Landgerichtsrat Moritz von Brigitte Gmelin

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Landgerichtsrat Moritz von Brigitte Gmelin
13. Kapitel
Verfolgung jüdischer Richter
Brigitte Gmelin
Landgerichtsrat Maximilian Moritz
Maximilian Moritz wurde am 26. Oktober
1882 in Miltenberg als Marx Moritz, Sohn des
Viehhändlers Süsel (Siegfried) Moritz und dessen
Frau Karolina, geborene Sommer, geboren. Er war
das zweite von fünf Kindern, vier Söhnen und einer
Tochter. Die Familie wohnte seit 1882 im Hause
Nr. 392, betrieb im Hause Marktplatz 343 ein Lederwarengeschäft und hatte ein Haus am Burgweg
27. Eltern und Geschwister lebten – einige mit Unterbrechungen – und starben in Miltenberg, mit
Ausnahme des jüngsten Bruders Oskar (geb. 1887),
der im Anwesen Marktplatz 343 das Lederwarengeschäft weiterführte und der kommunistischen Partei nahe stand. Er und seine Frau wurden Opfer nationalsozialistischer Verfolgung.1
Es ist hiernach anzunehmen, dass Marx Moritz seine Kindheit und Schulzeit in Miltenberg im
Hause der Eltern verbrachte. Er war der einzige in
der Familie, der studierte; die drei Brüder wurden
Kaufleute. Im Jahre 1908 bestand er die zweite
juristische Staatsprüfung mit der Note II 7/40.
Nach längerer Praktikantenzeit bei dem Miltenberger Rechtsanwalt Rottmann und beim Amtsgericht Miltenberg – weil das Examensergebnis auf
sich warten ließ – erhielt er seine erste Stelle bei
der Justiz am 25. September 1909 als Amtsanwalt
beim Amtsgericht Germersheim. Inzwischen hatte
er die Änderung seines Vornamens Marx in Maximilian betrieben. Diese wurde durch Beschluss
des Bezirksamtes Miltenberg vom 6. Mai 1909 bewilligt.
Auf der Amtsanwaltsstelle Germersheim
musste er trotz wiederholter Beförderungsge-
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suche bis zum Frühjahr 1913 ausharren, obwohl
seine Vorgesetzten diese befürworteten und ihn
gut beurteilten, auch hervorhoben, dass „die Geschäftslast in Germersheim … nicht bedeutend
und der Aneignung einer besonderen Geschäftsgewandtheit nicht förderlich“ sei. Am 16. März
1913 kam er endlich als III. Staatsanwalt zum
Landgericht Memmingen.
Am 3. Mai 1913 berichtete die „Schwäbische
Volkszeitung“ unter der Überschrift „Antisemitischer Liberalismus“:
„Man schreibt uns aus Memmingen: Eigenartigen Anschauungen huldigt auch im 20. Jahrhundert immer noch ein Teil der sogenannten besseren
Gesellschaft. Vor wenigen Wochen wurde ein Staatsanwalt hierher versetzt, gegen den durchaus nichts
einzuwenden war als seine – jüdische Konfession; als
sich nämlich dieser Herr auf verschiedene Aufforderungen hin durch einen höheren Landgerichtsbeamten als Mitglied der ‚Harmonie‘, eines geselligen Vereins von Beamten, Kaufleuten usw. vorschlagen ließ,
wurde er bei der Wahl von der Mehrheit abgelehnt,
damit der Verein ‚judenrein‘ bleibe.
