menschen - Gallim Dance

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andrea miller
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stellt existenzielle Fragen an das Leben und an den Tanz. Gerade ist es der SisyphosMythos, der sie zu überraschenden Bewegungen inspiriert – zu sehen in ihrer ersten Arbeit
für das Nederlands Dans Theater 2
________Von Annette von Wangenheim, Fotos von Franziska Strauss
Freitag – Lucent Danstheater Den Haag
Mit einer Festvorstellung zu Ehren von Hans van Manen eröffnet das
Nederlands Dans Theater seine neue Spielzeit. Im Publikum sitzt auch
die amerikanische Choreografin Andrea Miller. Sie ist offensichtlich
überwältigt und etwas eingeschüchtert durch die Perfektion, Ausdrucks- und Formkraft des Maestro. Van Manen feierte im Juli seinen
80. Geburtstag und hat ein phänomenales Lebenswerk geschaffen.
Miller steht mit 30 Jahren am Anfang einer internationalen Choreografen-Karriere und macht ihre erste Auftragsarbeit für die Juniorkompanie, das Nederlands Dans Theater 2 (NDT 2).
Sie kannte van Manen bisher kaum, «er wird nur wenig in den USA
gezeigt». Pina Bausch, Jíří Kylián und William Forsythe sind für sie die
Stars der europäischen Moderne. Mit den Werken von Merce Cunningham, José Limón und Doris Humphrey wurde Miller in Amerika
groß. Ohad Naharin lernte sie als Tänzerin seines Batsheva Junior
Ensembles in Israel kennen. Wie kann sich eine Nachwuchs-Choreografin von der Übermacht so gewichtiger Vorbilder befreien? Andrea
Miller glaubt: indem sie weiß, woher sie kommt, was sie gerade tut
und dass es weitergeht. Sie will sich auf einen unabsehbaren Prozess
einlassen, auf kleinste Fort-Schritte. Jeden Tag sucht sie den eigenen
Weg, riskiert, probiert und vertraut auf die Kraft ihrer Fantasie.
Samstag – im Studio des NDT 2
Miller probt mit den Tänzern der Kompanie. Proben bedeutet für sie:
gemeinsam entwickeln. Die Stimmung ist aufmerksam und respektvoll, ihr Ton ruhig, freundlich und dem Gegenüber mit echtem Interesse zugewandt. Millers Augen strahlen, verbreiten eine Aura des
Vertrauens. Es ist der Mythos von Sisyphos, den sie mit den Tänzern
bearbeitet. Dabei geht es ihr um die Absurdität der menschlichen
Existenz mit all ihren wahnwitzigen täglichen Wiederholungen, sei es
im Privaten, im Beruf oder Weltgeschehen. Und um die scheinbare
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Tragik, diesem Kreislauf nie entrinnen zu können. Scheinbar – denn
Andrea Miller hat Albert Camus genau gelesen: «Wir müssen uns
Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen», zitiert sie den
letzten Satz des Essays «Der Mythos des Sisyphos». Mit ihrer Gallim
Dance Company hat sie in den USA bereits ein Sisyphos-Stück herausgebracht, aber das hier ist keine Variation vorhandenen Materials,
sondern die ernsthafte Suche nach neuen Antworten auf wiederkehrende Fragen.
Miller überträgt nur eine kurze Passage auf das NDT 2 und erfindet
alles andere neu. Auch die Bewegungssprache. Dabei achtet Miller
auf individuelle Stärken und auch Schwächen, beides ist ihr wichtig.
Beim NDT 2 probt sie mit acht Tänzerinnen und Tänzern, vier für die
erste Besetzung – Meng-Ke Wu, Jianhui Wang, Imre van Opstal, Spencer Dickhaus, und vier für die zweite – Astrid Boons, Quentin Roger,
Casia Vengoechea und Chuck Jones. Da die Juniorkompanie neben
Auftragsarbeiten auch viele Werke des NDT-Repertoires einstudiert,
bietet Miller den Tänzern die Gelegenheit zur Mit-Kreation an. Vor
allem die jungen Männer genießen es, kraftvoll-sportive Elemente
und Abläufe zu erfinden, gewagte Sprünge und ihre Stimmen auszuprobieren. Die Choreografin sammelt, feilt, ändert Details und demonstriert eigene Vorstellungen, indem sie jede Rolle immer wieder
selbst vortanzt. Sie arbeitet intensiv an Phrasierungen, Hebe- und
Fallbewegungen, Sprüngen, Boden- und Partnerarbeit und am Energiefluss der Gruppe.
