Peter Sloterdijk - Katja Gentinetta
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Peter Sloterdijk - Katja Gentinetta
Sachbuch Dankesrede Peter Sloterdijk erzählt von seiner Wandlung vom Träumer zum politischen Philosophen Eine Ausdruckskraft wie Nietzsche Peter Sloterdijk: Reflexionen eines nicht mehr Unpolitischen; Hans Ulrich Gumbrecht: Wachheit. Suhrkamp, Berlin 2013. 64 Seiten, Fr. 10.50, E-Book 8.–. Von Katja Gentinetta Das neueste Bändchen der bei Suhrkamp edierten Vorträge von Sloterdijk erschien anlässlich der Verleihung des LudwigBörne-Preises 2013 an den Philosophen. Es enthält die Laudatio des deutschamerikanischen Romanisten Hans Ulrich Gumbrecht und die Dankesrede des Geehrten. Gumbrechts Laudatio ist eine Rechtfertigung – weil er getreu der Tradition des Börne-Preises als gewählter Juror alleine und frei entscheiden durfte. Er erklärt sich in einer Weise, die man vielleicht nur aus eigener Erfahrung nach- vollziehen kann: inspiriert, elaboriert und anregend – weil einen SloterdijkLektüre zum Schreiben animiert und eine Leichtigkeit gibt, die man bei pflichtbewusster Anstrengung des Geistes nie hätte. Es ist also eine wortstarke Laudatio auf den Sprachschöpfer Sloterdijk – weil, so Gumbrecht, «seit Nietzsche kein anderer Philosoph die Öffentlichkeit in Deutschland mit einer ähnlichen Kraft des Ausdrucks belebt hat». Börne, den deutschen Intellektuellen des frühen 19. Jahrhunderts, und Sloterdijk verbindet nach Gumbrecht die «Fähigkeit, die Gesellschaft in Wachheitszustände zu versetzen» – sie zu zwingen, sich den relevanten Problemen zu stellen und also politisch zu werden. Und genau das wird Sloterdijk in seiner Dankesrede tun. Sehr persönlich, aber auf eine nicht nur für die philosophisch, sondern generell «medial interessierte» Öffentlichkeit nachvollziehbare Weise erzählt er seine Wandlung vom weltabgewandten Träumer zum politischen Philosophen contre cœur. Anhand des Mediensturms um seinen Elmauer Vortrag über den Menschenpark 1999, den 11. September und dessen Folgen verfasst Sloterdijk ein Porträt der Mediengesellschaft und komprimiert es zu der vermutlich dichtesten Theorie, die diesem komplexen Gebilde überhaupt gerecht zu werden vermag. Vom philosophischen Standpunkt der dringlichen Distanz aus gesehen, reflektiert er über den Ausgang der westlichen Gesellschaften aus ihrem eigenen Unbehagen und schliesst mit einem Plädoyer für die Annäherung zwischen den USA und der EU. Es ist ein – neuerliches – kritisch-klares Konzentrat über unsere Gesellschaft, ihre Medien und die Politik. ● Katja Gentinetta ist Politikphilosophin und -beraterin sowie Lehrbeauftragte der Universität St. Gallen. Das amerikanische Buch Norman Rockwell – Maler der heilen Welt Kurz vor seinem Tod im November 1978 tauchte in der amerikanischen Presse der Begriff «Rockwellian» auf. Damit werden seither Szenen kleinstädtischer Harmonie beschrieben, mit denen Norman Rockwell zu dem beliebtesten Künstler Amerikas wurde. Der 1894 in New York geborene Illustrator schuf alleine für das auflagenstarke Wochenmagazin «Saturday Evening Post» über 300 Titelbilder, die auf den ersten Blick ein längst untergegangenes Amerika voll nachbarschaftlicher Wärme zeigen. Selbst bei patriotischen Arbeiten wie seiner Serie über die «vier Freiheiten» aus dem Jahr 1943 fehlte selten ein milder Humor. Sex und