürzen. Kabila verwies die Ruander des Landes. Als sie mit einem militärischen Angriff reagierten, rief Kabila die befreundeten Staaten Angola, Simbabwe und Namibia zu Hilfe. Der zweite Kongokrieg – diesmal gegen Kabila – begann am 2.August 1998. Ruanda und Uganda konnten dabei große Teile des Kongo militärisch in Besitz nehmen. Hier hat der Krieg den Krieg durch Ausbeutung der Bodenschätze dieser Gebiete ernährt89. Erst mit dem Amtsantritt von Außenminister Colin Powell am 20.1.2001 änderte sich die Lage. Die USA nahmen eine Neubewertung der Situation vor. Paul Kagame musste schließlich „unter Druck”90 im Oktober 2002 seine Truppen gegen Sicherheitsgarantien aus dem Kongo zurückzuziehen. Eine wichtige Voraussetzung für Frieden in Zentralafrika ist damit erfüllt. Menschenrechtsverletzungen größten Ausmaßes hatten sich auch im zweiten Kongo-Krieg ereignet.91 7. Die Lage der Menschenrechte in Ruanda Ende 2002 7.1 Politik Ende 2002 war Ruanda noch immer eine kaum verhüllte Militärdiktatur. Allein diese Tatsache ist mit menschenrechtlichen Standards nicht vereinbar. Aber es ist Bewegung in die politische Landschaft gekommen. Das Abkommen, das der ruandische Staatschef Paul Kagame am 30. Juli 2002 in Pretoria mit dem kongolesischen Staatschef Joseph Kabila92 unterzeichnet hat, führte zum Abzug der ruandischen Soldaten aus dem Kongo im Oktober 2002. Dies veränderte die Situation wesentlich. Zumindest offiziell ist damit die völkerrechtswidrige Besetzung eines großen Teiles des westlichen Nachbarlandes beendet.93 Die einseitig von der FPR verlängerte Ausnahmephase, für die 1994 nur 5 Jahre vorgesehen waren, soll auch nach dem Willen der internationalen Gemeinschaft im Jahr 2003 beendet werden.94 Dabei ist allerdings darauf zu achten, dass nicht während des Ausnahmezustands geschaffene Tatsachen zur verfassungsmäßigen Normalität werden. Der von der Regierung vorgelegte Verfassungsentwurf macht diese Gefahr deutlich. Der Anspruch der FPR-Regierung, eine „Diktatur der großen Zahl” zu verhindern, muss hinterfragt werden.95 Es darf nicht 38 wieder das Modell einer „Bewegungsdemokratie” in Mode kommen, das der Habyarimana-Verfassung von 1978 zugrunde lag und zur Etablierung einer „Militärdemokratie” geführt hat.96 Das Prinzip „one man one vote” muss unter notwendiger Berücksichtigung denkbarer Modelle zum Minderheitenschutz Basis für demokratische Entscheidungen bleiben. Deshalb ist auch hinsichtlich der für 2003 anvisierten Präsidentschaftswahlen Vorsicht geboten. Es muss verhindert werden, dass aufgrund des noch immer bestehenden Betätigungsverbots für demokratische Parteien die herrschende FPR die Wahlvorbereitungen in unangemessener Weise zu ihren Gunsten beeinflussen kann. Ein aufgrund zweifelhafter Wahlen ins Amt gelangter Präsident würde den nötigen Prozess zu nationaler Einheit belasten. Als Vorbereitung auf Wahlen sollte deshalb ein nationaler Dialog an neutralem Ort in Gang gesetzt werden, um einen Grundkonsens über die künftige politische Struktur zu erarbeiten und sich auch über die Wahlmodalitäten zu einigen. Innenpolitisch hat das FPR-Regime einige Versuche unternommen, den Erwartungen der Geldgeber entgegen zu kommen, die Ruanda in einmaliger Weise Budgetzuschüsse zukommen lassen. Es wurden Kommunalwahlen abgehalten, bei denen allerdings in vielen Fällen die Kandidatenaufstellung zugunsten der FPR manipuliert war. Das Abstimmungsverfahren (die Wähler hatten sich, wenn es überhaupt mehrere Kandidaten gab, hinter den Kandidaten aufzustellen) ist nach rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht unstrittig. Die Geldgeber waren auch sehr beunruhigt über die Flucht oder die Festsetzung von Hutu-Politikern, die ihnen vorher als Garanten der Versöhnungspolitik präsentiert worden waren. Der spektakulärste Fall ist hierbei das Schicksal von Pasteur Bizimungu, der seit Sommer 2002 wegen einer als illegal erklärten Parteigründung im Gefängnis sitzt. Auch die Flucht von Ministerpräsident Pierre-Célestin Rwigema (MDR), der 1995 Faustin Twagiramungu nachgefolgt war, in die USA im Jahr 2000 hat Aufsehen erregt. Der Fall des ehemaligen Landwirtschafts- und Verteidigungsministers James Gasana, der in der Schweiz einen Prozess gegen den sozialdemokratischen Politiker und Wissenschaftler Jean Ziegler gewonnen hat97 und der 2002 sein beachtetes Buch (GASANA 2002) herausbringen konnte, trug ebenfalls zu einer Neubewertung mancher Klischees bei. Beunruhigend war für die Geldgeber auch, dass sich immer mehr Tutsi-Politiker von Kagame abwandten. Hier ist vor allem der frühere Präsident des Übergangsparlaments Sebarenzi Kabuye zu nennen, der in den USA Asyl gefunden hat. Einige der FPR-Abtrünnigen Tutsi (z.B. Déo Mushayidi) teilen die am 1.März 2002 vor einem belgischen Senatsausschuss vertretene Ansicht von Deus Kagiraneza, Kagame habe zumindest leichtfertig das Schicksal der Inlands-Tutsi aufs Spiel gesetzt. 39 Hinzu kommt, dass eine Reihe von jüngeren Politikern, die während des Völkermords als Studenten im Ausland waren, also mit dem Völkermord nicht in Verbindung zu bringen sind, die Rückkehr nach Ruanda ablehnen, solange das Land sich nicht auf einen demokratischen Weg begibt. Den Hutu-Demokraten ist nicht zu vermitteln, dass der Völkermord auf Dauer als Rechtfertigung für das Machtmonopol von Tutsi-Militärs dienen kann. Diesen Zweifeln schließen sich auch zunehmend von dieser Gruppe ausgeschlossene und zu politischer Koexistenz mit den Hutu bereite Tutsi an, die im Ausland leben. 7.2 Justiz Alype Nkundiyaremye, der zwischen 1997 und 1999 Präsident des Staatsrates und Vizepräsident des Obersten Gerichtshofes war, hat 1999 nach seiner Übersiedlung nach Brüssel die weiter andauernde Rechtlosigkeit in Ruanda beschrieben und beklagt.98 Sein Hauptvorwurf: in Ruanda sei eine „Justiz der Sieger” errichtet worden. Das System beruhe darauf, dass jede/r Hutu entgegen dem Prinzip der Unschuldsvermutung global als des Völkermords verdächtige Person angesehen werde. Deshalb hätten alle der Hutu-Bevölkerung angehörenden Justizminister, die sich um den Aufbau eines unabhängigen Justizsystems bemüht hätten, nach 1994 ihr Amt verloren.99 7.2.1 Das Arusha-Tribunal Am 3.9.2002 ist in der Zeitung „LE MONDE” ein beunruhigender Artikel erschienen. André Guichaoua100 deutete erstmals an, das ganze Verfahren zu Ruanda vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Arusha könne scheitern. Die FPR-Regierung, die schon gegen die Gründung des Gerichts in Arusha und statt dessen für die Aburteilung der Beschuldigten in Ruanda selbst votiert hatte, stellte im Sommer 2002 faktisch die Mitarbeit am Gericht ein. Die ruandische Regierung reihte sich in die allgemeine Kritik an der Bilanz des teuren Gerichts ein.101 Dahinter verbarg sich die Furcht Kigalis, das Gericht könnte ein „doppeltes Mandat” erhalten, d.h. die von FPR-Soldaten bei der Eroberung des Landes seit 1990 begangenen Verbrechen könnten in den Zuständigkeitsbereich des Arusha-Gerichts einbezogen werden. Die Fédération Internationale des Ligues des Droits de l’Homme (FIDH) in Paris rief in einem Bericht102 vom Oktober 2002 die Regierung in Kigali auf, ihre Blockade gegen das Gericht einzustellen und auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen schloss sich dem an. Ob das Arusha-Gericht wirklich der FIDH-Forderung nachkommen und sich auch für FPR-Verbrechen zuständig erklären wird, ist nicht abzusehen. Dass die Arusha-Prozesse tatsäch- 40 lich „platzen” könnten – was Guichaoua nicht ausschließt –, bleibt vorerst eine Hypothese. 