Onkel Wanja - Buhss.pmd - henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag

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Onkel Wanja - Buhss.pmd - henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag
Anton Tschechow
ONKEL WANJA
Szenen aus dem Landleben in vier Akten
(Originaltitel: Djadja Vanja)
Aus dem Russischen von Werner Buhss
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© henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH 2000
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henschel SCHAUSPIEL
Marienburger Straße 28
10405 Berlin
Wird das Stück nicht zur Aufführung oder Sendung angenommen, so ist dieses Ansichtsexemplar unverzüglich an den Verlag zurückzusenden.
F1
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PERSONEN
ALEXANDER WLADIMIROWITSCH SEREBRJAKOW
emeritierter Professor
JELENA ANDREJEWNA
seine Frau, 27 Jahre alt
SOFIA ALEXANDROWNA (SONJA)
seine Tochter aus erster Ehe
MARIA WASSILJEWNA WOINIZKAJA
Witwe eines Geheimrats, Mutter der ersten Frau des Professors
IWAN PETROWITSCH WOINIZKI
ihr Sohn
MICHAIL LWOWITSCH ASTROW
Arzt
ILJA ILJITSCH TELEGIN
verarmter Gutsbesitzer
MARINA
das alte Kindermädchen der Familie, genannt Tantchen
ARBEITER
Die Szene ist das Gut Serebrjakows
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Erster Akt
Garten vor der Terrasse. An der Allee unter einer alten Pappel ein zum Tee gedeckter Tisch.
Samowar. Eine Gitarre auf einer Sitzbank. Abseits eine Schaukel.
Trübes Wetter.
Marina sitzt am Samowar und strickt einen Strumpf. Astrow.
Drei Uhr nachmittags.
Marina
(Gießt ein Glas Tee ein.)
Trink Tee.
Astrow
(Nimmt widerwillig das Glas.)
Marina
Dann vielleicht einen Wodka.
Astrow
Keinen Wodka. Ich trinke nicht jeden Tag. Es ist zu schwül für
Wodka. (Pause.) Wie lange kennen wir uns jetzt.
Marina
(Nachdenkend.)
Astrow
Hab ich mich sehr verändert seitdem.
Marina
Und ob. Damals warst du jung und sahst gut aus. Jetzt bist du
alt. Und was das Aussehen betrifft, schweigen wir lieber.
Und, mein Junge, es läßt sich nicht verheimlichen, du trinkst.
Astrow
So. Nach zehn Jahren bin ich ein anderer Mensch. Und warum
das. Weil ich von früh bis in die Nacht arbeite. Immer unterwegs. Ausruhen ist ein Fremdwort für mich. Und nachts, unter
der Decke versteckt, habe ich nur noch Angst, daß sie kommen,
um mich zu einem Kranken zu schleppen. Seit wir uns kennen,
hatte ich nicht einen einzigen freien Tag. Was Wunder, daß
man da alt wird. Das Leben selbst ist sowieso langweilig, dumm
und verdreckt. Es trottet uns vor sich hin, dieses Leben. Um
einen rum lauter Knorze, nichts als Knorze, irgendwann wird
man da auch ein Knorz. Das bleibt nicht aus. (Spielt mit seinem
Bart.) Ein blöder Bart. Ich bin ein Knorz geworden, Tantchen
Gott sei Dank bin ich noch nicht verblödet, das Gehirn funktioniert noch. Aber die Gefühle, Tantchen, die Gefühle sind aufgebraucht. Ich will nichts mehr, ich brauche nichts mehr, ich liebe
niemanden mehr. Dich liebe ich vielleicht noch. (Er küßt sie auf
den Kopf.) Wir hatten auch mal so ein Kindermädchen wie dich.
Marina
Vielleicht willst du was essen.
Ich will keinen Tee.
Gott, wie soll ich mich daran erinnern. Warte.
Du kamst in diese Gegend Als Vera Petrowna noch lebte,
Sonjas Mutter Da bist du oft gekommen, zwei Winter lang.
Das ist jetzt elf Jahre her. (Sie denkt nach.) Vielleicht auch länger.
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Astrow
Nein. In der Karwoche mußte ich nach Malizkoje wegen der
Epidemie. Flecktyphus. Sie hatten die Kranken einfach ins
Nebengelaß gepackt. Nebeneinander, übereinander. Dreck,
Gestank und Gequalme. Daneben Kälber und Ferkel. Ich arbeitete ohne Pause, ohne was zu essen. Und dann, endlich zu
Hause, packen sie mir den Weichensteller auf den Tisch, daß
ich ihm den Stumpf vom abgefahrenen Bein zunähe. Aber er
stirbt schon von der Narkose. Und ich Blödmann mache mir
auch noch Gedanken, ob ich ihn absichtlich habe sterben
lassen. Da hab ich mich hingesetzt, so wie jetzt, und mich gefragt, ob in hundert, zweihundert Jahren die, für die wir uns
jetzt durch den Dreck pflügen, noch ein gutes Wort für uns übrig
haben werden. Und ich antworte, sie werden nicht, Tantchen.
