Hörsturz– was nun - Deutsche Tinnitus-Liga

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Hörsturz– was nun - Deutsche Tinnitus-Liga
DTL-Textarchiv
Hörsturz– was nun ?!
Diagnostik und Behandlung
Olaf Michel
Man wacht aus dem Schlaf auf und hat ein Gefühl, als wenn ein Ohr voller Wasser
wäre: Ein dumpfes Hören ist im Seitenvergleich möglich, zusätzlich ist ein Summen und
Brausen vorhanden – ist das Hörsturz?
Häufig leider ja.
Jedoch gibt es viele andere Krankheiten des Ohres und des Gleichgewichtsapparates, die sich ähnlich
oder gleich äußern und die nur der Facharzt herausfinden kann. Die Ursachen für eine Funktionsbeeinträchtigung des Hörsinnes können von banalen Störungen wie übermäßiges Ohrenschmalz über einen
Tubenkatarrh bis hin zu einem Gehirntumor reichen.
Eine Hörstörung stellt eine erhebliche Beeinträchtigung dar, die in unserer kommunikationsbetonten
Zeit ein nicht zu unterschätzendes Handicap bewirkt. Eine solche Minderung der Lebens- und Erlebensqualität sollte nicht mehr ohne weiteres als schicksalhaft hingenommen werden, sondern der Betroffene
sollte aktiv sofortige Hilfe suchen.
Bei einem Hörsturz können in bis zu 70 % der Fälle Ohrgeräusche und in ca. 30 % der Fälle
Schwindel und Übelkeit vorhanden sein. Diese Symptome dürfen aber nicht wiederholt auftreten oder
im Vordergrund der Erkrankung stehen. Weitere Kennzeichen sind Druckgefühl und andere lokale
Missempfindungen (ca. 50 %), Verzerrungseffekte und der Verlust des Richtungsgehörs.
Es ist zu vermuten, dass der "Hörsturz" als einheitliches Krankheitsbild nicht existiert. Das Symptom
"Hörsturz" ist die gleichförmige Ausdrucksform von durch verschiedene Ursachen hervorgerufenen
Innenohrfunktionsstörungen, die an unterschiedlichen Orten in der Hörschnecke und der Hörbahn lokalisiert sind.
Diagnostik und Ausschluss anderer Krankheitsbilder
Neben subtiler Erfragung der Vorgeschichte kann beim HNO-Spezialisten mit der Stimmgabelprüfung ein Ausschluss einer Schallleitungsschwerhörigkeit getroffen werden. Das Tonschwellenaudiogramm ergibt die Hörverlust-Charakteristik beider Ohren und den Nachweis der reinen Schallempfindungsschwerhörigkeit. Spezielle Verfahren (überschwellige Hörprüfungen, Impedanzmessung,
akustisch evozierte Hirnstammpotentiale (ERA), Stapediusreflexmessung, Otoakustische Emissionen
(OAE), Simulationsteste sowie die Gleichgewichtsdiagnostik u.a.) tragen zur Erkennung organisch bedingter plötzlicher Hörstörungen bei.
Durch den Hausarzt sollten Gürtelrose, Mumps, Röteln, Lues, Borreliose, Toxoplasmose und AIDS
im Verdachtsfalle durch Serologie ausgeschlossen werden. Medikamentös-bedingte Ursachen und Drogeneinflüsse sind in die Überlegungen einzubeziehen.
Deutsche Tinnitus-Liga e.V. (DTL)
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Bei entsprechendem Verdacht sollte eine Kernspintomographie erfolgen. Diese hat heutzutage unbestritten einen hohen Stellenwert in der Diagnostik möglicher Tumoren des Hör- und Gleichgewichtsnerven im Felsenbein und Kleinhirnbrückenwinkel, da sie sehr genau ist.
Ausfälle weiterer Hirnnerven, Gangunsicherheiten und Sehstörungen sind nicht mit einem Hörsturz
vereinbar und deuten auf schwere neurologische Krankheitsbilder hin.
Die Behandlung des Hörsturzes mit Infusionen
In der Behandlung des Hörsturzes sind bisher viele Wege eingeschlagen worden. Als Krankheitsursache werden weiterhin infektiös-virale und vaskulär-zirkulatorische Störungen angenommen. Auch
mangelnde Stressverarbeitung kann destabilisierend wirken.
In den letzten Jahren haben sich zur Behandlung die Blutverdünnungsverfahren in Verbindung mit
einer moderaten Kortisongabe durchgesetzt, die durch eine Verbesserung der Fließeigenschaften des
Blutes eine gesteigerte Kapillardurchblutung und eine höhere Sauerstoffversorgung der Hörschnecke
bewirken. Die zusätzliche Kortisongabe hat sich insbesondere bei Rezidiven, stark ausgeprägten und
beidseitigen Hörverlusten bewährt und ist durch seriöse Studien abgesichert. Die Infusionsbehandlungen sind ist in der Regel am intensivsten im Krankenhaus durchführbar, werden aber auch mit Einschränkungen ambulant durchgeführt.
Ethische Bedenken sollten gegen Therapieverfahren erhoben werden, deren Wirksamkeit eindeutig
widerlegt ist, die dem Patienten weitreichende persönliche Kosten verursachen oder für die hohe Komplikationsraten bekannt sind.
