Leseprobe - SCM Shop

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Leseprobe - SCM Shop
Randy Singer
DIE
STAATSANWÄLTIN
Thriller
Prolog
Die Sanitäter waren mit einer Schnelligkeit da, die Caleb Tate überraschte. Er empfing sie an der Eingangstür seiner Siebenhundert-Quadratmeter-Villa auf einem ausladenden Hügel mitten in Atlantas exklusivem Viertel Buckhead. Seine Freunde nannten es »das Haus, das auf Mord gebaut
wurde«. Caleb Tate war schließlich einer der bekanntesten und berüchtigtsten Strafverteidiger von Atlanta – ein Ruf, den er schon seine ganze
berufliche Laufbahn über hegte und pflegte.
Er ließ die Sanitäter herein und versorgte sie atemlos mit Einzelheiten, während sie ihm die Wendeltreppe hinauffolgten, immer zwei Stufen
auf einmal nehmend.
Die Sanitäter hatten mit ihren Sauerstoffmasken und Defibrillatoren
und all der anderen lebenserhaltenden Ausrüstung, die sie schleppen mussten, Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Adrenalin pumpte durch Calebs
Körper, und er fühlte sich wie in einem Albtraum, in einer Szene aus einem Horrorfilm.
Er stürmte ins Schlafzimmer und trat beiseite; er zitterte, während er
die Szenerie in sich aufnahm, als sähe er sie zum ersten Mal. Seine Frau
lag mitten im Zimmer auf dem Boden, ein Nachthemd um ihren Körper
verdreht.
Er hatte sie vom Bett gehoben und auf den Teppich gelegt, um mit der
Wiederbelebung anzufangen, hatte ihren Kopf nach hinten gebogen und
sie beatmet.
Sie hatte gegurgelt und erbrochen, das Abendessen war über ihre
Wange geflossen und hatte ihre braunen Haare verfilzt. Er hatte ihr das
Gesicht mit dem Nachthemd gesäubert, ihren Kopf zur Seite gedreht und
ihr mit zwei Fingern Mund und Rachen gesäubert. Dann hatte er ihren
Kopf wieder nach hinten gebogen und mit der Wiederbelebung weitergemacht, wie wahnsinnig mit den Handballen ihre Brust gedrückt und tiefe
Atemzüge in ihre Lungen geblasen. Er hatte laut gezählt, um sich selbst
zu bremsen. Ständig hatte er ihren Puls gefühlt und gegen die aufsteigende Panik gekämpft.
Nach ein paar Minuten, vielleicht länger, hatte er den Notruf gewählt.
Er wusste, es war zu spät.
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»Gehen Sie besser hinaus in den Flur«, sagte ein älterer Sanitäter. Er
kniete neben Rikki und schien so ruhig und unbeeindruckt, als müsse er
nur eine Schiene an ein gebrochenes Bein anlegen.
Das Team schloss den Defibrillator an, aber auf der Anzeige stand:
»Kein Schock ratsam.« Sie steckten Rikki einen Schlauch in den Hals,
und eine Maschine begann, Atemluft in sie zu pumpen.
»Sie sollten wirklich besser draußen warten.« Diesmal klang der Mann
mitfühlender. Er war ein großer Kerl mit schütter werdenden, grauen
Haaren.
Doch Caleb konnte sich nicht rühren. Seine Füße waren wie einbetoniert, und der Raum begann sich zu drehen.
»Ich muss hierbleiben«, beharrte er mit leiser und abwesender Stimme. Er hörte die Sirenen von anderen Wagen, die in die Einfahrt fuhren.
Blaues Signallicht pulsierte durch die Fenster. Polizisten eilten die Treppe herauf, und ein zweites Sanitäterteam folgte. Bevor Caleb wusste, wie
ihm geschah, wimmelte das ganze Haus von Rettungspersonal. Jemand
führte ihn sanft in den Flur, und die Fragen begannen. Wann haben Sie
sie gefunden? Hatte sie vorher schon gesundheitliche Probleme? Welche
Medikamente nahm sie ein? Wie lange waren Sie weg?
