PDF

Transcription

PDF
braunschweiger beiträge
für theorie und praxis von ru und ku
106
4/2003
issn 0172-1542
herausgegeben vom
KIRCHENCAMPUS Wolfenbüttel
schriftleitung: hans-georg babke und heiko lamprecht
gesamtkirchliche dienste der ev.-luth. landeskirche in braunschweig
arbeitsbereich religionspädagogik und medienpädagogik
postfach 16 64, 38286 wolfenbüttel
telefon: [05331] 802-507 oder -504 • fax: [05331] 802 713
http://www.arpm.de • e-mail: [email protected]
impressum
Schriftleitung:
Pfarrer Dr. phil. Hans-Georg BABKE, ARPM, Wolfenbüttel
Pfarrer Heiko LAMPRECHT, ARPM, Wolfenbüttel
Mitarbeiter dieses Heftes:
Prof. Dr. Hans-Martin GUTMANN, Schwenckestr. 52 20255 Hamburg
Bernhard BRENNECKE-BETSCHEL, Ulmenweg 4, 38364 Schöningen
Dr. Necla KELEK, Isestr. 57, 20149 Hamburg
PD Dr. Jörg KILIAN, Parkstr. 5, 38350 Helmstedt
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, Immelmannstr. 40, 31137 Hildesheim
Prof. Dr. Herbert SCHULTZE, Tangstedter Landstr. 32B, 22415 Hamburg
Malte Stoffel, Böcklerstr. 5, 38102 Braunschweig
Pfarrer PD Dr. Werner Thiede, Richard-Wegner-Str. 8, 75242 Neuhausen
Dr. Friedrich Weber, Landesbischof der Ev.-luth. Landeskirche in Braunschweig,
Dietrich-Bonhoeffer-Str. 1, 38300 Wolfenbüttel
Layout:
Veronika SCHNEIDER, ARPM, Wolfenbüttel
Druck:
Druckerei KOTULLA, Wolfenbüttel
‘braunschweiger beiträge’ erscheinen viermal im Jahr. Preis im Abonnement 9,00 EURO; Einzelheft 3,00 EURO
Auflagenhöhe ‘bb’ Heft 106-4/2003: 2.500 Exemplare
Bestellaufnahme:
Arbeitsbereich Religionspädagogik und Medienpädagogik
Gesamtkirchliche Dienste der Ev.-luth. Landeskirche in Braunschweig
Dietrich-Bonhoeffer-Str. 1, 38300 Wolfenbüttel
Tel.: [05331] 802 507 • Fax: [05331] 802 713
http://www.arpm.de • e-mail: [email protected]
Landeskirchenkasse Wolfenbüttel, EKK Hannover, Konto 65 05, BLZ 250 607 01
Ab- und Raubdrucke sowie Fotokopien und sonstige Vervielfältigungen sind dringend erwünscht.
Bitte Quellenangaben nicht vergessen, zwei Exemplare immer als Beleg an uns.
Wir freuen uns, danke!
Quellen:
Titelbild:
„Tanzendes Paar“, „Lebensfäden“ Stickbild, Erdmute Trustorff
Beilage: Folie „Die heilige Liturgie v. Michael Damaskenos“, 16. Jhdt. (Sinaitische Hg. AikaterineKirche, a.d. Hl. Menas-Kirche, Herakleion)
Liebe Leserin, lieber Leser!
Auf dem Gang treffen sich zwei Kollegen. Sagt der eine mit finsterem Gesicht: „Hast du schon gehört,
McKinsey will uns abschaffen!“ und beginnt düstere Szenarien zu entwickeln. Darauf der andere augenzwinkernd: „Sag ich doch: Alles wird besser!“ Beide grinsen.
In Zeiten der Umbrüche, Veränderungen und Ungewissheiten hat Humor Hochkonjunktur, nicht nur
der Galgenhumor. Und schon gar nicht der oberflächliche. Ironie schafft Distanz, schafft Raum zum
Durchatmen. In der Herstellung von Inkongruenzen drückt der Sprechende verschlüsselt seine Einstellung
zum Sachverhalt und seine Beziehung zum Gegenüber aus. Aber wie funktioniert Ironie? Eine Antwort gibt
Jörg Kilian in seiner Betrachtung sprach- und kommunikationswissenschaftlicher Aspekte des Themas
„Ironie und Humor“.
Ein weiterer Schwerpunkt dieses Heftes ist die Frage der Lebenswelten Jugendlicher. Necla Kelek
stellt Ergebnisse ihrer Untersuchung zur Religiosität türkischstämmiger Jugendlicher vor. Ihr Artikel, in
dem sie auch auf eigene biografischen Erfahrungen zurückgreift, zeigt, wie notwendig verstärkte Integrationsbemühungen von beiden Seiten und speziell auch die Verständigung über einen Wertekonsens sind.
Im Rahmen der Debatte um die Ergebnisse der aktuellen Shell-Jugendstudien und der Frage sinnvoller
Organisation von Bildung weitet Hans-Martin Gutmann den Blick auf die prägenden Kontexte, in den
Jugendliche aufwachsen: die Perspektivlosigkeit angesichts von Massenarbeitslosigkeit, ebenso wie der
Verlust stabiler sozialer Räume, die Orientierung, aber auch soziale Heimat bieten.
Das Jahr 2004 bringt für das Schulwesen in Niedersachsen einschneidende Veränderungen, neben
den Orientierungsstufen werden auch die Bezirksregierungen abgeschafft. Vieles stellt sich erst in Umrissen dar. Klar ist dagegen für etliche Kolleginnen und Kollegen, dass für sie ein Neuanfang ansteht. Dieses
gilt auch für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im ARPM, das nun nicht mehr ein „Amt“ ist, sondern ein
„Arbeitsbereich für Religionspädagogik und Medienpädagogik“.
In diese Zeit des Übergangs, der Veränderung, auch der Ungewissheiten begleitet uns die Jahreslosung, die zu einem hilfreichen Perspektivwechsel einlädt:
„Jesus Christus spricht: Himmel und Erde werden vergehen; meine Worte aber werden nicht vergehen.“
(Mk. 13, 31)
Mit herzlichem Gruß
meditation
„Weil die Welt, umgeben von der Weisheit Gottes,
Gott durch ihre Weisheit nicht er­kannte, gefiel es Gott wohl,
durch die Torheit der Predigt selig zu machen, die daran glauben.“
Das könnte Paulus heute nicht so leicht passieren: durch die „Torheit der Predigt“ aufzu­fallen! Ich meine damit weniger den Umstand, dass in unserer Kirche gerade dort, wo man sich um aktuelle Klugheiten bemüht,
manch törichte Predigt gehalten wird. Viel­mehr denke ich daran, dass die „Torheit der Predigt“ oder allgemeiner: die Torheit, die Narrheit in reli­giösen Ange­legenheiten hier und da zur Mode oder sogar zur Methode
geworden ist. Ein bekanntes Beispiel dafür wären die Jünger des vor zehn Jahren verstorbenen Gurus „Osho“:
Der hatte als „Bhagwan“ seine göttliche Erleuchtung ge­rade mit dem Hinweis unterstrichen, dass seine Jünger sich des Verstandes entledigen soll­ten! Und wie Paulus hatte dieser neureligiöse Führer dabei durchaus
die „wahre Weis­heit“ im Blick. Aber auch an die Beliebtheit des Irrationalen im Gesamtumfeld der Esote­rik
sei erinnert. Und sogar dann, wenn wir von der Welt des Religiösen einmal absehen, grinst uns das postmoderne Phänomen einer Relativierung aller Auffassungen von „Vernunft“ entgegen. In der Folge gewinnen
vielerlei Tendenzen erneuter Mytholo­gi­sie­rung in Kultur und Politik Raum, egal ob links oder rechts.
Kurzum – das Ja zu einer „Torheit der Predigt“ ist heute nichts spe­zifisch Christliches mehr.
Ich gehe noch weiter und sage: Sogar das Gegenteil ist zunehmend unter uns der Fall! Denn das, was
Paulus mit „Torheit“ gemeint hatte, nämlich die Rede vom Gekreuzigten, den Gott (laut Römer 3,25) als
„Sühnopfer“ öffentlich aufgestellt hat, ist im Raum unserer Kirche mittler­weile für nicht wenige tatsächlich
zum Skandalon geworden. Als „Torheit“ gilt heutzutage unter vielen Theo­logen, was unsere Väter in ihren
Gesangbuchversen noch als Gottes Erlö­sungstat ge­prie­sen haben. Das „vergossene Blut des Opferlammes Jesus“ ist, um nur eines von vielen Bei­spielen zu nennen, für den Wort-zum-Sonntag-Prediger Heiko Rohr­bach
ein „biblischer Alp­traum“, und er bedauert ausdrücklich, „dass Teile der frühen Christen­heit Jesu Tod als
rituelles Opfer dargestellt haben“. Nur keine „Torheit der Pre­digt“ dem zahlenmäßig ohnehin schrum­pfenden
Kirchenvolk zumuten! Das überlässt man lieber den sogenannten „Sekten“ und „Funda­menta­listen“.
Mit sektiererischen Tendenzen dürfte Paulus bereits zu tun gehabt haben, als er sein Wort von der „Torheit der Predigt“ formulierte. Wie der Kontext der Eingangskapitel des 1. Korin­therbriefs verrät, gab es in
der Adressatengemeinde Spaltungen, etwa eine Apollos- und sogar eine eigene Christus-Gruppe. Darunter
waren Leute, die in enthusia­stischer Gesinnung sich schon spirituell reich und satt wussten; sie hatte der
Apostel offensichtlich im Blick, als er vor jener „Weisheit der Rede“ warnte, die das Kreuz Christi entwertet.
Aber auch in dieser Hinsicht ist die Lage heute eben eine andere. Wir sind nämlich mit etli­chen Sekten und
Theosophien konfrontiert, die das Kreuz Christi keineswegs zu entwer­ten, sondern durchaus hochzuschätzen pflegen. Die Palette reicht von den Mor­monen und Zeugen Jehovas über die Anthroposophen bis hin zum
Orden Fiat Lux und zum „Universellen Leben“. Sie alle fürchten sich vor solcher „Torheit“ mitnichten. Ja sie
verste­hen es, den Gekreuzigten in die von ihnen propagierte „wahre Weisheit“ zu integrie­ren. Beinahe möchte man im Blick auf dieses Phänomen den Apostel erneut zitieren: „Was vor der Welt töricht ist, hat Gott
erwählt, damit er die Weisen zuschanden mache, ... auf dass sich kein Fleisch vor Gott rühme.“
2
'bb' 106-4/2003
Und doch muss man gerade bei den betreffenden Sekten und Esoterikern feststellen, dass sie das Kreuz
Christi, indem sie es in ihre Weltanschauung eingebaut haben, auf subtile Weise zum Eigenruhm missbrauchen. Sie predigen den Gekreuzigten jeweils so, dass er ihnen zur Selbsterhöhung dient. Was sie aus dem
Kreuz machen, ist in der Regel doch kaum mehr als ein Baustein im Ge­bäude religiöser Leistungsgerechtigkeit. Ihre Weisheit ist ungeachtet ihrer Rede vom Kreuz Jesu im Sinne des Apostels Paulus als „Weisheit
dieser Welt“ einzuordnen. Sie ist insofern letztlich doch nicht besser und nicht schlechter als die Weisheit
jener Welt, von der sich Sektierer so gern absetzen.
Überhaupt gilt ja von allen „religiösen“ Menschen, von Heiden und Juden gleichermaßen, was Paulus
über Weisheit und Torheit schreibt. Er spricht von der Welt insgesamt, die – obwohl von Gottes Weisheit umgeben – durch ihre Weisheit Gott nicht erkannte. Selbst in dieser Hinsicht muss man freilich fra­gen, ob wir
heutzutage noch so reden können. Dass die Welt von Gottes Weisheit umge­ben sei, ist im Laufe der Neuzeit
immer weniger selbstverständlich geworden. Die neue Chaosforschung hält für das Werden und Bestehen der
Welt den Begriff der „Selbstorganisation“ bereit. Aber auch abgesehen von der modernen Naturwissenschaft
lassen spätestens seit Ausschwitz und Hiroshima all die Menschen, die am Schöpfer zwei­feln, sich nicht
einfach mehr als „Toren“ hinstellen.
Dennoch kann uns gerade in dieser Situation die Rede vom Gekreuzigten in ihrer Weis­heit neu bedeutungsvoll werden. Denn das Wort vom Kreuz spricht eben von dem Gott, dessen An­wesenheit vermisst wird,
der „das alles zulässt“. In Jesu Gebetsschrei am Kreuz „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ vermittelt sich das Paradoxon der verborgenen Transzendenz. Daraus quillt jene Weisheit, die die Welt
in keiner Weise zu beschönigen braucht – und die trotzdem an Gottes Liebe glauben kann, über alle menschliche Vernunft hinaus! Deshalb exi­stieren Christen im Raum einer letzten Umgriffenheit: als „Sterbende, und
siehe, wir leben“, als „Betrübte, aber allezeit fröhlich“, wie Paulus an die Korinthergemeinde schreibt. In
solcher Fröhlichkeit, in solch heiliger Freude dürfen wir als Narren Christi gelten: als Toren, denen sich im
Gekreuzigten Gottes Sein als unendliche, unwiderrufbare Liebe erschlossen hat, als Menschen, die deshalb
noch lachen oder lächeln können, wo andere dafür keinen Anlass mehr sehen.
Werner Thiede
3
'bb' 106-4/2003
u-entwurf:
menschen fragen nach gott
bernhard brennecke-betschel
Einzelthemen der Unterrichtseinheit:
1. Menschen erfahren Licht und Schatten
2. Wenn alles zu Bruch geht. Eine Lebenserfahrung (1-2
Stunden)
3. Wie Menschen mit der Wirklichkeit umgehen
4. Wo ist da Gott?
5. Wie Christen versucht haben die Frage nach Gott zu
beantworten
6. Jesus redet von Gott
Geplante nächste Unterrichtseinheit:
Krieg und Frieden
Angaben zur Unterrichtseinheit und Stellung
der Stunde in der Einheit
Die Einheit basiert auf dem Wunsch der Schülerinnen, die
Frage nach Gott zu erörtern. Hierbei handelt es sich um
eine Aufgabenstellung, die im schulischen Kontext nur
durch didaktische Reduktion auf wesentliche Elemente
angenommen werden kann.
In dieser Einheit geht es im Wesentlichen darum,
ausgehend von Grunderfahrungen menschlicher Existenz
nach Gott zu fragen und in elementarisierter Form einige
theologiegeschichtliche und religionskritische Weichenstellungen zur Gottesfrage so zu vermitteln, dass Schülerinnen eigene Probleme wiedererkennen und reflektieren
können.
Von Bedeutung wird sein, den Schülerinnen zu vermitteln, dass Gott nicht auf die Ebene des Beweisbaren oder
nicht Beweisbaren gebracht werden kann, sondern dass
wir uns bei der Diskussion um die Gottesfrage im Bereich
der gedeuteten menschlichen Erfahrungen bewegen. Wie
alle Erfahrungen ist auch die Frage nach Gott umstritten. Auch Fehlschlüsse sind möglich und im Verlauf der
Geschichte immer wieder vorgekommen.
Daher sollen die Schülerinnen zum Ende der Unterrichtseinheit bestimmte Denkmechanismen durchschauen, die zu Fehlentwicklungen in Theologie und Frömmigkeit geführt haben. Der Hinweis auf den Christus, der in
einer bis dahin völlig neuen Weise von Gott spricht, ist
unerlässlich.
Die vorliegende Stunde greift besonders den Themenbereich der elementaren Erfahrungen menschlicher Existenz auf und verbindet diesen mit der Themenstellung der
4
Einheit. Vom Verlauf dieser Stunde leiten sich nachfolgende inhaltliche Schwerpunkte ab.
Zur Situation der Lerngruppe:
Die Lerngruppe ist seit Beginn des Schuljahres
2002/2003 aus den Klassen 10.1/10.2 zusammengesetzt
und besteht aus 11 Schülern und 8 Schülerinnen. Etwa
die Hälfte der Schülerinnen wird von mir seit der 7. Klasse in evangelischer Religion unterrichtet. Der Unterricht
wird z.Zt. mit einer Wochenstunde erteilt.
Den Inhalten des Religionsunterrichtes haben die
meisten Schülerinnen Interesse entgegengebracht und
ihre Bereitschaft zur Mitarbeit durch gute Beteiligung am
Unterrichtsgeschehen gezeigt. Hierbei wurden kreative
Arbeitsanweisungen und Methoden besonders geschätzt.
Die Arbeit in dieser Lerngruppe ist geprägt von dem
Verlangen der Schülerinnen nach neuer Wertorientierung
und der Forderung nach einem verlässlichen, eigenständig erlangten Weltbild. Hieraus ist das Thema der Unterrichtseinheit erwachsen.
Zu berücksichtigen ist auch, dass Religionsunterricht
in dieser Abschlussklasse zunehmend dem Interesse an
Fragen der Berufsfindung, Problemen der Arbeitswelt
und - aus aktuellem Anlass - der vermehrten Diskussion
um Krieg und Frieden ausgesetzt ist. Diesem Umstand
soll durch ein entsprechendes Themenangebot unbedingt
Rechnung getragen werden.
Didaktische Legitimation
Die vorliegende Unterrichtseinheit integriert sich in den
Katalog der verbindlichen Themen, die in den Rahmenrichtlinien für das 10. Schuljahr vorgesehen sind. Insbesondere wird hier das Lernfeld „Bedingungen und Möglichkeiten individueller und gesellschaftlicher Existenz“
berührt. Unter „Beispielhafte Inhalte“ ist das Thema
„Lebenskrisen“ ausgewiesen.
Die Hospitationsstunde greift dieses Thema direkt auf.
Darüber hinaus lassen nachfolgende Stunden sinnvolle
Verknüpfungen zu anderen thematischen Aspekten erkennen, so sind z.B. Inhalte der Bergpredigt Bestandteil der
6. Stunde der Einheit. Auch der Umstand, dass sich für
viele Menschen gerade in tiefen Lebenskrisen die Frage
nach Gott besonders dringlich stellt, findet hier Berücksichtigung.
'bb' 106-4/2003
Die Entscheidung, auf welcher Grundlage die Thematik den Schülerinnen nahegebracht werden soll, ist
sowohl theologischer als auch didaktischer Natur.
Theologisch besteht die Möglichkeit, mit Aussagen
über die Wesenhaftigkeit Gottes einzusetzen und von
daher zur Welt und zum Menschen vorzudringen. Das
beschreibt den Weg von „oben nach unten“. Er kann legitim sein, birgt aber die Gefahr in sich, in dogmatischen
Glaubensformulierungen zu enden, die kaum Widerspruch
zulassen.
Aus diesem Grund entscheide ich mich, den entgegengesetzten Weg zu wählen, nämlich bei der menschlichen Wirklichkeit anzusetzen, bei ihrer Vielfalt und
Widersprüchlichkeit und von da aus zurückzufragen nach
Erfahrungen der Anwesenheit Gottes.
Zur Lebenswirklichkeit vieler Schülerinnen gehört die
Erfahrung des Auseinanderfallens der Familie, der Verlust
von Freunden und Bezugspersonen, sowie die Einschränkung von Zukunftsperspektiven u.a.m.
Das Thema der Unterrichtsstunde ist also durchaus im
Erfahrungshorizont der Schülerinnen verankert. Die Hinweise und Inhalte der Unterrichtsplanung verstehen sich
als eine Möglichkeit zur Bewältigung von bereits erlebten
oder zukünftigen Krisensituationen.
Sachanalyse
Die Schülerinnen dieser Altersgruppe stehen in mehrerer
Hinsicht in einem Übergangsstadium. Zum einen ist es
die biologische Schwelle zwischen Kindheit und Erwachsensein und zum anderen der Übergang vom Schulleben
zur Arbeitswelt, von Vertrautem zu Fremdem.
Dieser Übergang ist naturgemäß begleitet von bestimmten Hoffnungen, Vorfreude und z.T. euphorischer
Aufbruchstimmung, andererseits gibt es Befürchtungen,
Selbstzweifel und Versagensängste.