7.2.2 Lage der Gefängnisse Die Tatsache, dass seit 1994 immer zwischen 120 000 und 150 000 Gefängnisinsassen auf eine Anklage und einen Prozess warteten, macht die Besonderheit der ruandischen Justiz deutlich. Nach eigenen Angaben von Staatschef Kagame103 befanden sich nach acht Jahren noch immer etwa 115 000 der Beteiligung am Tutsi-Völkermord verdächtigte Personen ohne Anklage in den verschiedenen Gefängnissen des Landes. Ein Rechtsempfinden kann – unabhängig von der menschenunwürdigen Enge in den überfüllten Gefängnissen und Gemeindekarzern – so nicht wachsen. 7.2.3 Gacaca Da Ruanda auf jeden Fall vermeiden will, die Gefangenen ohne Prozess zu entlassen, versuchte man einen Rückgriff auf traditionelle Bestrafungsformen. Man etablierte die sog. GACACA-Gerichte. Hier soll ortsnah von Laienrichtern über die Gefangenen gerichtet werden, denen man Vergehen vorwirft, die nicht mit der Todesstrafe geahndet würden. Zum Jahresende 2002 lagen keine abschließenden Erfahrungen über diese Form der Rechtsprechung vor. Es wurde berichtet, dass die Laienrichter oftmals Schwierigkeiten haben, „falsche Fragen” zu unterdrücken. 7.3 Wirtschaft und Gesellschaft 7.3.1 „Neue Eliten” Der Sieg der FPR 1994 rief einen völligen Elitewechsel in Staat, Wirtschaft und Militär hervor. Die „Nomenklatur” der Habyarimana-Zeit ging ins Exil. Einige überlebende Vertreter des 1991 gebildeten Oppositionsbündnisses wurden vom FPR-Staat kurze Zeit geduldet, aber ab August 1995 fast vollständig von der Macht ausgeschlossen. Die neue Elite verfügt quasi monopolistisch über die wirtschaftlichen Ressourcen des Landes. Ihr steht auch der gesamte Devisenzufluss aus dem Ausland zur Verfügung. Hierzu gehören die Erlöse aus dem Kaffee- und Tee-Export, aber auch die bedeutenden Budgetzuschüsse aus Großbritannien und der Europäischen Union. Solange ruandische Truppen im Kongo stationiert waren, haben 41 sie – was ein UN-Bericht (KASSEM-Report 2002) eindrucksvoll beschreibt – die dortigen Bodenschätze ausgebeutet und „privatisiert”, d.h. die Erlöse sind nicht korrekt im Staatshaushalt ausgewiesen. Insbesondere die neuen städtischen Eliten, die das Erbe der Flüchtlinge und auch der ermordeten Tutsi antraten, erlebten dadurch eine wirtschaftliche Scheinblüte, von der niemand weiß, wie sie in Friedenszeiten aufrecht erhalten werden kann. Den „Kriegsgewinnlern” steht eine extrem arme Landbevölkerung gegenüber. Die Not auf dem Land ist größer denn je. Der Elitenwechsel war zugleich auch ein „ethnischer” Wechsel. Wohlhabend sind fast nur aus dem Exil zurückgekehrte „anglophone” Tutsi (und einige geduldete Hutu). Die Tutsi, die den Genozid 1994 im Lande überlebt haben, sehen sich zunehmend vom Zugang zu den „Fleischtöpfen” ausgeschlossen, worauf auch der Bericht der International Crisis Group (ICG 2002) hinweist. Das aus der Ära Habyarimana bekannte „akazu-Phänomen” wiederholt sich unter anderem Vorzeichen. Frieden kann es in Ruanda nur geben, wenn auch ein Mindestmaß an sozioökonomischer Gerechtigkeit verwirklicht ist. Ein besonderes Problem stellt die mit der „Dörferbildung” (Imidugudu) einhergehende „Landreform”, bzw. Bodenenteignung dar. 7.3.2 Siedlungspolitik Imidugudu Die FPR hat frühere Überlegungen wieder aufgegriffen, die Siedlungsstruktur Ruandas zu ändern. Die Ruander lebten traditionell in kleinen Gehöften inmitten ihrer Felder. Streusiedlung charakterisierte das Land bis zum Bürgerkrieg. Nur vereinzelt waren kleine Zentralorte entstanden. Eine Großstadt war seit der Unabhängigkeit nur aus Kigali geworden. Da Ruanda wie kaum ein anderes Land von der Kleinlandwirtschaft lebte, war der Zuzug in die Städte gebremst. Die Realteilung hatte aber zu einer Blockierung der Entwicklung geführt. Insofern müssen Überlegungen, die Siedlungsstruktur zu ändern und in echten Dörfern moderne Dienstleistungen wie Schulen und Gesundheitszentren zu konzentrieren, nicht rundweg unvernünftig sein. Aber eine solch tief greifende Strukturveränderung kann nur in einem klaren administrativ-politischen Rahmen vollzogen werden. Dazu gehören auch Gerichte zur Beilegung von Streitigkeiten. Die Entscheidung, ob eine solche Politik verfolgt werden soll, kann nicht von einer Militärherrschaft gefällt werden. Sie hat kein Mandat hierzu. Erst nach Etablierung einer vom Volk legitimierten Verfassungsordnung kann eine solche Frage auf die Tagesordnung gesetzt werden. Die in einem Bericht von Human Rights Watch104 beschriebenen Mängel des bisherigen Ansatzes bestätigen die Notwendigkeit einer solchen Vorsicht. Dort heißt es: „Am 13.Dezember 1996 beschloss das ruandische Kabinett eine Nationale Siedlungspolitik, die dekretierte, dass alle Ruander, die in im ganzen Land verstreuten Häusern wohnten, künftig in vom Staat 42 errichteten „Dörfern” mit der Bezeichnung imidugudu (Singular: umudugudu) zu leben hätten. Diese Politik, die ohne Konsultation oder parlamentarischen Akt eingeführt wurde, erzwang einen drastischen Wandel im Hinblick auf die Lebensumstände von rund 94% der Bevölkerung.” 7.4 Katholische Kirche Nach seinem militärischen Sieg 1994 ließ Paul Kagame seiner Verachtung der katholischen Kirche, die er ganz besonders für den Machtverlust seiner Vorfahren verantwortlich macht, freien Lauf.105 Noch vor der Machtübernahme hatte er am 5. Juni 1994 in Kabgayi drei Bischöfe und neun Priester ermorden lassen. Die Behauptung, es habe sich dabei um eine eigenmächtige Handlung „unkontrollierter Elemente” seiner Armee gehandelt, konnte er nicht lange aufrecht erhalten. Obwohl Abbé Vénuste Linguyeneza sein Wissen erst 1999 zur Veröffentlichung freigab106, waren die Vorgänge von Anfang Juni 1994 schon vorher bekannt geworden. Aber solange im Westen die erwähnte These der Mitschuld der Kirche am Völkermord hoch im Kurs stand und erst allmählich auch die Verantwortung der FPR bei der Nichtverhinderung des Tutsi-Völkermords deutlicher wurde, wurde diese Mordaktion eher verdrängt. Mit weitgehendem Schweigen wurde auch die Ermordung von Erzbischof Munzihirwa bei der Einnahme von Bukavu (OstKongo) durch die ruandischen Truppen am 29.10.1996 übergangen.107 Einige Zeit fuhren Paul Kagame und Staatspräsident Bizimungu mit einer kirchenfeindlichen Politik fort. Sie fand mit der Anklage von Bischof Misago aus Gikongoro wegen Beihilfe zum Völkermord im April 1999 ihren Höhepunkt. Als die Regierung feststellen musste, dass sie den Bogen überspannt hatte, befreite sie sich am 15.6.2000 durch einen Freispruch mangels Beweisen aus dieser Zwangslage. Die Kirche machte ihrerseits durch den Empfang Kagames beim Papst am 4.11.2000 eine Entspannungsgeste. Seither wird das Verhältnis als mehr oder weniger geschäftsmäßig angesehen. 