Marina
Die Menschen nicht, Gott ja.
Astrow
Danke dafür. Das hast du schön gesagt.
Woinizki. Verschlafen. Zerknittert. Fummelt an seinem zu bunten Schlips.
Woinizki
Also
Astrow
Ausgeschlafen.
Woinizki
Sollte wohl sein. (Gähnt.) Seit der Professor und seine Frau bei
uns haushalten, läuft das Leben aus dem Gleis. Ich schlafe zu
unmöglichen Zeiten, esse zwischen den Mahlzeiten, trinke vormittags und nachmittags Wein. Alles ungesund. Früher kamen
wir gar nicht zum Essen vor lauter Arbeit, Sonja und ich. Jetzt
arbeitet nur noch Sonja, und ich schlafe, esse, trinke. Das ist
nicht gut.
Marina
(Kopfschüttelnd.)
Astrow
Bleiben sie lange.
Woinizki
(Pfeift.) Hundert Jahre. Der Professor hat beschlossen, das hier
als sein Zuhause zu betrachten.
Marina
Jetzt zum Beispiel. Der Samowar ist schon seit zwei Stunden in
Betrieb, aber die Herrschaften sind spazieren gegangen.
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(Pause.)
Also
Lotterleben. Der Professor steht um zwölf auf,
obwohl der Samowar seit morgens auf ihn wartet. Früher haben
wir um eins gegessen, wie das unter Menschen üblich ist. Jetzt
essen wir um sieben. Nachts liest und schreibt er, der Professor.
Um zwei läutets. Man denkt ja schon was Schlimmes. Aber: Tee.
Betrieb, Betrieb, schmeiß den Samowar an. Lotterleben.
Woinizki
Reg dich ab. Die kommen schon. Die kommen immer.
Stimmen sind zu hören.
Aus der Tiefe des Gartens zurück vom Spaziergang Serebrjakow, Jelena Andrejewna, Sonja,
Telegin.
Serebrjakow
Wirklich herrlich, diese Aussicht.
Telegin
Bemerkenswert, Exzellenz.
Serebrjakow
Meinetwegen.
Telegin
Danke, Exzellenz.
Sonja
Und morgen fahren wir in den Wald, Papa. Du kommst doch
mit.
Woinizki
Es gibt Tee, Herrschaften.
Serebrjakow
Bringt mir den Tee in mein Arbeitszimmer. Ich habe heute noch
zu tun. Seid so gut.
Sonja
Es wird dir gefallen im Wald, Papa.
Serebrjakow, Jelena Andrejewna, Sonja gehen ins Haus. Telegin geht zum Tisch und setzt sich neben
Marina.
Woinizki
Ein bißchen sehr dick angezogen für die Jahreszeit, unsere
Kapazität.
Astrow
Er hält eben auf sich.
Woinizki
Sie ist so schön. Die schönste Frau, die ich in meinem Leben
gesehen habe.
Telegin
Egal, Marina Timofejewna, ob ich durch die Felder fahre, im
Schatten des Gartens spazieren gehe oder an diesem Tisch döse,
ganz egal. Mich überkommt in jedem Fall ein unbeschreibliches
Glücksgefühl. Das Wetter ist prächtig, die Vögel singen, und wir
leben in Frieden und Eintracht. Was will man mehr. (Läßt sich ein
Glas Tee geben.) Untertänigsten Dank.
Woinizki
Diese Augen. Ein Traumweib.
Astrow
Erzähl was, Iwan Petrowitsch.
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Woinizki
(Träge.)
Astrow
Gibts denn gar nichts Neues.
Woinizki
Nichts. Alles abgestanden wie das Wasser im Gutsteich. Ich bin
wie ich war, wahrscheinlich stinke ich inzwischen nur mehr als
der Teich, weil ich faul geworden bin, nichts mehr tue, nur noch
nörgle wie ein deutscher Sommergast. Maman, die alte Dohle,
plappert immer noch von der Frauenemanzipation. Mit einem
Bein im Grab sucht sie mit zitternden Fingern in ihren blitzgescheiten Aufklärungsbroschüren die Morgenröte des neuen
Lebens.
Astrow
Und der Professor.