Mag man über die Berechtigung des Antisemitismus denken, wie man will, so muss man immerhin
auch beim Gegner anerkennen, wenn er die Ehrlichkeit besitzt, seiner Gesinnung öffentlich in männlicher
Weise Ausdruck zu verleihen; ein ganz anderes Urteil
aber müssen jene über sich ergehen lassen, die offiziell
judenfreundlich sind, die auf Judenkundschaft reflektieren, die jüdische Gastfreundschaft durchaus nicht
verschmähen, die aber andererseits hinter dem Rücken, wenn sie glauben, in der Öffentlichkeit unent-
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deckt zu bleiben, ihr wahres antisemitisches Gesicht
zeigen … Merkwürdigerweise gehören die Gegner
in vorliegendem Falle fast ausnahmslos der liberalen
Partei an, die eigentlich sonst die in dieser Sache bewiesenen Grundsätze nicht vertritt.“
Spöttischer hatte sich tags zuvor die „Neue
Augsburger Zeitung“ geäußert:
„‚Ein hübsches Geschichtchen‘ erzählt die Allgäuer Zeitung aus Memmingen.“ Es folgt derselbe
Sachverhalt, und dann heißt es:
„Nun ist Feuer im Hause Israels, das in Memmingen eine nicht geringe Anzahl Glaubensgenossen
beherbergt. Also darum haben wir Juden uns so für
die liberale Partei ins Zeug gelegt, haben in nicht zu
kärglicher Weise auch finanziell dazu beigesteuert,
dass der ‚große‘ Sieg über die ‚schwarze Gesellschaft‘
errungen wurde – und nun dieser Fußtritt! Das hätte
man uns vor mehr als einem Jahr sagen sollen; dann
adje, du 70 Stimmen-Sieg!
So und so ähnlich entrüsten sich jetzt die liberalen Israeliten in Memmingen. Und wenn neuerdings der Ruf an sie kommt, gehen sie neuerdings hin
und – wählen liberal!“
Der Vorfall füllte die Personalakten des III.
Staatsanwalts Moritz mit allerhand Meldungen
und Stellungnahmen seiner Vorgesetzten und
deren Vorgesetzten, und es scheint sogar, dass er
beim Justizminister persönlich vorgesprochen hat.
Es ging um die Frage, ob das Geschehene ihn in
seiner dienstlichen Stellung beeinträchtige (was
schließlich verneint wurde) oder nur in seiner gesellschaftlichen (was bejaht wurde). Angeblich
wollte Moritz nicht versetzt werden, nach einem
Vermerk soll er sogar gebeten haben, ihn nicht zu
versetzen. Er wurde aber mit einer in Personaldingen unerhörten Geschwindigkeit, nämlich bereits zum 1. November 1913 unter Beibehaltung
seiner Funktion als III. Staatsanwalt an die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Ansbach versetzt.
Der Vorfall und die darauf folgende Versetzung müssen ihn schlimmer getroffen haben, als
er sich selber eingestand. Er war fast das ganze Jahr
1914 krank, litt an einer hartnäckigen Furunkulose unbekannter Ursache (u.a. wurde Fischvergif-
Hermine-Clara Moritz, geb. Mayer
Maximilian Moritz
tung vermutet) und an einer schweren Depression.
Nachdem wiederholte kürzere Krankheitszeiten,
ein Krankenhausaufenthalt und der reguläre Urlaub von einem Monat keine nachhaltige Besserung gebracht hatten, wurde er auf ärztlichen Rat
für drei Monate vom Dienst befreit, um sich in
einem Kurbad auszukurieren. Im August trat er
die Badekur in Bad Tölz an.
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13. Kapitel
Verfolgung jüdischer Richter
Am 19. Oktober 1914 meldete er sich als
dienstfähig zurück. Zwar sei die Furunkulose noch
nicht gänzlich ausgeheilt, trete aber nur noch vereinzelt und immer weniger auf, und sein sonstiger
Zustand habe sich vollkommen gebessert. Der I.
Staatsanwalt, der vor allem fürchtete, dass man
ihm den schwer erkämpften Ersatzmann jetzt wieder wegnehme und Moritz dann doch nicht voll
einsatzfähig sei, ließ ihn vom Bezirksarzt untersuchen. Dieser bestätigte die Wiederherstellung der
Dienstfähigkeit. Lange blieb Moritz der Staatsanwaltschaft allerdings nicht erhalten; denn es war
Krieg. Unter dem 20. Februar schrieb der I. Staatsanwalt an seinen Vorgesetzten, den Oberstaatsanwalt beim Oberlandesgericht Nürnberg: „Der K.
3. Staatsanwalt Moritz hier gehört dem letzten Jahrgang (1882) der ungedienten Ersatzreserve an. Seine
Einberufung ist noch nicht erfolgt, steht aber bevor.