Nicht jeder Lebensweg verläuft geradlinig nach oben.
Auch das Scheitern und der Zerbruch sind möglich. Dies
gehört zu den elementaren Lebenserfahrungen, von denen im Prinzip niemand ausgenommen ist.
Eine Vielzahl biblischer Texte thematisiert diesen Teil
menschlicher Wirklichkeit. Das Wesentliche ist, dass der
Zustand zwar erkannt und beschrieben wird, hier in der
Symbolik eines zerbrochenen Kruges, die Zusagen des
Evangeliums aber nicht im bloßen Klagen darüber verharren. Vielmehr ist es das Anliegen dieser Texte, gerade
in der Krise Trost zu spenden, neue Hoffnung zu wecken
und zum positiven Handeln zu ermutigen.
Indem die Bruchstücke wieder zusammengesetzt werden, entsteht etwas Neues. Der Zerbruch wird zur Chance
eines kreativen Prozesses; zum Beginn einer neuen
Schöpfung. Die Intentionen der biblischen Texte können
also in diesem Sinne so gedeutet werden, dass das neu
Entstandene nicht eine minderwertige Notlösung ist, sondern eine eigenständige, unverwechselbare, individuelle
und wertvolle Kreation.
Konkret soll dies bedeuten, dass die Zusagen der biblischen Texte aus Jesaja 43 Vers 19 sowie Psalm 34 Vers
19 dazu auffordern und ermutigen, sich den Herausforderungen eines Neubeginns aus dem Zerbruch zu stellen,
nicht im Sinne einer Wiederherstellung des alten Zustandes, sondern einer Neuwerdung.
Auf dieser Grundlage können z.B. Beziehungen neu
gestaltet werden, Sinngebungen der Existenz neu definiert werden, kurz: dem Leben und seinen Möglichkeiten
zugewandt bleiben.
Lernziele:
Ziele der Unterrichtseinheit:
•
•
•
•
Die Schülerinnen sollen erkennen, wie inmitten der
menschlichen Wirklichkeit von Gott geredet werden
kann.
Die Schülerinnen sollen erkennen, wie Christen in unterschiedlichen geschichtlichen Situationen versucht
haben, ihre Gottesvorstellungen zu verdeutlichen.
Die Schülerinnen sollen erkennen, dass es zu den
zentralen Intentionen des christlichen Glaubens gehört, die Menschen zu ermutigen dem Leben positiv
zugewandt zu bleiben.
Die Hinweise der Unterrichtseinheit sollen die Schülerinnen anregen, Konsequenzen für ihr persönliches Leben und ihr mitmenschliches Engagement zu ziehen.
Ziele der Stunde:
Die Schülerinnen sollen...
• die Hinweise der christlichen Religion, besonders in
krisenhaften Lebenssituationen,
als Angebot zur Bewältigung und Gestaltung des
Lebens erkennen.
• wissen, dass es zu den wesentlichen Intentionen des
christlichen Glaubens gehört,
anstelle von Resignation zu Hoffnung und Neubeginn
zu ermutigen.
Feinziele:
Die Schülerinnen sollen erkennen dass...
• zwischen Wunsch und Wirklichkeit oft ein großer
Unterschied besteht.
• im menschlichen Lebensvollzug auch Scheitern und
Zerbruch in unterschiedlichen
Lebensbereichen möglich ist.
• bestimmte biblische Texte menschliche Erfahrung
und Wirklichkeit wiedergeben.
• die Zusagen des Evangeliums auch extreme Situationen des körperlichen und
seelischen Zerbruchs mit einschließen.
• Krisensituationen als Chance eines Neubeginns interpretiert werden können.
5
'bb' 106-4/2003
Methodische Begründung
Als Medium zum Einstieg in die Unterrichtsstunde wird
eine Folie gewählt, die einen jungen Mann zeigt, der im
Türrahmen stehend einen Raum verlässt und einen Treppenanstieg vor sich hat. In dem verlassenen Raum finden
sich verschiedene Insignien der Kindheit.
Diese Folie bietet den Schülerinnen viele Möglichkeiten
zur Identifikation und Parallelen zur eigenen Situation an.
Es darf daher mit motivierter Mitarbeit gerechnet werden.
Der optische Impuls der Barriere führt zu einer vertieften
Auseinandersetzung mit möglichen Schwierigkeiten im
konkreten Lebensvollzug.
Zur weiteren Steigerung der Dramaturgie wird ein
zuvor als idyllisch wahrgenommenes Bild abrupt zerstört.
Was gerade noch heil und harmonisch war, ist mit einem
Schlag zerstört; es bleibt ein Scherbenhaufen zurück.
Der symbolische Gehalt dieses Vorganges scheint mir
sehr deutlich auf bestimmte Erfahrungen menschlicher
Existenz hinzuweisen und wird sehr wahrscheinlich von
den Schülerinnen erkannt und im Sinne der angestrebten
Lernziele umgesetzt.
An dieser Stelle ist es nun angebracht, den Schülerinnen die Gelegenheit zu geben, eigene Erfahrungen einzubringen, wobei der Sitzkreis die optimale Erzählsituation
gewährleistet. Es kann nicht selbstverständlich davon
ausgegangen werden, dass Schülerinnen in diesem Rahmen bereit sind, von eigenen Lebenskrisen, die u.U. sehr
persönlich und intim sein können, zu berichten.
Daher werden die Fotos als weiteres Medium ausgelegt. Indem die Schülerinnen die Geschichte auf eine
fiktive Person projizieren, entsteht ein geschützter Raum.
Man kann so die eigene Erfahrung berichten, ohne sich zu
„outen“. Schon das Aussprechen von belastenden Erlebnissen kann unter der Voraussetzung des Schutzraumes
als Ent- lastung empfunden werden und soll zumindest als
Möglichkeit angeboten werden.
Da es sich in dieser Phase um eine sehr offene Unterrichtssituation handelt, kann der zeitliche Rahmen
nicht eindeutig bestimmt werden. Sollte hier ein starkes
Mitteilungsbedürfnis deutlich werden, wird der Lehrer
diesem den nötigen Raum geben. Ein vorschnelles Beenden soll vermieden werden, weil die Wahrnehmung und
Darstellung menschlicher Krisensituationen eine wichtige
Grundlage der weiteren Gestaltung des Unterrichts sind.
Insofern ist der weitere Verlauf von den Interessen und
Beiträgen der Schülerinnen abhängig.
Um auch tiefe Lebenskrisen mit in die Überlegung
einzubeziehen, kann der Lehrer sich schließlich selbst an
dem Erzählen von Beispielen beteiligen oder die Ballade
als Liedvortrag wählen. Diese hätte den Vorteil, das Motiv
der Folie aufzugreifen und, indem sehr drastisch der körperliche und seelische Zerbruch eines jungen Menschen
geschildert wird, den Unterricht inhaltlich voranzubringen
und so weit zuzuspitzen, dass das anschließende Bibelzitat nahezu optimal vorbereitet und in seiner Aussage den
Schülerinnen verständlich wird.
Außerdem können Schülerinnen, die möglicherweise
bisher innerlich distanziert geblieben sind, zu größerer
6
emotionaler Nähe und Betroffenheit gelangen. Erfahrungen aus anderem Kontext haben gezeigt, dass viele Schülerinnen zu dieser Möglichkeit einen guten Zugang haben.
Die Entscheidung, welche methodische Variante gewählt wird, soll aus der Situation heraus erfolgen. Eine
zentrale Fragestellung ist die nach den Möglichkeiten der
Bewältigung von Lebenskrisen. Als mögliche Antwort
bietet sich ein ganzer Markt an „Heilsbotschaften“ der
verschiedensten Weltanschauungen an. Das Einbringen
biblischer Texte ist die bewusste Kanalisierung auf den
Anspruch der christlichen Religion.
Auch die Reihenfolge der Texte ist von Bedeutung:
Geht es im ersten Zitat darum, einen krisenhaften
Zustand anschaulich zu beschreiben und ihn somit zu
Bewusstsein zu bringen, also nicht zu verdrängen, so will
das zweite Zitat Mut zusprechen, den Aufbruch aus der
Krise zu wagen. Diese Reihenfolge ist aus psychologischer Sicht sinnvoll.
Als Kontrast zu dem Scherbenhaufen präsentiert der
Lehrer schließlich einen unvollkommen zusammengeklebten Krug, der als Vase nicht mehr geeignet ist, aber
für eine neue Aufgabe „wie geschaffen“ ist. Durch dieses
anschauliche Objekt haben Schülerinnen und Lehrer viele
Möglichkeiten, Assoziationen zu wecken und Symbolisches zu Konkretem zu transferieren. Sinnanregendes
Lernen findet so statt. Es wird bewusst die Methode
gewählt, vom Symbol her die Frage nach Gott zu deuten.
Alle Versuche von Gott zu reden können nur unvollkommen sein. Symbole ermöglichen einen Zugang, sehr Komplexes anschaulich zu machen.
Ein sehr ansprechendes, meditatives Bild könnte
entstehen, wenn eine Kerze entzündet wird und die zerbrochene Vase nun eine neue Bestimmung als Leuchte
erhält, durch die der Kerzenschimmer hindurchscheint.
Um diese symbolischen Bilder zu konkretisieren, wird
der Lehrer bei Bedarf von Personen berichten, die auf
Grund ihres Glaubens die Kraft gefunden haben, persönliche Katastrophen nicht nur zu meistern, sondern zu
einer neuen Sinngebung gefunden haben. Obwohl dies für
viele biblische Gestalten zutrifft, ist es für Schülerinnen
eher überzeugend von heute lebenden Persönlichkeiten zu
hören, wie z.B.
• Nelson Mandela
• Michael Lapsley
• u.a.
Literaturliste
Niedersächsisches Kultusministerium: Rahmenrichtlinien für 10. Klassen an Hauptschulen. Hannover 1999.
Früchtel/Lorkowski: Religion im 9./10. Schuljahr. Göttingen 1993.
Helmut Hanisch u.a.: Kursbuch Religion 9./10.. Frankfurt a.
Main 1993.
Heinz Zahrnt: Die Sache mit Gott. Die protestantische Theologie im
20. Jahrhundert. München 1978.
Evangelisches Missionswerk in Deutschland: Schritte gegen Tritte. Ein
ökumenisches Lernprojekt für Schulen und Gemeinden. Hamburg 2003.
Bernhard Sieland/Madlen Sieland: Klinische Psychologie für Pädagogen. Aachen-Hahn 1991. Manfred Kwiran: Fotos zur Motivation
und Differenzierung. Impulse 1-3. Braunschweig.
'bb' 106-4/2003
Quellennachweis Bildmaterial (Folie) und Ballade
Helmut Hanisch u.a.: Kursbuch Religion 9/10.. Frankfurt a .Main 1993. S. 123. The Dubliners: The Masters. Disc two, Song Nr 2.
Verwendete Zitate
Psalm 31 Vers 13b: Jesaja 43 Vers 19: Psalm 34 Vers 19: Blaise Pascal: „...ich bin geworden wie ein zerbrochenes Gefäß...“.
„Siehe, ich will ein Neues schaffen!‘
„Der Herr ist nahe denen, die zerbrochenen Herzens sind und hilft denen, die ein zerschlagenes Gemüt haben.“
„Es ist nicht auszudenken, was Gott aus den Bruchstücken unseres Lebens machen kann, wenn wir sie ihm ganz überlassen.“
„Blessed are the cracked they let the light through.”
7
'bb' 102-4/2002
Ballade : The Band Played Waltzing Matilda*
1
5
Als ich ein junger Mann war, schnürte ich mein Bündel
und lebte das freie Leben eines Vagabunden.
Von den fröhlichen grünen Wasserläufen
bis hin zur staubigen Wildnis
hab ich die Schönheit meiner Heimat erlebt.
10
Dann, eines Tages, sagte man mir,
es ist Zeit mit dem Herumstreunen aufzuhören,
es gibt Arbeit zu tun.
Darum gaben sie mir einen Blechhut und ein Gewehr
und schickten mich fort in den Krieg.
15
Nur zu gut erinnere ich mich an den schrecklichen Tag
als unser Blut den Sand und das Wasser färbte.
Und was zur Hölle wird „Soula Bay“ genannt.
Wir waren wie Schafe im Schlachthaus.
20
Der Feind war so gut vorbereitet –
er beregnete uns mit Kugeln und es hagelte Granaten.
Nach fünf Minuten war alles platt
Kanoniere pusteten uns zurück nach Hause.
25
Und die Band spielte „Waltzing Matilda“
als wir aufhörten, um unsere Gefallenen zu begraben.
Wir begruben die unseren – der Feind begrub die seinen.
Dann fing alles wieder von vorne an.
30
Dann schlug mir eine tückische Granate den Hintern über den Kopf
und als ich in meinem Krankenhausbett erwachte
und sah, was es angerichtet hatte,
wünschte ich mir tot zu sein.
Ich wusste nicht, dass es etwas Schlimmeres als Sterben gibt.
35
Und nie wieder gehe ich zum Tanzen um den Maibaum herum.
Weil, um sich im Kreise zu drehen, braucht ein Mensch beide Beine.
Nie wieder „Waltzing Matilda“ für mich.
40
Sie sammelten die Verwundeten, Krüppel und Verrückten
aufs Schiff und schickten uns zurück nach Hause.
Die ohne Arme, die ohne Beine, Blinde und Verwirrte,
die im Stolz so verletzten Helden von „Soula“.
45
Und als das Schiff an einem der hinteren Kais anlegte, sah ich dorthin,
wo früher meine Beine einmal waren
und dankte Gott, dass da niemand, war der auf mich wartete,
um zu jammern, zu klagen und zu bedauern.
Und die Band spielte „Waltzing Matilda“,
als sie uns die Gangway heruntertrugen.
Und niemand grüßte – sie standen nur da und starrten dann wendeten alle ihr Gesicht von uns ab.
Und die Band spielte „Walzing Matilda“ als das Schiff ablegte.
Zwischen all den Tränen, Fahnenschwenken und Grüßen
segelten wir davon nach Galapoli.
Diejenigen, die am Leben waren, versuchten nur zu überleben,
in dieser verrückten Welt aus Blut, Tod und Feuer.
Und zehn lange Wochen hielt ich mich am Leben,
während um mich herum die Berge der Leichen immer höher wurden.
* Übersetzung mit geringfügigen Textabweichungen vom Original
8
'bb' 102-4/2002
Vertiefung
Erarbeitung II L. ergänzt die Ss.-Beiträge evtl. durch eine Ballade.
15 min
10 min
Erarbeitung I
10 min
Ss schauen zu
Ss äußern sich verblüfft, evtl. erschrocken
Frontaluntericht
Ss beschreiben das Bild; danach Deutungs­versuche;
Ss nennen Wünsche u. Erwartungen des jungen Mannes
aber auch mögliche Ängste
Ss ziehen Rückschlüsse auf ihre eigene Situation
Ss deuten den optischen Impuls:
– Sackgasse
– keine Hoffnung/Zukunft etc.
Ss nennen Beispiele:
– Arbeitslosigkeit/Entlassung
– persönliche Katastrophen
Ss bilden einen Sitzkreis
L. bringt eine Interpretation aus Sicht der christl. Religion in die Diskussion ein, er bedient sich dabei eines aus
Bruchstücken zusammengesetzen Kruges als Symbol.
L. fragt weiter nach Möglichkeiten der Bewältigung von
Lebenskrisen
L. bringt Auszug aus Psalm 31 ein.
Impuls: Was hilft, wenn jemand vor einem solchen Scherbenhaufen steht.
Ss hören zu, stellen ggf. Rückfragen, setzen sich mit den
Inhalten auseinander.
Ss hören zu und verfolgen den Lebensweg, der in der Ballade beschrieben wird. Sie nennen die Stationen, die den
„Zerbruch“ beschreiben.
Ss äußern sich dazu. Im gelenkten U.-gespräch erkennen
sie: nur den Zustand beklagen und resignieren hilft nicht
weiter.
Ss erkennen in dem Bibeltext die Beschreibung einer elementaren menschlichen Erfahrung.
Ss äußern ihre Meinung
U.-gespräch
Tonpapier beschr.:Psalm
39 Vers 19 Tonkrug
L.-Vortrag/Gitarre
Ballade: The band played „Waltzing Matilda“
in, The Dubliners „The
masters“ Disc two,
Song Nr. 2 Textblatt mit
Übersetzung
Tonpapier beschr.:
„... ich bin geworden
wie ein zerbrochenes
Gefäß“ Psalm 31
Sitzkreis Fotos zur
Medita­tion „Impulse“
U.-Gespräch
Decke als Unter­lage;
Tonvase; Deko
Hammer
Sitzkreis
OH-Projektor
Folie „Schritt ins
Leben“
Folie mit Grafik
Folienschreiber
Sozialform/Medien
erwartetes Schülerverhalten
Ss nennen evtl. mit Hilfe des Lehrers:
– Menschen erleiden Schicksalsschläge
– erfahren Lebenskrisen
– Hoffnungen und Pläne werden zu einem Scher­benhaufen
L. legt einige Fotos, auf denen verschiedene Menschen ab- Ss wählen ein Bild aus, denken sich eine Geschichte dazu
gebildet sind, in den Kreis. Er bittet Ss eines auszuwählen aus und erzählen sie. Möglichst spontan, sonst nach einer
kurzen Bedenkzeit. Sie beginnen: „Bei diesem Scherbenund die Geschichte dieses Menschen zu erzählen.
haufen denke ich an...“
Er gestaltet ein „idyllisches Bild“ in der Mitte
L. bittet die Ss, dieses Bild eine Weile auf sich wirken zu
lassen. Danach geht er hin und zerschlägt die Vase mit
einem Hammer.
L. leitet U.-Gespräch zur Deutung dieses Vorganges.
Impulse: Was bedeutet es, vor einem Scherben­haufen zu
stehen? Das Schicksal hat zugeschla­gen?
L. organisiert Änderung der Sozialform
Breite Innenstreifen dienen der Beschriftung.
Er legt einen auf Folie gemalten Balken an den oberen
Rand des Bildes, quer über den „Lebensweg“.
L. präsentiert das Bild „Schritt ins Leben“
Einstieg
10 min
geplantes Lehrerverhalten
Phase
Zeit
christliche orthodoxie im unterricht
hans-georg babke
1. Didaktische Vorüberlegungen
Das orthodoxe Christentum der Ostkirchen mit ihrer Ikonenverehrung ist nach den Rahmenrichtlinien für Evangelische Religion kein relevantes und schon gar kein eigenständiges Thema. Man findet allenfalls Andeutungen bei
den beispielhaften Inhalten unter dem Leitthema „Ökumene“ für die Jahrgangsstufe 9/10 (Realschule/Hauptschule) oder „Kirche spricht in Bildern und Symbolen“ (Gymnasium 7-10 [alt]). Ein ähnlich negativer Befund bieten
die Rahmenrichtlinien für die gymnasiale Oberstufe.
Wesentlich stärker als die innerchristliche Ökumene, die
reduziert ist auf das Verhältnis „Evangelisch/Katholisch“,
werden die anderen Weltreligionen Judentum und Islam
thematisiert. Das ist bezogen auf den Islam verständlich,
weil in der Lebenswelt der Schüler/-innen eher muslimische Mitschüler/-innen vorkommen als solche mit einem
orthodoxen Glauben.
Andererseits unverständlich, weil Griechenland ein beliebtes touristisches Ziel ist und dort die orthodoxe Kirche
und deren erkennbares Kultpersonal das alltägliche Erscheinungsbild mitprägen. Die orthodoxen Kirchen bieten
sich auch deshalb als Thema an, weil
• mit Hilfe der Ikonen nicht nur die Theologie und
Frömmigkeit einer fremden Konfession bilddidaktisch
erschlossen werden können, sondern auch zentrale
Glaubensgrundlagen der evangelischen Kirche (Trinitätslehre; Zwei-Naturen-Lehre);
• mit ihrer Hilfe die neuplatonische, qualitativ gestufte
Seinsordnung der Welt erarbeitet werden kann;
• die fremde Welt der Orthodoxie, ohne dass diese
von vornherein negativ konnotiert ist, Neugier und
vielleicht auch Respekt bei den Schülern auszulösen
vermag;
• es schließlich – zumindest in größeren Städten – orthodoxe Gemeinden gibt, deren Kirchen und Gottesdienste man als außerschulische Lernorte nutzen
kann.