Woinizki
Der gluckt immer noch den ganzen Tag in seinem Arbeitszimmer und legt Eier wie dieses: „Gespannet den Geist und
die Stirn in Falten, verfassen wir Oden um Oden. Doch weder
sie, noch uns wird je jemand loben.“ Vergeudete Tinte. Er sollte
lieber seine Memoiren pinseln. Die würden sich ausgezeichnet
machen. Ein emeritierter Professor, ein ausgelesenes Wochenblatt, ein studierter Dörrfisch. Gicht, Rheuma, Migräne. Vor
Eifersucht und Neid auf jeden frischen Gedanken ist ihm die
Leber geschwollen. Dieser trockene Knochen hat sich nun auf
dem Besitz seiner ersten Frau breitgemacht. Nicht freiwillig,
nein. Er kann sich die Stadt einfach nicht mehr leisten. Unentwegt barmt er über sein unglückliches Leben, dabei ist er streng
genommen ein ausgesprochener Glückspilz. Glück ist gar kein
Ausdruck. Küstersohn, Seminarist, bringts zu Diplom, Doktortitel, Professor, Lehrstuhl, wird Exzellenz, Schwiegersohn eines
Senators und was alles noch. Das spielt alles überhaupt keine
Rolle. Stell dir vor. Dieser Mensch lehrt volle fünfundzwanzig
Jahre Kunstwissenschaft, ohne von Kunst auch nur die geringste
Ahnung zu haben. Fünfundzwanzig Jahre wiederholt er längst
Bekanntes, Realismus, Naturalismus und was für derartigen
Schwachsinn noch, fünfundzwanzig Jahre wiederholt er sprechend und schreibend, was den Kennern zum Halse raushängt
und was Nichtkennern total schnurz ist, fünfundzwanzig Jahre
verbringt er damit, leeres Stroh zu dreschen. Und wie er sich
spreizt, wie er sich über andere erhebt. Jetzt ist er Emeritus,
aber keiner kennt ihn, keiner grüßt ihn, er hebt sich nicht ab
von der Tapete. Fünfundzwanzig Jahre, und es ist nicht mehr
rausgekommen als lauwarme Luft. Aber er gockelt durch das
Anwesen wie ein Halbgott.
Astrow
Kann es sein, daß du neidisch bist.
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Was soll ich erzählen.
Woinizki
Natürlich bin ich neidisch. Dem fliegen die Frauen doch nur so
zu. Gegen den ist Don Juan ein Waisenknabe. Meine Schwester,
bei deren Geburt Gott in Geberlaune war, so rein, wissend und
großmütig war sie, sie hatte mehr Verehrer als er Schüler, und
diese Frau liebte diesen Mann, wie ein Engel einen Engel liebt.
Maman, seine Schwiegermutter, hält ihn immer noch für einen
Gott. Seine neue Frau, die eben, hat ihn geheiratet, als er schon
alt war, Gicht und Rheuma, eine so schöne, kluge Frau und hat
alles für ihn geopfert, Jugend, Schönheit, Freiheit, Glanz. Wofür
das. Kannst du mir sagen, warum.
Astrow
Ist sie ihm treu.
Woinizki
Ja. Leider.
Astrow
Warum leider.
Woinizki
Weil diese Treue absurd ist, reine Theologie, nicht ein Funken
Logik. Einen alten Sack betrügen, den du nicht ertragen
kannst – das ist verboten. Aber Jugend und Begehren in dir
zuzulöten – das ist erlaubt.
Telegin
Wanja, sowas mag ich nicht. Eine Frau, die ihren Mann betrügt,
betrügt irgendwann auch ihr Vaterland.
Woinizki
Halts Maul, Waffel.
Telegin
Entschuldige, Wanja. Meine Frau ist gleich nach der Hochzeit
mit ihrem Geliebten durchgebrannt, möglicherweise wegen
meines unattraktiven Äußeren. Ich kenne meine Pflicht, ich bin
ihr treu bis heute. Meinen Besitz habe ich für die Kinder verkauft, die sie mit ihrem Geliebten gemacht hat. Mein Glück ist
hin, mein Stolz aber um so größer. Sie aber: Sie ist auch nicht
mehr die Jüngste. Der Geliebte ist tot. Was hat sie nun davon.
Sonja. Jelena Andrejewna. Etwas später Maria Wassiljewna mit einem Buch. Sie setzt sich und liest.
Man reicht ihr Tee, sie trinkt ihn, ohne hinzusehen.
Sonja
Tantchen, da sind Bauern am Tor. Kümmre
dich um sie. Ich kümmere mich um den Tee.
(Schnell zu Marina.)
Marina ab. Jelena Andrejewna trinkt ihren Tee, auf der Schaukel sitzend.
Astrow
Jelena Andrejewna, ich bin nur Ihres Mannes wegen hier. Sie
schrieben mir, er sei krank. Rheuma und was weiß ich noch.
Aber wie ich sehe, gehts ihm richtig gut.
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