menschen - Gallim Dance
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menschen - Gallim Dance
menschen 16 tanz ___n o v e m b e r 2012 n o v e m b e r 2012 ___tanz 17 menschen andrea miller _____________ stellt existenzielle Fragen an das Leben und an den Tanz. Gerade ist es der SisyphosMythos, der sie zu überraschenden Bewegungen inspiriert – zu sehen in ihrer ersten Arbeit für das Nederlands Dans Theater 2 ________Von Annette von Wangenheim, Fotos von Franziska Strauss Freitag – Lucent Danstheater Den Haag Mit einer Festvorstellung zu Ehren von Hans van Manen eröffnet das Nederlands Dans Theater seine neue Spielzeit. Im Publikum sitzt auch die amerikanische Choreografin Andrea Miller. Sie ist offensichtlich überwältigt und etwas eingeschüchtert durch die Perfektion, Ausdrucks- und Formkraft des Maestro. Van Manen feierte im Juli seinen 80. Geburtstag und hat ein phänomenales Lebenswerk geschaffen. Miller steht mit 30 Jahren am Anfang einer internationalen Choreografen-Karriere und macht ihre erste Auftragsarbeit für die Juniorkompanie, das Nederlands Dans Theater 2 (NDT 2). Sie kannte van Manen bisher kaum, «er wird nur wenig in den USA gezeigt». Pina Bausch, Jíří Kylián und William Forsythe sind für sie die Stars der europäischen Moderne. Mit den Werken von Merce Cunningham, José Limón und Doris Humphrey wurde Miller in Amerika groß. Ohad Naharin lernte sie als Tänzerin seines Batsheva Junior Ensembles in Israel kennen. Wie kann sich eine Nachwuchs-Choreografin von der Übermacht so gewichtiger Vorbilder befreien? Andrea Miller glaubt: indem sie weiß, woher sie kommt, was sie gerade tut und dass es weitergeht. Sie will sich auf einen unabsehbaren Prozess einlassen, auf kleinste Fort-Schritte. Jeden Tag sucht sie den eigenen Weg, riskiert, probiert und vertraut auf die Kraft ihrer Fantasie. Samstag – im Studio des NDT 2 Miller probt mit den Tänzern der Kompanie. Proben bedeutet für sie: gemeinsam entwickeln. Die Stimmung ist aufmerksam und respektvoll, ihr Ton ruhig, freundlich und dem Gegenüber mit echtem Interesse zugewandt. Millers Augen strahlen, verbreiten eine Aura des Vertrauens. Es ist der Mythos von Sisyphos, den sie mit den Tänzern bearbeitet. Dabei geht es ihr um die Absurdität der menschlichen Existenz mit all ihren wahnwitzigen täglichen Wiederholungen, sei es im Privaten, im Beruf oder Weltgeschehen. Und um die scheinbare 18 tanz ___n o v e m b e r 2012 Tragik, diesem Kreislauf nie entrinnen zu können. Scheinbar – denn Andrea Miller hat Albert Camus genau gelesen: «Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen», zitiert sie den letzten Satz des Essays «Der Mythos des Sisyphos». Mit ihrer Gallim Dance Company hat sie in den USA bereits ein Sisyphos-Stück herausgebracht, aber das hier ist keine Variation vorhandenen Materials, sondern die ernsthafte Suche nach neuen Antworten auf wiederkehrende Fragen. Miller überträgt nur eine kurze Passage auf das NDT 2 und erfindet alles andere neu. Auch die Bewegungssprache. Dabei achtet Miller auf individuelle Stärken und auch Schwächen, beides ist ihr wichtig. Beim NDT 2 probt sie mit acht Tänzerinnen und Tänzern, vier für die erste Besetzung – Meng-Ke Wu, Jianhui Wang, Imre van Opstal, Spencer Dickhaus, und vier für die zweite – Astrid Boons, Quentin Roger, Casia Vengoechea und Chuck Jones. Da die Juniorkompanie neben Auftragsarbeiten auch viele Werke des NDT-Repertoires einstudiert, bietet Miller den Tänzern die Gelegenheit zur Mit-Kreation an. Vor allem die jungen Männer genießen es, kraftvoll-sportive Elemente und Abläufe zu erfinden, gewagte Sprünge und ihre