Zum Vortrag von Dr. Mertin

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Zum Vortrag von Dr. Mertin
Wer kümmert sich um Vorbilder?
Notizen zum Disney-Universum
Wenn ich etwas als Medienpädagoge relativ früh habe lernen müssen, dann war es dies, dass
bestimmte massenkulturelle Phänomene nahezu aufklärungsresistent sind, das heißt, dass man
noch so viel auf die Trivialität des jeweiligen Tatbestands hinweisen kann, es hilft nichts, man
muss da hindurch bis sich das Problem durch die normale jugendliche Entwicklung löst. Mir
ging es vor Jahren mit der Kelly-Family so, die trotz aller meiner Proteste von einigen Kindern in meiner Bekanntschaft so geliebt wurde, dass man darüber nicht diskutieren, geschweige denn, sie kritisieren konnte. Inzwischen ist das Problem schon lange gelöst und den
Betroffenen ist es eher peinlich, heute darauf angesprochen zu werden.
Vielleicht ist es bei den aktuellen Produktionen des Walt-Disney-Universums ähnlich, dass
man einfach die Zähne zusammen beißen muss und auf die heilsame Wirkung der Zeit –
sprich: auf das Erwachsenwerden – setzen sollte. Andererseits weiß man nie, welche Spätfolgen eine derartig konzentrierte Berieselung hat. Wer sich einmal das aktuelle Spektrum der im
Disney Universum angebotenen Filme und Serien anschaut, der fragt sich nicht mehr, warum
sich zigtausende Spätpubertierende bei DSDS bewerben, weil sie die Hoffnung haben, auf
diese Weise aus der Normalität ausbrechen zu können. Die Muster dafür werden von frühester
Kindheit an im Disney Universum vorgeprägt nach dem Motto: tagsüber als Normalo in der
Schule und abends als Alter Ego ein Popstar. [Aber warum dann noch in die Schule?]
Das Ganze ist allerdings kein neues Phänomen. Den legendären Mickey Mouse Club gibt es immerhin schon
seit Mitte der 50er-Jahre(!), wenngleich er es erst in den
90er-Jahren schaffte, u.a. für Christina Aguilera, Justin
Timberlake und Britney Spears eine Plattform für den
Karrieredurchbruch zu sein. Seitdem das aber gelungen
ist, versucht sich das Disney-Imperium auf diesem Feld
systematisch mit der Produktion von Pop-Karrieren,
was zur Inflationierung der einschlägigen Medienangebote in den späten 90ern und im ersten Jahrzehnt des
21. Jahrhunderts führte. Wem das alles nichts sagt, der
kennt vermutlich das Disney-Universum nicht.
Dieses ist natürlich zu umfangreich, als dass es im Rahmen dieses Textes auch nur ansatzweise aufgezählt werden könnte. Seit Anfang des 21. Jahrhunderts umfasst es im Fernsehspielfilmbereich u.a. drei Cheetah-Girls Filme (u.a. „Wir werden Popstars“ aus dem Jahr 2003),
vier High-School-Musical-Filme, zwei Camp Rock Filme, einen Hannah Montana Film. Hinzu kommen die Serien, die das Rückgrat des Ganzen bilden: Hotel Zack & Cody (2005-2007),
Zack & Cody an Bord (2008-…), Hannah Montana (2006- …), Raven blickt durch (20032007), Einfach Cory (2007-2008) und vor allem viele Zeichentrickfilme mehr.
Durch die enge Verzahnung der unterschiedlichen Produktionen im so genannten SerienUniversum wird ein eigener Kosmos aufgebaut,
der die Welt überschaubar sein lässt und Vertrauen schafft. Selbstverständlich logiert der
Topstar Miley Cyrus aus Hannah Montana im
Hotel Tipton bei Zack & Cody, wenn er mal in
der Stadt ist. Und natürlich taucht Ashley Michelle Tisdale, die das Mädchen aus dem Verkaufsstore des Hotels Tipton spielt, auch im Film High School Musical wieder auf, wo Miley
Cyrus/Hannah Montana wiederum einen Gastauftritt hat. Die Welt ist eben klein und berechenbar. Man kann am Beispiel von Karrieren wie denen von Ashley Michelle Tisdale oder
Miley Cyrus fragen, ob das Ganze nicht einfach nur der Kommerzialisierung der Lebenswelten, d.h. dem Verkauf von Merchandising-Produkten dient. Der im Internet zu findende permanente Hinweis auf die Gagen der Protagonisten verstärkt diesen Verdacht.
Letztlich sind Hannah Montana und ihre Ableger aber nur die Waltons des 21. Jahrhunderts.
Nur dass es nach den Waltons (1972-1981) eben auch noch „Alf“ (1986-1990), „Eine
schrecklich nette Familie“ (1987-1997) und „Die Simpsons“ (1989-…) gegeben hat, weshalb
bei Hannah Montana eben die Welt auch nicht mehr ganz so in Ordnung wie bei den Waltons
ist und bei Zack & Cody die Frechheit als ganz normaler Umgangston kultiviert wird.
Der Plot der Serien ist letztlich trivial. „Hotel Zack & Cody“ handelt von den eineiigen, sonst
aber höchst unterschiedlichen Zwillingen Cody und Zack Martin, die mit ihrer allein erziehenden Mutter Carey im Luxushotel Tipton in Boston wohnen, weil ihre Mutter dort als Sängerin angestellt ist. Der Vater Kurt, der ab und an auftaucht, ist Musiker. Im Rahmen der Serie stellen Zack & Cody den ganzen Betrieb immer wieder auf den Kopf und stiften ziemlich
viel Unheil an. Die Handlungsfiguren sind sehr klischeehaft angelegt.