Ikonenmalerin Konstantina Stephanaki in ‚braunschweiger beiträge’ 105.
2.1 Der orthodoxe Gottesdienstraum
Wer sich einer orthodoxen Kirche nähert und sie dann
betritt, dem werden sofort einige Unterschiede zu unseren westlichen Kirchen auffallen: Sie haben in der Regel
viele Türmchen, zuweilen in Zwiebelform, und einen
quadratischen Zentralbau mit Kuppel. In der Kirche fehlt
weitgehend die Bestuhlung außer einigen Sitzbänken an
den Wänden für ältere und gebrechliche Menschen. Der
Gottesdienst wird in der Regel stehend gefeiert. Es riecht
stark nach Weihrauch. Wie bei uns auch sind die orthodoxen Kirchen nach Osten, nach Jerusalem hin ausgerichtet.
Der Altarraum ist scharf getrennt vom Gemeinderaum.
Bei der Trennwand handelt es sich um die sog. Ikonostase, einer mit zahlreichen Ikonen bebilderten und mit
drei Türen versehenen Wand. Die mittlere Tür ist die sog.
Königstür, durch die nur der geweihte Priester treten darf,
die Nordtür und die Südtür sind den Geistlichen mit niederen Weihen vorbehalten. Frauen ist der Zutritt zum Altarraum verwehrt. Die Motive der Ikonen auf der Königstür, unmittelbar neben der Königstür sowie im gesamten
Zentralbereich der oberen Ränge sind in allen orthodoxen
Kirchen weitgehend identisch. Nach oben hin wird die Ikonostase durch das Kreuz abgeschlossen.
2. Sachanalyse
Ich beschränke mich hier auf die Darstellung des Kirchenraumes und der Strukturelemente des orthodoxen
Gottesdienstes sowie auf die Bedeutung der Ikone für den
orthodoxen Glauben. Dabei nehme ich auch Bezug auf die
Ikone „Die Heilige Messe“ von Michael Damaskenos aus
dem 16. Jahrhundert, die dieser Ausgabe als Folie beigefügt ist. Im übrigen verweise ich auf das Interview mit der
10
Abb. 1: Der Aufbau der Ikonostase1
'bb' 106-4/2003
1a: Ankündigung der Geburt an Maria
1 b-d:Evangelisten
2:
Abendmahl Jesu
3:
Erzengel Gabriel und Michael
4:Gottesmutter
5:
Christus Pantokrator
6:Lokalheiliger
7:
Namenspatron der Kirche
8, 9: Lokalheilige
10: Thronender Pantokrator mit Johannes dem Täufer, Erzengel
Gabriel, Apostel Paulus sowie weiteren Heiligen (rechts) und
Gottesmutter (links), Erzengel Michael, Apostel Petrus sowie
weiteren Heiligen
11: Die wichtigsten zwölf orthodoxen Festtage
12: Gottesmutter des Zeichens mit at.lichen Propheten
13: Heilige Dreifaltigkeit mit den Vorvätern von Adam bis Mose
Die Gestaltung der Ikonostase ist theologisch motiviert:
Von oben nach unten gelesen stellt sie die Heilsgeschichte
Gottes, vom Gott des Alten Testaments und den Stammvätern Jesu über die alttestamentliche Trinität (Gen 18,1 ff.),
die neutestamentliche Trinität, die Gottesmutter mit dem
Medaillon Christi auf der Brust (Jes. 7,14), umrahmt von
Propheten und Heiligen, bis hin zur Menschwerdung Gottes in Christus dar. Aus der Perspektive des Betrachters
– von unten nach oben gelesen – zeigt sich der Heilsweg
für den von Gott entfremdeten Menschen. „Der Weg nach
oben, der Aufstieg steht dem Menschen offen. Er beginnt
mit dem Hören des Wortes (Evangelisten), der Teilhabe
an der Liturgie [Abendmahl, bab] und führt durch Gebet
und Hilfe der Heiligen zur Willenseinung mit Gott. Wie die
Gottesmutter der Verkündigung ergibt sich der Mensch in
den Willen Gottes. Der Willenseinung folgt die sakramentale Einung im Abendmahl. Die Fürsprache der Heiligen
läßt ihn einen gnädigen Richter finden. Im Pantokrator
ist die ganze Heilsgeschichte und das Geheimnis Gottes
beschlossen.“2
Historisch hat sich die Ikonostase entwickelt aus einer
Schranke, auf die später Säulen mit einem Querbalken als
Abschluss gesetzt wurden; sodann wurden die Zwischenräume mit Vorhängen geschlossen, auf die Bilder angebracht wurden.
Im Zentrum des Heiligen, sichtbar durch die geöffnete
Königstür, befindet sich der Altar, auf dem die Abendmahlsgeräte stehen und das Evangelienbuch liegt. Auf der
linken Seite befindet sich der Zubereitungstisch für die
Abendmahlselemente und rechts vom Altar der Vorbereitungsraum für die Liturgen.
2.2 Die Göttliche Liturgie (Der Gottesdienst)
Der orthodoxe Gottesdienst besteht aus drei Hauptteilen: a. aus der Zurüstung des Kultpersonals (Anlegen der
gottesdienstlichen Kleidung) und der Vorbereitung der
Abendmahlselemente, b. aus der Liturgie der Katechumenen (Taufbewerber) und c. der Liturgie der Gläubigen.
Während des Gottesdienstes wird der Altarraum und
der Kirchenraum mehrmals mit Weihrauch geschwängert. Bei der Vorbereitung des Abendmahls wird aus
einem extra dazu gebackenen Brot ein quadratisches
Stück herausgeschnitten, das Christus als Lamm Gottes
symbolisiert, und auf den Diskus (= Teller) gelegt. Darum
werden Brotstücke für die Gottesmutter, für die Propheten
und Heiligen, für den Namenspatron der Kirche sowie für
Lebende und Tote drapiert (vgl. Abb.2) „So ist der Diskus
symbolisch die Kirche aller Zeiten um das Lamm = Christus versammelt.“3
Abb. 2: Abendmahlsteller
Der zweite Hauptteil des Gottesdienstes wird „Liturgie
der Katechumenen“ genannt, weil die Ungetauften am
Ende dieses Teils den Gottesdienst verlassen mussten
(Arkandisziplin). Hier steht das Wort mit Epistel- und
Evangeliumslesung im Mittelpunkt. Nach Lobpreis, Fürbittengebet und einem im Wechsel gesprochenen Psalm
folgt der sog. Kleine Einzug, eine Prozession der Liturgen
mit dem Evangelienbuch vom Altarraum durch den gesamten Kirchenraum zurück zur Königstür. Dieser Kleine
Einzug symbolisiert das Kommen und die Gegenwart
Christi im Wort, in der Verkündigung von Christus. Die
Lesungen sind eingerahmt durch liturgische Gesänge und
evtl. eine kurze Predigt, die aber auch ganz am Schluss
nach dem Segen gehalten werden kann, sowie durch ein
großes Fürbittengebet und einem Segen.
Den Höhepunkt des Gottesdienstes bildet der 3.
Hauptteil, die „Liturgie der Gläubigen“, mit der Eucharistie- bzw. Abendmahlsfeier. Vom Wortlaut ähnelt dieser
Teil der Liturgie sehr stark unserer Abendmahlsliturgie.
Am Anfang wird erneut Weihrauch geschwenkt. Abermals
prozessieren die Liturgen vom Altarraum durch den gesamten Kirchenraum, diesmal mit den Abendmahlsgaben.
Es ist der „Große Einzug“. Mit dieser Prozession werden
der Einzug Jesu in Jerusalem und sein Opfertod am Kreuz
symbolisiert. Am Ende der Prozession werden die Abendmahlsgaben auf den Altar gestellt. Nach dem Gesang
von Kyrie, dem Sprechen des Darbringungsgebetes, dem
Austausch von Küssen unter dem Kultpersonal und dem
Glaubensbekenntnis in der Form des Nicäno-Konstantinopolitanums aus dem Jahre 381, das bei uns nur an den
11
'bb' 106-4/2003
großen Festtagen gesprochen wird (EG Nr. 805) folgt
dann die eigentliche Abendmahlszeremonie. Es werden
die Einsetzungsworte gesprochen und der Heilige Geist
angerufen. Wie nach römisch-katholischer Auffassung
verwandeln sich dabei die natürlichen Elemente Brot und
Wein in die übernatürlichen des Leibes und Blutes Christi.
Nach dieser Konsekration wird der verstorbenen Heiligen, der Gottesmutter sowie aller Toten und Lebenden
gedacht. Nach Gebet und Vaterunser wird das gewandelte
Brot in Stücke gebrochen; diese werden dann in den mit
Wein gefüllten Kelch gegeben und der Wein mit warmem
Wasser gemischt. Als erste nehmen die Liturgen die Kommunion ein, allerdings Brot und Wein getrennt. Es folgen
die Gläubigen, denen die getränkten Brotstücke aus dem
Kelch mit einem Löffel gereicht werden.
Der Gottesdienst endet mit Gebet und Segen, sofern
nicht noch eine kurze Predigt folgt. Nach Abschluss des
Gottesdienstes werden die nicht konsekrierten Brotteile Gläubigen und Nichtgläubigen zum Essen gereicht.
Gemeindelieder spielen im orthodoxen Gottesdienst keine
Rolle. Dementsprechend weist der orthodoxe Kirchenraum in der Regel auch keine Instrumente, wie Orgel oder
Harmonium auf.
2.3 Ikone „Die heilige Liturgie“ von Michael
Damaskenos aus der Hagia Aikatherine
Sinaiton in Herakleion/Kreta
Im Zentrum des Bildes sitzen auf derselben Ebene hinter
einem Altartisch mit dem Evanglienbuch zwei Männer, der
rechte mit grauem Bart deutlich älter als der linke. Der
ältere ist Gott, der Vater, der linke mit dunklem Haar und
der Kreuz-Stola Gott, der Sohn. Der Vater hat die Hand
zum Segen erhoben. Der Sohn dagegen scheint mit der
Assistenz eines Heiligen die Gottesmutter Maria gerade
zum Empfang der Abendmahlsgaben, die über ihr gehalten werden, einzuladen. Zwischen Gott Sohn und Gott
Vater – ebenfalls auf gleicher Höhe, aber doch näher am
Vater – eine weiße Taube, Symbol des Heiligen Geistes.
Ein deutlicher Hinweis auf die Trinität, die göttliche Dreifaltigkeit. Alle drei eines Wesens. In diesem Detail scheinen die Worte des Glaubensbekenntnisses von Nicäa-Konstantinopel aus dem Jahr 325 bzw. 381 auf, in dem es von
Christus heißt: „Gott von Gott, Licht von Licht, wahrer
Gott vom wahren Gott, gezeugt, nicht geschaffen, eines
Wesens mit dem Vater...“ Und vom Heiligen Geist wird
bekannt: „Wir glauben an den Heiligen Geist, der Herr ist
und lebendig macht, der aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht; der mit dem Vater und dem Sohn angebetet und
verherrlicht wird.“ Ein Bekenntnis zur Göttlichkeit des
präexistenten Christus im Unterschied zur arianischen
Partei, die Christus dem Vater unterordnete und ihn als
erstes Geschöpf verstand und ihn damit auf die Seite der
anderen Geschöpfe stellte.
Aus der Ikone des Michael Damaskenos erhellen sich
deutlich das orthodoxe Eucharistieverständnis und andere
zentrale Dogmen orthodoxer Theologie.
Abb. 4
Abb. 3
12
Als logische Konsequenz dieses Konzilsbeschlusses
wurde auf einem weiteren Konzil in Ephesus 431 gegen
Nestorius der Maria der Titel „Gottesgebärerin“, „Gottesmutter“ gegeben und nicht nur der nestorianische
'bb' 106-4/2003
Titel einer „Christusgebärerin“. Gleichzeitig macht aber
die größere Nähe der Taube zum Vater als zum Sohn
die orthodoxe Reserviertheit gegenüber dem „filioque“,
dem Ausgangspunkt des Heiligen Geistes auch im Sohn
deutlich (... an den Heiligen Geist,...der aus dem Vater
und dem Sohn hervorgeht...), eine Aussage, die aus dem
weströmischen Christentum in das Bekenntnis eingetragen worden war.
Die Gottesmutter befindet sich im Kreis anderer vollendeter Heiliger, als Engel mit Flügeln dargestellt, und
im Kreis der Erzengel und Cherubim, sowie in der Gemeinschaft von Evangelisten, anderen frommen Toten und
geflügelten Köpfen (Seelen), für die sich die Heiligen zu
Fürsprechern machen. Diese vollendeten Wesen feiern die
Eucharistie. Der Blick zumindest der vorderen himmlischen Wesen ist aber nicht auf die göttliche Dreifaltigkeit
gerichtet, sondern auf die Stelle, wo der Kreis eine Lücke
aufweist, nämlich vorn unten, zur Erde hin. Dort nehmen
zwei Irdische, eine Mann und eine Frau, andächtig an der
Göttlichen Liturgie teil. Über ihnen das Evangelienbuch
und die Weihrauchgefäße, von den vordersten Engelwesen
gehalten bzw. geschwenkt. Der irdische Gottesdienst ist
ein Abbild des himmlischen. Der Altartisch der göttlichen
Dreifaltigkeit bekommt seine Bedeutung von dem Tisch
ganz oben, auf dem Christus liegt, der sich für die Menschen geopfert hat.
Erde zwischen den beiden Gläubigen gerät dadurch selbst
zu einem Altar. Im Abbild ist das Urbild real präsent. Im
großen Cherubim-Hymnus zu Beginn des Großen Einzugs
heißt es: „Die wir die Cherubim geheimnisvoll abbilden
und die lebenschaffende Dreieinigkeit mit dem Hymnus
‚Dreimal Heilig‘ besingen – laßt uns nun jegliche Sorge
des Alltagslebens ablegen, auf daß wir den König des Alls
empfangen, der unsichtbar von den himmlischen Heerscharen im Triumph geleitet wird. Halleluja, Halleluja,
Halleluja.“4
„Der orthodoxe Gottesdienst ist nach orthodoxem
Verständnis Theophanie, also ein jetzt und hier gegenwärtiges Offenbarungsgeschehen. Im Gottesdienst wird die
Trennung zwischen Mensch und Gott von Christus mit der
Gegenwart im Heiligen Geist durchbrochen. Er bringt für
die Gläubigen jetzt und hier ‚das ewige Leben‘, Glück und
die nicht enden wollende Freude des Himmels.“5
Abb. 6
Abb. 5
Im irdischen Abendmahlsgottesdienst ist damit sowohl
der gekreuzigte als auch der siegreiche Christus präsent.
Und die, die auf Erden die heilige Liturgie feiern, nehmen
schon jetzt teil an der himmlischen Liturgie. Das Stück
In der Eucharistiefeier schrumpfen Vergangenheit und
Zukunft auf die ewige Gegenwart zusammen. In ihr haben
die Gläubigen schon jetzt teil an der himmlischen Welt.
Der Aufstieg der Gläubigen in die himmlische Sphäre
im Sakrament und die Gemeinschaft der Gläubigen aller
Zeiten nimmt auf, was sich schon in der Anordnung
des Brotes auf dem Diskus gezeigt hatte, dass nämlich
Brotstücke für die Heiligen, die Gottesmutter und Propheten um das quadratische Brot angeordnet sind, von
dem die Gläubigen im Gottesdienst essen werden. „Das
‚Materialprinzip‘ der orthodoxen Kirche, ihr Verständnis
des von Gott geschenkten Heils, ist darin zu sehen, daß
der Mensch am göttlichen Mysterium teilbekommt und
13
'bb' 106-4/2003
so in das neue Sein der Ewigkeit hineinverwandelt wird.
Die entscheidende Gabe der Erlösung ist der Anteil am
ewigen Leben über den Tod hinaus... Was in der Menschwerdung des Sohnes Gottes angefangen hat, ist in der
Auferstehung des gekreuzigten Jesus vollendet worden:
die Teilhabe des Menschen an der göttlichen Natur, die
‚Vergöttlichung‘ (theosis) des Menschen. Die Vorstellung einer ‚Vergöttlichung‘ mag auf Christen der anderen
Kirchen fremd wirken, scheint hier der Abstand zwischen
Gott und Mensch nicht gewahrt zu sein. Doch handelt es
sich bei der Vergöttlichung um ein Geschenk Gottes. Die
Glaubenden werden hineingenommen in die Gemeinschaft
mit dem dreieinigen Gott.“6
In der Ikonostase würde ich diese Ikone im oberen
Rang der Heiligen Dreifaltigkeit verorten.
Ikonen findet man nicht nur in orthodoxen Kirchen,
sondern auch in den Privathäusern orthodoxer Christen,
darüber hinaus als Medaillons und kleine Klappikonen für
die Reise. Sie begleiten den orthodoxen Christen von der
Geburt bis zum Grab. Letzteres gilt insbesondere für die
Ikone des Namenspatrons eines Menschen.11
Ikonen sind keine individuellen Kunstwerke eines
Ikonenmalers. Seit dem 16. Jahrhundert gibt es Musterbücher, in denen Normen für die Gesichtsproportionen (die
Nase als Maß), für den Gesichtsausdruck einer Person,
für die Hand-, Kopf- und Fußstellung, für den Faltenwurf
der Gewänder, die Insignien der Heiligen und die Farbgebung festgelegt wurden. Die Identität des Abbildes mit
dem Urbild ist „nur dann gesichert, wenn immer wieder
die vorhandenen Ikonen treu kopiert werden.“12
2.4 Die Bedeutung der Ikone für den
orthodoxen Glauben
3. Didaktisch-methodische Erwägungen
Die orthodoxe Ikonenverehrung gibt es in voll ausgebildeter Gestalt seit dem ausgehenden 5. Jahrhundert. Zu
ihr gehören das Entzünden von Kerzen vor einer Ikone,
ihre Beweihräucherung und Segnung bei der In-Gebrauchnahme, das Niederknien der Gläubigen vor ihr und das
Küssen der Ikone.7
Hinter der Ikonenverehrung verbirgt sich die neuplatonische Auffassung eines in hierarchischen Qualitätsstufen
geordneten Kosmos. Irdische Dinge und Ereignisse, insbesondere religiöse, sind Symbole im ontologischen Sinne.
Sie verweisen zum einen auf die unsichtbare göttliche
Welt. Zum anderen haben sie teil an der unsichtbaren Welt
und repräsentieren diese in der sichtbaren Welt.8 So sind
Symbole sichtbare Abbilder der unsichtbaren Urbilder.
Die Ikone weist einerseits über sich hinaus. Andererseits
ist das Dargestellte in der Darstellung selbst gegenwärtig, der herrschende Christus, die Gottesmutter oder der
dargestellte Heilige. „Weil in der Ikone die abgebildete
Person präsent gedacht ist, wird auch das Bild wie eine
Person handelnd und reagierend erfahren... Von der Ikone, das heißt von dem Heiligen, wird Hilfe erbeten.“9 Zwar
kommt theologisch korrekt nur dem dreifaltigen Gott
Anbetung zu und der Ikone wie den Heiligen lediglich die
Verehrung, in der Praxis aber – so stellt es sich jedenfalls
für den Nicht-Orthodoxen dar – spielt diese subtile Unterscheidung keine Rolle.