7.5 Pressefreiheit Während sich die Lage der Religionsgemeinschaften in den letzten Jahren eher stabilisiert hat, wurde die Pressefreiheit eingeschränkt. Zu Beginn der FPR-Regierung 1994 blühte die Medienlandschaft – den Jahren 1992/1993 vergleichbar – nochmals auf. Aber wie der Bericht der International Crisis Group (ICG) vom November 2002 eindrücklich beschreibt, ist der Freiheitsraum der Medien seit 1998 permanent eingeschränkt worden. (ICG 2002: 14 ff.) Dabei sind die beiden folgenden Fälle politisch besonders brisant: 43 a. Der Gründer des Tribun du Peuple, Jean-Pierre Mugabe, ist Tutsi und hat, bevor er sich 1998 zum Gang ins Exil gezwungen sah, kritisch über das Verhalten der neuen Machthaber berichtet. Er fühlte sich einigermaßen sicher, weil der Parlamentspräsident Sebarenzi Kabuye vor Übernahme dieser Funktion dem Redaktionskomitee des Organs angehört hatte und auch in Rwanda Libération mitgearbeitet hat. Die Flucht von Mugabe hatte schließlich auch Rückwirkungen auf Kabuye. Er verließ im Jahr 2000 ebenfalls das Land. Heute befinden sich beide in den USA und bilden den Kern der dortigen „Tutsi-Opposition” b. Als Déo Mushayidi, ebenfalls ein Tutsi, in Imboni kritisch über die Hintergründe der Flucht von Sebarenzi Kabuye berichtete, geriet er in die Schusslinie von Präsident Kagame. Die Zeitung wurde im Februar 2000 verboten und auch Déo Mushayidi verließ mit zwei weiteren Redakteuren im März 2000 das Land. In Brüssel/Paris hat er zusammen mit dem aus Kamerun stammenden Journalisten Onana das schon erwähnte viel beachtete Buch über den Genozid geschrieben (ONANA/MUSHAYIDI 2001). Zudem wurde er einer der wichtigsten Sprecher der demokratischen Oppositionsallianz IGIHANGO. Der ICG-Bericht kritisiert das Pressegesetz aus dem Jahr 2002 und man kann den Verfassern nur zustimmen, wenn sie schreiben: „In Ruanda wie anderswo müssen die Medien über unabhängige korporative Organisationen verfügen können, deren Mitglieder nur Berufsangehörige sein dürfen und die über die Professionalität und die Einhaltung des Berufsethos ihrer Mitglieder wachen. Der Rückgriff auf ein juristisches Arsenal darf nur ein letztes strafrechtliches Mittel im Falle einer schweren Verletzung des Berufsethos sein. Das Fehlen eines kritischen öffentlichen Raumes und der Gegengewalt fördert die Entwicklung eines ‚parallelen Diskurses’ und kann alle Bemühungen um Versöhnung zunichte machen.” (ICG 2002, S.16) 44 8. Perspektiven Der 13. November 2002 könnte sich als historisches Datum erweisen. Der an diesem Tag vorgelegte Bericht der International Crisis Group (ICG 2002) könnte der Beginn einer neuen Ära sein. Diese von vielen westlichen Regierungen und Institutionen geförderte Gruppe, unterstützte bisher eher unkritisch die FPR-Regierung. Nun stellt sie das derzeitige Machtmonopol der FPR in Frage, klagt die Einhaltung der Menschenrechte ein und fordert das Ende der Übergangsfrist und eine politische Liberalisierung. Ohne den im Abkommen von Pretoria vom 30.7.2002 zwischen Ruanda und dem Kongo vereinbarten Abzug der ruandischen Truppen aus dem Kongo, wäre dieser politische Kurswechsel nicht möglich gewesen. Er könnte zum Beginn eines demokratischen Neuaufbaus Ruandas führen. Die internationale Gemeinschaft scheint verstanden zu haben, dass das Machtmonopol der FPR zu einer Radikalisierung der Opposition führen muss. ICG mahnt deshalb alle Seiten, dem bewaffneten Kampf abzuschwören und den Prozess demokratischer Willensbildung zu respektieren. „Die ruandische Regierung muss der ruandischen Gesellschaft eine Chance geben, über sich selbst zu bestimmen, die Verantwortung gegenüber dem Völkermord zu tragen und selbst die Grundlagen für Versöhnung zu bauen, ohne den Menschen mit Gewalt alle Modalitäten aufzuzwingen. Die Regierung müsste der Opposition im Exil die Hand reichen und ihr anbieten, sich an einer nationalen Debatte über die Zukunft des Landes zu beteiligen. (...) Die internationale Gemeinschaft kann nicht zu autoritärer Abdrift des ruandischen Regimes schweigen und zum Komplizen eines solchen Vorgangs werden.” In einer Erklärung vom 5. Dezember 2002 begrüßte die „Permanente Konzertierung der demokratischen Ruandischen Opposition” CPDOR108 den Bericht und forderte von der internationalen Gemeinschaft, dafür zu sorgen, dass Präsident Kagame nun nicht im Eilverfahren den Ende November 2002 vorgelegten Verfassungsentwurf „durchpeitsche” und im Schnellverfahren Präsidentschaftswahlen ansetze, was ihm einen manipulierten Wahlsieg bescheren würde. Man sollte nun zumindest nach dem Verfahren vorgehen, das am 17.12.2002 in Pretoria für die Demokratische Republik Kongo gefunden wurde. Dort ist zwischen den verschiedenen Bürgerkriegsgruppen des Landes eine Übergangsregierung vereinbart worden, die innerhalb von zwei Jahren allgemeine Wahlen vorbereiten soll. Wenn es dazu kommt, könnte die große Krise in Zentralafrika, Ruanda eingeschlossen, überwunden werden. 45 Demokratie als Voraussetzung der nationalen Versöhnung Die Demokratie braucht in Ruanda nicht „importiert” zu werden. Nach 1990 wurde klar, dass auch in Afrika ein eigenständiger „demokratischer Wind” zu wehen begonnen hat. Ihm muss wieder Freiraum geschaffen werden. Der „ethnische” Hass entwickelte sich parallel zu dem auch von außen bewirkten Zusammenbruch dieser demokratischen Bewegung. Umgekehrt ist ein demokratischer Rahmen Voraussetzung für die Austragung von Interessengegensätzen und nationale Versöhnung. Sie kann gelingen, wenn auch die internationale Gemeinschaft sich verpflichtet, diesen Rahmen zu verteidigen. Nicht nur im Lande selbst muss mit der Förderung demokratischer Parteien und Vereinigungen begonnen werden. Das gilt auch für die im Exil lebenden Politiker, die allerdings teilweise ihre Rivalitäten und Streitigkeiten aus der Zeit des Oppositionsbündnisses gegen Habyarimana dorthin mitgenommen haben und damit die Herausbildung einer starken demokratischen Alternative zur etablierten Staatsmacht verhindern. Auch die im Exil verbliebenen Studenten bilden ein wichtiges demokratisches Potential. Alle dafür geeigneten Institutionen in den Aufnahmeländern sollten so schnell wie möglich damit beginnen, für sie einen Rahmen für Fortbildung, Diskussion und Willensbildung zu schaffen. Ähnlich wie im Kongo und in Burundi, wo Anfang Dezember 2002 auch Vereinbarungen zwischen den wichtigsten Bürgerkriegsparteien und der Minderheitsarmee getroffen wurden, könnten auch in Ruanda in ca. zwei Jahren die Voraussetzungen für demokratische Wahlen geschaffen sein. 46 9. Schlussbemerkung Der Mangel an Ressourcen, das Problem der Überbevölkerung und das auch in Ruanda weit verbreitete AIDS werden auch durch eine demokratische Ordnung nicht verschwinden. Ruanda wird auf absehbare Zeit ein armes Agrarland bleiben. Wie Gasana in den erwähnten Schriften deutlich gemacht hat, werden Machtkämpfe um die Verteilung knapper Ressourcen hier häufig noch bitterer ausgetragen als in Ländern, in denen der „nationale Kuchen” größer ist. Demokratische Kontrolle kann bewirken, dass der Aneignungsprozess durch eine kleine Minderheit begrenzt und auf diese Weise die soziale Kohäsion einer Gesellschaft nicht überfordert wird. Der wertvolle Boden des Landes muss sinnvoll genutzt und vor allem geschützt werden. Da der nutzbare Boden – mit Ausnahme der oft sumpfigen Talgründe – fast ausschließlich Hanglagen bedeckt und aus Landnot immer mehr Steillagen genutzt werden, ist die nationale Aufgabe Nr. 1 die Bekämpfung der Erosion. Ruanda kann seine große Bevölkerung ernähren, wenn der Boden nachhaltig genutzt wird. Er muss sehr arbeitsaufwändig intensiv bearbeitet werden, da einer Mechanisierung enge Grenzen gesetzt sind. Ein Blick in die Menschheitsgeschichte zeigt, dass zuverlässiger Terrassenbau das Mittel der Wahl für Völker in ähnlicher Problemlage darstellt. Die bisher angewandte Technik von Erosionsschutzgräben und sich selbst bildender Terrassen reicht in Ruanda nicht mehr aus. Erste Erfahrungen mit kleinen Intensivterrassen vor dem Beginn des Bürgerkriegs 1990 waren viel versprechend und haben sogar außerordentlich starken Regenfällen standgehalten. Auf diesem Weg sollte auch die Agrarforschung das Land begleiten. Wenn die internationale Gemeinschaft einen nachhaltigen Beitrag für die Zukunft des Landes leisten will, so hat sie auf diesem Felde reichlich Gelegenheit. Damit kann man zwei Problemfelder zugleich angehen. Die reichlich vorhandene ungenutzte jugendliche Arbeitskraft kann in einer Art von Arbeitsbeschaffungs-Programmen eingesetzt werden und die Ernährung des Landes wird sichergestellt. Die Jugendlichen bauen Terrassen zusammen mit einer Bauernfamilie, die dann eine sichere Existenzgrundlage erhält. Das Programm ist mach- und finanzierbar. Der Gefahr, dass das nötige – in Form von Zuschüssen bereit zu stellende – Geld in falsche Taschen gelangt, kann man durch entsprechende Organisationsformen vorbeugen. Ist der Boden gesichert, kann die nächste Generation vielleicht schon in anderen Sektoren und in einer unter Friedensbedingungen wirtschaftlich aufstrebenden – insgesamt von der Natur reich ausgestatten – Großregion Arbeit finden. Man darf nie vergessen: Von Angola bis Sudan erstreckt sich ein Reichtumsgürtel, der darauf wartet, genutzt und nicht mehr ausgebeutet109 zu werden. 