Er ist mein einziger Nebenbeamter …“
Die Bemühungen des Vorgesetzten um eine
Unabkömmlichkeitsbescheinigung waren erfolglos. Ein kurzer Vermerk besagt: „III. StA Moritz
rückt am 6. IV. 15 zum Heeresdienste ein.“
Sehr viel später, im Jahre 1933, reichte er
Zeugenerklärungen zu den Akten. Der ehemalige
Kompanieschreiber Otto Angermayer teilte mit:
„M. rückte als Ers. Res. ein, kam als Utfz. zu meiner
Komp. ins Feld wurde zum Vizefldw. als Zugführer
und dann zum Ltn. befördert. Die ganzen Jahre hindurch stand er im Schützengraben. Die letzte Zeit des
Krieges wurde er Komp.führer u. brachte als solcher die
Komp. in die Heimat zurück. Außer den Kämpfen in
den Vogesen stand er 1916 als Zugführer vor Verdun
wo unser Rgt. fast vollständig aufgerieben wurde. Als
Auszeichnung erhielt M. das E.K . II. Kl.
Herr Moritz wurde im Febr. 19 von der Truppe entlassen.“
Der Freiherr von und zu Aufsess, im Jahre
1933 Präsident des Amtsgerichts München, ließ
über die Beamtenabteilung der NSDAP erklären:
„Moritz kam im Mai 1916 zu mir, nämlich der 2.
Komp. des 5. Ers.Inft.Regts., ins Feld. Er war dort
Unteroffizier und wurde von mir noch zum Vizefeldwebel vorgeschlagen. Ich kam am 1. März 1917 aus
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dem Regiment. Während meiner Anwesenheit im Regiment hat sich Moritz als guter, pflichtgetreuer U.O.
und Zugführer gezeigt, der auch kameradschaftlichen
Geist und soziales Empfinden für die Untergebenen
an den Tag gelegt hat. Wir waren damals fortgesetzt
mit kurzen Unterbrechungen in vorderster Linie und
hat Moritz sich bei allen Unternehmungen als tapfer
gezeigt und hat sich auch zu Patrouillen freiwillig gemeldet. Ich habe es an ihm besonders geschätzt, dass
er trotz seiner Vorbildung und seines entsprechend höheren Alters als Ersatzreservist im Verkehr mit den
Mannschaften und den U.O. vorbildlich sich benommen hat. Seinen soldatischen Leistungen entsprechend hätte er auch von mir zur Offiziersbeförderung vorgeschlagen werden müssen. Ich habe es nur
deshalb nicht getan, weil ich schon damals die Einstellung hatte, dass das Offiziercorps frei von nichtarischen Angehörigen sein müsse … Ich bestätige …
dass er nie versucht hat, irgendein Kommando ausserhalb des Schützengrabens zu bekommen, was sonst
bei Juden üblich war.
Bei U.O. und Vizefeldwebeln, die ich als besonders national gesinnt erkannt habe, war er jedenfalls
in Achtung und erfreute sich besonderer Zuneigung
in kameradschaftlichen Kreisen. Besonders hervorzuheben ist sein, sonst bei Juden nicht übliches, bescheidenes Wesen.“
Wie schon von Angermayer bestätigt, wurde
Moritz, nachdem der Freiherr von und zu Aufsess nicht mehr sein Vorgesetzter war, doch noch
zum Leutnant befördert (am 7. Juli 1917). Dies
und auch die Verleihung des Eisernen Kreuzes II.
Klasse (am 16. März 1917) wurde auch zu seinen
Personalakten bei der Justiz gemeldet. Nachträglich, am 17. Mai 1920, kam noch eine Meldung
in die Akten, dass dem Amtsrichter Maximilian
Moritz „… mit Wirkung vom 27. Jan. 1919 der b.
Militärverdienstorden 4. Klasse mit Schwertern verliehen worden sei.“
Nach seiner eigenen Erinnerung kehrte Maximilian Moritz bereits im Januar 1919 zur Staatsanwaltschaft Ansbach zurück. Mit Wirkung vom
1. April 1919 wurde er Amtsrichter im München.
Im Mai erlitt er einen Nervenzusammenbruch
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und musste ein Sanatorium aufsuchen. Erst am
20. Oktober 1919 konnte er seinen Dienst wieder
aufnehmen. Er kam ins Grundbuchamt und später in die Vollstreckungsabteilung und ab Oktober
1920 gleichzeitig zum Streitgericht.