Bereits in der frühesten byzantinischen Zeit wurde die
Ikonenverehrung von den sog. Ikonoklasten (Bilderstürmern) als Aberglaube kritisiert und mit dem Hinweis auf
das alttestamentliche Bilderverbot (Ex. 20, 4 f.; Dtn. 5,
8 f.) abgelehnt. Gegen sie hat das 7. Ökumenische Konzil
von Nicäa im Jahre 787 entschieden. Darin wurde nicht
nur die Ikonenverehrung toleriert, sondern mit dem Hinweis auf die Inkarnation Gottes, seine Menschwerdung in
Christus, gerechtfertigt und geboten. Weil sich Gott selbst
in Christus bildlich und sichtbar dargestellt hat, ist Christus die Ikone Gottes geworden. Wer die Ikonenverehrung
ablehnt, so die orthodoxe Auffassung, lehnt damit auch
die Menschwerdung Gottes ab.10
14
Die Orthodoxie der Ostkirchen, deren Theologie und philosophischen Voraussetzungen sowie die Ikonenverehrung
können im Unterricht in unterschiedlicher Komplexität,
Intensität und in unterschiedlichem Umfang behandelt
werden. Man kann sie als eigenständiges Thema im Rahmen einer konfessionskundlichen Einheit in der Jahrgangsstufe 10 oder eines entsprechenden Kursthemas
in der gymnasialen Oberstufe behandeln. Die Orthodoxie
kann aber auch im Rahmen des Kursthemas „Christologie“ oder „Ekklesiologie“ als integraler Bestandteil bei der
Behandlung der Trinitätslehre thematisiert werden.
3.1 Eigenständiges Thema im Rahmen einer
konfessionskundlichen Einheit
Zentrum und Zielpunkt einer kleinen Konfessionskunde
sind der Besuch bei der entsprechenden Religionsgemeinschaft und die Teilnahme an deren Gottesdienst bzw. – wo
das nicht möglich ist – ersatzweise die Einladung von
Vertretern in den Unterricht. Dem Besuch am außerschulischen Lernort ist deshalb der Vorzug zu geben, weil
die Schüler/-innen dort auch Atmosphärisches erfahren.
Besuch und Gespräch müssen gründlich vorbereitet werden. Ein sinnvoller Einstieg in eine konfessionskundliche
U-Einheit ist zunächst einmal die Sammlung von Religionsgemeinschaften in Form eines Brainstorming. Bei der
Fixierung an der Tafel sollte sofort eine Klassifizierung
nach Konfessionsfamilien (orthodox, römisch-katholisch,
evangelisch/protestantisch, außerhalb der Konfessionsfamilien) vorgenommen werden. Beispiele für die Zuordnung: orothodox: griechisch-orthodox, russisch-orthodox,
serbisch-orthodox; römisch-katholisch: katholisch, aber
auch anglikanisch, neuapostolisch; evangelisch/protestantisch: lutherisch, reformiert, baptistisch, methodistisch;
außerhalb: Mormonen, Zeugen Jehovas.
Jeweils zwei oder drei Schüler/innen bekommen den
Auftrag, ein Referat zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft vorzubereiten. Hier sollten die fairen Darstellungen
der Evangelischen Zentralstelle der EKD für Weltanschau-
'bb' 106-4/2003
ungsfragen (www.ezw-berlin.de) oder des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim (www.ekd.de/ki/) den Schülern
als Materialien für die Erstbegegnung bereitgestellt
werden. Aufgrund der dort gegebenen Informationen
können dann auch Selbstdarstellungen aus dem Internet
für die Referate oder in Print-Form herangezogen werden.
Bei den Referaten erweist es sich als günstig, wenn sie
identisch strukturiert sind: Geschichte der Religionsgemeinschaft/Kirchengründer, Aufbau und Struktur, Rechtsstatus und Finanzierung, zentrale Lehren (Bibelverständnis, weitere autoritative Schriften, Bedeutung Christi,
Trinität, Kirchenverständnis einschl. Ämterlehre, Zahl,
Art und Verständnis der Sakramente), Glaubenspraktiken
(Gottesdienste, Sakramentspraxis, Feier- und Festtage,
kirchliche Handlungsfelder). Die Zwischenzeit bis zu den
ersten Referaten sollte mit der Behandlung der Traditionen der eigenen Kirche nach demselben Schema ausgefüllt sein, weil dadurch schon beim Hören der Referate die
Differenzen deutlich werden. Methodisch sinnvoll ist die
Gegenüberstellung der Attribute der Kirche „eine, heilige,
katholische, apostolische Kirche“ in der unterschiedlichen
Interpretation von evangelischer und katholischer Seite.
Nach einem Referat werden dann einige der erwähnten
Aspekte, insbesondere die, die sich von der eigenen Tradition unterscheiden, intensiver behandelt. In Bezug auf die
Orthodoxie kann die Intensivierung mit Hilfe der Ikone
von Michael Damaskenos und mit Hilfe der Abbildung
einer Ikonostase vorgenommen werden. Die Einführung
in den Gottesdienst kann mit Tonbildserien oder Videofilmen geschehen (z.B. Anastasios Basdekis, Die orthodoxe
Kirche, München 1983, Medienzentrale TB 236; Nikolaus
Thon, Orthodoxe Kirche – Einheit in der Vielfalt, Freiburg
1985, Medienzentrale TB 208; Ulrike Gräfin von Bethusy,
Fenster zur Ewigkeit – Geschichte der Ikonen, Deutschland 1992, Medienzentrale VC 1001).
Der platonisch-neuplatonische Hintergrund der griechischen Orthodoxie kann leicht – auch schon in der 10.
Jahrgangsstufe – mit der Beschreibung in „Sofies Welt“13
erschlossen werden.
Der Erstkontakt mit der orthodoxen Gemeinde – wie
auch bei anderen Religionsgemeinschaften – sollte durch
die Lehrkraft hergestellt werden. Bei Wiederholung kann
das auch von den Schülern selbst geleistet werden. Für
den Besuch empfiehlt sich die Erstellung einer Liste mit
vorbereiteten Fragen.
Die letzte Phase der Beschäftigung mit einer Religionsgemeinschaft ist dann die Auswertung des Gesprächs/Besuchs, wobei hier vor allem auch die Stärken herauszuarbeiten sind, damit das Ziel des Respekts gegenüber einem
anderen Glauben nicht verfehlt wird.
3.2 Die Ikone im Oberstufenkurs „Christologie“
Eine Möglichkeit der Strukturierung des Kursthemas
„Jesus Christus“ ist die historisch-genetische Darstellung
der Bedeutungszuweisung an die Person Jesu. Während
beim historischen Jesus der apokalyptische Erwartungshintergrund mit der Messias-Menschensohn-Vorstellung
thematisiert werden muss, muss man in Bezug auf den
griechischen Kontext Christus gemäß der neuplatonischen Emanationslehre zunächst als den Logos Gottes
(Origenes), der mit Gott zwar gleich ewig, ihm qualitativ
aber untergeordnet ist, charakterisieren. In der Folge der
Logos-Christologie betonte die arianische Partei den Aspekt der Unterordnung und bezeichnete den präexistenten
Christus als erstes Geschöpf mit einem freien Willen, das
Gott aus freien Stücken gehorsam war (moralisches Vorbild für den Menschen), während die spätere Orthodoxie
den Aspekt der gleichen Ewigkeit Christi mit dem Vater
betonte, damit er dem Menschen Unsterblichkeit vermitteln könnte. Angedeutet sei hier nur, dass im römischen
Rechtsdenken und auch in der Reformation der Rechtsgedanke des Freispruches des Menschen im Gericht Gottes
und in der Aufklärung erneut der moralische Vorbildcharakter Christi herausgestellt wurden.
Im Zusammenhang mit der Ausbildung der Trinitätslehre als Folge des arianischen Streits im 4. Jhdt. kann die
Ikone von der heiligen Liturgie eingesetzt werden, um den
soteriologischen Aspekt der Vergöttlichung des Menschen
und der Teilhaberschaft an der göttlichen Welt durch den
eucharistischen Gottesdienst deutlich zu machen. Die
Behandlung der Ikone und der Ikonenfrömmigkeit dient in
diesem Zusammenhang nur der Illustrierung des griechischen Heilsinteresses, das zur Formulierung der Trinitätslehre geführt hat. In Arbeitsgruppen können die einzelnen
Szenen (s. Abbildungen) vorläufig und im Unterrichtsgespräch endgültig erschlossen werden.
Anmerkungen
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
Aus: Hämmerle et al., aaO,
Diedrich, aaO, 89
ebd., 50
Hämmerle et al., aaO, 39
ebd.
Rössler, aaO, 22f.
Heussi, aaO, 111
Paul Tillich, aaO, 53 ff.
Diedrich, aaO, 94
Hämmerle et al., aaO, 150 f.
Vgl. Interview mit Konstantina Stephanaki, in: bb 105.
Diedrich, aaO, 100
Gaarder, aaO, 162 ff.
Literatur
Alfred Adam, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 1: Die Zeit der alten
Kirche, Mohn: Gütersloh 19702, 374 ff.
Hans-Christian Diedrich (Hg.), Das Glaubensleben der Ostkirche, Beck:
München 1989
H. Fischer, Die Ikone. Ursprung – Sinn – Gehalt, Herder: Freiburg 1989
Jostein Gaarder, Sofies Welt, Hanser: München/Wien 199321
Heinz Paul Gerhard, Welt der Ikonen, Aurel Bongers: Recklinghausen
19807
Eugen Hämmerle/Heinz Ohme/Klaus Schwarz, Zugänge zur Orthodoxie,
Vandenhoeck&Ruprecht: Göttingen 1989
Karl Heussi, Kompendium der Kirchengeschichte, Mohr: Tübingen 197113
Andreas Rössler, Positionen, Konfessionen, Denominationen – Eine kleine
Kirchenkunde, Calwer: Stuttgart 1988
Paul Tillich, Wesen und Wandel des Glaubens, Ullstein: West-Berlin 1969
http://www.hh.schule.de/lehrer/horstleps/orthbyz/ikonostase.html
The Yorck Project Berlin: CD „Ikonen der orthodoxen Kirche“
15
'bb' 106-4/2003
fachbeitrag: islam im deutschen alltag
religiosität im leben türkischstämmiger
jugendlicher
necla kelek
1 Einleitung
Im Tagesspiegel stand ein kurzer Bericht über eine Reise
des Berliner Bildungssenators Klaus Böger nach Ankara.
Es ging um Entwicklungshilfe. Entwicklungshilfe, die die
türkische Regierung dem Berliner Senat angeboten hat,
um die Integrationsbereitschaft der 200.000 in Berlin lebenden Türken zu fördern. Denn es sieht nicht gut aus bei
der Integration der Türken in Deutschland.
Türkische Kinder kommen oft erst bei der Einschulung
mit der deutschen Sprache in Berührung. Ihre Mütter
sprechen meist kein Deutsch. Jeder vierte in Berlin lebende türkische Jugendliche schafft keinen Schulabschluss.
Nur 5% der türkischen Jugendlichen bestehen das Abitur.
Jeder zweite Insasse einer Jugendstrafanstalt in Deutschland ist Muslim.
Sie werden sich natürlich jetzt Fragen, was hat dies
mit dem heutigen Thema zu tun. Und die Frage stellt sich
provokativ auch so: Ist der Islam oder das, was von den
türkisch-muslimischen Organisationen gelebt wird, ein
Hindernis für die Integration?
Ich sage es gleich vorweg. Ich bin in großer Sorge und
beurteile den Prozess der Integration muslimischer Migranten in Deutschland skeptischer denn je.
Ursache hierfür sind sicherlich strukturelle Benachteiligungen und eine verfehlte Integrationspolitik in der
Vergangenheit, die von der „Lebenslüge“ „Deutschland ist
kein Einwanderungsland“ getragen war. Ebenso fatal waren die linken oder liberalen Ansätze einer „multi-kulturellen Gesellschaft“, die mit ihrer mehr oder minder folkloristischen Sichtweise zu einer Abgrenzung der Mehrheit
der Bevölkerung und Selbstausgrenzung der Migranten
beigetragen hat.
In Deutschland ist es typisch, dass beide Seiten einander jeweils als „die Anderen“ bezeichnen und sich mit den
Hinweis auf kulturelle Unterschiede abgrenzen. Das gilt
für die Deutschen, wobei ich jetzt gar nicht die „Ausländer
raus“ – Neonazis meine. Sondern die normalen Bürger,
die beim „Türken“ gerne ihr Gemüse kaufen, aber Sorge
haben vor einer Islamisierung ihres Stadtteilviertels oder
dem Verlust deutscher Identität. Ich kann diese Befürchtungen in gewissen Rahmen nachvollziehen.
Hier und heute befasse ich mich nicht mit Versäumnissen der Politik. Sondern ich frage meine Landsleute:
Wann wollt ihr ankommen?
16
Sie bleiben unter sich. Man pflegt das Vorurteil von
den sozial kalten nur auf den eigenen Vorteil bedachten,
Schweinefleisch essenden, ihren Kindern keinen Ehrbegriff
beibringenden Deutschen. Meine Untersuchung hat ergeben, dass von den befragten Jugendlichen außerhalb der
Schule nur wenige deutsche Freunde haben und Kontakte
zwischen den eigenen Landsleuten pflegen. Kontakte zu
deutschen Familien sind die absolute Ausnahme. Eine spätere Heirat mit einer Deutschen konnte sich kein männlicher Befragter und ein verschwindender Teil der Mädchen
vorstellen oder nur, wenn der zum Islam übertritt.
Die Frage der Abgrenzung aus religiösen Gründen ist
hier ein Beispiel für die Bedeutung des Islam im Zusammenhang mit Integrationsproblemen. Religiös fundierte
Kulturmuster beeinflussen die Lebensverhältnisse der jungen Türken und Türkinnen zugleich stärker, als sich etwa
die christliche Mehrheitsreligion auf deutsche Jugendliche
auswirkt.
2. Meine Biografie
Bevor ich Ihnen meine Untersuchung vorstelle, möchte
ich Ihnen etwas über mich selbst erzählen. Weil es in vielen Details typisch ist.
Ich bin in Istanbul geboren und lebe seit meinem 10.
Lebensjahr in Deutschland, gehöre zur 2. Generation der
türkischen Einwanderer. In Istanbul habe ich die Grundschule besucht. Meine Familie gehörte in Istanbul zur
Mittelschicht. Mein Vater war Kaufmann. Meine Eltern
kamen aus Zentralanatolien als Binnenmigranten. Sie
waren republikanisch orientiert. D.h. mein Vater war ein
überzeugter Kemalist, ein Demokrat, der das Muslim-sein
nur zu Festtagen pflegte. Meine Mutter war äußerlich sehr
modern, hatte amerikanische und europäische Filmstars
als Vorbild, aber fastete am Ramadan und betete in diesem
Monat täglich für die im Jahr zuvor aufgelaufenen Sünden.
Damit wollte sie wenigstens eine der wichtigen Pflichten
des Islam erfüllen, sagte sie. Sie war, wie Laie Akgün es
bezeichnet, eine „Ramadan-Muslimin“. Zu vergleichen mit
den von ihr sogenannten „Weihnachtschristen“, d.h. Christen, die nur an Weihnachten in die Kirche gehen.
Mein Vater trank provokativ gerne im Monat Ramadan
auf Atatürk, aber er trank wenig, und wenn, auf die Republik, die könne man schließlich nicht genug würdigen.
'bb' 106-4/2003
Erst in den letzten Jahren habe ich verstanden, was er
damit gemeint hat.
Als meine Eltern beschlossen, nach Deutschland zu
gehen und verkündeten, mich und meine jüngeren Brüder
mitzunehmen (zwei ältere Geschwister blieben zurück),
wurden wir von ihnen auf Deutschland vorbereitet.
Wir lernten die deutsche Nationalhymne auswendig zu
singen, weil meine Eltern davon überzeugt waren, dass,
wenn wir dies in der neuen Klasse in Deutschland vortragen, wir gleich anerkannt würden. Bis heute konnte ich
keinem Deutschen die Hymne vorsingen, niemand wollte
sie hören. Aber alles andere klappte wie vorgehabt. Wir
kamen 1968 nach Deutschland und ich war zehn Jahre alt.
Wir waren die ersten Türken in Bückeburg. Sehr schnell
fand ich zu meinen Klassenkame­radinnen Kontakt. Ich
durfte Geburtstagsfeste besuchen und sie zu mir einladen. Die Schule machte mir Spaß. Ich lernte sehr schnell
Deutsch.
Auch meine Eltern hatten Kontakt zu deutschen Familien. Sie gingen zu Tanzveranstaltungen und feierten
Karneval und Weihnachten. Allerdings bestand mein Vater
darauf, dass der Weihnachtsbaum bereits im Oktober
aufgestellt wurde. Der Monat Ramadan wurde vergessen,
jetzt lebten wir ja in Deutschland. Und mein Vater wollte,
dass dieses Land zu unserer Heimat wird.
Mit meinem 13. Lebensjahr änderte sich mein Leben
schlagartig. Es wurde von meinen Eltern bemerkt, dass
die deutschen Mädchen offen an Jungen interessiert
waren und ohne Scham zeigten, dass sie einen Freund
haben. Dies überstieg die kulturelle und moralische Anpassungsfähigkeit meiner Eltern an die deutsche Gesellschaft. Ein Mädchen, das womöglich ihre Ehre, genauer
die Ehre der Familie, verlieren könnte, war jenseits des
Vorstell- und Tolerierbaren. Mir wurden weitere private
Kontakte verboten. So durfte ich keine deutsche Freundin
mehr haben oder sie besuchen. Ich hätte auch keine Zeit
mehr gehabt, da ich immer mehr Hausarbeiten übernehmen musste und wie jede türkische Tochter die vielen
türkischen Frauen, die meine Mutter meistens am Nachmittag zum Tee oder am Abend zum Abendtee besuchten,
bedienen musste. Für meinen jüngeren Bruder galt diese
Einschränkung nicht. Er war ein Sohn. Warum das so ist,
darüber spreche ich später.
Die neuen türkischen Landsleute kamen aus der
ganzen Türkei, die meisten aus ländlichen Gebieten aus
bäuerlichen Verhältnissen. Sie arbeiteten in der Fabrik am
Fließband und fasteten selbstverständlich am Ramadan,
Allah werde sie für die doppelte Qual doppelt belohnen, sagten sie. Auch meine Mutter ließ sich von ihnen
überzeugen und nach fünf Jahren Pause begann auch sie
wieder an Ramadan zu fasten. Sie fühlte sich immer mehr
ihren türkischen Schwestern verbunden und zog sich von
den Deutschen und von Deutschland zurück. Der einzige Vorteil, der uns gegenüber den anderen türkischen
Familien blieb, dass wir weiter zur Schule gehen durften.
Die anderen türkischen Kinder brachen die Schule schnell
ab, weil sie Hausarbeit machen oder auf die kleineren
Geschwister aufpassten mussten. Auch ich wurde in der
Schule schlecht, musste vom Gymnasium in die Realschule, was ich mir lange nicht verzieh.
Mein Alltag sah als 14jähriges Mädchen so aus: Morgens stand ich als erste auf, um Frühstück für mich und
meinen Bruder zu machen. Auch seine Kleidung für den
Tag legte ich zurecht und ging zur Schule. Direkt nach der
Schule musste ich nach Hause, meistens um 13.20 Uhr,
falls es zehn Minuten zu spät wurde, stand meine Mutter
am Fenster und hielt Ausschau. Nach dem Essen musste
ich Hausarbeit machen, für die Gäste backen, Tee kochen
usw. Nachdem die letzten Gäste gegen 22.00 Uhr abends
gegangen waren und die anderen längst im Bett waren,
konnte ich meine Schulaufgaben machen. Die Jahre von
14 bis 19 habe ich (außer dass ich zur Schule ging) nur zu
Hause verbracht.
Meine Cousine Aysel, die inzwischen ebenfalls mit
ihren Eltern in Bückeburg wohnte, musste seit ihrem
achten Lebensjahr auf den neugeborenen Bruder aufpassen. Sie durfte nicht zur Schule. Und als sie später – sie
war 17 – ich 19, mit mir einmal heimlich in die Disco
verschwand und wir erwischt wurden, wurde sie sofort zu
der Großmutter in die Türkei geschickt. Ich habe sie erst
zehn Jahre später wiedergesehen. Ich hatte es dagegen
gut, denn ich wuchs in einer aufgeschlossenen, säkularen
Familie auf.
3. Die Untersuchung
Die Fragen, was Migration für den Einzelnen und die Gesellschaft bedeutet, wurden zu meinem Thema. Über den
zweiten Bildungsweg studierte ich zuerst Volkswirtschaft
und promovierte in einem zweiten Studium in Soziologie.