Stockend erklärte Caleb, dass er bei einem Freund gewesen sei, um
sich ein paar Basketballspiele anzusehen. Er war neben Rikki ins Bett
gekrochen, hatte ihr eine Frage gestellt und sie angestupst, als er keine
Antwort bekam. Dann hatte er sie noch einmal angefasst und bemerkt,
dass ihre Haut kalt war und sie nicht atmete. Von da an war alles wie in
Trance passiert – aus dem Bett springen, Wiederbelebungsversuche starten, Hilfe rufen.
Er wusste nicht, wie lange die Sanitäter an ihr arbeiteten, bevor der
ältere Herr mit grimmigem Blick in den Flur kam. »Es tut mir leid«, sagte
er. »Wir haben getan, was wir konnten.«
Caleb spürte, wie seine Knie nachgaben, und packte den Arm eines
Polizisten. Sie halfen ihm, sich auf den Boden zu setzen, und er senkte
den Kopf zwischen die Knie, um zu Atem zu kommen.
»Das kann nicht wahr sein«, sagte er.
»Es tut mir leid«, murmelte einer der Polizisten.
Nach einer Weile schaffte es Caleb, langsam wieder aufzustehen und
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zumindest einen Anschein der Fassung wiederzugewinnen, die ihn zu einer so respekteinflößenden Größe im Gerichtssaal machte. Er schaute
zur Schlafzimmertür und wollte hineingehen.
Eine Polizistin stellte sich ihm in den Weg. »Sie sollten besser nicht
dort reingehen«, sagte sie.
Er schob sie behutsam zur Seite. »Das ist mein Haus.«
An der Tür blieb er stehen – im Raum lagen überall medizinische Geräte verstreut. Polizisten machten Fotos und wuselten geschäftig durcheinander, als sei das hier ein Tatort. Mindestens ein halbes Dutzend Leute erstarrten und sahen ihn an.
»Ich muss einen Augenblick mit meiner Frau allein sein.«
Die Polizisten und Sanitäter sahen einander an, und ein ranghöherer
Polizist nickte. »Bitte bringen Sie nichts durcheinander«, sagte er. »Es ist
nur Routine, aber wir brauchen alles genauso, wie wir es vorgefunden
haben.« Die Leute gingen, ohne die Tür zu schließen. Zwei von ihnen
blieben an der Tür stehen, in ein beiläufiges Gespräch verwickelt. Caleb
wusste, sie beobachteten ihn.
Er ging zu seiner Frau und zog ihr Nachthemd hinunter, um ihren
nackten Körper wieder zu bedecken. Er zog die Daunendecke vom Bett
und legte sie über sie, steckte sie um ihre Schultern und unter ihren
Füßen fest. Er strich ihr die Haare aus dem Gesicht und war erschrocken,
wie sehr sie sich schon verändert hatte. Die Blässe. Der leblose Blick. Der
Mund stand offen und sah aus wie ein angestrengter letzter Atemzug. Die
Sanitäter hatten die Schläuche schon entfernt.
Er dachte an die Fotos, die die Polizisten gemacht hatten, und er wusste, dass sie weitergegeben und die Runde im Internet machen würden.
Aber dagegen konnte er jetzt nichts tun.
Rikki Tate, die Frau des berühmten Strafverteidigers Caleb Tate. Im
Leben ein Showgirl. Sie würde auch im Tod ein Showgirl sein.
Caleb spürte eine Hand auf seiner Schulter. »Es tut mir leid, Mr Tate,
aber wir müssen Ihnen noch ein paar Fragen stellen.«
Caleb stand auf und erwiderte den Blick des Polizisten. Er konnte sich
nicht an den Namen des Mannes erinnern, aber er hatte ihn schon mindestens ein oder zwei Mal im Kreuzverhör befragt. Jetzt war es genau
umgekehrt.
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Caleb war realistisch. Er wusste, dass er Feinde auf jeder Stufe der
Strafverfolgungsbehörden in Atlanta hatte. Und er wusste auch, dass er,
sobald die Autopsieergebnisse vorlagen, ihr erster und einziger Verdächtiger sein würde.