Dieser Fluss wird durch blitzschnelle Gegenbewegungen, Drehungen
und Richtungswechsel in überraschende Bahnen gelenkt, unterbrochen, neu aufgebaut und auf anderen Ebenen weitergeführt. Das
Tempo der Arme, Beine und Kopfarbeit, das Gewicht der Körper und
ihre Schwungkraft verdichten sich zu hochvirtuosen Pas de deux und
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Pas de trois. Sie geben dem Raum ein Energiezentrum oder scheinen
ihn aus allen Fugen zu sprengen. Jede Bewegung fließt wie eine
Note, eine Linie oder setzt einen Akzent – aber die Musik wählt die
Choreografin meist erst eine Woche vor der Premiere aus.
Ballett. Da war sie fünf Jahre alt. Vier Jahre später fasste sie den Entschluss, Tänzerin zu werden, «was auch viele Opfer in der Jugend
bedeutete». Mit 14 stand das Berufsziel fest: Choreografin. Mit 15
gewann sie ihren ersten Preis für eine eigene Choreografie.
Während der Proben würde Musik sie nicht nur stören, sondern dazu
verführen, sich in der Komposition zu verlieren. Andrea Miller liebt
Musik (und bildende Kunst) und möchte die Emotion der Klänge auf
keinen Fall verdoppeln. Es geht ihr um die inneren Stimmen und
Rhythmen des Körpers. Kommt die Musik dazu, kann sie eine emotionale Ebene schaffen und einzelne Reibungen oder Gegenbewegungen zum Vorschein bringen, die vorher im Verborgenen lagen.
Dann: Abschluss der Tanzausbildung an der Juilliard School in New
York 2004, zwei Jahre Tänzerin bei Batsheva in Tel Aviv, 2007 Gründung des eigenen Tanzensembles Gallim Dance, seitdem zahlreiche
Choreografien, darunter etliche Auftragswerke, internationale Tourneen und Einladungen zu Festivals wie «Tanz Bremen» – und jede
Menge Auszeichnungen bis hin zu einer derzeit laufenden Residency
am New York City Center. Diese Förderung beinhaltet ein Stundenkontingent für Probenräume – ein fast unerschwinglicher Luxus für
freie Tänzer in New York. Aber für Miller war der Zugang zu Verwaltungs-, PR- und Marketingabteilungen am Wichtigsten. Sie hat auch
auf diesem Gebiet das Ganze im Blick, möchte Zusammenhänge und
Strukturen verstehen und mitgestalten können. Denn: «Tanz ist politisch, natürlich. Meine Stücke reflektieren über die Macht des Individuums. Wie existiert eine Person, sozial, emotional und politisch, und
wie bringt sie sich ins Weltgeschehen ein? Ich betrachte mich nicht
als politische Choreografin, aber ich möchte partizipieren. Solange
wir akzeptieren, dass wir politisch nichts bewirken können, sind wir in
Gefahr!»
Bei dieser Methode sind extreme Kontraste üblich und erwünscht –
und die erlebt Andrea Miller auch im Alltag reichlich: «Ich lebe in
Manhattan und bin umgeben von harten Gegensätzen.» Dennoch
oder vielleicht gerade deshalb finden sich in ihren Choreografien auch
immer wieder ruhige, scheinbar bewegungslose Momente. Wie ein
Innehalten, Konzentrieren und Hineinhorchen in den Körper. Oder wie
die Ruhe vor dem nächsten Sturm, vor der nächsten großen Welle, die
mitreißen oder forttragen kann. Der Name ihrer Kompanie ist das
hebräische Wort für Wellen: Gallim.