Aus meiner Untersuchung zum Thema „Islam im Alltag, islamische Religiosität und ihre Bedeutung in der
Lebenswelt türkischer Schülerinnen und Schüler“ möchte
ich Ihnen einige Ergebnisse vorstellen:
Ich bin in verschiedenen Schulen in Hamburg und
Berlin in fast einhundert Interviews, zahlreichen teilnehmenden Beobachtungen und Hospitationen der Frage
nachgegangen, welche Rolle der Islam in der Welt der
türkischstämmigen Jugendlichen spielt. Ich besuchte
Moscheen, sprach mit Hodschas und den Familien der
Jugendlichen. Auch konnte ich im Rahmen einer anderen
wissenschaftlichen Studie in Strafanstalten mit muslimischen Gefangenen über ihren Glauben sprechen. Ich ging
dabei der Frage nach:
Wie und wo werden türkischstämmige Jugendliche sozialisiert?
Wie und wo gewinnen sie Wertorientierung?
Welche Rolle spielen die Koranschulen, die Familien und
die deutsche Schule?
Bei den Interviews und Gesprächen, ging es mir neben ihrer schulischen Situation und Fragen zum Lebenskonzept
um ihre Religiosität. Ich stellte allen die gleiche Frage:
„Bist du religiös?“ Und ich erhielt immer die gleiche Antwort: „Allah ist für mich alles“, sagt der 16jährige Mete
aus Hamburg.
17
'bb' 106-4/2003
Alle befragten Jugendlichen bezeichnen sich als religiös und als Muslime. Die Selbstzuordnung zum Islam ist
selbstverständlicher Teil ihrer türkischen Identität – die
türkische Identität ist gleichzeitig eine muslimische Identität. Es geht ihnen dabei nicht um Religiosität im Sinne
strenger Gläubigkeit, sondern die Jugendlichen verstehen
dies als ihr Bekenntnis zur Zugehörigkeit zum türkischmuslimischen Kulturkreis.
3.1. Die Bedeutung der Religion
Die Religion dient, so der Kulturanthropologe Clifford
Geertz, der Orientierung der Menschen, und zwar ganz abstrakt, ohne dass es darauf ankommt, welche konkreten
Inhalte Vorstellungen und Philosophien durch die Religion
vermittelt werden. Er stellt die Frage:
Welche soziale Funktion hat die Religion?
Sowohl gesellschaftlich wie individuell dient Religion dem
menschlichen Bedürfnis, umfassende und befriedigende
Antworten auf die Fragen nach dem Sinn des Daseins zu
geben, Halt, Trost und Orientierung zu verleihen, im Alltag und über die eigene Existenz hinaus.
Durch kosmische Verankerung entsteht ein konsistentes glaubwürdiges Weltbild, nach dessen Maßgaben die
Gläubigen denken, fühlen und handeln. Durch religiöse
Handlungen können sich die Gläubigen ihrer Überzeugungen versichern. In der Gemeinschaft der Gläubigen entsteht ein Sozialsystem, in dessen Realitäten sich Religion,
Kultur und Sozialstruktur auspendeln müssen.
Zur kulturellen Dimension des Islam, d. h. des islamischen „Common Sense“ gehören natürlich religiöse Inhalte, eine bestimmte Ethik und ein bestimmtes Menschenund Weltbild, sowie eine religiöse Praxis – also alles, was
die jeweilige islamische Sozialordnung an Orientierungsmitteln und Maßstäben zur Verfügung stellt.
Die Inhalte und die praktische Ausübung des Islam
sind höchst unterschiedlich. In Afghanistan, im Iran, in
Indonesien oder in der Türkei werden sie unterschiedlich interpretiert und gelebt. Aber nach aller regionaler
Differenzierung gibt es ein gemeinsames übergeordnetes
Welt – und Menschenbild des Islam.
3.2. Welt- und Menschenbild des Islam
Das Menschen – und Weltbild im islamischen Glauben
unterscheidet sich nach den Forschungen von Georg
Auernheimer, Clifford Geertz, Werner Schiffauer, Ursula
Mihciyazgan u.a. vom christlich-abendländischen Weltbild
grundsätzlich:
Man spricht in diesem Zusammenhang beim Christentum von einer westlich-horizontalen Trennungslinie, die
Körper und Geist, Individuum und Gesellschaft trennen.
Beim Islam sieht man eine vertikale Trennungslinie,
die Mann und Frau als zugehörig zu zwei verschiedenen Teilen der Gesellschaft sieht. Der Mann steht in der
Öffentlichkeit. Er ist die öffentliche Instanz. Die Frau die
18
Privatheit, das Haus, und ist die Ehre des Mannes. Dabei
spielt eine besondere Rolle, die im Islam der Sexualität zugesprochen wird. Der weibliche Körper hat eine
solche Anziehungskraft, der Männer grundsätzlich nicht
widerstehen können. Aus dieser Zuschreibung beziehen
muslimische Frauen Selbstbewusstsein und Stärke. Mit
dem Kopftuch unterstreichen sie symbolisch die Bedeutung ihres Körpers, weil sie sich ihrer körperlichen Reize
bewusst sind. Aufgrund der positiven Bewertung der Sexualität – dies steht im Gegensatz zum Christentum, der
dies als Sünde bezeichnet – ist das Prinzip der Geschlechtertrennung für die muslimischen Frauen in sich sinnhaft
und fraglos gegeben. Aber darüber hinaus ist es auch ein
Symbol für das islamische Geschlechterverhältnis, was
sich auch in der Verhüllung der Frau ausdrückt.
Die Religion des Islam ist auch eine Rechtsordnung,
deren Bestand auf dieser – männlich bewachten – Trennung beruht. Darüber hinaus versteht sich der Islam als
universale Ordnung (die Umma), die kein Recht auf Freiheit der Religion kennt.
Das Menschenbild sieht den Menschen als SozialWesen, statt als Individual-Wesen und bestimmt ihn als
einen Teil der Umma, der Gemeinschaft der Muslime in
der Welt. Die Muslime sind als Brüder und Schwestern
weltübergreifend miteinander verbunden. Das Recht auf
persönliche Entscheidung ist den Muslimen nur in engen
Grenzen möglich. In erster Linie trägt jedes Mitglied mit
seinem Handeln Verantwortung gegenüber der Familie,
Gemeinschaft und der Umma.
Dieses Menschen- und Weltbild ist „fraglos gegeben“,
d.h. kann nicht in Frage gestellt werden, weil es als Gesetzesreligion von Gott gegeben ist. Seine Wissens- und
Wertbestände formen als Kulturmuster den islamischen
Habitus und bilden den islamischen Common Sense.
4. Religiöser Einfluss auf die Lebenswelt der
Jugendlichen.
Jetzt möchte ich Ihnen anhand von einigen ausgewählten
und beispielhaften Zitaten aus meinen Interviews anschaulich machen, wie dieser türkisch-muslimische Common Sense von den Jugendlichen gelebt wird.
Eine große Rolle im Selbstverständnis spielt die Dankbarkeit und der Respekt den Eltern und Älteren gegenüber. Mit Dankbarkeit und Respekt wird die Daseinsschuld an Eltern und Großeltern verstanden. Man gehört
sich nicht selbst, sondern der Familie.
„Zitat Metin 16: „...also ich würde gerne erst mit 23
oder so heiraten, aber meine Großmutter möchte ja noch
ihr Enkelkind sehen, und wir gehören ihnen mal, und ihr
Herz brechen, das könnt ich nicht... und wenn es sein
muss, heirate ich auch meine Kusine, die wartet schon in
der Türkei, eine von der Seite meiner Oma. Aber bis dahin
mach ich, was ich will, das ist nun mal so...“.
Einer dieser religiös/kulturellen Regeln ist die Ehre
des Mannes. Er hat die Aufgabe, seine Ehre, d.h. die weiblichen Mitglieder seiner Familie in der Öffentlichkeit zu
schützen und zu verteidigen.
'bb' 106-4/2003
Mete, 16: „Also wenn meine Schwester nur einen hätte,
also nur den einen kennenlernt und heiratet, kein Problem, ich würde, ich hätte, ich wäre nicht gleich hingegangen und hätte ihn geschlagen und so, aber ich würde hingehen, ich würde sie mitnehmen, ich würde dem Jungen
sagen, ich will dich nie wiedersehen. Wenn du was willst,
dann komm zu uns, um die Hand anzuhalten, aber nicht
so rumtreiben und so.“
Der Effekt ist, das die Migrantinnen und Migranten von
den Deutschen sich abgrenzen, auch deshalb, weil sie sagen, die Deutschen haben keine Ehre, sie sind nicht sozial, sie sind sich egal. Die türkischen Jugendlichen grenzen
sich ab, weil sie in ihrer Kultur leben wollen und weil sie
sich dort verstanden fühlen.
Auch wird der Wunsch, nicht mehr verheiratet zu werden, sondern selber die Partnerin/Partner auszusuchen,
genannt. Wobei die meisten ihren Eltern kaum widersprechen. In 40 Prozent aller türkischen Hochzeiten werden
die Bräute von der zukünftigen Schwiegermutter in der
Türkei ausgesucht und hergebracht. Dies hat u.a. die fatale Folge, dass die Bräute der Schwiegermütter untergeordnet sind, nicht Deutsch sprechen und die Kinder nach
ihren eigenen Herkunftsmustern erziehen. Das ist dann
die hier geborene 4. Generation, die ohne Deutschkenntnisse in die deutsche Schule kommen oder gleich in eine
islamische Grundschule gehen, wo die Eltern sich eher
identifizieren und das Kind begleiten können als in einer
deutschen Schule.
Wie wird der islamische Glaube im Alltag von den Jugendlichen gelebt?
Für einen Muslim gilt es die fünf Säulen im Islam einzuhalten. Die Hauptpflichten sind:
- Täglich das Glaubensbekenntnis aussprechen;
- Namaz halten, d.h. fünfmal am Tag beten;
- Almosen geben;
- den Ramadan einhalten, d.h. vier Wochen im Jahr
fasten;
- einmal im Leben nach Mekka pilgern, um Hadsch zu
werden.
Das ist für die Jugendlichen natürlich kaum realisierbar,
daher ist die praktische Religiosität stark relativiert, wenig rituell und stark individualisiert.
Zitat Haldun 15: „...was ich befolgen kann? Es gibt zu
viele Gesetze, ...zum Beispiel fasten, das tue ich auch
gerne, und beten zu Allah, das geht auch, aber Namaz (5x
am Tag) das schaff ich nicht, 1x in der Woche oder 2x vielleicht, ja natürlich zum Freitagsgebet mit meinen Brüdern
und Onkels, das kann ich noch befolgen...“ (S. 143)
Und Hadsch? Darüber denk ich, wenn ich alt bin, so ab
50, wenn ich weiße Haare bekomme, aber bis dahin will
ich richtig leben, wenn ich sage, ich habe schöne Sachen
gemacht, lass jetzt die Finger von, dann werde ich richtig
religiös, nicht wie jetzt, so ein wenig und so...“
Zitat Fahriye 16: „...natürlich bin ich muslimisch, alle die
ich kenne, sind müslüman, und ich glaube auch an Gott
und ich liebe mein Gott deswegen, ich habe auch immer, als
ich klein war, sechs oder so, bin ich schon angefangen mit
oruc, ja ich liebe oruc (Fasten) ich muss das machen, aber
beten so 5x am Tag, das ist schwer, die Gesetze sind richtig
schwer, weil Gott will uns prüfen, aber ich schaff so ein mal
am Tag, ein anderer Tag nicht...“ „…ich weiß wir müssen
alle einhalten, werden auch bestraft, aber ich muss auch an
die Schule denken, ich will ja später auch Sängerin werden,
dafür bete ich auch schon so viel...“ (S. 118)
Zusammenfassend zeigen die Interviews eine deutliche
Übereinstimmung im Bekenntnis zum Muslim-Sein auf,
dessen Funktion ganz wesentlich in der identifikatorischen Verankerung der Herkunft liegt und Orientierung
durch die Normen und Werte der Migrantengesellschaft
vermittelt. Zum anderen befinden sich die Jugendlichen
handlungspraktisch mehr oder minder auf dem Weg in die
Moderne, wo sie ihre Perspektiven sehen. Neben der Zuordnung zum Muslim-Sein findet auch ein Loslösungsprozess vom traditionellen Teil ihres Lebens satt, der keine
hinreichende Orientierung für die Bewältigung des Lebens
in Deutschland zur Verfügung stellen kann.
Jedoch bietet die Mehrheitsgesellschaft kaum neue
identitätsstiftende Angebote. Die Jugendlichen erfahren,
dass die unterschiedlichen sozio-kulturellen Norm- und
Wertsysteme nur begrenzt kompatibel sind, erleben
Ausgrenzung von der einen und Disziplinierung von
der anderen Seite. Im Bemühen, die unterschiedlichen
kulturellen Anforderungen auszubalancieren, findet eine
Subjektivierung im Selbstbezug zu den verschiedenen
kulturellen Orientierungs- und Verhaltensmustern statt,
die ihnen zum Teil als Verpflichtung, zum Teil als Angebote gegenüber stehen. Die Jugendlichen müssen eigene
Bewältigungsstrategien entwickeln, für die kein Modell
zur Verfügung steht.
Ich bin inzwischen skeptisch, ob dies gelingen kann.
Ich begleite Integrationsbemühungen der Institutionen
und Lebensläufe von Jugendlichen seit nunmehr über
zehn Jahren und muss feststellen, dass sich die Situation immer weiter zuspitzt. Die Abkehr von der deutschen
Gesellschaft hat in diesem Zeitraum zugenommen, die
Zuflucht in die geschlossene Migrantengesellschaft nimmt
zu. Diese Entwicklung fand bisher im Wesentlichen unter
Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Manchmal setzten
sich die Migranten selbst auf die Tagesordnung, wie zuletzt die Lehrerin Ludin, die mit dem Kopftuchstreit bis
vor das Bundesverfassungsgericht zog.
5. Die Bedeutung der religiösen Instanzen:
Moscheen, Koranschulen
Exkurs: Das Kopftuch
Da die deutschen Schulen und gesellschaftlichen Institutionen nicht mehr in der Lage sind, akzeptable und identitätsstiftende Angebote für die Jugendlichen zu machen,
weil sie inzwischen von den Jugendlichen nicht mehr
19
'bb' 106-4/2003
akzeptiert werden, gewinnen die muslimischen Organisationen zunehmend an Bedeutung. Immer mehr Moscheen
werden gebaut, Koranschulen entstehen und selbst Sport
wird religiös organisiert. Dies findet alles statt unter Ausschluss der Kontrolle durch die deutsche Gesellschaft.
Die Koranschulen, in denen die Kinder ab vier Jahren
lernen, den Koran zu lesen und nach muslimischen Regeln zu leben, bieten auch eine Reihe von Angeboten zur
Freizeitgestaltung, aber keine Hilfe zur Integration in die
deutsche Gesellschaft.
In diesem Zusammenhang auch noch eine Anmerkung
zum Streit um das Tragen des Kopftuches. Ich möchte
jetzt nicht noch mal alle Argumente dafür oder dagegen
aufzeigen, sondern nur etwas feststellen.
Derya, 16: „Also bei mir, den ersten Tag, das war so, mein
Bruder ist irgendwann mal nach Hause gekommen und
hat mir erzählt, Kopftuchtragen wie das ist, warum das ist
und dann hat er gesagt, hat er mich gefragt, möchtest Du
ein Kopftuch tragen. Da war ich acht oder neun und dann
habe ich gedacht, dass meine ganze Familie hat ja, meine
Geschwister, die tragen alle Kopftuch und da, das hat
mich verwirrt sozusagen, ich war ja auch klein, da habe
ich mein erstes Kopftuch getragen...“
Dazu müssen zunächst die Migranten selbst etwas tun:
- Die türkischen Kinder und ihre Eltern müssen die
deutsche Sprache beherrschen lernen.
- Dazu müssen schon im Kindergarten Sprachkurse
und Sprachförderung selbstverständlich sein und
genutzt werden.
- Zwangsverheiratungen müssen aufhören.
- Die muslimischen Organisationen müssen eine Vorbildfunktion bei der Integration leisten.
- Es muss ein öffentliches Interesse daran bestehen,
mit welchen pädagogischen Konzepten gelehrt und
welche Inhalte in den Moscheen und Koranschulen
vermittelt werden. Dies muss kontrollierbar sein.
- Aber auch die deutsche Gesellschaft muss es schaffen, vor allem den Jugendlichen eine positive deutsche Identität anzubieten, auch aus dem Interesse,
die eigenen Errungenschaften zu verteidigen.
In allen meinen Gesprächen in den letzten Jahren mit sehr
vielen Mädchen, die Kopftuch tragen, ist mir nicht ein
einziges Kind begegnet, dass wirklich freiwillig Kopftuch
trägt. Ein Kind vor der Pubertät hat nach allen entwicklungspsychologischen Erkenntnissen keine wirkliche
Entscheidungsfreiheit, weil die Bindung und Abhängigkeit
von der Familie prägend ist.
Am Anfang meiner Ausführungen habe ich die vertikale
Trennung in der muslimischen Gesellschaft beschrieben
und dass das Kopftuch den Mann und die Frau voreinander schützen soll. Im Türkischen bezeichnet man den
Vorgang sich Kopftuch anzulegen Kapatmak, übersetzt
bedeutet das: Zumachen. Mir scheint, dass dies nicht nur
auf das Kopftuch zutrifft. Die Muslime verschließen sich
zunehmend mit dem Ausleben des muslimischen Common
Sense einer offenen Gesellschaft. Sie machen zu.
6. Fazit: Der Islam und die Moderne.
Forderungen an die muslimischen
Institutionen und die deutsche Gesellschaft
Mein Vater hat nach sieben Jahren trotz aller seiner Bemühungen, uns in Deutschland eine neue Heimat zu geben,
aufgegeben und ist allein in die Türkei zurückgegangen.
Nicht nach Istanbul, sondern in das Haus seiner Mutter in
Zentralanatolien. Selbst bei bestem Willen ist es ungeheuer schwer, in einem fremden Land anzukommen. Auch die
deutsche Gesellschaft muss diesen Prozess unterstützen
und fördern. Aber auch die Migranten müssen ihren Teil
dazu beitragen, müssen den Willen haben anzukommen.
Es gibt einige ganz einfache, und doch schwer zu realisierende Voraussetzungen, die Integration leichter machen:
20
'bb' 106-4/2003
u-entwurf:
ein kreuz wird zum lebensbaum
hoffnung gestalten im religionsunterricht der
grundschule – wie lässt sich das schwierige thema
„abschied nehmen“ mit seinen unterschiedlichen
aspekten kindgerecht aufbereiten?
malte stoffel
Zur Unterrichtseinheit: „Abschied nehmen“
Abschied nehmen ist Teil des Menschseins. Das Leben
besteht aus vielen Abschieden. Man verabschiedet sich
am Telefon, von seinem Besuch, von den Kollegen oder
der Verkäuferin im Geschäft. Bewegen wir uns von der
alltäglichen Ebene weg, kann der Abschied schon schwerer fallen, je nachdem, wie stark wir in den jeweiligen
Strukturen verwurzelt sind: Man kann oder muss sich von
bestimmten Lebensabschnitten verabschieden, wie sie beispielsweise durch die Schulstruktur vorgegeben werden
oder macht selbst Schnitte im Berufs- oder Privatleben.
Am Schwierigsten zu bewältigen ist wohl der endgültige
Abschied: Der Tod, ob nun von einem geliebten Menschen
oder, gerade in der kindlichen Gefühlswelt, vom Haustier,
sorgt oft für Sprachlosigkeit und Ohnmacht. Er ist für uns
selbst und die, die mit uns zu tun haben, eine schwierig zu
bewältigende Situation. Der „richtige“ Umgang fällt uns
schwer. Schon deshalb, weil jeder damit anders umgeht:
Der eine möchte getröstet werden, der andere stürzt sich
in die Arbeit, der dritte sucht Trost bei Gott, der vierte
weiß selbst nicht, was ihm eigentlich gut tut usw.