Am 6. Mai 1920 heiratete er in Offenbach am
Main die dort am 20. November 1891 geborene
Kaufmannstochter Hermine Clara Mayer. Sie hatte
eine zweijährige Ausbildung als Kindergärtnerin absolviert und zwei weitere Jahre eine Krankenpflegeschule besucht. Von 1914 bis 1918 war sie Hilfsschwester beim Roten Kreuz gewesen. Das Ehepaar
wohnte im Hause Georgenstraße 114/I (später, ab
Dezember 1931 Georgenstraße 128/II links) und
bekam zwei Söhne, den am 11. Mai 1921 geborenen Sohn Ludwig Alfred und den am 23. Dezember 1922 geborenen Sohn Ernst August.
Mit Wirkung vom 1. Juli 1923 wurde einer
Reihe von Amtsrichtern, darunter Maximilian Moritz, der Titel „Oberamtsrichter“ verliehen. Es ist
nicht erkennbar, welchen Vorteil dies brachte. Die
„Dienstliche Würdigung“ vom 27. Januar 1925
zeigt, dass Moritz nun in seinen besten und aktivsten Jahren war: „MORITZ ist vorzüglich veranlagt, hat ein scharfes, sicheres Urteil, eine ausgezeichnete Auffassungsgabe und umfassende Kenntnisse.
Auch steht ihm eine große Geschäftsgewandtheit zur
Verfügung. Er ist nicht nur ein fähiger Jurist, sondern
auch auf wirtschaftlichem Gebiete belesen und erfahren. Er überragt die tüchtigen Beamten … Seine
Gesundheitsverhältnisse … scheinen wieder gute zu
sein. MORITZ war seit jener Zeit nicht mehr krank
und imstande, eine sehr große Geschäftsaufgabe ohne
Schwierigkeiten zu bewältigen. Er eignet sich zur
Beförderung als Richter und Staatsanwalt, auch in
einem sehr großen Amte und in München.“ Das einstimmig zustande gekommene und von 16 übergeordneten Richtern am Amtsgericht, Landgericht
und Oberlandesgericht unterzeichnete „Gesamturteil“ lautete: „besonders tüchtig“.
Die erhoffte Beförderung ließ dennoch auf sich
warten. Eine Stelle am Landgericht Straubing und
eine am Landgericht Deggendorf, die ihm 1925
und 1927 angeboten wurden, lehnte er ab. End-
lich, am 16. April 1930, kam mit Wirkung vom
1. Mai 1930 die ersehnte Beförderung zum Rat am
Landgericht München I. Zusätzlich wurde er im
Juli 1930 zum Leiter der Übungskurse für die Referendare ernannt. Auch die „Dienstliche Beurteilung“ vom 22. Mai 1931 ist wieder sehr rühmlich.
„Landgerichtsrat Moritz ist ein Mann von gefestigtem
Charakter, gesunder Lebensauffassung und hohem
Pflichtgefühl; er hat eine grosse Verantwortlichkeit und
Selbständigkeit, ist klug und maßvoll. … Er ist von
unermüdlichem Fleiss und Eifer. Seine Leistungen sind
nach jeder Richtung ausgezeichnet. Mängel bestehen
keine. Moritz eignet sich für jede Beförderung, auch
bei einer Behörde mit schwierigen Verhältnissen und
grösster Geschäftsaufgabe, am besten wohl zum Rat an
einem Oberlandesgericht.“ Das wieder von etlichen
höheren Richtern unterschriebene einstimmige Gesamturteil lautet: „Ganz besonders tüchtig“.