Wirksamkeit der HBO durch Studien nicht ausreichend belegt
Verstärkt ist in den letzten Jahren die Behandlung mit hyperbarem Sauerstoff (HBO) propagiert
worden. Diese Therapie wurde zunächst für herkömmlich erfolglos therapierte Hörstürze empfohlen.
Mit steigender Zahl der Druckkammern ging jedoch auch die Forderung einher, möglichst frühzeitig
eine hyperbare Sauerstofftherapie durchzuführen. Die hyperbare Sauerstofftherapie ist in der Regel
nicht überall und jederzeit akut zugänglich. Anerkannte Behandlungsstudien mit gesicherten klinischen
Daten fehlen. Komplikationen in verschiedenen Organbereichen (ZNS, Augen, Lunge), im Innenohr,
Tinnitusverschlechterungen, Hörsturzprogredienz und doppelseitige Ertaubungen unter dem Einfluss
der HBO-Therapie verpflichten zur Selektion und sehr kritischen Indikationsstellung. Für den Patienten ist diese Therapie mit zusätzlichen Kosten verbunden, da eine Anerkennung durch die gesetzlichen Krankenkassen bisher fehlt.
"Blutwäsche" – kein neues Wundermittel
Jüngste Pressemitteilungen über die Hämorheo-Therapie haben häufig die Erwartung geweckt, ein
neues Wunderheilmittel stehe zu der Behandlung des Hörsturzes bereit. Zum besseren Verständnis - und
vor allem zum Dämpfen der Erwartungen - ist es wichtig zu wissen, dass die Hämorheo-Therapie eine
Eliminationstherapie darstellt, die die Konzentration einer Substanz im Blut oder Plasma verringert.
Damit steht dieses Verfahren in der Tradition der bekannten Hämodilution, bei der durch intravenöse
Verabreichung von Volumen-Expandern (wie z.B. Hydroxyäthylstärke) die relative Konzentration von
rheologisch wirksamen Proteinen erniedrigt wird. Noch kann über dieses sehr teure Verfahren kein ab-
© DTL, 12.10.2001
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DTL-Textarchiv: Hörsturz - was nun?!
schließendes Urteil gefällt werden. Zur Zeit laufen an mehreren Universitätskliniken kontrollierte Studien.
Die Vorschädigung des Ohres ist entscheidend für die Hörerholung
Bestimmend für die maximal erreichbare Hörerholung ist die Vorschädigung des betreffenden Ohres, soweit diese bekannt ist. In der Regel sollte die Bezugsquelle für den zu erwartenden und berechnenden Hörgewinn das Gegenohr sein. Je älter der Patient und je höher der anfängliche Hörverlust ist,
desto schlechter ist die Erholung unter jeglicher Therapie. Ein vorgeschädigtes Ohr erholt sich langsamer und unvollständiger. Ertaubungen haben eine besonders schlechte Prognose. Tieftonverluste erholen sich schneller und vollständiger als Hochtonhörstürze, sind aber langfristig weniger stabil.
Spontanheilungen nicht so häufig wie früher angenommen
Die ethische Vertretbarkeit einer vollständigen Nichtbehandlung wird weiterhin diskutiert. Dies ist
bei der Frage von Bedeutung, wie Restschäden (z.B. ein quälendes Ohrgeräusch) zu rechtfertigen sind,
wenn eine Therapie möglicherweise eine Besserung oder teilweise Linderung der Beschwerden bewirkt
hätte. Im Gegensatz zur früheren Annahme einer sehr hohen Spontanheilung des Hörsturzes liegt diese
jedoch nach neuesten Erkenntnisse lediglich unter 50%. Mit einer modernen Infusionsbehandlung können aber Erholungen bis zu 85 % erzielt werden!
Für keinen Arzt ist zu Beginn der Erkrankung absehbar, inwieweit die aufgetretene Hörminderung
einer therapeutischen Hilfestellung bedarf. Bei einem Ertrinkenden wäre es auch gefährlich abzuwarten, ob er nicht vielleicht in letzter Minute noch lernt, selber zu schwimmen.
Oft wird die Frage laut, ob in der Zeit nach einem Hörsturz körperliche Anstrengungen unternommen werden dürfen oder ob Flugreisen unternommen werden können. Auch hierüber existieren keine
verbindlichen Angaben. Eine Statistik, dass es durch die Benutzung von Flugzeugen zu einer erhöhten
Hörsturzbereitschaft kommen könnte, liegt nicht vor.
Therapeutischer Eilfall – kein "Notfall"
In der Vergangenheit ist das Vorliegen eines Hörsturzes wiederholt als "otologischer Notfall" bezeichnet worden. Die fälschlich eine lebensbedrohende Dringlichkeit suggerierende Bezeichnung "Notfall" sollte mittlerweile verlassen sein. Es ist angezeigt, den Hörsturz als "therapeutischen Eilfall“ zu
begreifen, da die Erholungschancen der Hörminderung noch immer um so höher eingeschätzt werden, je
frühzeitiger eine Therapie einsetzt. In die Entscheidung über die zu wählende Therapie sollte der Patient
einbezogen werden, da ärztlicherseits für keine der zur Zeit möglichen Therapieformen ein Erfolg garantiert werden kann.
Prof.Dr.med.O.Michel
Klinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde
Universität zu Köln
D-50924 Köln
Tel.: +49-221-478-4760
Fax: +49-221-478-4792
Email: [email protected]
Dieser Artikel erschien im Tinnitus-Forum 04/2000
© DTL, 12.10.2001
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