47 Die 1900 ins Land gebrachte Botschaft der menschlichen Würde und der Nächstenliebe hat die ruandische Geschichte verändert. Es ist müßig zu fragen, ob es gut war, dass „die Weißen kamen”110. Der Vorgang ist unumkehrbar. Es gilt, die Botschaft als Basis für den Aufbau einer freiheitlichen Gesellschafts- und Staatsordnung zu nutzen, die auf der Zustimmung der Menschen beruht und die Menschenrechte wahrt und in der Religionsfreiheit und Zugang zu Bildung111 und Ausbildung einen festen Platz haben. 48 Anhang 1 Literatur A) Berichte BELGIQUE 1998. Sénat. Commission d’enquête parlementaire concernant les événements du Rwanda. Rapport fait au nom de la Commission d’Enquête par MM Mahoux et Verhofstadt. Bruxelles. ca. 600 S. FIDH 2002. Entre illusions et désillusions: Les victimes devant le Tribunal Pénal International pour le Rwanda (TPIR). PARIS: FÉDERÁTION INTERNATIONALE DES LIGUES DES DROITS DE L’HOMME. Report Nr. 343; 27 S. FRANCE 1998. Assemblée Nationale. Rapport d’Information. Enquête sur la tragédie rwandaise 1990-1994. Paris: Mission d’Information sur le Rwanda. ASSEMBLEE NATIONALE, Paris. 433 S. HRW 2001. Uprooting the Rural Poor in Rwanda. Human Rights Watch. New York/Washington/ London/Brussels ICG 2002. Fin de Transition au Rwanda. Nairobi/Bruxelles: International Crisis Group. ICG Rapport Afrique N° 53; 49 S. JOINT EVALUATION. 1996. (Details s. unter dem Herausgebernamen David Millwood unter Bücher und Aufsätze) NKUNDIYAREMYE, Alype. 1999. Note sur la Situation socio-politique du Rwanda actuel. Bruxelles. 45 S. OAU 2000. Rwanda: the preventable genocide. Report by the International Panel of Eminent Personalities to Investigate the 1994 Genocide in Rwanda and the Surrounding Events. Presented by Sir Ketumile MASIRE, Addis Ababa: Organization of African Unity/IPEP. (s.a. MASIRE-Report unter Bücher) SOS Rwanda-Burundi, 2001. Y aura-t-il une fin au drame rwandais? (Zusammen mit 14 weiteren Nichtregierungsorganisationen). Buzet, 74 S. UNO 1999. REPORT OF THE INDEPENDENT INQUIRY INTO THE ACTIONS OF THE UNITED NATIONS DURING THE 1994 GENOCIDE IN RWANDA, presented by Ingvar CARLSSON. New York. UNO 2002. 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ISBN 2-7071-2399-4; 176 S. 51 Anhang 2 Verzeichnis der Abkürzungen und wichtiger Begriffe AFDL ALLIANCE DES FORCES DÉMOCRATIQUES POUR LA LIBÉRATION DU CONGO AKAZU „das Häuschen”. BANYAMULENGE Ursprünglich Bezeichnung der in der KivuProvinz am Berg Mulenge lebenden Tutsi. CDR COALTION POUR LA DÉFENSE DE LA RÉPUBLIQUE CND Conseil National de Développement CPODR Concertation Permanente de l’Opposition Démocratique Rwandaise Ecole Technique Officielle (Kigali) FÉDÉRATION INTERNATIONALE DES LIGUES DES DROITS DE L’HOMME ETO FIDH FPR FRONT PATRIOTIQUE RWANDAIS (engl. s. RPF) GACACA HRW dt.: Wiese/grüne Fläche HUMAN RIGHTS WATCH HUTU-POWER Das Wort geht auf den Kampfruf „Power” (Macht) der FPR-Soldaten zurück, die in Ruanda die Macht zurückerobern wollten. Diesem Kampfruf setzten vor allem die Hutu-Milizen den Kampfruf „Hutu-Power” entgegen. ICG International Crisis Group Von Ruanda und Uganda in der Kivu-Provinz gegründete Allianz zur Eroberung von Zaire unter Führung von Laurent Kabila.(s.a. Banyamulenge) Bezeichnung des Machtzirkels um die Präsidenten-Ehefrau Agathe Kanziga-Habyarimana. 1996 Teil der Tutsi-Aufstandsbewegung in Kivu, die zusammen mit Laurent Kabila zur Gründung der AFDL führte. Am 23.3.1992 gegründete radikale ruandische „HutuPartei”. 1982 gegründetes Legislativorgan in Ruanda ruandisches Oppositionsbündnis im Exil internationale Menschenrechtsorganisation mit Hauptsitz in Paris Ruandische Patriotische Front. In Uganda 1987 gegründete Organisation des ruandischen Exils. traditionelles Laientribunal Internationale Menschenrechtsorganisation mit Hauptsitz in New York Als Power-Parteien werden die ruandischen Partei-Flügel bezeichnet, die nach Februar 1993 einer Machtteilung mit der FPR kritisch gegenüber stehen. „ICG is an independent, non-profit, multinational organisation, with over 80 staff members on five continents, working through field-based analysis and high-level advocacy to prevent and resolve deadly conflict.” (Internet) 52 53 ICTR INTERNATIONAL CRIMINAL TRIBUNAL FOR RWANDA (franz. s. TPIR) IGIHANGO Alliance pour la Démocratie et la Réconciliation Nationale(ADRN)-IGIHANGO INTERAHAMWE KANGUKA KANGURA KINYAMATEKA MDR Name der Hutu-Milizen, die vornehmlich für den Tutsi-Genozid 1994 verantwortlich gemacht werden. 1989 in Ruanda gegründete Zeitschrift 1992 in Ruanda gegründete Zeitschrift Titel einer von der katholischen Kirche in Ruanda sei 1933 herausgegebenen Zeitschrift in ruandischer Sprache MOUVEMENT DÉMOCRATIQUE RWANDAIS MINUAR MRND franz. Bezeichnung von UNAMIR MOUVEMENT RÉVOLUTIONNAIRE NATIONAL POUR LE DÉVELOPPEMENT MRNDD OAU MOUVEMENT RÉPULICAIN NATIONALE POUR LA DÉMOCRATIE ET LE DÉVELOPPEMENT NICHT-REGIERUNGS-ORGANISATION/ NON-GOVERNMENTAL ORGANIZATION ORGANIZATION FOR AFRICAN UNITY PDC PARTI DÉMOCRATE-CHRÉTIEN PL PARTI LIBÉRAL PSD PARTI SOCIAL-DÉMOCRATE RADER RASSEMBLEMENT DÉMOCRATIQUE RWANDAIS NRO/NGO Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda (Sitz in Arusha) Am 27.3.2002 in Bad Honnef gegründetes ruandisches, volksgruppenübergreifendes Oppositionsbündnis. Sprecher: Déogratias Mushayidi FPR-nah Hutu-„Antwort”auf KANGUKA. (Chefredakteur war Hassan Ngeze; in Arusha angeklagt.) Radio MUHABURA RCD 1992 gegründeter Radiosender der FPR RASSEMBLEMENT CONGOLAIS POUR LA DÉMOCRATIE (Kivu-Provinz) RDC RÉPUBLIQUE DÉMOCRATIQUE DU CONGO RWANDAN PATRIOTIC FRONT (franz. s. FPR) Radio-Télévision Libre des Mille Collines RPF RTLM TPIR UNAMIR 1991 gegründete ruandische Oppositionspartei (Wiederaufnahme des Namens der1973 verbotenen Partei des Staatsgründers Kayibanda) 1975 von Habyarimana gegründete Staatspartei, 1992 umgegründet als MRND. 1991 aus der MRND hervorgegangene ruandische Partei. Die Organisation für Afrikanische Einheit wurde inzwischen in die „Afrikanische Union” umgewandelt. 1991 gegründete ruandische christlich-demokratische Partei 1991 gegründete ruandische liberale Partei 1991 gründete ruandische sozial-demokratische Partei zum Ende der Kolonialzeit gegründete ruandische, zum ethnischen Kompromiss bereite, (vornehmlich) Tutsi-Partei TRIBUNAL PÉNAL INTERNATIONAL POUR LE RWANDA (engl. s. ICTR) UNITED NATIONS ASSISTANCE MISSION FOR RWANDA UNAR UNION NATIONALE RWANDAISE UN/O UNITED NATIONS/ORGANISATION s.a. Erläuterung zu RTLM 1998 in der Kivu-Provinz des Kongo von Ruanda gegründete Bewegung Staatsname des Kongo vor und nach Mobutu s. bei FPR Im Juli 1993 gegründeter „Hutu-Sender” als Antwort auf den FPR-Sender Radio MUHABURA. Einer der Finanziers, Félicien Kabuga, wird vom Arusha-Gericht gesucht. s.a. ICTR UNO-Truppen zum Schutz der Umsetzung des ArushaAbkommens vom 4.8.1993 1958 gegründete ruandische Adelspartei. (nach 1960 im Exil) 54 55 Anhang 3 Fußnoten Auszug aus einem Gespräch mit Erzbischof Perraudin am 8.4.1995 in der Schweiz über die Hintergründe seines Fastenbriefs vom 11.2.1959. 