Gewalt traten dagegen niemals offen in Erscheinung. Deshalb verdammte die amerikanische Kunstkritik Rockwell in der Ära eines Jackson Pollock als Kitschmaler. Aber am Ende seines Lebens waren nicht nur Andy Warhol und Willem de Koning Rockwell-Fans. Allmählich nahmen ihn auch Museen, Sammler und Feuilletons als Künstler ernst. Daran knüpft American Mirror. The Life and Art of Norman Rockwell (Farrar, Straus and Giroux, 493 Seiten) von Deborah Solomon an. Die Kunsthistorikerin und Journalistin konnte seine drei Söhne von der Notwendigkeit einer neuen, umfassenden Biografie überzeugen und fand so Zugang zu bislang unveröffentlichten Papieren Rockwells. Auf konventionelle Weise chronologisch gegliedert und reich bebildert, stellt «American Mirror» seinen Protagonisten als Naturtalent mit klassischer Ausbildung und lebenslangem Interesse an historischer und zeitgenössischer Kunst vor. Allerdings hielt der gründliche Realist Rockwell Amerika keineswegs einen Spiegel (Mirror) 26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Januar 2014 junge Männer unübersehbar. Wie auf dem Bild «The Runaway» (1958) sucht dabei häufig ein Kleiner die Nähe zu einem Stärkeren. Solomon verschwendet viel Raum auf Spekulationen über Rockwells sexuelle Neigungen. Doch obwohl er seine ersten beiden Frauen sträflich vernachlässigt hat, kann ihm Solomon keine intimen Beziehungen zu Modellen oder männlichen Mitarbeitern nachweisen. Ihre Beharrlichkeit dabei lässt Rockwells Nachkommen nun laut gegen das Buch protestieren. Norman Rockwells berühmtes Bild «The Runaway» (1958). Autorin Deborah Solomon (unten). vor. Stets von sorgsam arrangierten Modellen und fotografischen Vorlagen ausgehend, schuf er nur auf den ersten Blick naive Phantasieszenen. Wie Solomon zeigt, sprechen daraus private Obsessionen – vor allem eine Sehnsucht nach Geborgenheit. Diese fand Rockwell persönlich erst nach 1961 in seiner dritten Ehe mit einer pensionierten Englischlehrerin. Schmächtig und unsicher, hatte er seine Kindheit im Schatten seines kräftigen jüngeren Bruders und im Schlepptau kleinbürgerlicher Eltern verbracht, die von Geldnot geplagt ein unstetes Dasein führten. Bei den Sujets des Malers ist zudem eine Vorliebe für Knaben und Auch die Kritik rügt diese Passagen als Störung einer sonst lohnenden Lektüre. Denn Solomon stellt nicht nur die Ängste Rockwells dar, die ihn über Jahrzehnte Psychologen an seinem Wohnsitz in den Berkshire-Bergen von Massachusetts aufsuchen liessen. Sie stellt zudem die thematische und formelle Komplexität von Arbeiten wie dem «Dreifachen Selbstporträt» (1960) heraus. Dieses zeigt weitere Dauerthemen Rockwells: Häufig wenden seine Figuren dem Betrachter den Rücken zu, während Blicke und der Akt der Betrachtung thematisiert werden. Dabei hat Rockwell selbst seinen Ruf als Kitschkünstler ad absurdum geführt. 1964 schuf er mit dem auf Tatsachen fussenden «The Problem We All Live With» eine Anklage gegen den Rassismus im amerikanischen Süden, die enorme Beachtung fand: Von FBIBeamten beschützt, trotzt das schwarze Schulmädchen Ruby Bridges den Anfeindungen weisser Nachbarn. Diese bleiben unsichtbar. So ist der Betrachter einer anrührenden Szene ausgesetzt, die ihn an die Seite des mutigen Kindes und damit zur Verteidigung der amerikanischen Ideale von Gleichheit und Selbstbestimmung rufen. Von Andreas Mink ●