So ermutigt, stellte Maximilian Moritz am
14. November 1931 ein Gesuch um Beförderung
auf eine A 2 a Stelle in München. Dass er in München bleiben wollte, begründete er: „Auf München
beschränke ich mein Gesuch deshalb, weil mein ältester Sohn auf seinen Wunsch und auf Anraten seiner
Lehrer sich auf den Rabbinerberuf vorbereiten soll,
mit dieser Vorbereitung jetzt schon beginnen muss
und den hierzu nötigen Unterricht in keiner anderen
bayerischen Stadt so gut erhalten kann wie hier …“
Der Oberlandesgerichtspräsident, der vorher die
lobenden Beurteilungen mit unterzeichnet hatte,
meinte dennoch in seiner Stellungnahme ans Justizministerium: „… für den Richterdienst an einem
Oberlandesgericht, auch am Oberlandesgericht
München … vorbehaltlos geeignet. Seine Eignung
liegt aber – wenigstens vorerst – nicht über der guten
Mittellinie und rechtfertigt deshalb eine Beförderung
ausser der Reihe nicht. Das Gesuch dürfte darnach
reichlich früh gestellt sein.“
Es gab keine Beförderung mehr. Stattdessen
wurde Moritz schon am 5. April 1933 die Leitung der Referendarausbildung genommen. Als
Kriegsteilnehmer konnte er nicht ohne weiteres
entlassen werden. Er musste aber auf Grund des
„Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeam-
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Verfolgung jüdischer Richter
tentums“ vom 7. April 1933 einen Fragebogen
ausfüllen, und darin gab er überraschenderweise
an, dass er von September 1919 bis Februar 1933
Mitglied der SPD gewesen sei. Diese Parteizugehörigkeit, und vorerst nicht sein Judentum, brachte
ihn in Gefahr. Er versuchte nun, in einer Weise,
die man nur aus der Zeit heraus verstehen kann,
seinen Eintritt in die SPD als Ergebnis einer persönlichen Freundschaft und seine Beziehung zu
dieser Partei als praktisch überhaupt nicht bestehend darzustellen. In den Akten liegt eine handschriftliche Anlage zu dem betreffenden Punkt des
Fragebogens, die zwar nicht von ihm geschrieben,
aber offensichtlich von ihm diktiert ist: „Ich gehörte vom September 1919 bis einschließlich Februar
1933 der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands
an. Politisch betätigt habe ich mich nie.“ Er schildert
seine Kriegszeit, die daraus resultierende ständige
Schlaflosigkeit, die schwierigen Nachkriegsumstände und seinen Zusammenbruch Anfang Mai
1919 und fährt fort: „Ich war in jener schweren Zeit
in verzweifelter Stimmung, da ich fürchtete, meine
Arbeitskraft nicht wieder zu erlangen, und trug mich
ernsthaft mit Selbstmordgedanken. Da besuchte mich
eines Tages ein hiesiger Anwalt und Studienkollege
Dr. W., der von meiner Erkrankung gehört hatte, im
Sanatorium. Er nahm sich in rührender Weise meiner Seelennot an und trug viel zu meiner Wiederaufrichtung bei, indem er mich von schlimmen Vermietern befreite, mir im gleichen Hause, wo er wohnte,
ein Zimmer verschaffte und mir gegen Bezahlung in
seiner Familie einige Monate lang Verköstigung und
Pflege gewährte. Er gehörte, da er Hilfsarbeiter in einer sozialdem. Kanzlei war, der S.P.D. an und unter seinem Einflusse, dem ich bei meinem damaligen
Nervenzustande und aus dem Gefühle der Dankbarkeit heraus leichter zugänglich war, trat auch ich der
S.P.D. bei; er ließ mir in dem Sektionslokale, einer benachbarten Wirtschaft, im September 1919 eine Beitrittserklärung zur Unterzeichnung vorlegen.