In den Niedersächsischen Rahmenrichtlinien Evangelische Religion für die Grundschule1 wird diese Problematik unter dem Thema „Leben und Tod“ behandelt. Das
Groblernziel lautet: „Im christlichen Glauben die Hoffnung
für Leben und Tod sehen“ (RRL 1984, S. 28). Die biblische Auferstehungsbotschaft als Trost und Hoffnung der
Christen für ihr eigenes Leben ist darin als Feinlernziel
verankert (vgl. RRL 1984, S. 28).
Wie mir im Verlauf der Einheit bewusst wurde, haben
sich Schüler2 einer 4. Klasse durchaus schon eingehend
mit dem Thema Tod auseinander gesetzt, es besitzt also
eine Gegenwartsbedeutung für Kinder dieser Altersstufe.
Dies kann der Tod eines nahen Verwandten, eines Nachbarn oder des Kaninchens sein. Ist die Klassengemeinschaft und das Verhältnis zum Lehrer durch gegenseitiges Vertrauen geprägt, können sich fast philosophische
Gespräche entwickeln. Auf der anderen Seite finden sich
unterschwellige Ängste und Apathien, wie sie besonders
beim Besuch des Friedhofs (und dem Gespräch darüber)
zum Vorschein kamen (s.u.).
Das „Abschied nehmen“ allein auf den Bereich Leben und Tod zu beschränken, erschien mir zu wenig.
Wie bereits ausgeführt, beschränkt sich diese Thematik
nicht allein auf diese beiden Begriffe, sondern findet in
allen seinen Ausprägungen lebenslang statt (Zukunftsbedeutung). Gerade für eine 4. Klasse bot es sich an, den
Abschluss der Grundschulzeit als das Ende eines Lebensabschnittes in seiner Ambivalenz zu überdenken und an
den Anfang dieser Einheit zu stellen: Die Schüler haben
in diesen vier Jahren viele Freundschaften geschlossen
und sich als Klassengemeinschaft zusammengefunden.
Die Strukturen ihrer Grundschule sind ihnen bekannt und
vertraut, ob es sich um den Schulweg, den Schulhof oder
den Mathelehrer handelt. Das Verlassen dieser wohlbekannten Umgebung in eine neue (OS, IGS), die mit einem
Wechsel des Ortes, des Gebäudes, der Stundentafel, der
Lehrer usw. verbunden ist, ist sicher für viele mit Unbehagen, vielleicht sogar Angst behaftet. Andererseits
bieten sich zahlreiche neue Möglichkeiten und Chancen:
Die bestehende Klassengemeinschaft kann, gerade nach
so langer Zeit, als einengend für die Entwicklung der
eigenen Persönlichkeit empfunden werden. Die vorhandenen Strukturen sind vielleicht starr, so dass bestimmte
Rollenverteilungen („Führer“, Außenseiter usw.) unabänderlich erscheinen oder sind. Gerade Außenseitern bietet
eine andere Gruppe eine neue Chance zur Integration. So
ließen sich auch sicher Pro-Argumente anführen, die ein
Wechsel der Lehrkräfte mit sich bringt. Zusätzliche Lernangebote wie zahlreiche neue AGs ergänzen die positiven
Erwartungen. Alle diese Punkte wurden von den Schülern
mehr oder weniger direkt angeführt (1. Stunde).
Dass die Grundschulzeit mit vielen gemeinsamen Erinnerungen behaftet ist, wurde in der zweiten Stunde „Wir
hinterlassen Spuren“ thematisiert: Der eigene „Fußabdruck“ (auf Tonpapier) wurde mit Foto versehen und von
den Schülern beschriftet („Meine schönste Erinnerung“).
Beim anschließenden Unterrichtsgespräch wurde deutlich, dass die Schüler viel miteinander erlebt haben. Sie
haben Spuren (=Erinnerungen) bei anderen hinterlassen
und andere bei ihnen. Dass ein bestimmtes Erlebnis von
vielen Schülern gleichzeitig als besonders schön bzw.
erinnerungswürdig empfunden wurde, zeigte sich in der
häufigen Nennung einer Klassenfahrt.
Danach erfolgte dann die Auseinandersetzung mit
dem endgültigen Abschied, dem Tod (3. und 4. Stunde):
Der (mögliche) Umgang mit dem Tod wurde anhand der
21
'bb' 106-4/2003
bekannten Geschichte von Susan Varley „Leb wohl, lieber
Dachs“ thematisiert. Die Abfolge von Trauer, Trost und
dankbarem Erinnern bilden den Kern dieser kindgerechten Geschichte, die hilft, die Sprachlosigkeit zu überwinden und über den Tod ins Gespräch zu kommen. Die
Übertragung auf die Tierwelt schafft zum einen Distanz
für die Schüler, die sich nicht über persönliche Erfahrungen äußern wollen oder können. Zum anderen bietet die
Geschichte die Möglichkeit, eigene Erlebnisse einfließen
zu lassen. Gerade bei dieser Thematik ist es oberstes Gebot, dass die Schüler sich nur freiwillig äußern.
Der anschließende Gang auf den Friedhof, dem sich ein
Gespräch anschließen muss, machte deutlich, dass der
Umgang mit dem Tod stark mit Ängsten und Verdrängung
behaftet ist: Viele Schüler fühlten sich unwohl oder empfanden gar „Ekel“, weil ja „unter der Erde die toten Menschen
liegen“. Eine Reihe Schüler war vorher noch nie (bewusst)
auf einem Friedhof. Hieran wurde nochmals deutlich, wie
wichtig die Beschäftigung mit dem Thema „Tod“ ist.
Entscheidend für die Auseinandersetzung mit dem Tod
im Unterricht ist, dass man niemals das Leben aussparen darf. „Leben“ muss immer im Hintergrund vorhanden
sein, um die Schüler nicht mit ihren Ängsten und Gedanken alleine zu lassen. Der Hoffnungsaspekt schiebt sich
im Verlauf der Einheit immer stärker in den Vordergrund.
Die Überwindung des Todes durch Jesus Christus bildet
den Abschluss und Höhepunkt der Einheit im christlichen
Religionsunterricht. Der Umfang ist in diesem Zusammenhang variabel, da das Thema „Passion und Auferstehung
– Ostern“ wiederholt Thema des Religionsunterrichts in
der Grundschule ist.
In diesem Zusammenhang war es für mich besonders
wichtig, die christliche Botschaft, dass über den Tod hinaus Hoffnung auf neues Leben besteht bzw. dass aus dem
Tod immer wieder neues Leben hervorgeht, für die Schüler möglichst anschaulich und erlebnis- bzw. handlungsorientiert zu gestalten. Sie sollten erkennen, dass zwischen
Tod (Symbol: Kreuz) und Leben (Symbol: Lebensbaum)
nur ein scheinbarer Widerspruch besteht, dass sie im
Grunde genommen zusammen gehören.3 Vielleicht konnte
er sogar auf emotionaler Ebene im Ansatz aufgelöst werden. Im Zentrum dieses Ansatzes stand für die folgende
Stunde (5. Stunde) die Frage: „Warum pflanzt man auf
einen Friedhof Lebensbäume?“
Zur Unterrichtsstunde: „Der Lebensbaum“
Die Stunde wurde mit einer Fantasiereise begonnen, die
die Verwandlung einer Raupe zum Schmetterling zum
Inhalt hat, der anschließend von Pflanze zu Pflanze fliegt
und sich über alles freut.4 Die Schüler sollten diese Verwandlung nachvollziehen (innere Bilder, Empfindungen)
und durch das anschließende Unterrichtsgespräch sollte
ihnen in einem ersten Schritt deutlich werden, dass das
Leben nicht auf einen Seinszustand beschränkt ist. Der
anschließende Impuls überführte auf die Ebene realer
Anschaulichkeit: In die Mitte des Sitzkreises stellte ich
22
einen kleinen Lebensbaum, in dem ein Schmetterling
aus Seide saß. Danach schickte ich jeden Schüler in den
Gruppenraum, damit er sich (ohne den Namen der Pflanze zu nennen) seinen Lebensbaum holt und ihn beliebig
anordnet. So entstand ein kleiner „Wald“. Danach wurde,
in Rückgriff auf den Unterrichtsgang, geklärt, dass man
diese Pflanzen häufig auf einem Friedhof findet, dessen
zentrales Symbol das Kreuz (Tod) ist. Anschließend ließ
ich die Schüler die Bäume in Kreuzform anordnen. Dabei
gingen sie sehr sorgfältig und behutsam vor. Nun stand
vor uns ein Kreuz aus Lebensbäumen. Mit der Klärung
des Namens dieser Pflanzen sollte den Schülern dieser
(scheinbare) Widerspruch bewusst werden und durch das
dargestellte Kreuz mit echten Lebensbäumen besonders
anschaulich werden: Das Symbol des Todes wurde mit
Symbolen des Lebens dargestellt. Warum findet man diese
Symbole des Lebens auf dem Friedhof?
In einem nächsten Schritt ließ ich die Schüler in Gruppenarbeit nach Antworten auf die oben angeführte Frage
„Warum pflanzt man auf einen Friedhof Lebensbäume?“
suchen und diese anschließend auf Papierblüten notieren.
Es bietet sich hier auch Partnerarbeit an. Auf jeden Fall
ist es nicht sinnvoll, die Schüler allein nach Antworten
suchen zu lassen, da dann bei diesem stark emotionalen
Thema keine Austausch- oder Rückzugsmöglichkeiten (in
Gruppenarbeit) mehr bestehen. Die gefundenen Schülerantworten übertrafen meine Erwartungen bei Weitem.
Sie reichten von Äußerungen wie „Damit die Gräber
immer schön grün aussehen.“ bis „Damit will man sagen,
dass das Leben nach dem Tod weitergeht.“
Um die Hoffnung auf neues Leben über den Tod hinaus für die Schüler handlungsorientiert und anschaulich
darzustellen, wurde dann mit grünen Tüchern (Kett-Material) und den rosa Blüten der Schüler aus dem Kreuz
ein Lebensbaum gestaltet. Mit Hilfe der Tücher wurde
die Baumkrone gestaltet, indem die Tücher in die vier
„Zwischenräume“ des oberen Teils des Kreuzes gelegt
wurden. Anschließend verteilten die Schüler die Blüten
auf den Tüchern. Der so entstandene große, blühende
Lebensbaum ist das gemeinschaftlich gestaltete Symbol
des Lebens (siehe Abbildung 1). Er zeigt, wie aus dem Tod
neues Leben entstanden ist. Jeder Schüler bekam von mir
abschließend den Lebensbaum für den neu anbrechenden
Lebensabschnitt geschenkt. Dieses Abschiedsgeschenk
kann so im Garten oder auf dem Balkon an die vergangene Grundschulzeit erinnern und steht gleichzeitig für den
Neubeginn an der weiterführenden Schule.
Die Einheit schloss, entsprechend der Zeit im Kirchenjahr, mit einer Stunde über Ostern (6. Stunde).
Groblernziel der Unterrichtseinheit:
Die Schüler sollen erkennen, dass „Abschied nehmen“
(von einem Lebensabschnitt, Tod) ein Vorgang ist, der Teil
des Menschseins ist. Sie sollen den ambivalenten Charakter dieses Vorgangs wahrnehmen: Jedes Ende ist auch ein
neuer Anfang.
'bb' 106-4/2003
Aufbau der Unterrichtseinheit:
Thema der Stunde
Didaktischer Schwerpunkt
1. Stunde
Schulabschied:
Die Grundschulzeit geht zu Ende
2. Stunde
Wir hinterlassen Spuren
Ein Lebensabschnitt geht zu Ende:
Den Abschluss der Grundschulzeit als ambivalente Situation
überdenken
Wir hinterlassen Spuren (Erinnerungen) bei anderen und andere
bei uns
3. Stunde
Tod: Trauer, Trost, Erinnerung:
Leb wohl, lieber Dachs
Endgültiger Abschied:
Mit dem Tod umgehen: Trauer, Trost und dankbares Erinnern
4. Stunde
Auf dem Friedhof
Den Friedhof als Ort des Gedenkens an die Toten kennen lernen
5. Stunde
Auf dem Weg zum Leben:
Der Lebensbaum
Der Tod verweist auf das Leben:
Hoffnung gestalten: Ein Kreuz wird zum Lebensbaum
6. Stunde
Jesus zeigt uns den Weg zum Leben
Sehen, wie der Osterglaube Hoffnungslosigkeit zu überwinden
und neues Leben zu schenken vermag
Groblernziel der Unterrichtsstunde:
Die Schüler sollen erkennen, dass über den Tod hinaus,
Hoffnung auf neues Leben besteht.
Feinlernziele der Unterrichtsstunde:
Die Schüler sollen…
FZ1… wahrnehmen, dass Leben nicht auf einen Seinszustand beschränkt ist, indem sie in ihrer Fantasie die
Verwandlung der Raupe zum Schmetterling nachvollziehen (innere Bilder, Empfindungen) und diese anschließend
artikulieren.
FZ2… den scheinbaren Widerspruch zwischen Tod (Symbol: Kreuz) und Leben (Symbol: Lebensbaum) erkennen
und zumindest ansatzweise auflösen, indem sie Antworten
auf die Frage „Warum pflanzt man auf einen Friedhof Lebensbäume?“ suchen, diese schriftlich auf (Papier-)Blüten
fixieren und aus dem Kreuz einen blühenden Lebensbaum
gestalten.
FZ3… im gemeinsamen Tun Gemeinschaft erleben, indem
sie die [ihre] einzelnen Lebensbäume (und Materialien)
zu gemeinsamen „Bildern“ („Wald“, Kreuz, blühender Lebensbaum) zusammenstellen.
Literatur
Ardey, Karin/Hagemann, Waltraud u.a. (1997): Religion – einmal anders 3/4. Lehrermaterial für das 3. und 4. Schuljahr. Paderborn
Baltz-Otto, Ursula/Buschbeck, Bernhard (1990) u.a.: Kinder fragen
nach dem Leben. Religionsbuch 3. und 4. Schuljahr. Lehrerhandbuch mit Kopiervorlagen. Berlin
Baltz-Otto, Ursula/Buschbeck, Bernhard (1988)) u.a.: Kinder fragen
nach dem Leben. Religionsbuch 3. und 4. Schuljahr. Berlin
Freudenberg, Hans (Hrsg.) (1998): Religionsunterricht praktisch.
Unterrichtsentwürfe und Arbeitshilfen für die Grundschule. 4.
Schuljahr. Göttingen 6., neubearbeitete Aufl.
Gartmann, Michael/Göllner, Reinhard u.a. (1989): Große Freude. Religion im 4. Schuljahr. Lehrerhandbuch. Hildesheim
Itze, Ulrike/Plieth, Martina (2002): Tod und Leben. Mit Kindern in der
Grundschule Hoffnung gestalten. Donauwörth
Niedersächsischer Kultusminister (Hrsg.) (1984): Rahmenrichtlinien für
die Grundschule. Evangelische Religion. Hannover
Oberthür, Rainer (1995): Kinder und die großen Fragen. Ein Praxisbuch für den Religionsunterricht. München
Lied:
Krenzer, Rolf/Edelkötter,
Ludger (o.J.): Halte zu mir, guter
Gott. Dreisteinfurt
Bemerkungen
Abbi. 1: Blühender Lebensbaum
1 Niedersächsischer Kultusminister
(Hrsg.) (1984): Rahmenrichtlinien
für die Grundschule. Evangelische
Religion. Hannover
2 Die im Folgenden verwendete
Bezeichnung „Schüler“ meint Jungen und Mädchen.
3 So wie durch die Auferstehungsbotschaft das Kreuz vom Symbol
des Todes zum Symbol des Lebens
wird.
4 Vgl. Oberthür, Rainer (1995):
Kinder und die großen Fragen. Ein
Praxisbuch für den Religionsunterricht. München, S. 101f.
23
'bb' 106-4/2003
24
'bb' 102-4/2002
Begrüßung
Stilleübung
Impuls: „Heute machen wir gemeinsam eine Reise –
eine Fantasiereise.“
Fantasiereise
Gespräch über die Fantasiereise
9.00 – 9.03
9.03 – 9.12
Ss lesen Ergebnisse vor; Gespräch
Impuls: „Könnt ihr euch denken, warum ihr eure Antworten auf
Blüten notiert habt?“
Ss gestalten mit Tüchern und Blüten aus dem Kreuz einen blühenden Lebensbaum; abschließende Deutung
9.32 – 9.45
Ergebnissicherung
(II u. III)
Gemeinsames Lied: „Halte, zu mir guter Gott“
Ss erarbeiten Antworten (7.) in Gruppen und notieren Ergebnisse auf den Blüten
9.22 – 9.32
Erarbeitung III
Stundenschluss
bzw.
Did. Reserve
Impuls: L stellt Lebensbaum mit Schmetterling in die Kreismitte
1. spontane Ss-Äußerungen
2. L-Impuls: „Der Schmetterling flog von Pflanze zu Pflanze und
freute sich über alles.“ - L schickt ersten S in Gruppenraum und
lässt ihn „ein Teil von dem holen, was dort für die Ss steht“
3. Ss holen ihre Lebensbäume nacheinander aus dem Gruppenraum und ordnen sie beliebig an („Wald“)
4. L: „Wo findet man sehr häufig diese Pflanzen?“: Friedhof,
zentrales Symbol: Kreuz (Tod)
5. Ss ordnen Lebensbäume in Kreuzform an
6. Klärung des Namens der Pflanzen: Lebensbäume
7. L: „Warum pflanzt man auf einen Friedhof Lebensbäume?“
9.12 – 9.22
Erarbeitung II
Erarbeitung I
Ergebnissich. I
Geplanter Unterrichtsverlauf
Zeit/Phase/FZ
Verlaufsplanung
U-Gespräch m. Gestaltung / Sitzkreis
Gruppenarbeit
Gitarre
Lebensbäume, Blüten
aus Papier,
Tücher
Blüten aus
Papier
Selbsttätigkeit der Ss stärken (freie Anordnung);
Einzelnes zu einem Ganzen verbinden
einen Widerspruch schaffen (4.-7.)
Lebensbäume
aus dem Symbol des Todes (Ende des irdischen
Lebens) wird gemeinschaftlich ein Symbol des
Lebens gestaltet (Transfer zur Passion u. Auferstehung Jesu je nach Verlauf [Ss-Ergebnisse] möglich,
eingehend thematisiert in der nächsten Stunde:
Ostern)
Stärkung der Gemeinschaft; inhaltlich: Angebot,
dass Gott auch in schweren Zeiten für mich da ist
Gruppenergebnisse präsentieren
einen Denkanlass geben
rücksichtsvoll miteinander umgehen und gemeinsam etwas erarbeiten; Gruppe bietet Austausch- u.
Rückzugsmöglichkeiten (stark emotionales Thema)
Selbsttätigkeit der Ss stärken: Wie ordne ich die
Lebensbäume zu einem Kreuz an?
den Widerspruch stehen lassen und den Ss die
selbständige Klärung übertragen
Verbindung zur Fantasiereise, Übergang zur Erarbeitung II
Verbindung herstellen
Impuls: L erwartet hier keine Ss-Vermutungen über
den weiteren Ablauf, sondern erhöht so die Neugier (Motivation)
Lebensbaum
mit Schmetterling
U-Gespräch m. Gestaltung / Stuhlkreis
Konzentration, innere Bilder;
Aspekte: Befinden der Ss (neue Übungsform); Inhalt (Bilder, Deutung)
gegenseitiger Respekt
Ritual: innere und äußere Sammlung
Didakt.-meth. Kommentar
Text: Fantasiereise,
Klangschale
Triangel
Medien
Einzelarbeit
U-Gespräch / Stuhlkreis
Klassenunterricht
Aktions-/
Sozialform
fachbeitrag: ironie und humor
annäherungen aus linguistischer und
kommunikationswissenschaftlicher sicht
jörg kilian
Ironie als Wort, Bedeutung, Begriff –
semantische Annäherungen
Die Ironie des Schicksals der Ironie ist, dass sie allen
bekannt und doch allen ein Geheimnis ist. Sie ist allen
bekannt, das meint: Jeder kompetente Sprecher einer
Sprache ist grundsätzlich in der Lage, ironische Rede zu
produzieren und ironische Rede verstehend zu rezipieren.