Caleb würde in vollem Umfang kooperieren. Er folgte dem Polizisten
in den Flur und die Treppe hinunter ins Esszimmer. Er beantwortete alle
Fragen, kämpfte gegen Benommenheit und Erschöpfung, während die
Ereignisse der Nacht langsam in sein Bewusstsein drangen. Rikki war
tot, und sie würde nicht zurückkommen. So jung. So viel Potenzial. So
wild entschlossen, etwas aus ihrem Leben zu machen. So begeistert für
ihren neu entdeckten Glauben.
Nichts davon zählte mehr. Es würde alles untergehen im Strudel der
Gerüchte um die Drogen, die sie in ihrem Körper finden würden. Es war
eine amerikanische Leidensgeschichte – schlicht und einfach.
Marilyn Monroe. Anna Nicole Smith. Und jetzt Rikki Tate.
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Den vierten Tag hintereinander ging ich durch die gewundenen Flure des
Piedmont Hospitals, meine Absätze klapperten auf dem Fliesenboden.
Ich hatte mich mit der Zeit an den antiseptischen Geruch gewöhnt und
an die langsamen, schwerfälligen Aufzüge, die mich in den dritten Stock
brachten. Vor dem Zimmer meines Vaters spritzte ich mir ein bisschen
Desinfektionsmittel auf die Hände, genau wie ich es ein paar Minuten
zuvor getan hatte, als ich das Krankenhaus betreten hatte. Es war so
etwas wie ein Ritual geworden.
Es war keine Krankenschwester im Zimmer meines Vaters, kein Anzeichen von etwas, das nach Leben aussah.
Mein Name ist Jamie Brock. Staatsanwältin in Milton County. Single,
fleißig, keine Zeit für das männliche Geschlecht, abgesehen von meinem
Vater, meinem schwarzen Labrador und den dreiundachtzig Angeklagten, die ich hinter Gitter zu bringen versuche.
Aber in diesem Moment, als ich mir einen Stuhl ans Bett meines Vaters
zog und eine Hand auf seinen Unterarm legte, war ich außerdem Jamie
Brock, Tochter meines Vaters.
Und mit achtundzwanzig Jahren sollte ich bald Waise sein.
Mein Vater hatte seit seinem zweiten Schlaganfall vor vier Tagen nicht
mehr gesprochen. Der erste Schlaganfall hatte ihn in einen Mann verwandelt, den ich nicht wiedererkannte. Der scharfe Verstand und sein
beißender Witz waren verschwunden, und an ihre Stelle war eine zerbrechliche und verwirrte Person getreten, die aussah wie mein Vater,
aber Schwierigkeiten mit komplexen Sachverhalten hatte. Manchmal erkannte er nicht einmal Familie und Freunde. Seit dem zweiten Schlaganfall vegetierte er nur noch dahin. Er lag seit vier Tagen hier im selben
Bett, an dieselben Maschinen angeschlossen, dieselben Krankenschwestern und Ärzte kümmerten sich um ihn. Sein behandelnder Arzt, ein
kompetenter indischstämmiger Arzt namens Kumar Guptara, hatte mir
gesagt, mein Vater werde sich nicht mehr erholen. Mich nie wieder beruhigend in den Arm nehmen. Seine Augen würden nicht mehr aufgehen
und beim Anblick seiner einzigen Tochter leuchten. Er würde mir nie
wieder sagen, dass er mich liebte.
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Trotz Guptaras Pessimismus, den auch jeder andere Arzt teilte, den
wir konsultiert hatten, hatte ich noch die vage Hoffnung, dass mein Vater
eines Tages aufwachen und sich von den Maschinen lösen würde, sein
Krankenhausnachthemd gegen seine eigenen Kleider tauschte und den
Raum verließ, obwohl die Krankenschwestern ihm nachriefen, er solle
hierbleiben. Mein Vater war ein Kämpfer. Diese Eigenschaft hatte ich von
ihm geerbt.
Mein Bruder wollte die Geräte abschalten. Aber mein Dad, wie die
meisten Anwälte, hatte sich um seine Mandanten gekümmert, bevor er
sich um sich selbst gekümmert hatte. Er besaß keine Patientenverfügung, und die Ärzte waren nicht bereit, die Nabelschnur zu den Maschinen zu durchtrennen, solange die Kinder sich nicht einig waren. Vor allem, wenn eines der Kinder Anwältin war.