„Hannah Montana“ ist eine Fernsehserie, die von einer Schülerin handelt, die ein Doppelleben als Sängerin führt. Tagsüber ist Miley Stewart ein ganz
normales Mädchen, das die Middle School bzw.
High School besucht. Abends verwandelt sie sich mit
Hilfe einer blonden Perücke in die erfolgreiche PopSängerin Hannah Montana. Sie lebt mit ihrem Bruder
Jackson und ihrem Vater Robby zusammen. Mileys
Mutter ist gestorben, als Miley noch sehr jung war.
Anders als „Zack & Cody“ ist „Hannah Montana“
aber geschickt mit der Wirklichkeit verknüpft. Da Miley Cyrus als reale Popsängerin durch
die Welt tourt, überschneiden sich Wirklichkeit und Fiktion. Fans von Hannah Montana können also reale Konzerte von Miley Cyrus besuchen und werden dabei gleichzeitig in den Serienkosmos einbezogen. So bekommen sie, wie es in der Konzertankündigung so schön heißt
„Best of both worlds“. Und es verstärkt sich die Anmutung, so wie Miley Stewart in der Serie
könne man selbst auch über Nacht zum Star werden. Deutsche Medienkarrieren a la LaFee
(„Virus“) verstärken diese Vermutung und lassen viele Jugendliche hoffen.
Wie geht man damit aber um? Mein spontaner Rat an Pädagogen, die im Rahmen einer Unterrichtseinheit über Vorbilder sich auch mit diesem Aspekt der konstruierten Leitbilder befassen
wollen: wenn es eben geht, lassen Sie das Thema draußen und stehen sie es einfach durch.
Auf der anderen Seite zeitigen derartige Serien natürlich Folgen, vermitteln sie Werte und
bilden Sinnagenturen in der Medienwelt. Dabei geht es nicht darum, wie die konservative wie
die linke Medienkritik noch in den 70er- und 80er-Jahren schrieb, dass die Medien die falschen Werte übermittelten, sondern darum, dass die Medien selbst einen Teil der Erziehung
übernehmen und das unter bewusster Ausschaltung der Eltern. Die Sender suggerieren gezielt
in ihrer Werbung, Eltern bräuchten sich um ihre Kinder gar nicht mehr zu kümmern, wenn
diese erst einmal in die Spiel und Lernplattformen von Disney-Channel oder auch der ToggoWorld eingetaucht seien. Es lässt sich beobachten, wie komplette Lebenswelten mittels dieser
medialen Strukturen ausgebildet werden. Spielen, Lernen, Wissen – alles liefert Disney. Wer
sollte sich da noch um Erziehung sorgen?
Der Leiter der Abteilung „kulturelle Entwicklung“ am Centre
Georges Pompidou, Bernard Stiegler, hat in seinem Buch „Die
Logik der Sorge. Verlust der Aufklärung durch Technik und
Medien“ nicht zuletzt das Fernsehen für eine grundsätzliche
Veränderung unserer Kultur verantwortlich gemacht. Nach
Stiegler lebt Kultur davon, dass eine Generation für die nächste
Sorge trägt und es so der jeweils nächsten Generation ermöglicht, sich an den kulturellen Überlieferungen der vorhergehenden Generationen abzuarbeiten. Die Neuen Technologien sind
dagegen ein Angriff auf das gesamte kulturelle System. Stiegler
belegt dies zum einen mit dem Verweis auf die expliziten
Selbstdarstellungen der Medien, die es sich positiv zurechnen, den kulturellen Generationenvertrag unterbrochen zu haben. Zum anderen werde aber durch die Medien die Zyklen der
Aufmerksamkeit so kurz, dass so etwas wie kulturelle Tradition kaum noch entstehen könne.
Die Sorge darum, was tradiert werden soll, nehmen die Systeme dem Konsumenten ab, indem
sie alles und damit nichts bewahren, weil sie alles gleich gültig machen. Marketing wird zum
alleinigen Instrument der Sozialkontrolle. Seit der Aufklärung gibt es das Idealbild des mündigen Individuums, das Verantwortung für sein Handeln trägt. Durch die Macht der neuen
Medien und den globalen Kapitalismus wird jedoch die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen, systematisch zerstört. Der Generationenvertrag werde aufgelöst und das Leben auf
die bloße Gegenwart reduziert.
Das wäre ein Ansatz für die pädagogische Bearbeitung. Wer
kümmert sich um Vorbilder? Eingedenk sein sollte man aber
der Erkenntnis, dass Eltern und Erziehende nur sehr begrenzt
Einfluss auf die Vorbilder haben, hier spielt die Peer-Group
eine bedeutsamere Rolle. Aber man kann im Unterricht über
die mediale Konstruktion von Vorbildern und Idolen sprechen (Britney Spears ist aus der zeitlichen Distanz ein interessantes Modell dafür) und ihr am Beispiel ausgesuchter
Beispiele nachgehen. Hier wäre eine vergleichende Untersuchung der Medieninszenierungen von Ashley Michelle Tisdale und Miley Cyrus interessant. Welche Typen bilden sie im Disney-Universum aus, welche
Rollen spielen sie, wofür bieten sie Identifikationen? Untersuchen könnte man dazu FanSeiten, Homepages und natürlich auch das offizielle Disney-Angebot im Internet.