2 „Dieser Brief war ein seelsorgerisches Erfordernis. Es war keinesfalls eine politische Intervention, selbst wenn einige im Hintergrund den demokratischen Geist der Schweiz darin gesehen haben. In meinen Augen handelte es sich um einen seelsorgerischen Schritt, der durch eine ungesunde Situation hervorgerufen worden ist, die mir schon in den fünf Jahren bewusst geworden war, die ich am Priesterseminar (Grand Séminaire) verbrachte. Ich unterhielt mich oft mit den Seminaristen über die Probleme des Landes. Ich war auch sehr an den Vorlesungen über die soziale Lage Ruandas interessiert, die dort einer unserer Professoren gehalten hat. Ich habe selbst begonnen, die Frage genauer zu untersuchen. Ich stellte schließlich fest, dass die Gruppe der Hutu im Lande verachtet wurde. Die Hutu wurden von den anderen, die sich zum Herrschen berufen fühlten, als Menschen zweiter Klasse angesehen. (...) Und diese Situation hat mich nach reiflicher Überlegung veranlasst, diesen Hirtenbrief vom 11. Februar 1959 zu schreiben, dessen Hauptthema die ‘Barmherzigkeit’ (charité), einschließlich der sozialen Barmherzigkeit war. Ich verlangte Reformen, weil ich die Lage, so wie sie sich damals darstellte, als des Menschen und insbesondere des Christen unwürdig erachtete. Dies war meine alleinige Absicht. Man hat ihr vielleicht entgegen meiner Absicht eine politische Interpretation gegeben. Tatsächlich, und ich will es noch einmal wiederholen, hatte mein Brief ausschließlich ein seelsorgerisches Ziel: eine Reform der Institutionen zu erreichen, die mit der menschlichen Würde vereinbar sind. Ein Beispiel: Ich stellte damals nicht nur allgemein, sondern auch im Seminar selbst fest, dass fast alle Seminaristen Tutsi waren. Wie konnte es geschehen, dass man in einem Lande, wo die große Masse der Menschen einer anderen Ethnie angehörte, man schließlich im Priesterseminar nur oder fast nur Tutsi vorfand? Das kam daher, dass man die Rekrutierung für das Seminar damals in den sog. ‘vorbereitenden siebten Klassen’ vornahm. In diesen Klassen nahm man die Selektion am Ende des Primarzyklus vor. Diese Selektion machte man mit Hilfe eines subtilen, dauerhaft angewandten Spiels auf eine Art, dass praktisch nur noch Tutsi in diese siebten Klassen aufgenommen wurden, von denen aus man die Schüler der Kleinen Seminare (Sekundarschulen) rekrutierte. Und dies führte schließlich dazu, dass man fast nur noch Tutsi-Priesterstudenten hatte. Dies war der Grund, warum zu einem bestimmten Zeitpunkt die große Mehrheit der Priester Tutsi waren in einem Land mit großer Hutu-Mehrheit. Ich fand diese Situation völlig anormal. Das ist nur ein Beispiel, aber das gleiche Phänomen konnte man in allen freien Berufen beobachten. Man fand sich schließlich in einem auf der Ethnie beruhenden Privilegien-System.”112 3 1 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 Die Angaben stützen sich auf: Website der ruandischen Regierung; www.erdkunde-online.de (Ruanda); www.cia.gov (The World Factbook 2002); www.allafrica.com (Rwanda); Fischer Weltalmanach 2003 Bischof Hirth (1854-1931) war frankophoner Elsässer mit guten Deutschkenntnissen, eine Voraussetzung für seine enge Zusammenarbeit mit der deutschen Kolonialverwaltung, die sich infolge der Beteiligung des Zentrums an der deutschen Regierung der Missionierungsabsicht eines katholischen Ordens nicht widersetzte. Die Tatsache des französischen Charakters des Ordens der Weißen Väter hat ihm nach dem Ersten Weltkrieg – im Unterschied zu den zumeist deutschen protestantischen Missionaren – eine bruchlose Weiterarbeit im belgischen Völkerbundsmandatsgebiet Ruanda-Urundi ermöglicht. Bischof Hirth, die Patres Brard und Barthélemy sowie Bruder Anselme kamen mit einer von zwei Askari der deutschen Verwaltung begleiteten Karawane bestehend aus 150 Trägern, zwölf Baganda-Hilfskräften und bewaffneten Sukuma-Wachkräften. Die Geschichte der katholischen Missionierung ist besonders eingehend dargestellt bei LINDEN 1999 bzw. LINDEN 1977. Faktisch verwaltete Belgien seit der Niederlage der deutschen Kolonialtruppen 1917 das Land, wurde aber erst 1925 formell Mandatsmacht des Völkerbundes. Der britische Historiker Arnold Toynbee (1889-1975) beschreibt Geschichte als eine Abfolge von „challenges and responses”, die nicht als zwangsläufige Ursache-Wirkung-Abläufe verstehbar ist. Die ruandische Geschichte seit 1990 lässt sich mit diesem Denkansatz beschreiben, wobei die eingetretenen Katastrophen keineswegs zwangsläufig waren. Der Prozess ist in den beiden anderen belgischen Kolonialgebieten Kongo und Burundi ähnlich, aber nicht so weitgehend verlaufen. Das Wort bedeutet etwa: Organ für Gesetze und nahm dann die Bedeutung eines Nachrichtenanzeigers an. Vgl. KALIBWAMI 1991, S. 369. Der Begriff évolué zur Bezeichnung einer auf Schulbildung – insbesondere in den sog. Petits Séminaires (kirchlichen Sekundarschulen) – basierenden autochthonen Elite wurde vor allem in den belgischen Kolonien gebräuchlich. In Ruanda wurden die Hutu-évolués als Gegenelite zu der traditionellen Machtelite begriffen. Sie standen auch in einem gewissen Gegensatz zur Tutsi-Priesterschaft, der es über Jahre hin vorbehalten geblieben war, im Anschluss an die Petits Séminaires das Grand Seminaire (Priesterseminar) mit Hochschulabschluss besuchen zu können. Erst Ende der 50er Jahre gelang auch Hutu in größerem Umfang das Studium am Grand Séminaire. Zitiert nach PATERNOSTRE DE LA MAIRIEU 1972, S. 208 (ein Teil des Zitats findet sich auch bei PATERNOSTRE DE LA MAIRIEU 1994, S.122) und MUREGO 1975, S. 853. Das Dokument wird auch in allen anderen historischen Darstellungen erwähnt, so. z.B. bei HARROY, Reprint 1989, S. 239. Die Vorgänge in diesen Gebieten konnten aufgrund der Weigerung der FPR-Regierung bisher nur andeutungsweise aufgeklärt werden. Man weiß aber, dass beispielsweise alle der Hutu-Bevölkerung angehörenden Priester ermordet wurden. Vgl. Emmanuel Ntezimana, Ruanda am Ende des 19. Jahrhunderts, in: HONKE et al.1990, S. 80. Mwami Mibambwe, der unmittelbare Nachfolger Kigeris, wurde schon 1887 ermordet. (Vgl. die Ausführungen über den Staatsstreich von Rucunshu weiter hinten im Text.) In dem von Kandt 1904 veröffentlichten und zum „Bestseller” gewordenen Buch „Caput Nili. Eine empfindsame Reise zu den Quellen des Nils” findet sich folgende, die vorkoloniale Situation beschreibende Textstelle: „Die Bahutu benehmen sich recht sonderbar. In Gegenwart ihrer Herren ernst und reserviert und unseren Fragen ausweichend; sobald aber die Watussi unserem Lager den Rücken gekehrt haben, und wir mit ihnen allein sind, erzählen sie bereitwillig fast alles, was wir wünschen, und vieles, was ich nicht wünsche, denn ich kann den zahlreichen Missständen, über die sie klagen, ihrer Rechtlosigkeit, ihrer Bedrückung, doch nicht abhelfen. Ich habe sie einige Male auf Selbsthilfe verwiesen und leicht gespottet, dass sie, die den Watussi an Zahl hundertfach überlegen sind, sich von ihnen unterjochen lassen und nur wie Weiber jammern und klagen können.” Zitiert nach der 5. Aufl. 1921, S. 239 (Zitat auch bei BINDSEIL 1988, S. 67). Jan Vansina, der Nestor der „weißen” Historiker datiert die wirkliche Herrschaftszeit von 1867-1895. Vgl. VANSINA 2001, S. 209 ff. Sie werden teilweise als mwami oder auch im Unterschied dazu als hinza bezeichnet. Der ruandische Historiker Ferdinand Nahimana hat sich besonders mit der Bedeutung der nördlichen Hutu-Königreiche befasst und behauptet, sie seien erst durch den Einfluss der Kolonialmächte wirklich Teile Ruandas geworden.