Stimmen auszuprobieren. Die Choreografin sammelt, feilt, ändert Details und demonstriert eigene Vorstellungen, indem sie jede Rolle immer wieder selbst vortanzt. Sie arbeitet intensiv an Phrasierungen, Hebe- und Fallbewegungen, Sprüngen, Boden- und Partnerarbeit und am Energiefluss der Gruppe. Dieser Fluss wird durch blitzschnelle Gegenbewegungen, Drehungen und Richtungswechsel in überraschende Bahnen gelenkt, unterbrochen, neu aufgebaut und auf anderen Ebenen weitergeführt. Das Tempo der Arme, Beine und Kopfarbeit, das Gewicht der Körper und ihre Schwungkraft verdichten sich zu hochvirtuosen Pas de deux und n o v e m b e r 2012 ___tanz 19 menschen Pas de trois. Sie geben dem Raum ein Energiezentrum oder scheinen ihn aus allen Fugen zu sprengen. Jede Bewegung fließt wie eine Note, eine Linie oder setzt einen Akzent – aber die Musik wählt die Choreografin meist erst eine Woche vor der Premiere aus. Ballett. Da war sie fünf Jahre alt. Vier Jahre später fasste sie den Entschluss, Tänzerin zu werden, «was auch viele Opfer in der Jugend bedeutete». Mit 14 stand das Berufsziel fest: Choreografin. Mit 15 gewann sie ihren ersten Preis für eine eigene Choreografie. Während der Proben würde Musik sie nicht nur stören, sondern dazu verführen, sich in der Komposition zu verlieren. Andrea Miller liebt Musik (und bildende Kunst) und möchte die Emotion der Klänge auf keinen Fall verdoppeln. Es geht ihr um die inneren Stimmen und Rhythmen des Körpers. Kommt die Musik dazu, kann sie eine emotionale Ebene schaffen und einzelne Reibungen oder Gegenbewegungen zum Vorschein bringen, die vorher im Verborgenen lagen. Dann: Abschluss der Tanzausbildung an der Juilliard School in New York 2004, zwei Jahre Tänzerin bei Batsheva in Tel Aviv, 2007 Gründung des eigenen Tanzensembles Gallim Dance, seitdem zahlreiche Choreografien, darunter etliche Auftragswerke, internationale Tourneen und Einladungen zu Festivals wie «Tanz Bremen» – und jede Menge Auszeichnungen bis hin zu einer derzeit laufenden Residency am New York City Center. Diese Förderung beinhaltet ein Stundenkontingent für Probenräume – ein fast unerschwinglicher Luxus für freie Tänzer in New York. Aber für Miller war der Zugang zu Verwaltungs-, PR- und Marketingabteilungen am Wichtigsten. Sie hat auch auf diesem Gebiet das Ganze im Blick, möchte Zusammenhänge und Strukturen verstehen und mitgestalten können. Denn: «Tanz ist politisch, natürlich. Meine Stücke reflektieren über die Macht des Individuums. Wie existiert eine Person, sozial, emotional und politisch, und wie bringt sie sich ins Weltgeschehen ein? Ich betrachte mich nicht als politische Choreografin, aber ich möchte partizipieren. Solange wir akzeptieren, dass wir politisch nichts bewirken können, sind wir in Gefahr!» Bei dieser Methode sind extreme Kontraste üblich und erwünscht – und die erlebt Andrea Miller auch im Alltag reichlich: «Ich lebe in Manhattan und bin umgeben von harten Gegensätzen.» Dennoch oder vielleicht gerade deshalb finden sich in ihren Choreografien auch immer wieder ruhige, scheinbar bewegungslose Momente. Wie ein Innehalten, Konzentrieren und Hineinhorchen in den Körper. Oder wie die Ruhe vor dem nächsten Sturm, vor der nächsten großen Welle, die mitreißen oder forttragen kann. Der Name ihrer Kompanie ist das hebräische Wort für Wellen: Gallim. Andrea Miller wuchs in einer amerikanisch-jüdisch-spanischen Familie mit den unterschiedlichsten kulturellen Einflüssen auf. Ihre Eltern sind beide Ärzte. Der Vater hätte für sie gern eine Karriere als Film- oder Fernsehstar gesehen, eine Laufbahn als Wetterfee: «Wohl nur, weil ich