Andrea Miller wuchs in einer amerikanisch-jüdisch-spanischen Familie
mit den unterschiedlichsten kulturellen Einflüssen auf. Ihre Eltern sind
beide Ärzte. Der Vater hätte für sie gern eine Karriere als Film- oder
Fernsehstar gesehen, eine Laufbahn als Wetterfee: «Wohl nur, weil
ich so ein telegenes Lächeln habe…» Ihre Mutter brachte sie zum
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Es ist dieses Verständnis persönlicher Verantwortung, das sie mit
Albert Camus verbindet. Er forderte das selbstständige Handeln des
Menschen in der Gemeinschaft, im Alltag. Für Miller gilt: nicht blind
folgen und alles akzeptieren, sondern eigene Freiheiten entdecken:
«So viele Menschen schleppen täglich wie Sisyphos schwere Brocken
auf ihrem Weg, gehen weiter, legen sich zum Schlafen hin, stehen auf
und wiederholen am nächsten Tag dasselbe von vorn. Es ist wichtig
zu verstehen, was wir tun. Auch wenn wir nicht alles ändern können,
gibt es bestimmt andere Möglichkeiten, wie die schwere Last der
Existenz leichter, wenn nicht sogar angenehm werden kann.»
Miller braucht die Improvisation, den Wechsel und das Neue. Deshalb
hat sie mit dem Tanzen aufgehört, als es für sie unerträglich wurde,
in jeder Vorstellung ein endgültiges, unantastbares Bild immer wieder
«nur» zu reproduzieren. Ihr großes Ziel ist, dass ihre Choreografien
auch im Theater zunehmend «spontan» entstehen und sich verändern
können. Nicht als Experiment oder Selbsterfahrung für die Tänzer,
sondern als Kunstwerk «in progress», im Fluss: «Es muss doch einen
Ort im Leben und auf der Welt geben, an dem wir nicht gezwungen
sind, immer wieder dasselbe zu wiederholen.»
nicht nur Profis und Semi-Professionelle umfasst, sondern vor allem
Laien aller Altersgruppen: «Wer unterrichtet, wird ein besserer Vermittler für den Tanz!»
Donnerstag, 1. November 2012 – Lucent Danstheater Den Haag
Andrea Millers Choreografie für das NDT 2 kommt zur Premiere, gemeinsam mit einer Auftragsarbeit von Douglas Lee und zwei Klassikern aus dem NDT-Repertoire von Jiří Kylián und Hans van Manen.
Soweit die Proben eine Prognose zulassen, wird Millers Beitrag europäisch-ernsthaft und amerikanisch-athletisch, leicht und abgrundtief,
spanisch-leidenschaftlich, jüdisch-humorvoll, unterhaltsam, mehrdeutig, schnörkellos und tänzerisch virtuos sein. Millers Tanzsprache wendet sich an ein Publikum, das im Hier und Heute lebt, unbekannte
Perspektiven und Blickwinkel aufnehmen und vielleicht im Alltag weiter verfolgen möchte. Womöglich mit neuer Entscheidungsfreude und
Lebenslust – befreit von der sisyphosartigen Last des Seins.
Die Fotoserie «reckoner / I killed my dinner» with karate» von der Berliner
Samstag – Clinton Hill, Brooklyn
Fotokünstlerin Franziska Strauss entstand mit Andrea Millers Kompanie
An diesem Tag wird das erste feste Domizil der Gallim Dance ComGallim Dance in New York. franziskastrauss.com
pany offiziell eröffnet, in einer ehemaligen Kirche, luftig und hell. Für
Andrea Miller erfüllt sich damit ein Traum: eigene Räume für ihr
Premiere in Den Haag, Lucent Danstheater, 1.–3. Nov., danach
Ensemble, für Training, Verwaltung, später vielleicht auch für
Tournee durch die Niederlande. Daten im Kalender, Seite 53
Vorstellungen und vor allem für ein umfassendes Educarlosen
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tion-Programm.Unterrichten bedeutet der Choreograrten
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Live-Übertragung: Nederlands Dans Theater im Kino: Neue
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Kreationen von Medhi Walerski und Johan Inger, «Sweet
Gastspielreisen Kurse in Improvisation und Beweo
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Dreams» und «Sarabande» von Jiří Kylián am
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Tanz- und Körpertechniken, wobei die Zielgruppe
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