(vgl. NAHIMANA 1993.) Diese These wird ihm während des Prozesses in Arusha als „Hutu-Ethnizismus” angelastet. Er sei damit zu einem der geistigen Väter des Tutsi-Genozid geworden. Eine unvoreingenommene Lektüre der in Paris als Dissertation angenommen Arbeit lässt eine solche Interpretation nicht zu. Belgien wurde formal 1925 vom Völkerbund das Mandat zur Verwaltung der ehemals deutschen Kolonien Ruanda und Urundi zugesprochen. Seit diesem Zeitpunkt waren Ruanda und das später Burundi genannte Land völkerrechtlich keine Kolonialgebiete mehr. Bis 1945 spielte dies faktisch keine Rolle. Bedeutender wurde dieser Status, als das Mandat von den Vereinten Nationen in eine Treuhänderschaft mit der Perspektive der Unabhängigkeit und entsprechenden UN-Kontrollmissionen umgewandelt wurde. Die schon während der Kämpfe um die Macht nach der Unabhängigkeit entwickelte Theorie wurde nach der Unabhängigkeit von der als „franko-burundische Historikerschule” bezeichneten Kooperation des französischen Historikers Jean-Pierre Chrétien und des Burunders Emile Mworoha mit großem Erfolg weiter vertreten. In Krisenzeiten spielten die Könige auch die „protestantische Karte”. So hat Musinga 1926 protestantische Pastoren an den Hof geholt (LINDEN 1999, S. 228) und damit faktisch seine Absetzung eingeleitet. Und auch König Mutara brachte 1957 die Kirche gegen sich auf, als er mit Hilfe seines protestantischen Freundes Dr. Church, die Anforderung eines protestantischen Bischofs aus Uganda unterstützte. (LINDEN 1999, S. 338) Vgl. den als Anhang beigefügten Auszug aus einem Gespräch des Verfassers mit Bischof Perraudin am 8.4.1995 in der Schweiz. Dt. Übersetzung bei STRIZEK 1996, S. 55, nach dem französischen Text bei PATERNOSTRE DE LA MAIRIEU 1972, S. 209, ein großer Teil des Textes ist auch abgedruckt bei KALIBWAMI 1991, S. 437-439. Aus der Rückschau hat Bischof Perraudin seine damaligen Motive in einem längeren in der Schweiz geführten Gespräch mit dem Verfasser am 8. April 1995 erklärt. (Auszug als Anhang beigefügt.) Unter dieser von der belgischen Verwaltung benutzten Bezeichnung ist das Dokument, das den Titel „Note sur l’Aspect Social du Problème Racial au Rwanda” trägt, in die Geschichte eingegangen. Teilabdruck bei KALIBWAMI 1991, S. 377 ff. 56 23 Beide Dokumente wurden im Hinblick auf den Besuch einer UN-Kontrollkommission geschrieben, die im Rahmen des Treuhandmandats der VN die dort vorgesehenen Vorbereitungen auf die Unabhängigkeit zu überwachen hatte. 24 Für den Hintergrund des „Hutu-Manifests” vgl. besonders PATERNOSTRE DE LA MAIRIEU 1994, S. 109 f. 25 Nach Amtsantritt hat Bischof Perraudin den Tutsi Justin Kalibwami, den Autor des Buches „Le catholicisme et la société rwandaise 1900-1962” zum neuen Chefredakteur berufen. 26 Im Gespräch mit dem Verfasser am 8.4.1995 hat Bischof Perraudin darauf hingewiesen, dass nicht er, sondern der apostolische Pro-Vikar Pater Déjemeppe vor Perraudins Amtsantritt Kayibanda zum Herausgeber berufen hatte. Nach Antritt des Bischofsamtes hatte Perraudin keine Einwände gegen die Weiterarbeit Kayibandas in der Redaktion, sorgte aber für seine Ablösung als Mitglied des Verwaltungsrats und die Berufung des Tutsi-Priesters Justin Kalibwami in die Herausgeberfunktion. 27 Ein Teil des Protokolls der Arbeiten des „Studienkomitees zum Sozialproblem Hutu-Tutsi” ist abgedruckt bei LIZINDE 1979, S. 61 ff. Lizinde spricht von je fünf Teilnehmern und einem Vorsitzenden, HARROY, 1989, sagt dagegen auf S.239, 10 Hutu und 10 Tutsi hätten zwei Wochen lang „hart an dem Bericht gearbeitet.” Bei PATERNOSTRE DE LA MAIRIEU 1994 wird auf S.121 von je sechs Mitgliedern gesprochen. 28 Die Zahl der Toten des November-Aufstands 1959 wird zwischen 100 und 300 angegeben. (Bei der bei GASANA 2002, S. 16, genannten Zahl von 3000 handelt es sich, wie der Autor auf Rückfrage bestätigte, um einen übersehenen Tippfehler.) 29 Oberst Logiest war zur Wiederherstellung der Ordnung nach dem ersten Hutu-Aufstand Anfang November 1959 aus Kisangani im belgischen Kongo mit Einheiten der Force Publique herbeigerufen worden. Er begleitete den ganzen Unabhängigkeitsprozess und wurde nach 1962 auch erster belgischer Botschafter. Er hat seine Aktion in einem Buch festgehalten. LOGIEST 1988 30 Die ausführlichste Schilderung der Entwicklung der Staaten Ruanda und Burundi bis 1970 ist enthalten in: LEMARCHAND 1970. 31 Vgl. die Erläuterung des Begriffs in einer Fußnote der einführenden Zusammenfassung. 32 Die umfassendste Darstellung dieses Völkermords stammt von LEMARCHAND 1996. 33 Ganz besonders hat sich dabei ein junger Student namens Pasteur Bizimungu hervorgetan, der nach 1994 einige Zeit zur Kaschierung der Tutsi-Dominanz des neuen Staates als Staatspräsident fungierte, im Jahr 2000 zurücktreten musste und seit Sommer 2002 im Gefängnis sitzt. 34 Man glaubte, auf diese Weise die Geißel des Tribalismus überwinden zu können. Das Gegenteil ist eingetreten. Überall dort, wo die ethnischen Interessengegensätze gewaltsam unterdrückt wurden, haben sie sich bei erster Gelegenheit umso gewaltsamer Luft gemacht. 35 LINDEN 1999, S. 375. 36 Vgl. LINDEN 1999, S. 379. 37 Alle Erklärungen, die er bis zu seiner Ermordung durch FPR-Soldaten am 5. Juni 1994 zur ethnischen Frage abgab, fordern zur Mäßigung in der ethnischen Frage auf. 38 Bischof Thaddée Nsengiyumva wurde zusammen mit Erzbischof Vincent Nsengiyumva, Bischof Ruzindana und neun weiteren Priestern am 5. Juni 1994 von Soldaten der FPR in Kabgayi ermordet. 39 Comité pour la Paix et l’Unité Nationale. 40 Vgl. den Abschnitt „Chronologie der Ereignisse” im Kapitel „Demokratisierung. FPR-Intervention und Bürgerkrieg (1990 – Juli 1994)”. 41 GASANA 2002; GASANA 2002 a und GASANA 2002 b 42 Herrschaftsende. Die belgische Tageszeitung „La Libre Belgique” hat diese Charakterisierung am 1.11.1989 verwandt. 43 Die generelle Aussage, die Tutsi seien von der Armee ausgeschlossen gewesen, bleibt dennoch richtig. Der Fall Biroli zeigt aber, dass es Ausnahmen gab. 44 Vgl. GASANA 2002, S. 48/49. 45 Die Menschen wussten selbstverständlich, dass sich hinter der „Front Patriotique Rwandais” das Tutsi-Exil verbarg, aber es gelang ihrem internationalen Netzwerk meisterhaft, dies zu verschleiern. Weltweit glaubten vor allem linke und sogar pazifistische Kreise, es handle sich um eine Art Bürgerrechtsbewegung, die gegen „die Diktatur in Ruanda” kämpfe. Wer zu jener Zeit das Wort Tutsi in den Mund nahm, wurde des Rassismus bezichtigt. 46 Entgegen der Gesamttendenz des Buches, das von einem geplanten Völkermord und einer aktiven Rolle der Interimsregierung ausgeht, bestätigt Barnett, dass der Vertreter der Interimsregierung im UNO-Sicherheitsrat „represented a government that no longer existed.” BARNETT 2002, S. 146. 47 JEUNE AFRIQUE (Beilage zu Heft 1753/54 im August 1994). „A la Conférence de la Baule, en juin 1990, on nous a quasiment annoncé qu’on allait exiger des Etats africains un certificat de bonne conduite démocratique. En 1993, changement de disque: ‘La démocratie, c’est très bien, mais ce qui importe, c’est l’efficacité’.” 48 James Gasana (MRND) war zu diesem Zeitpunkt Verteidigungsminister in der von einem Parteienbündnis getragenen Regierung Nsengiyaremye (MDR). 49 GASANA 2002, S. 279/289. 50 Nur der amerikanische Außenminister Warren Christopher hat vor seinem absehbaren Ausscheiden aus dem Amt am 10.10.1996 in einer Rede in Addis Abeba diesen Vorgang öffentlich kritisiert und gleichsam ein „demokratisches Testament” hinterlassen. 