Und so streichelte ich seinen Unterarm und versuchte zu ignorieren,
dass er vor meinen Augen verfiel, immer dünner wurde, obwohl er künstlich ernährt wurde, und man förmlich zusehen konnte, wie seine haarigen Arme trocken und spröde wurden.
»Hey Dad, ich bin’s, Jamie. Sie sagen, du kannst mich nicht hören,
aber wer weiß das schon sicher – stimmt’s?« Der Raum war still, die Maschinen pochten rhythmisch, die Brust meines Vaters hob und senkte
sich langsam.
Ich senkte die Stimme. »Noch vier Tage, Dad. Kannst du noch vier
Tage durchhalten?«
Nach elf Jahren Berufungen sagten die Experten, diesmal wäre es endlich soweit. Antoine Marshall, der Mann, der drei Monate nach meinem
sechzehnten Geburtstag in unser Haus eingebrochen war und meine
Mutter getötet hatte, sollte die Todesspritze bekommen.
In dieser Nacht damals hatte er auch meinen Vater angeschossen und
sterbend liegen lassen. Mein Dad hatte anderthalb Liter Blut verloren,
aber überlebt und gegen ihn ausgesagt. Wie konnte ich ihn dann jetzt
sterben lassen?
»Wir erwarten die Laborergebnisse für Rikki Tate für morgen«, erzählte ich meinem Dad. Ich berichtete ihm jeden Tag von dem Fall. Rikki war
vor dem zweiten Schlaganfall meines Vaters gestorben, und wir wussten
beide, dass an diesem Tod etwas faul war. »Caleb Tate redet sich schon
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heraus. Sagt, er habe von Rikkis Medikamentensucht gewusst, habe sie
aber nicht davon abhalten können.«
Ich beugte mich dichter an sein Ohr. »Du hattest recht, Dad. Er hat sie
vergiftet. Das kann ich riechen.«
Caleb Tate hatte Antoine Marshall in seinem Prozess vertreten. Ich
würde den Tag nie vergessen, als er meinen Vater ins Kreuzverhör genommen hatte, den einzigen Augenzeugen des Verbrechens. Dad war ein
großartiger Anwalt, aber es stimmt, was man sagt: Die besten Anwälte
geben die schlechtesten Zeugen ab. Es war schmerzhaft gewesen, zusehen zu müssen, wie Tate die Zeugenaussage meines Vaters Stück für
Stück auseinandergenommen hatte. Wäre Richterin Snowden nicht gewesen – die Jury hätte Marshall womöglich freigesprochen.
Ich nahm die Hand meines Vaters zwischen meine Hände. »Ich werde
Caleb Tate festnageln«, versprach ich ihm. Antoine Marshall und Caleb
Tate waren dafür verantwortlich, dass mein Vater hier lag. Er hatte die
Schießerei überlebt, sich aber psychisch nie ganz erholt. Sie waren außerdem der Grund, warum ich seit drei Jahren bei der Staatsanwaltschaft
arbeitete und noch in keinem Fall einen Vergleich geschlossen hatte.
Selbst jetzt, als ich in das bleiche Gesicht meines Vaters blickte und ihm
die grauen Haare aus der Stirn strich, fraß die Bitterkeit an meiner Seele
wie der Krebs.
Mein Traum war, Caleb Tate innerhalb von dreißig Tagen nach der
Hinrichtung seines ehemaligen Mandanten anzuklagen.
Mein Vater würde nicht dabei sein und sehen, wie seine Tochter das
Andenken einer Frau rächte, die wir beide geliebt hatten. Aber ich würde
es tun, um das Andenken meines Vaters zu ehren. Und ich würde es auf
das Grab meiner Mutter schwören.
í í í
Zu Hause wartete ich an diesem Abend mit einer Mischung aus Vorahnung und Ekel auf den aktuellen Fernsehbericht über Antoine Marshalls
Berufung. Ein Kollege aus der Staatsanwaltschaft hatte mich auf die
Sendung auf WDKX aufmerksam gemacht. »Das zeigt, wie verzweifelt
er ist«, hatte mein Freund gesagt.
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