Ich hatte mich vorher nie mit Politik befasst und
besuchte in den folgenden Monaten als politischer
Neuling in seiner Begleitung zwei oder dreimal große
öffentliche S.P.D. Versammlungen, um zuzuhören
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und mich zu informieren. Eine Sektionsversammlung
habe ich nur ein einziges Mal etwa im Mai 1920 besucht. Trotz meines stark ausgeprägten sozialen Empfindens konnte ich eine innere Beziehung zur Partei
von vornherein nicht finden und hielt mich seit Sommer 1920 – im Mai 1920 habe ich mich verheiratet
– von der Partei und vom Besuch öffentlicher und
geschlossener Versammlungen der S.P.D. u. sonstiger
Parteien auch in Wahlzeiten vollständig fern. Ich leistete nie irgend welche Parteiarbeit, lernte persönlich
keinen Parteifunktionär od. Abgeordneten kennen,
suchte auch keine solchen Verbindungen herzustellen oder irgendeinen Vorteil durch die Partei zu erreichen, obwohl ich seit 1920 in meiner dienstlichen
Laufbahn trotz bester Qualifikation immer mehr
Zurücksetzungen gegenüber meinem Jahrgang zu
erleiden hatte und mich heute, im 51. Lebensjahre
und im 24. Jahre seit meiner ersten etatmäßigen Anstellung (1.IX.09) noch in der Eingangsgruppe der
Richterlaufbahn befinde … Ich bezahlte in größeren
Abständen den geringen Parteibeitrag von 15 Pfg.
pro Woche … Der Weg zur N.S.D.A.P., den so viele
mit dem gleichen nationalen und sozialen Empfinden, wie ich, betreten, blieb mir als Juden versperrt,
eine Tragik, die ich mit vielen jüdischen Deutschen
teile. Meine S.P.D. -Mitgliedschaft blieb infolge meiner absoluten Zurückhaltung in meiner dienstlichen
und privaten Umgebung meines Wissens unbekannt;
dies ist der Grund, warum ich diese Ausführungen
im verschlossenen Umschlage einreiche …“
Diese Bekenntnisse und die oben schon zitierten
Zeugnisse von Kriegskameraden, die ihm nicht nur
Tapferkeit und Kameradschaftlichkeit, sondern auch
„nationale Gesinnung“ bestätigten, haben letzten
Endes nichts geholfen: Zwar verbot zunächst der
„Reichsstatthalter in Bayern“, Ritter von Epp, dem
Justizminister Frank die Entlassung von Moritz (und
anderer Richter) nach § 4 des „Gesetzes über die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, gab aber
dann auf dessen Gegenvorstellungen vom 26. September doch nach und genehmigte mit Schreiben
vom 11. November 1933 die Versetzung nach § 5 des
genannten Gesetzes (d.h. entweder auf einen schlechteren Posten oder auf Antrag in den Ruhestand).
13.2 Landgerichtsrat Maximilian Moritz
Als Maximilian Moritz dies eröffnet worden
war mit dem Vorschlag, ihn als Amtsrichter nach
Beilngries zu versetzen, war er so fassungslos, dass
er nochmals eine schriftliche Gegenvorstellung
mit den bereits bekannten Gründen abgab und
bat, ihn, wenn schon zurückzustufen, wenigstens
in München zu lassen, da ein zurückgestufter jüdischer Amtsrichter in einem kleinen Ort in einer
unmöglichen Situation wäre und sein Amt nicht
ordentlich ausüben könnte. Für den Fall, dass dieser Bitte nicht entsprochen würde, beantrage er
die Versetzung in den Ruhestand. Der Bitte wurde
nicht entsprochen, sondern er wurde mit Verfügung vom 30. November 1933 in den dauernden
Ruhestand versetzt.2
Die Personalakten enden mit gleich zwei
Schreiben vom 6. und vom 16. Mai 1939, in welchen ihm unter dem Vorbehalt jederzeitigen Widerrufs die Zustimmung zur Verlegung seines
Wohnsitzes ins Ausland bis Ende Mai 1941 erteilt
wurde mit der Maßgabe, dass seine Versorgungsbezüge in voller Höhe auf ein inländisches Devisenkonto zu überweisen seien.