51 Die Literatur zu dieser Frage ist fast unübersehbar. In der amerikanischen Literatur wird nicht bestritten, dass in einer Desk Study des CIA vom Januar 1993 die möglichen Konsequenzen des erneuten Kriegsausbruches detailliert vorausgesagt wurden. (Vgl. Des Forges 2002, Melvern 2000, Kuperman 2002 oder auch S. Power, 2002.) Die Frage ist nur, ob diese Hinweise von der Clinton-Administration hätten ernst genommen werden müssen und ob – was nur Kupermann, der ansonsten sehr viele Details über das Wissen der US-Administration auf unterer Ebene beschreibt, mehr oder weniger bestreitet – bei frühzeitiger Weitergabe der Informationen und militärischem Eingreifen der Genozid an den Tutsi hätte verhindert werden können. Die Einschätzungen von General Dallaire und auch des OAU-Berichts (MASIRE 2000) gehen davon aus, dass der Genozid bei entsprechendem politischen Willen zu verhindern gewesen wäre. 52 Die Literatur, die dies beschreibt ist reichhaltig und teilweise wissenschaftlich seriös. Dabei sind vor allem zu nennen: DES FORGES 2002, BOUTROS-GHALI 2000, MELVERN 2000, BARNETT 2002, KUPERMAN 2001 und POWER 2002 . Ein weniger wissenschaftliches, aber wegen seines Ko-Autors Mushayidi, eines früheren ruandischen FPR-Mitglieds, politisch besonders brisantes Buch ist das Buch „ Les Secrets du Génocide Rwandais” von Onana/Mushayidi, 2001. 57 53 Deus KAGIRANEZA: „Il est vrai, tout d’abord, que le génocide est un crime innommable. Il est vrai, ensuite, que la communauté internationale n’a pas pu intervenir en temps utile pour y mettre fin; il est vrai aussi que nous avons – j’étais moi-même membre du bureau politique – interdit à celle-ci d’intervenir parce que nous venions de perdre toute la matière utile, sur le plan politique en moins de dix jours. En moins de dix jours, on a vu les rues se joncher de cadavres; le nombre de personnes tuées dans ce laps de temps est évalué à 200.000. Ce chiffre ahurissant montre que le génocide était consommé. (...) Du coup, toute la matière utile, sur les plans politique et économique a été éliminée en moins de dix jours. C’est donc un calcul politicien qui a donné lieu au sacrifice – l’histoire jugera, plus tard, le bureau politique, dont j’ai fait partie – de 800.000 personnes pour, finalement, ne rien gagner. (...) Si après dix jours, l’ONU avait envoyé sur place un déluge de forces armées, comme au Kosovo, on aurait pu sauver ne serait-ce que 500.000 personnes, ce qui est loin d’être négligeable.” (Compte rendu de l’audition de M. Deus Kagiraneza devant la Commission d’enquête parlementaire <Grands Lacs> du Sénat de Belgique le vendredi 1er mars 2002). 54 „Le ministre Claes : Vous rendez-vous compte que le FPR nous avait posé un ultimatum en disant que si nous n’étions pas partis le jeudi, il attaquerait ? ! Le FPR nous avait dit très clairement qu’il était d’accord pour une opération d’évacuation humanitaire à courte durée, mais qu’il ne fallait pas essayer de transformer le peace keeping en un peace making, sinon, il nous considérait comme des ennemis. (...) C’était un élément capital qui a joué dans les prises de décision au niveau gouvernemental et dans les concertations avec l’ONU (158c).” Willy Claes vor dem Untersuchungsausschuss des belgischen Senats. BELGIQUE 1998 (Kap. 3.8.4.2) 55 Das Buch wurde 1999 zugleich in englischer und französischer Sprache vorgelegt. Seit 2002 gibt es auch eine deutsche Fassung: DES FORGES 2002 56 Das erste Buch über das Grauen, das Rakiya Omaar (OMAAR 1994) herausgegeben hat, soll durch die Feststellung, dass es die Beschreibung des Tutsi-Völkermordes aus der Sicht der FPR ist, nicht diskreditiert werden, aber es ist parteiisch. Dies gilt, trotz des späteren Bruchs mit Kagame, auch für das 1995 in Kampala und London und in veränderter Form 1997 (ebenfalls in London) erschienene Buch von PRUNIER. Eine kenntnisreiche Darstellung der „herrschenden Lehre” stellt GOUREVITCH 2000 dar. 57 Vgl. besonders bei GASANA 2002 das Kapitel 5.3.3: „La stratégie américaine contre l’islamisme soudanais sacrifie les Rwandais.” 58 Der Verfasser spricht in seinen Schriften seit einiger Zeit vom „Sudansyndrom”. (Beispiel: Helmut Strizek, Externe Faktoren der zentralafrikanischen Staatskrise, in: Internationales Afrikaforum, 4/2001, S. 363-367). 59 James Gasana ist Protestant und kam auf diese Weise mit der Breakfast Prayer Bewegung in Kontakt. Er weist darauf hin, dass man in diesen Kreisen annahm, die FPR-Führung sei protestantisch und „dass der katholische Klerus in Rwanda die mehrheitlich katholische Hutu-Bevölkerung gegen die Tutsi mobilisiere.” (GASANA 2002, S. 77). 60 James Baker besuchte im März 1990 zusammen mit seinem Afrika-Staatssekretär Herman Cohen Staatspräsident Mobutu in Kinshasa und teilte ihm mit, die USA würden sein Regime nach dem Ende des Kalten Krieges nicht weiter unterstützen und forderte ihn auf, den Oppositionsführer Etienne Tshisekedi aus dem Hausarrest zu befreien. (Der Vorgang wurde dem Verf. von Tshisekedi bei einem Gespräch am 5.8.2000 in Louvain mitgeteilt. Am 16.10.2002 bestätigte Herman Cohen den Vorgang. (COHEN 2002.) 61 Beim Tod Mobutus wäre mit großer Wahrscheinlichkeit Etienne Tshisekedi, der Chef der Oppositionspartei „Union pour la Démocratie et le Progrès Social” UDPS, zum Staatspräsidenten gewählt worden. Er wurde von der FPR als „Risiko” angesehen, weil er sich mit Sicherheit nicht an der Vernichtung der ruandischen Flüchtlinge beteiligt hätte. Die USA mussten annehmen, dass er nicht an einem Krieg gegen den Sudan teilnehmen würde. 62 Paul Kagame bestritt zwar in einem Interview mit JEUNE AFRIQUE (N° 2179/ 14.10.2002) für die Auswahl verantwortlich gewesen zu sein. Dies widerspricht jedoch den Aussagen seines Geheimdienstchefs Karegeya , der Peter Scholl-Latour von seiner „Dienstreise” nach Dar-es-Salaam erzählte, um Kabila das Angebot zur Machtübernahme in Kinshasa zu überbringen. SCHOLL-LATOUR 2001, S. 95. 63 Im Interview mit www.congopolis.com sagte er am 16.10.2002 „Je ne suis pas d’accord avec ceux qui décrivent la guerre au Congo comme une guerre civile avec l’intervention étrangère. Malheureusement, cela semble être l’avis unanime des médias. À mon avis, le conflit au Congo est essentiellement ce que j’appelle une guerre par procuration.” 64 Es sei vor allem auf die Arbeiten von Filip Reyntjens, besonders REYNTJENS 1995 und seine Aussagen vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Arusha verwiesen. 65 Als ein Fall unter vielen sei der so absurde Tod der Mutter von James Gasana herausgegriffen. Sie ist ein Beispiel für eine ethnische Hinrichtung auf Hutu-Seite. (GASANA 2002, S. 1-3) 66 Für Deutschland ist der Artikel von Rupert Neudeck „Die Kirche hat versagt” in ORIENTIERUNG, Jg. 58 (1994), S. 203-207, ein Beispiel hierfür. Hierzu ist aber auch die französische Zeitschrift GOLIAS zu zählen. 67 Hierzu gehört auch die Ermordung von drei Bischöfen und neun Priestern am 5.6.1994 in der Diözese Kabgayi. LINGUYENEZA 1999. 68 Die Präfektur Byumba lag zu diesem Zeitpunkt im FPR-Gebiet. 69 Zitiert aus: DIALOGUE,, N° 213 (Nov./Dez. 1999), S. 82. 70 LINDEN 1999, S. 400. 71 Sein Verbleiben im Lande ist auch deshalb bemerkenswert, weil sein Bruder Michel Kayihura einer der extremistischen Tutsi-Adligen und Scharfmacher der Exil-Gruppen war. 72 Gasana 2002, S. 187. 73 Diese Selbstbezeichnung der Anti-FPR-Parteien geht auf eine Imitierung des oft gehörten Schlachtrufes der FPR-Soldaten im Kampf gegen die ruandische Armee zurück. Sie feuerten sich mit dem Ruf „Power” im Kampf an und machten dadurch auch ihre Zielsetzung deutlich, die anglophone FPR wollte die Power in Kigali erringen. Nach Gasana 2002, S. 222. 