Und das Wort Ironie sowie das von diesem Substantiv
abgeleitete Adjektiv ironisch gehören trotz ihrer fremdsprachlichen Herkunft aus dem griechischen εìρωνεία
bzw. ihrer Entlehnung ins Deutsche aus dem lateinischen
īrōnīa und trotz ihrer terminologischen Verankerung in
der rhetorischen Tropenlehre keineswegs in erster Linie
einer Sparte des in der deutschen Sprache beheimateten
Fremd- oder Fachwortschatzes an, sondern sind standardsprachliche, ja mithin umgangssprachliche Wörter. Die
Äußerung: „Das war (doch) ironisch gemeint.“ oder die
Redewendung „Das ist die Ironie des Schicksals.“ darf
sich wohl täglichen Gebrauchs in der deutschen Sprache
erfreuen. Die gängigen Wörterbücher des Deutschen verzichten denn auch bei diesen Wörtern auf die sonst sehr
rasch verteilten varietätenspezifischen Markierungen,
wie sie beispielsweise in unmittelbarer alphabetischer
Umgebung die Stichwörter Iris („med.“), irrational („bildungsspr.“) und Irrealis („Sprachw.“) zieren (vgl. 3GWb).
– Und die Ironie ist allen ein Geheimnis, das meint: Kaum
ein kompetenter Sprecher vermag auf Nachfrage hinreichend zu beschreiben, wie ironische Rede zu produzieren
ist, geschweige denn, was das Wort Ironie im engeren
Sinne bedeutet. Schon die Abgrenzung von bedeutungsähnlichen Wörtern wie Hohn, Spott, Unernst, Witz und den
entsprechenden Adjektiven fällt schwer, um so mehr die
enzyklopädische Beschreibung, das heißt: die Beschreibung der Ironie als Gegenstand bzw. Sachverhalt. Insofern
die Wörter Ironie und ironisch, wie festgestellt, nicht auf
fachwissenschaftlich-terminologische Gebräuche festgelegt sind, sondern zum standard- und umgangssprachlichen Wortschatz des Deutschen gehören, mag ein Blick
in ein standardsprachliches Wörterbuch Abhilfe schaffen.
Im „Großen Wörterbuch der deutschen Sprache“ aus dem
Duden-Verlag ist zu lesen (3GWb 1999, Bd. 5, S. 1980):
Iro|nie, die; -, -n <Pl. selten> [lat. ironia < griech. eironeía=
erheuchelte Unwissenheit, Verstellung; Ironie]: a) feiner, verdeckter Spott, mit dem man etw. dadurch zu treffen sucht,
dass man es unter dem augenfälligen Schein der eigenen
Billigung lächerlich macht: eine feine, zarte, bittere verletzende
I.; die I. aus jmds. Worten heraushören; etw. mit [unverhüllter]
I. sagen; seine Rede war mit I. gewürzt; So fühlte sich Thomas
Mann, wie er es seinem Geschöpf Gustav Aschenbach mit leiser
I. nachgesagt hatte, verpflichtet, womöglich immer gütig und bedeutend zu sein (Reich-Ranicki, Th. Mann 12); diese Nummernoper mit ihren Parodien und -n (MM 20. 4. 72, 48); ich meine
das ohne jede I.; b) paradoxe Konstellation, die einem als Spiel
einer höheren Macht erscheint: die I. einer Situation; I. des
Lebens, der Geschichte; Den Beginn seines neunten Jahrzehnts
feierte der rüstige Hansdampf ... im Münchner Prinzregententheater. Die I. des Schicksals: Gerade im Prinzregententheater war
Rühmann als junger Mime beim Vorsprechen gescheitert (Focus
41, 1994, 286).
Es bedarf wohl keines ausführlicheren Kommentars, dass
Teilbedeutung a) „feiner, verdeckter Spott, mit dem man etw.
dadurch zu treffen sucht, dass man es unter dem augenfälligen
Schein der eigenen Billigung lächerlich macht“ nicht ganz
das trifft, was die kompetente Sprecherin meint, wenn sie
sagt: „Das war (doch) ironisch gemeint.“ Teilbedeutung
b) hingegen: „paradoxe Konstellation, die einem als Spiel
einer höheren Macht erscheint“ beschreibt in groben Zügen
die Redewendung „Das ist die Ironie des Schicksals“. Zu
einem vergleichbaren Ergebnis führt die Durchsicht auch
anderer standard- oder allgemeinsprachlicher Wörterbücher. So mag die Erklärung in „Langenscheidts Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache“ zwar auf den ersten
Blick treffender erscheinen (LaDaF 1997, S. 513):
Ironie die; -; nur Sg; ein Sprachmittel, bei dem man bewußt das
Gegenteil von dem sagt, was man meint (bes um zu kritisieren
od. um witzig zu sein) [...]
Diese Sachbeschreibung, dass also die Ironie eine Form
des Sprachhandelns sei (das Wort „Sprachmittel“ als
Genus proximum ist ungeeignet, denn Sprachmittel sind
Phoneme, Morpheme, Lexeme usw.), mit der die Sprecherin absichtlich (das ist wohl mit „bewußt“ gemeint) das
Gemeinte indirekt bzw. uneigentlich zum Ausdruck bringt,
indem sie das Gegenteil sagt, wird auch vielen ausführlicheren begriffsgeschichtlichen Darstellungen gleichsam
als Kernbedeutung des Wortes Ironie und als prototypischer Inhalt des Begriffes „Ironie“ seit der Antike vorangestellt (vgl. z.B. Behler 1998, Sp. 599f.; Müller 2000, S.
185). Und in der Tat scheint sie das Wesen der Ironie auf
den Punkt zu bringen: Wer sagt: „Das ist ja eine schöne
Bescherung!“ meint konventionell, dass der Sachverhalt,
auf den sich die Äußerung bezieht, nicht schön ist und
deshalb auch keine „Bescherung“; und wer sagt: „Du bist
mir ja ein toller Held!“, meint konventionell, dass der Angesprochene keine heldenhafte Leistung vollbracht hat.
25
'bb' 106-4/2003
Und doch: Bei näherem Hinsehen erweist sich diese
Bedeutungserklärung bzw. Sachbeschreibung der Ironie
als Äußerung des Gegenteils des Gemeinten als nicht
hinreichend. Da ist, zum einen, das Problem mit der Konventionalität: Wer sagt: „Das ist ja eine schöne Bescherung!“, kann zwar konventionell das Gegenteil meinen,
doch ist dies trotz der Konventionalität dieser Äußerung
stets abhängig vom jeweiligen Sachverhalt, auf den sich
diese Äußerung bezieht. Denn die Äußerung kann unter
besonderen Umständen auch „eigentlich“, das heißt wörtlich gemeint sein (z.B. bei der Übergabe eines Geschenks
an Weihnachten). Lediglich die Intonation, die Gestik, die
Mimik – und natürlich der Äußerungskontext – geben hier
Indikatoren für eine eindeutige ironische oder nicht ironische Interpretation ab. Dasselbe gilt auch für die Äußerung „Du bist mir ja ein toller Held!“.
Aber mehr noch: Wer die Äußerung tatsächlich im
mittlerweile konventionell gewordenen ironischen Sinne
meint, der meint zwar möglicherweise tatsächlich propositional (also in Bezug auf den Inhalt) das Gegenteil dessen,
was er sagt, doch handelt er sprachpragmatisch nicht
notwendigerweise „gegenteilig“, sondern macht, so oder
so, z.B. eine FESTSTELLUNG. In sprachpragmatischer
Hinsicht ist die Definition, Ironie sei eine Sprachhandlung
zum Zweck, das Gegenteil des Gemeinten zu sagen, denn
auch keineswegs so ohne weiteres zutreffend. Wer beispielsweise eine ironische Frage stellt (z.B. die Bankangestellte am Schalter zum Kunden: „Darf es etwas mehr
sein?“), tut sprachpragmatisch nicht das Gegenteil von
dem, was er unironischerweise getan hätte, sondern vollzieht dieselbe Sprachhandlung, die er unter anderen situationellen Umständen auch ohne Ironie vollziehen könnte
(„Darf es etwas mehr sein?“ z.B. an der Fleischertheke).
Der Unterschied liegt darin begründet, dass Sprachhandlungen in ironischem Gebrauch ganz andere Wirkungen
entfalten sollen. Die ironische Frage am Bankschalter
etwa impliziert das „Welt“-Wissen, dass jeder Kunde gern
etwas mehr Geld hätte und dass keine Bankangestellte
etwas mehr Geld als nötig und möglich herausgibt. Die
ironisch gebrauchte Frage ist denn mithin gar keine FRAGE. Darauf wird noch zurückzukommen sein.
Hinzu kommt, dass die Definition der Ironie als Äußerung des Gegenteils des Gemeinten nicht allein für die
Ironie gilt. Die „Uneigentlichkeit“ und sogar das Gegenteil des Gemeinten kann nämlich auch auf andere Art
und Weise ausgedrückt werden, zum Beispiel mit Hilfe
von abtönenden Partikeln (z.B. im Supermarkt, kurz vor
Ladenschluss die Äußerung der Kassiererin: „Können Sie
mal langsam zur Kasse kommen?“) oder mit Hilfe anderer
rhetorischer Tropen wie der Litotes (mit anerkennender
Intonation: „Das Buch ist nicht schlecht.“). Die Rhetorik
lenkt denn auch den Blick unmittelbar darauf, die Ironie
nicht allein aus propositional-semantischer („Gegenteil“),
sondern aus pragmatisch-semantischer Perspektive zu
betrachten.
26
Ironie als Zeichenkonstitution –
semiotische Annäherungen
Im Folgenden gilt es, sprachpragmatische und kommunikationstheoretische Aspekte der Ironie zu erläutern
und anhand von Beispielen illustrieren (die Beispiele sind
zwar u.a. literarische Beispiele, doch wird die Ironie als
literarästhetischer Begriff hier nicht Gegenstand sein).
Die Ironie, so haben die Auszüge aus den Wörterbüchern gezeigt, ist verwandt mit Formen der abschätzigen
Rede, also mit Spott, Hohn und Häme (daher auch die
häufige Übersetzung des griechischen εìρωνεία mit ,Spottrede‘). Sie soll allerdings nicht direkt verletzen, sondern
auf indirekte Weise Kritik üben. Auf der anderen, gewissermaßen der guten, witzigen Seite, und die soll hier im
Vordergrund stehen, ist die Ironie ebenfalls nicht immer
deutlich zu unterscheiden: vom Witz, vom Scherz, vom
Spaß. Und doch ist die Ironie anders, ist sie gleichsam der
Weg zum Ziel des Witzes, Scherzes, Spaßes. Das zeigen
schon die Wortbedeutungen und ihre Gebrauchsbedingungen. Während man davon sprechen kann, man habe einen
Witz, einen Scherz oder einen Spaß gemacht, kann man
nicht sagen, man habe eine Ironie gemacht.
Die Anfänge der Begriffsgeschichte spiegeln diese
Doppelbödigkeit der Ironie: Ursprünglich handelt es sich
beim Begriff eiron „um ein derbes Schimpfwort, das den
Typ des Ironikers, [eben] den eiron, mit ,Lügnern, Rabulisten, Rechtsverdrehern, durchtriebenen, abgefeimten
glatten Gesellen‘ in Verbindung bringt. [...] Er betrügt
durch leere Redensarten, hohles Geschwätz und gibt sich
den Schein des Wissens, um zu täuschen, zu heucheln, zu
höhnen, zu spaßen und sich durchzuwinden.“ (Lapp 1997,
18f.) Als das prototypische Mittel dieser Verstellung ist
schon in der Antike die „spöttische Redeweise, bei der das
Gegenteil des Gemeinten zum Ausdruck gebracht wird“,
definiert worden, und diese Definition hat sich, wie oben
dargelegt, in der rhetorischen Tropen- und Figurenrede bis
heute gehalten (Lapp 1997, 21). Zum Humor kommt die
Ironie schließlich bei den römischen Rhetorikern. Cicero
erweitert die klassische „Gegenteilsdefinition“: Einmal
gebe es in der Tat die Ironie, bei der das Gegenteil vom
Gemeinten gesagt wird; zum anderen sei es aber auch ironisch, wenn man lediglich etwas anderes als das Gemeinte sagt, aber auch dies durchscheinen lässt. Damit ist der
Weg frei für die scherzhafte Ironie.
Im Anschluss an Edgar Lapp lassen sich somit zwei
Definitionen der Ironie unterscheiden (Lapp 1997, 24):
1.) Ironie ist: Das Gegenteil von dem sagen, was
man meint.
2.) Ironie ist: Etwas anderes sagen als man meint.
Das geht
a) indem man beispielsweise ein Antonym (ein Gegensatzwort) zum Gemeinten wählt: Du bist entzückend!
Tolles Wetter heute! [bei Platzregen],
b) indem man eine andere Sprechhandlung ausführt als
man meint: FRAGE: Aber sonst geht es noch ganz gut,
'bb' 106-4/2003
ja? Gemeint: VORWURF im Kleid der FESTSTELLUNG: ,Dir geht es doch nicht gut‘, ,du spinnst‘.
c) indem man innerhalb desselben Sprechhandlungstyps
bleibt, aber eine gegenteilige Proposition meint, z.B.
die AUFFORDERUNG Mach nur weiter so!
möglich. Wir nutzen den Terminus „Ironiesignal“ weiterhin, meinen heute damit aber gleichsam intendierte
nonverbale oder paraverbale „Störfaktoren“, die die Rede
begleiten und sie als ironische Rede kennzeichnen sollen.
Wir sind nun an dem Punkt, wo geklärt werden muss,
was sich zwischen Sprecher und Hörer abspielt in einer
Alle Fälle sind von der Lüge dadurch unterschieden, dass
natürlichen Kommunikationssituation. Gegeben sei folder Hörer aufgrund von Betonung, Gestik und Mimik und
gendes „Modell virtueller und aktueller SprachzeichenÄußerungskontext erkennen soll, dass das Gegenteil oder
konstitution“ (Henne/Rehbock 1980,151ff.):
etwas anderes gemeint ist. Ein Täuschungsversuch liegt
Dargestellt wird hier, wie Sprecher („Zeichenproalso nicht vor; das Ironische der Ironie scheint mithin
duzent“) und Hörer („Zeicheninterpret“) sich auf eine
in den genannten äußerungsbegleitenden Umständen
gemeinsame „Welt“ – und Weltwahrnehmung – beziehen
(er)fassbar. Harald Weinrich hat denn auch in seinem
müssen, um dem geäußerten Sprachzeichen eine überBuch „Linguistik der Lüge“ diese äußerungsbegleitenden
einstimmende Interpretation zuzuweisen. KonventioUmstände im Begriff des „Ironiesignals“ zusammenzufasnelle Sprachzeichen bieten dafür kraft ihrer abstrakten
sen gesucht. Die Ironie werde als solche erkannt – und
virtuellen Existenzweisen
einen Bezugsrahmen an und
stecken damit zugleich den
Rahmen für die konkreten
aktualisierten „Welt“-Bezüge
des Sprachzeichens ab. Das
ist eine Grundvoraussetzung
für sprachliche, also symbolisch vermittelte Kommunikation, spielt indes besonders
im Rahmen „uneigentlichen“
Sprechens und somit auch im
Rahmen ironischen Sprechens eine außerordentlich
wichtige Rolle. Ironischer
Humor beispielsweise bliebe
unverstanden, wenn nicht
beide Dialogbeteiligte denselben virtuellen „Welt“-Hintergrund zugrunde legten, um
vom Verstehen des „wörtlichen“ gesagten Rahmens
zum Verständnis des aktuell
gemeinten Rahmens zu gelangen. Der virtuelle Rahmen
gestattet also zwar neben den
Abb. 1: Vereinfachtes Modell virtueller und aktueller Sprachzeichenkonstitution.
„wörtlichen“ auch ironische
das soll sie ja – an Ironiesignalen: „Das mag ein AugenAktualisierungen, die Ironie selbst allerdings wird erst
zwinkern sein, ein Räuspern, eine emphatische Stimme,
im Zuge der Aktualisierung, im Zuge des Sprechaktes,
eine besondere Intonation, eine Häufung bombastischer
produziert. Und das heißt: Die Mittel der Ironie sind somit
Ausdrücke, gewagte Metaphern, überlange Sätze, Wortzwar virtuell gegeben, die Ironie indes ist grundsätzlich ein
wiederholungen oder – in gedruckten Texten – KursivPhänomen der aktuellen Rede, der Parole, der Performanz.
druck und Anführungszeichen.“ (Weinrich 1970, 60ff.) Der
In Bezug auf das aktuelle Sprachzeichen wird deshalb
Sprecher kann also durch non- und paraverbale Mittel,
folgerichtig in diesem Modell der Sprachzeichenkonstitudurch Gebärden, durch Imitation der Aussprache oder der
tion differenziert zwischen Konstituieren und Meinen: Der
Gebärden einer anderen Person seinen Text ironisieren.
Zeichenproduzent „konstituiert“ aus der Äußerung von
Im Sinne eines „Codes“ sind derlei Ironiesignale indes
A’ mit der aktuellen Bedeutung I’ ein Sprachzeichen mit
nicht zu systematisieren. Im Grunde kann (fast) alles IroBezug auf einen „Sachverhalt“. Indem er diesen sprachzeinie signalisieren; feste Zuordnungen, also beispielsweise
chenbasierten Bezug herstellt, „meint“ er den Bezug auf
eine solche, dass derjenige, der eine ironische Bemerkung
diesen bestimmten „Sachverhalt“. Auch beim ironischen
zur Belustigung der Hörer mache, mit den Augen zwinkeGebrauch eines Wortes konstituiert der Zeichenproduzent
re, wohingegen derjenige, der eine ironische Bemerkung
das konventionell mit diesem „Sachverhalt“ verknüpfte
zur Kritik des Hörers mache, die Stirn runzele, sind nicht
Sprachzeichen, meint jedoch, wie oben festgestellt, das
27
'bb' 106-4/2003
Gegenteil oder etwas ganz anderes. Dem ironischen Gebrauch eines Wortes liegt demnach grundsätzlich dessen
„wörtliche“ oder „eigentliche“ Bedeutung sowohl virtuell
wie auch aktuell zugrunde. Letztere wird sodann durch
„soziale“, „individuelle“, besonders aber „situationale
Bedeutungskomponenten“ ergänzt – im Falle der Ironisierung aber sogar überlagert. Insofern die Ironie von der
Lüge u.a. dadurch unterschieden werden kann, dass der
Zeicheninterpret diese Überlagerung erkennen soll, ist ein
relativ großer Bereich gemeinsamen und der Äußerung
gemeinsam präsupponierten „Welt“-Wissens Voraussetzung für das Verständnis ironischer Äußerungen, und
zwar selbst bei relativ konventionell gewordenen ironischen Äußerungen wie „Das ist ja eine schöne Bescherung“ oder, wenn man beispielsweise die lexikalische
Ironie nimmt, bei der Äußerung des Wortes Bauern-Ferrari
mit Bezug auf einen Mercedes. Wer dieses Wort äußert,
setzt beim Hörer ein „Welt“-Wissen voraus zumindest über
folgende Bereiche:
 das Image der Automobilmarke Mercedes
 das Image der Automobilmarke Ferrari
 die Automarkenvorliebe vieler Menschen im landwirtschaftlichen Bereich
 den Unterschied zwischen einem Dieselfahrzeug und
einem Sportwagen
Einem Kleinkind oder einem Lerner des Deutschen als
Fremdsprache mag an diesem Wort, die Kenntnis der
„wörtlichen“ Bedeutung seiner Bestandteile vorausgesetzt, möglicherweise gar nichts rätselhaft erscheinen,
weil es/er den überlagernden ironischen Rahmen noch
nicht zu deuten vermag.