Ab 1932 hatte sich Moritz in der Israelitischen
Kultusgemeinde München engagiert. Im Münchner Israelitischen Kalender von 1932/33 erscheint
er unter den Mitgliedern. In dieser Zeit wurde er
Mitglied des Finanz- und Stiftungsausschusses und
des Schulausschusses. In den folgenden Kalendern
(1934/35, 1935/36 und 1936/37) erscheint er
ebenfalls, und zwar immer noch als Landgerichtsrat Maximilian Moritz, Georgenstraße 128, seiner
ständigen Adresse seit 1931. Im Jahre 1935 war er
auch im Vorstand des Verbandes Bayerischer Israelitischer Gemeinden und beim Schiedsgericht für
Gemeindevertreter.3
Nach der „Reichskristallnacht“ am 10. November 1938 wurde Moritz unter der Nr. 19633 in
das KZ Dachau eingeliefert. Erst am 13. Dezember 1939 wurde er entlassen.4 Sein jüngster Bruder
Oskar, der „wegen Verherrlichung des Kommunismus“ schon vom 9. März 1933 bis 16. August
1935 im KZ Dachau gewesen war, wurde dort am
29. November 1938 nochmals eingeliefert und
blieb bis zum 20. Dezember 1938.5
Inzwischen war es 1937 gelungen, die beiden
Söhne nach England zu schicken.6 Der ältere Sohn,
Ludwig Alfred, war später Professor für Classics an
der Clifford University. Er ist 2003 gestorben.7
Der Jüngere, Ernst August, wurde im Jahre 1941
als „Deutscher“ in Kanada interniert. Dort erhielt
er über das Rote Kreuz den letzten Brief seines Vaters, der ihm schrieb, dass er zum Barackenbau in
der Knorrstraße eingezogen sei. Er lebte in Manchester als Wirtschaftsberater.8
Der Meldebogen weist aus, dass das Ehepaar Moritz ab 15. August 1941 im Hause Herzog-Wilhelm-Straße 5/II (jetzt Hausnummer 9)
in Untermiete bei Wolfsheimer wohnte. Ab September 1941 mussten sie den Judenstern tragen.
Ab 5. März 1942 war Moritz in das mit jüdischen
Leidensgenossen überfüllte Haus Hohenzollernstraße 4, das ehemalige jüdische Lehrlingsheim,
eingewiesen. Seine Frau befand sich zu dieser Zeit
im jüdischen Altersheim in der Mathildenstraße9
und arbeitete dort vermutlich als Pflegerin.
Schon im März 1939 waren alle Wertpapiere
des Ehepaares eingezogen worden. Am 27. März
1939 mussten sie ihre Wertgegenstände (Schmuck,
Tafelsilber und sogar eine goldene Zahnkrone)
beim Städtischen Leihamt abliefern. Das Mobiliar und den sonstigen Hausrat mussten sie beim
Auszug aus der Georgenstraße im Stich lassen. Alles wurde beschlagnahmt und zum Teil versteigert.
Ebenso wurden alle Bankguthaben eingezogen,
nachdem das Ehepaar „unbekannt verzogen“ und
daher sein Vermögen „verfallen“ war.10
Am 3. April wurden beide Eheleute Moritz
nach Piaski deportiert.11 Zeitpunkt und Ort ihres
Todes sind unbekannt. Piaski war ein Durchgangslager, von dem aus die Deportierten, falls sie den
dortigen Aufenthalt überlebten, in die Vernichtungslager Belzec und Sobibor transportiert und
dort ohne Registrierung ermordet wurden. Von
diesen Transporten gab es, soweit bekannt, keinen
einzigen Überlebenden.
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13. Kapitel
Verfolgung jüdischer Richter
Anmerkungen
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Debler, Ulrich: Die jüdische Gemeinde von Miltenberg, Aschaffenburger Jahrbuch für Geschichte, Landeskunde und Kunst des Untermaingebietes, Bd. 17, Aschaffenburg 1995, S. 139f.
Justizpersonalakten, Bayerisches Hauptstaatsarchiv.
Münchner Israelitischer Kalender, Jahrgänge 1933/34 bis 1936/37, Monacensia.
Einlieferungsliste des KZ Dachau, Gedenkstätte Dachau.
Debler, a.a.O., S. 139.
Biographisches Gedenkbuch der Münchner Juden, 1933 – 1945, hrsg. vom Stadtarchiv München, Bd. 2,
(M – Z), S. 863.
Cardiff News, January 2003, S. 10.
Korrespondenz Dr. Andreas Heusler mit Ernst August Moritz, Stadtarchiv München.
Meldebogen, Stadtarchiv München.
Entschädigungsakten des Bayer. Landesentschädigungsamtes, AZ: EG 46209, Staatsarchiv München.
Auskunft des Internationalen Suchdienstes Arolsen.
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