74 Bei Gasana 2002, S. 77/78 findet sich zudem der Abdruck eines CIA-Vermerks aus dem Jahr 1992, in dem schon die Frage des Sturzes von Habyarimana diskutiert wurde. 75 Stellvertretend für viele andere Publikationen sei das Buch des Vorsitzenden der Gruppe „Survie” genannt: VERSCHAVE 1994. 76 Diese Festlegung erfolgte insbesondere unter dem Einfluss des Afrikadirektors im Auswärtigen Amt, Harald Ganns. 77 Aus dem Vorwort zu Strizek (1998): Kongo/Zaire, Rwanda, Burundi: Stabilität durch erneute Militärherrschaft?. 78 Der Bericht „Fin de la Transition au Rwanda: Une libéralisation est nécessaire” der International Crisis Group vom 13.11.2002 enthält als Anhang B eine Liste mit über 40 prominenten Namen, die das Land aus politischen Gründen verlassen haben. 58 79 US Department of State, Rwanda, Country Reports on Human Rights Practices – 2001. Released by the Bureau of Democracy, Human Rights and Labor, March 4, 2002: „The largely Tutsi Rwandan Patriotic Front (RPF), which took power following the civil war and genocide of 1994, is the principal political force and controls the Government of National Unitiy.” 80 Die Einrichtung des International Criminal Tribunal for Rwanda (ICTR) wurde durch Resolution 955 vom UN-Sicherheitsrat am 8.11.1994 beschlossen. 81 Das lässt sich sicherlich nicht generell bestreiten, aber die Wahrscheinlichkeit, dass die wirklich aktiven Völkermörder gerade im Landesinneren Schutz gesucht haben, ist eher gering. Die Aktivisten sind ins Ausland geflohen, da von Beginn an klar war, dass die Schutzzone vor allem der Rettung der Tutsi im noch andauernden Krieg dienen sollte. Deshalb hatte die FPR auch ihrer Errichtung zugestimmt. Tausende von Tutsi sind auf diese Weise auch gerettet worden. 82 Die Angaben über die Zahl der Toten schwankt zwischen 2000 und 5000. 83 Die Information gab Seth Sendashonga dem Verfasser 1996 in Bonn. 84 Bei einem Prozess in Nairobi wurden die ursprünglich ausersehenen Schuldigen wegen offenkundiger Unschuld freigesprochen. Seine Witwe besteht auf einer Weiterführung der Ermittlungen zur Suche der Mörder. Ein von ihr in Kanada veranlasster Film mit dem Titel „Celui qui savait” bringt schon erdrückende Hinweise, dass die Auftraggeber der Mörder in Kigali zu suchen sind. ELIE und FERRAND 2001. 85 Interview mit Botschafter Barakamuza in JEUNE AFRIQUE N° 1808 vom 31.8.1995. 86 Dies wurde ausführlich vom Vorsitzenden des US Committee for Refugees, Roger Winter, bei einem Hearing des Repräsentantenhauses am 4.12.1996 geschildert, der als Verbindungsmann zwischen Kagame, Kabila und dem USSonderbotschafter Bogosian fungierte. Roger Winter beim Hearing des Repräsentantenhauses am 4.12.1996: ”So I went and I spent the better part of a week in Eastern Zaïre with the chairman of the rebel alliance—this is before the mass repatriation began and during that repatriation – seeking to understand what his movement was allabout and what they were thinking. I am not here as a spokesman for it, I want to be very clear, but I do want to be equally clear that understanding what they are trying to do is a part of the puzzle that needs to be understood. (...) Sunday morning Kabila called me and said, ‘I am here [in Kigali]. Can I meet with the senior Americans?’ And we had already arranged it with the embassy personnel, and that is when he met with Ambassador Bogosian, Peter Whaley, Ambassador Gribbon, and a colonel from General Smith’s staff.” 87 Hierüber berichtet Mobutus letzter Sicherheitsberater N’gbanda. Siehe N’GBANDA 1999. 88 Rapport de l’Equipe d’Enquête du Secrétaire Général sur les violations graves des Droits de l’Homme et du Droit International Humanitaire en RDC” (ONU 02/07/98). 89 Siehe hierzu: KASSEM-Report 2002. 90 Cohen sagte: „L’armée rwandaise est partie du RDC sous une forte pression des Gouvernements Américains et Britanniques.” COHEN 2002. 91 Siehe hierzu vor allem auch HOEBEN 2001. 92 Nach der Ermordung von Laurent Kabila am 17.1.2001 wurde unter bis heute sehr unklaren Umständen sein Stiefsohn Joseph an die Macht gebracht. Aufgrund der Vereinbarungen, die am 17.12.2002 von den politischen Strömungen des Kongo in Pretoria unterzeichnet wurden, soll er für weitere zwei Jahre Chef einer Interimsverwaltung bleiben. 93 Ob und in welcher Form die während dieser Zeit durch die von der ruandischen Armee – anfangs in enger Kooperation mit Uganda – zu verantwortenden Menschenrechtsverletzungen aufgearbeitet werden können, ist noch nicht absehbar. 94 Siehe hierzu besonders ICG 2002. 95 Die FPR bezeichnet ihr Modell zum Beispiel als „démocratie participative”. 96 Jeder Staatsbürger musste Mitglied des „mouvement” MRND sein. 97 Siehe hierzu das Vorwort von Ramon Arozarena zum Buch GASANA 2002 . 98 NKUNDIYAREMYE 1999. Der 1958 geborene Jurist ist inzwischen verstorben. 99 Der Menschenrechtler Alphonse-Marie Nkubito trat am 28.8.1995 zurück und kam später unter ungeklärten Umständen ums Leben. Seine Nachfolger Marthe Mukamurenzi und Faustin Nteziryayo gingen nach Belgien ins Exil. 100 GUICHAOUA 2002 (Nachdruck des Artikels aus LE MONDE in der Zeitschrift DIALOGUE). Guichaoua hat 1995 ein viel beachtetes Buch herausgegeben: GUICHAOUA 1995. 101 Bisher zehn Urteile bei 600 Millionen US-$. 102 FIDH 2002. 103 Interview mit JUENE AFRIQUE/L’Intelligent, N° 2179 (14.10.2002); S. 34. Man muss annehmen, dass die Zahl noch höher liegt und darf nicht vergessen, dass jährlich einige Tausend in diesen Gefängnissen insbesondere aufgrund der katastrophalen Daseinbedingungen gestorben sind. Im gleichen Interview sprach Kagame von einigen („des dizaines”) nicht vollstreckten Todesurteilen und musste sich von der Zeitschrift korrigieren lassen, dass es sich um ca. 300 handelt und am 24.8.1998 22 Verurteilte öffentlich hingerichtet worden sind. 104 HRW 2001 – „On December 13, 1996, the Rwandan Cabinet adopted a National Habitat Policy dictating that all Rwandans living in scattered homesteads throughout the country were to reside instead in government-created ”villages” called imidugudu (singular, umudugudu). Established without any form of popular consultation or act of parliament, this policy decreed a drastic change in the way of life of approximately 94 percent of the population.” 105 Selbst Bischof Perraudin (Jahrgang 1913) wurde noch bei seinem 60-jährigen Priesterjubiläum in der Schweiz am Ostersonntag, 4. April 1999, von einer Gruppe junger Tutsi beschimpft und belästigt. 106 LINGUYENEZA 1999. (Eine dt. Übers. von Helmut Strizek mit dem Titel: Bericht eines Zeugen. 5. Juni 1994: Die Ermordung dreier Bischöfe kann angefordert werden über die e-mail-Adresse: [email protected]). 107 Der Erzbischof von Bukavu Mwene Ngabo Munzihirwa musste wohl seine Erklärung, es gehe bei dem Angriff auf die Flüchtlingslager vor allem darum, die Flüchtlinge im Ost-Kongo von der Rückkehr nach Ruanda abzuhalten, mit dem Leben bezahlen. (Vgl. STRIZEK 1998, S. 173.) 108 Concertation Permanente de l’Opposition Démocratique Rwandaise 109 Damit soll an den viel beachteten Kassem-Bericht der UNO (UNO 2002) über die Ausbeutung der Bodenschätze im Kongo während des 2. Kongo-Krieges erinnert werden. 110 Anspielung auf den Buchtitel: „Als die Weißen kamen”. HONKE 1990. 111 Auch die in Ruanda verbreitete AIDS-Pandemie kann nur bei einem verbesserten Bildungsstand überwunden werden. 112 Dieser Teil eines Gesprächs mit Helmut Strizek am 8.4.1995 wurde von Bischof Perraudin autorisiert und ist auf den Seiten 55/56 abgedruckt bei STRIZEK 1996 59 60