Cummings Wahrheiten

In Vision du réel festival international de cinéma catalogue. Nyon, 2002.
ETATS DES LIEUX - DONIGAN CUMMING
CUMMINGS WAHRHEITEN
"Kurz gesagt kom m entiert diese Arbeit oft sehr kritisch
die dokum entarische Tradition, die ihr N ahrung und
R ahm en gibt. D ie unverhohlene K ünstlichkeit und der
W iderstand gegenüber der Orthodoxie sind die ersten
A nzeichen eines Bruchs - die Fiktion schleicht sich ins
G ebäude der W ahrheit ein und um gekehrt."
"Ich habe diesen P ersonen während siebzehn Jahren
ins A ngesicht geschaut und ich habe im S inn, dies
auch weiterhin zu tun."
Donigan Cumming
D o nigan Cumming befasst sich mit dem S ammeln vo n K längen,
Fo to grafien und V ideo sequenzen vo n Gestalten, denen das
Leben zugesetzt hat. D o ch dabei ist er nicht ihr patentierter
E thno lo ge, der sich quälerische Fragen über die richtige D istanz
zu ihnen stellt. Ganz im Gegenteil, er setzt sich über alle vo n der
gängigen S chicklichkeit gebo tenen Grenzen hinweg. C umming
akzeptiert durchaus, dass er das vo n ihm erfo rschte M ilieu
beeinflusst. E r rückt seinen Gestalten auf die H aut, stellt sie in
Frage, pro vo ziert sie und verfügt bisweilen über sie wie
S chauspieler. E r geht so weit, seine A nwesenheit vo llständig
o f fenzulegen. E in Film {Docu-D uster) hat einzig sein Gesicht
zum Gegenstand, ein anderer {Trip) das Geräusch seiner
S chritte und seines A tems. S o ist der Filmemacher eins zu eins
präsent in seinen E rzählungen, er ist der intime
G esprächspartner dieser kleinen S char, seiner T ruppe
so zusagen, mit N ettie, B renda, C o lin, A lbert, Nelso n, P ierre...
S icher ruft C ummings W erk zunächst ein heftiges Unbehagen
hervo r, das bei den E inen auf ebenso heftige A blehnung stösst.
S ind diese Po rträts das Ergebnis eines ungesunden
V o yeurismus, hinter dem eine perverse Lust steckt? W as so ll
die B eschäftigung mit diesen S o zialhilfebezügern, die aus der
herrschenden N o rmalität herausfallen? K nöpft C umming diesen
M enschen, die sich vo r dem Ü bergriff der K amera nicht schützen
können, Bilder und schmerzhafte W ahrheiten ab? D ie W ahrheit
ist die, dass der Fo to graf und V ideast mit jeder seiner Gestalten
eine V ertrauensbeziehung aufbaut und sie für die
Zusam m enarbeit entlo hnt. E r kennt sie o f t scho n seit Langem ,
ist regelmässig mit ihnen zusammen und findet bei ihnen immer
eine o ffene T üre. D o ch letzten E ndes ist es eine
S chicksalsgemeinschaft, die Cumming mit diesen M enschen
verbindet. D ies lässt der V ideast zumindest durchblicken in M y
D inner with W eegee, wo er vo r seiner eigenen K amera bekennt,
dass er früher in den A lko ho l abgedriftet ist. D o nigan
C umming reiht sich in die gro sse T raditio n des intimen und
pro vo kativen R ealismus ein. Seine W erke erinnern an die
amerikanische Fo to grafie einer D iane A rbus, einer N an Go ldin
o der eines Larry C lark, welche die K ehrseite vo n vertrauten
U mgebungen auskundschaften, um deren S chönheit und
gleichzeitig auch deren mo nströse und perfekte B analität
einzufangen.
K ennzeichnend für C ummings A rbeit ist der N achdruck, mit dem
er seine K amera lange auf seine A do ptivfamilie richtet. D ieses
Insistieren hat inso fern eine po litische A ussage, als es eine
K ritik am audio visuellen S chaffen im A llgemeinen und an der
Fernsehpro duktio n im B eso nderen beinhaltet: Diese geben vo r,
die Grenzen des V o yeurismus nicht zu überschreiten, wo bei sie
diese perverserweise T ag für T ag weiter stecken. D as A und 0
der M edien ist die N ähe. C umming steht an vo rderster Fro nt
dieser ethischen Frage, die er einer scho nungslo sen K ritik
unterzieht. S eine E rzählungen sind geläuterte K o pien vo n
S chundliteratur, Klatschpresse, D o ku-S o aps; sie steigern ihre
G ewalt und H ässlichkeit bis ins A bsurde, entlarven ihre
verschlagene Leere, nageln ihre N ichtigkeit fest. E in
grundsätzlicher Zweifel zieht durch C ummings ganzes W erk. D er
Zweifel an den P erso nen, die er filmt. W o rum handelt es sich
genau: M enschen, Figuren, Laienschauspieler, M o dels? W ie viel
E chtheit kann ihnen zugestanden werden? S ind sie das, was
die B ilder vo n ihnen o ffenbaren? S pielen sie ihre eigene Ro lle?
H andelt es sich um Inszenierungen? U m P ro ben? S tam men die
gezeigten B ilder aus einer o der m ehreren Drehaufnahmen? A uf
all diese Fragen gibt es keine endgültige Antwo rt: D er
Zuschauer m uss sich auf seine eigenen Gefühle verlassen, um
zu entscheiden. C ummings A rbeit erinnert zwar an
do kumentarische Fiktio nen und gesellschaftspo litische
D o kumentarfilme, do ch sie ist glücklicherweise vielschichtig
genug, um sich so lchen schematischen Qualifizierungen zu
entziehen. In T at und W ahrheit entwickelt der Filmemacher
seine B ewegungen in einem R aum, der mit keinem anderen
vergleichbar und im eigentlichen S inn enigmatisch ist. D o nigan
C ummings W erk ist mit einer kruden und luziden A nthro po lo gie
zu vergleichen. S eine Filme sind uns manchmal unerträglich.
D abei fehlt es ihnen nicht an H umo r, ganz und gar nicht. E s
geht um K rankheiten des K örpers und des Geistes, ums A lter;
diese verfo lgt der Filmemacher unablässig in einem
sehr persönlichen T heaterstück, dessen S zenen jene des durch das W erk des T o des entäusserten - M enschseins sind.
D iese W elt ist abso lut zeitgenössisch. S ie stört und bestärkt
uns in unserem B edürfnis nach V erständigung mit dem
A nderen in seiner absto ssenden S chwäche und seiner
brüderlichen Grösse.
E in Traum . In den S trassen Montreals sehe ich Cum m ing'sche
G estalten, gut gekleidet, ordentlich gekäm m t, rasiert, m it
ruhigem B lick. S o völlig norm al. Ich gehe näher, um zu sehen,
ob es tatsächlich dieselben Leute sind, die sich für eine Fiktion
verkleidet hatten und nun wieder ins norm ale Leben
zurückgekehrt sind. A ch so, sage ich m ir, sie spielten also
R ollen, wie es richtige Schauspieler eben tun. A ber sie wenden
sich alle ab, entziehen sich m einem B lick und verschwinden in
der S tadt. Ich werde es nie wissen. (jp - Übersetzung: ebr)
Jean P erret