so ein telegenes Lächeln habe…» Ihre Mutter brachte sie zum 20 tanz ___n o v e m b e r 2012 Es ist dieses Verständnis persönlicher Verantwortung, das sie mit Albert Camus verbindet. Er forderte das selbstständige Handeln des Menschen in der Gemeinschaft, im Alltag. Für Miller gilt: nicht blind folgen und alles akzeptieren, sondern eigene Freiheiten entdecken: «So viele Menschen schleppen täglich wie Sisyphos schwere Brocken auf ihrem Weg, gehen weiter, legen sich zum Schlafen hin, stehen auf und wiederholen am nächsten Tag dasselbe von vorn. Es ist wichtig zu verstehen, was wir tun. Auch wenn wir nicht alles ändern können, gibt es bestimmt andere Möglichkeiten, wie die schwere Last der Existenz leichter, wenn nicht sogar angenehm werden kann.» Miller braucht die Improvisation, den Wechsel und das Neue. Deshalb hat sie mit dem Tanzen aufgehört, als es für sie unerträglich wurde, in jeder Vorstellung ein endgültiges, unantastbares Bild immer wieder «nur» zu reproduzieren. Ihr großes Ziel ist, dass ihre Choreografien auch im Theater zunehmend «spontan» entstehen und sich verändern können. Nicht als Experiment oder Selbsterfahrung für die Tänzer, sondern als Kunstwerk «in progress», im Fluss: «Es muss doch einen Ort im Leben und auf der Welt geben, an dem wir nicht gezwungen sind, immer wieder dasselbe zu wiederholen.» nicht nur Profis und Semi-Professionelle umfasst, sondern vor allem Laien aller Altersgruppen: «Wer unterrichtet, wird ein besserer Vermittler für den Tanz!» Donnerstag, 1. November 2012 – Lucent Danstheater Den Haag Andrea Millers Choreografie für das NDT 2 kommt zur Premiere, gemeinsam mit einer Auftragsarbeit von Douglas Lee und zwei Klassikern aus dem NDT-Repertoire von Jiří Kylián und Hans van Manen. Soweit die Proben eine Prognose zulassen, wird Millers Beitrag europäisch-ernsthaft und amerikanisch-athletisch, leicht und abgrundtief, spanisch-leidenschaftlich, jüdisch-humorvoll, unterhaltsam, mehrdeutig, schnörkellos und tänzerisch virtuos sein. Millers Tanzsprache wendet sich an ein Publikum, das im Hier und Heute lebt, unbekannte Perspektiven und Blickwinkel aufnehmen und vielleicht im Alltag weiter verfolgen möchte. Womöglich mit neuer Entscheidungsfreude und Lebenslust – befreit von der sisyphosartigen Last des Seins. Die Fotoserie «reckoner / I killed my dinner» with karate» von der Berliner Samstag – Clinton Hill, Brooklyn Fotokünstlerin Franziska Strauss entstand mit Andrea Millers Kompanie An diesem Tag wird das erste feste Domizil der Gallim Dance ComGallim Dance in New York. franziskastrauss.com pany offiziell eröffnet, in einer ehemaligen Kirche, luftig und hell. Für Andrea Miller erfüllt sich damit ein Traum: eigene Räume für ihr Premiere in Den Haag, Lucent Danstheater, 1.–3. Nov., danach Ensemble, für Training, Verwaltung, später vielleicht auch für Tournee durch die Niederlande. Daten im Kalender, Seite 53 Vorstellungen und vor allem für ein umfassendes Educarlosen Wir ve und auf ndt.nl tion-Programm.Unterrichten bedeutet der Choreograrten je 2 Ka , r e b m Live-Übertragung: Nederlands Dans Theater im Kino: Neue ve fin viel. Sie gibt in New York und bei internationalen 15. No und für den e Köln g n u Kreationen von Medhi Walerski und Johan Inger, «Sweet Gastspielreisen Kurse in Improvisation und Beweo ilm L rlin nal Be Astor F io t a n r e Dreams» und «Sarabande» von Jiří Kylián am gungstraining. Ihre Tänzer unterrichten moderne nt m Kino I s an a Sie un 15. November, 20.00 Uhr. Tanz- und Körpertechniken, wobei die Zielgruppe h 0 Rufen .0 11 . um 8. Nov 9520 0-2544 +49-3 n o v e m b e r 2012 ___tanz 21