Ironie als Sprecherhandlung und
Hörerwirkung – pragmatische
Annäherungen
Es ist Aufgabe der Sprachpragmatik, genauer zu
(er)klären, was der Zeichenproduzent tut, wenn er (ironisch) spricht. Sprechen ist im sprachpragmatischen
Sinne eine Form sozialen Handelns und dementsprechend
intentional: Der Handelnde verfolgt ein Ziel, die Handlung
hat einen Zweck/eine Funktion. Im Unterschied dazu ist
Verhalten nicht-intentional, nicht zielgerichtet. Sprachhandlungen sind darüber hinaus grundsätzlich konventionell: Mit sozialem Handeln ist kommunikatives Handeln
gemeint, und damit dieses Handeln gemäß der Intention
des Senders kommunikativ sein kann, muss die Sprachhandlung gesellschaftlichen Konventionen folgen. Als
Faustregel gilt: Eine Handlung ist konventionell, wenn ihre
Realisierung allgemein als Vollzug der Handlung X gilt. So
gilt ein Sprechakt, der eine Aussage über die Welt macht
und den Glauben des Sprechers an die Wahrheit dieser
Aussage versichert, als FESTSTELLUNG:
28
Heinrich Heine:
Das Fräulein stand am Meere
Und seufzte lang und bang,
Es rührte sie so sehre
Der Sonnenuntergang.
„Mein Fräulein! sein Sie munter,
Das ist ein altes Stück;
Hier vorne geht sie unter
Und kehrt von hinten zurück.“
Was tut der Sprecher, wenn er sagt: „Hier vorne geht sie
unter/Und kehrt von hinten zurück.“? Die linguistische
Sprechakttheorie unterscheidet drei Teilhandlungen, die
der Zeichenproduzent vollzieht, wenn er spricht. Sie seien
hier vereinfacht und ohne Diskussion der wissenschaftlichen Kontroversen, die sie im Einzelnen hervorgerufen
haben, referiert:
1) Er äußert einen Satz der deutschen Sprache
(„lokutionärer Akt“).
2) Indem er ihn (in einer bestimmten gesellschaftlichen Rolle in einer bestimmten Gesellschaft) äußert, vollzieht er die Handlung
eines „illokutionären Aktes“, der die geäußerten Worte in eine bestimmte Beziehung
mit der „Welt“ setzt: Er STELLT einen Sachverhalt FEST, er BITTET, er VERSPRICHT,
er DANKT u.a.
3) Dadurch, dass er das tut, sucht er beim
Zeicheninterpreten eine Wirkung hervorzurufen, die der hergestellten Beziehung
korrespondiert („perlokutionärer Akt“): Der
Zeicheninterpret soll z.B. den dargestellten
Sachverhalt glauben und davon überzeugt
werden, dass der dargestellte Sachverhalt
wahr ist; oder er soll der BITTE Folge leisten und die „Welt“ so verändern, wie es die
Äußerung der BITTE vorgibt.
Ein großes Problem in diesem Modell der Teilakte, das
die beiden Väter der Sprechakttheorie, John L. Austin
und John R Searle, aufgestellt haben, bilden die perlokutionären Teilakte, denn erst in ihnen wird, insofern an
ihrem „Glücken“ Zeichenproduzent und Zeicheninterpret
gemeinsam dialogisch beteiligt sein müssen, die Sprechhandlung zur sozialen Handlung im engeren Sinne – und
das wirft die Frage auf, wer für das Glücken des perlokutionären Teilakts zuständig ist. Austin rechnete die
konventionellen Folgen eines Sprechaktes zum illokutionären Teilakt und wies lediglich die nicht konventionellen Folgen und „Nachspiele“ zum perlokutionären
Teilakt. Dies scheint allerdings fraglich, denn gerade der
Fall ironischen Sprechens macht deutlich, dass die vom
Sprecher intendierten Folgen grundsätzlich nicht konventionell mit den geäußerten Sprechakten verknüpft sind:
Mit den Worten „Hier vorne geht sie unter/Und kehrt
von hinten zurück.“ kann man Humor ERZEUGEN und
dadurch TRÖSTEN, doch konventionell ist das nicht. Es
'bb' 106-4/2003
macht deshalb Sinn, in Bezug auf die Folgen illokutionären Handelns zwischen perlokutionären Versuchen (bzw.
Intentionen) des Sprechers und perlokutionären Effekten
beim Hörer zu unterscheiden (vgl. Holly 1979). Im Falle
der Ironie, und zumal im Falle der literarischen Ironie,
kommt noch hinzu, dass grundsätzlich ein doppelter
Adressatenbezug vorliegt. Zur Veranschaulichung diene
ein Beispiel aus Theodor Fontanes Roman „Der Stechlin“:
Der alte Stechlin berät mit seinem Diener Engelke, welche Gäste zu einem gesellschaftlichen Abend einzuladen
seien und sagt u.a.:
„Schlage was vor. Baron Beetz und der alte Zühlen, die
die besten sind, die wohnen zu weit ab, und ich weiß
nicht, seit wir die Eisenbahnen haben, laufen die Pferde
schlechter.“ (Theodor Fontane: Der Stechlin, in: Sämtliche Werke [...]. Hrsg. von Walter Keitel, Bd. 5, München
1966, 250)
Es gibt hier wenigstens zwei dialogische Strukturen: In
der fiktionalen Dialogstruktur nimmt der alte Stechlin
die Rolle des Sprechers, sein Diener Engelke die Rolle
des Hörers ein; die Äußerung des alten Stechlin soll auch
von Engelke als ironische Äußerung verstanden werden.
In der narrativen Dialogstruktur hingegen spricht der
Erzähler zum Leser und auch für diesen soll die Äußerung
als ironische Äußerung verständlich sein. Derlei Mehrfachadressierung ein und derselben Äußerung gehören
zum alltäglichen Dialogrepertoire; dabei erfüllt ein und
dieselbe Äußerung je Adressat grundsätzlich unterschiedliche Funktionen.
Indem der alte Stechlin zu seinem Diener sagt: „seit
wir die Eisenbahnen haben, laufen die Pferde schlechter“,
so macht er im wörtlichen Äußerungssinn eine FESTSTELLUNG. Eine FESTSTELLUNG gehört zur Gruppe der
repräsentativen Sprechakte, die – im Sinne des illokutionären Zwecks – dadurch gekennzeichnet ist, dass sich der
Zeichenproduzent darauf festlegt, dass die in der Äußerung enthaltene Aussage (Proposition) wahr ist, dass er
dies auch glaubt und dass er – das wäre dann die perlokutionäre Intention – den Zeicheninterpreten davon überzeugen möchte, dies zu glauben.
Der perlokutionären Intention entspricht auf der Seite
des Zeicheninterpreten der perlokutionäre Effekt (vgl.
Holly 1979) – was nicht heißt, dass perlokutionäre Intention und perlokutionärer Effekt im konkreten Fall einander korrespondieren müssen – wie jeder weiß, der es trotz
aller Mühe nicht vermocht hat, jemanden zu überzeugen.
Das liegt darin begründet, dass der perlokutionäre Effekt
vom Sprecher kaum zu steuern ist. Während nämlich zwar
der konventionelle Effekt einer FESTSTELLUNG in der
Tat dahingehend beschrieben werden kann, dass der Zeicheninterpret (Hörer) dem Zeichenproduzenten (Sprecher)
glaubt, kann der Sprechakt auch eine ganz andere, nicht
intendierte, nicht konventionelle Folgewirkung zeitigen:
Engelke könnte, z.B., am Verstand des alten Stechlin
zweifeln oder aber, als Pferdeliebhaber, aufgrund der
Äußerung Gegner des Eisenbahnwesens werden o.a. Was
schon oben im Zusammenhang mit der Sprachzeichen-
konstitution in Bezug auf die Ironie beobachtet werden
konnte, wiederholt sich hier: Die Ironie ruht auf dem Rahmen des konventionellen Zusammenspiels von Lokution,
Illokution und perlokutionärer Intention auf, wie es beispielsweise John R. Searle seiner Klassifikation von fünf
Sprechaktklassen zugrunde legt; sie überlagert diesen
konventionellen Rahmen allerdings durch einen zweiten
Rahmen, der einer perlokutionären Intention (z.B. „HUMOR ERZEUGEN“) des Sprechers folgt und den konventionellen illokutionären Zweck des Sprechaktes gleichsam
verbiegt, in eine andere Richtung steuert. Austin spricht
in diesem Zusammenhang davon, dass „der gewöhnliche
Gebrauch parasitär ausgenutzt“ wird (1979, 44), und dieser Einschätzung darf man wohl zustimmen. Festzuhalten
ist aber auch, dass „der gewöhnliche Gebrauch“ überhaupt erst vollzogen werden muss, um parasitär ausbeutbar zu sein. Das ist ja gerade der Grund dafür, weshalb
jede Äußerung grundsätzlich ironisch gemeint sein kann,
und weshalb es oft der metakommunikativen Klärung
bedarf, ob eine Äußerung ironisch gemeint war oder nicht.
Im Grundsatz können wohl alle illokutionär definierten
Sprechakttypen ironisch „parasitär ausgenutzt“ werden
(vgl. auch Lapp 1997, 99ff.):
 Repräsentativa, z.B. FESTSTELLEN: „Na,
das ist ja ein feines Wetter heute!“ (bei Sonnenschein/Regen),
 Direktiva, z.B. AUFFORDERN: „Setzen Sie
sich doch auf meinen Schoß!“ (zum Platznachbarn im Zug),
 Kommissiva, z.B. VERSPRECHEN (Mann
zur Frau) „Das nächste Kind bekomme ich.“,
 Expressiva, z.B. GRÜSSEN: „[Der Angestellte kommt anstatt um 8 Uhr morgens um 12
Uhr mittags. Der Chef sagt:] Guten Morgen.“
(Lapp 1997, 91),
 Deklarativa, z.B. TAUFEN: „Ich taufe dich
auf den Namen ,Thunderbird‘. [Den alten
Gebrauchtwagen] (Lapp 1997, 91).
Von der parasitären Ausbeutung durch ironische Verwendung betroffen ist mittelbar der propositionale Teilakt,
insofern der Sprecher, wie erwähnt, primär eine gegenteilige oder andere Proposition meint als er offenkundig
sagt; des Weiteren ist mittelbar betroffen der illokutionäre
Teilakt, insofern der Sprecher die „Redlichkeit“ (Austin)
bzw. die „Regeln der Aufrichtigkeit“ (Searle) des illokutionär vorgegebenen Zwecks der Sprachhandlung verletzt und „die Gültigkeit der gesamten Sprechhandlung
in Frage stellt“ (Lapp 1997, 95) – allerdings so, dass der
Hörer es erkennen soll. Der illokutionäre Akt ist gleichwohl nur mittelbar betroffen, da der Illokutionstyp keine
Veränderung erfahren muss. Unmittelbar betroffen scheint
mir einzig der perlokutionäre Teilakt, denn der Sprecher
verfolgt nicht die dem jeweils „gewöhnlichen Gebrauch“
eines konkreten Sprechakttyps korrespondierende perlokutionäre Intention (z.B. bei einer FESTSTELLUNG, dass
sie geglaubt wird; bei einem BEFEHL, dass er ausgeführt wird u.a.), sondern will erreichen, dass der Hörer
29
'bb' 106-4/2003
vom Gesagten auf das gegenteilig oder anders Gemeinte
schließt und darin den Ausdruck einer Einstellung des
Sprechers zum im propositionalen Teilakt ausgedrückten
Gegenstand/Sachverhalt und mittelbar auch zum Hörer
selbst erkennt. Diese abstrakte perlokutionäre Intention ist konventionell mit ironischer Rede verbunden; die
darüber hinausgehenden je konkreten perlokutionären
Intentionen, wie z.B. HUMOR ERZEUGEN, BELUSTIGEN,
VERÄRGERN hingegen nicht. Die konkrete ironische
Sprachhandlung ist auch deshalb zwar intentional, aber
nicht konventionell.
Aus diesem Grund kann die Ironie aus sprechakttheoretischer Sicht auch nicht als indirekter Sprechakt im engeren Sinne begriffen werden, also als Sprechakt, der im
Kleid der Illokution A die Illokution B vollzieht: Wer sagt:
„Können Sie mal langsam zur Kasse kommen?“ vollzieht
im Kleid der FRAGE eine AUFFORDERUNG, und wer
sagt: „Darf ich Sie nach dem Weg zum Bahnhof fragen?“,
vollzieht im Kleid der FRAGE1 („Darf ich Sie fragen?“) die
FRAGE2 („Welcher Weg führt zum Bahnhof?“). Im Falle
der Ironie jedoch wird nicht auf dem Rücken einer sekundären Illokution A eine primäre Illokution B vollzogen,
sondern sowohl die Proposition wie auch die Illokution
insgesamt werden um der perlokutionären Intention willen in Frage gestellt. Es ist deshalb auch nicht möglich,
von einer „ironischen Illokution“ auf eine „nicht-ironische
Illokution“ zu schließen. Indirekte Sprechakte dienen oft
der Höflichkeit, auch der Ökonomie; sie sind zu einem
Großteil konventionell bzw. gar idiomatisch, und dies
auch spricht dagegen, die Ironie sprechakttheoretisch
zu den indirekten Sprechakten zu stellen. Andererseits:
Wer unaufrichtig sein will, wird indirekte Sprechakte zu
vermeiden suchen, denn indirekte Sprechakte fordern
den Hörer zur Suche des Gemeinten im Kleid des Gesagten auf. Dies wiederum teilt die Ironie mit den indirekten
Sprechakten, denn der Zeichenproduzent beabsichtigt im
Falle ironischen Sprechens nicht, unaufrichtig zu sein,
sondern, wie erwähnt, in semantisch-pragmatischer Hinsicht das Gegenteil oder etwas anderes zu meinen als er
sagt, und das soll der Hörer erkennen.
Doch wie erkennt der Hörer dies? Indem einer sagt „seit
wir die Eisenbahnen haben, laufen die Pferde schlechter“,
macht er eine FESTSTELLUNG und legt sich, wie oben
erläutert, damit konventionell darauf fest, dass die in der
Äußerung enthaltene Aussage (Proposition) wahr ist, dass
er dies auch glaubt und dass er den Zeicheninterpreten davon überzeugen möchte, dies zu glauben. Der Zeicheninterpret soll hier jedoch schließen, dass dieser in der Form der
FESTSTELLUNG geäußerte Sprechakt nicht dem illokutionären Zweck und der konventionellen perlokutionären
Intention einer FESTSTELLUNG folgt.
Doch woher weiß er, dass es sich hier nicht um eine
FESTSTELLUNG der ausgedrückten Proposition handelt,
sondern um den Ausdruck einer bestimmten Sprechereinstellung, hier wohl mit der perlokutionären Intention, in
einer angespannten Situation Humor zu erzeugen? Woran
erkennt Engelke diese Seite der Sprechhandlung des alten
Stechlin, wo doch diese Äußerung nicht einmal non- oder
30
paraverbale „Ironiesignale“ bietet? Den Schlüssel zur
Erkenntnis der Ironie liefert wiederum das gemeinsame
„Welt“-Wissen: Engelke weiß, dass die satzsemantisch
temporale, hier genauer sogar kausale Verknüpfung der
beiden Satzinhalte: „Wir haben Eisenbahnen.“ und „Deshalb laufen die Pferde schlechter.“ keinem „Sachverhalt“
in der Realität entspricht; Menschen aus eisenbahn- oder
pferdefernen Kulturen, kleine Kinder oder andere mögen
hingegen dem wörtlichen Kleid der FESTSTELLUNG folgen und den „Sachverhalt“ glauben.
Der Sprachphilosoph H. Paul Grice hat einen Ansatz
vorgelegt, der noch genauer zu erklären vermag, weshalb
Engelke die Ironie des alten Stechlin versteht, und weshalb überdies ein Zeicheninterpret unter normalen Umständen ironische Äußerungen als solche versteht. Nach
dem Ansatz Grices sind indirekte Sprechakte in der Regel
„konventionelle Implikaturen“, das heißt, dass das, was
der indirekt Sprechende mit seiner Äußerung impliziert,
auf der Grundlage der konventionellen Wortbedeutungen,
grammatischen Strukturen und pragmatischen Indikatoren vom Hörer erschlossen werden kann. So gilt ein
Sprechakt, der dem Hörer eine vorausgegangene negative
Handlung bescheinigt, als VORWURF, auch wenn er im
Kleid der FRAGE daherkommt, wie im folgenden Cartoon
von Uli Stein:
Abb. 2
Ist dieser Schluss dem Hörer indes nicht möglich, ohne
dass er zusätzlich Annahmen über die Gesprächskooperation des Sprechers anstellen muss, so spricht Grice von einer „konversationellen Implikatur“. Es heißt „konversationelle Implikatur“, weil das, was der Sprecher impliziert,
nicht allein auf konventionellen Mitteln aufruht, sondern
dem Dialogko- und ‑kontext (also der „Konversation“)
entnommen werden muss. Ebenso wie beim indirekten
Sprechakt und im Unterschied zur Lüge intendiert der
Sprecher, dass der Hörer das Implizierte erschließt. Und
dies kann der Hörer, so Grice, wenn er die Äußerung des
Sprechers auf der Grundlage folgender Maximen prüft:
Jeder dialogischen Kommunikation liegt nach Grice ein
„Kooperationsprinzip“ zugrunde, das er im Anschluss an
Kants „kategorischen Imperativ“ formuliert (Grice 1979,
'bb' 106-4/2003
248ff.): „Gestalte deinen Gesprächsbeitrag so, dass er
dort, wo er im Gespräch erscheint, dem anerkannten
Zweck dient, den du gerade mit deinen Gesprächspartnern
verfolgst.“ Dazu gibt es nun vier Maximen, deren Befolgung mit dem Kooperationsprinzip harmoniert:
 1. Quantität: Mache deinen Gesprächsbeitrag so
informativ wie nötig.
Mache deinen Gesprächsbeitrag nicht
informativer als nötig.
 2. Qualität: Versuche, deinen Gesprächsbeitrag
so zu gestalten, dass er wahr ist.
Behaupte nichts, von dessen Wahrheit
du nicht überzeugt bist.
Behaupte nichts, wofür du keine
hinreichenden Beweise hast.
 3. Relation Sei relevant.
 4. Modalität: Sei klar.
Vermeide Unklarheit im Ausdruck.
Vermeide Mehrdeutigkeit.
Vermeide Weitschweifigkeit.
Vermeide Ungeordnetheit.
Grice hat gezeigt, dass und inwiefern man mit der Äußerung eines Satzes viel mehr kommunizieren kann,
als die wörtliche oder die konventionell „uneigentliche“
Bedeutung hergibt. Dazu missachtet der Sprecher eine
der Maximen offenkundig, hält sich aber an das Kooperationsprinzip und möchte, dass der Hörer die Missachtung
der Maxime bemerkt und daraufhin das Gemeinte schlussfolgert. Die offenkundige Missachtung einer Maxime ist
demnach typisch für das Entstehen einer konversationellen Implikatur. Zur Schlussfolgerung des Gemeinten
bezieht sich der Hörer auf





die konventionelle Bedeutung der Äußerung,
das Kooperationsprinzip und seine Maximen,
den sprachlichen und außersprachlichen Kontext,
weiteres Hintergrundwissen,
die Annahme, dass er selbst und der Sprecher alle
diese Punkte kennen.
Wenn beispielsweise der Beamte Meier auf der Dienstleitung ein Privatgespräch mit seiner Frau führt, plötzlich
aber sagt: „Ja, selbstverständlich, Frau Schmidt, die Formulare für die Steuererklärung werden Ihnen wie jedes
Jahr per Post zugestellt.“, so soll Frau Meier nicht am
Verstand ihres Gatten zweifeln, sondern etwa folgenden
Schluss ziehen:
Die konventionelle Bedeutung der Äußerung ist eine
Versicherung, dass mir die Formulare per Post zugestellt
werden. Mein Mann hat im Gespräch mit mir kooperiert,
und ich nehme an, dass er das auch während dieser
Äußerung tat. Sein Gesprächsbeitrag ergibt in unserem
Gespräch allerdings in der konventionellen Bedeutung
keinen Sinn und widerspricht der Maxime ,Sei relevant.‘
Mein Mann ist im Büro und hat mich vom Dienstapparat
während der Dienstzeit angerufen. Das ist nicht gestattet.
Er spricht mich plötzlich mit ,Frau Schmidt‘ an und sagt
mir Dinge, die in unserem Gespräch keine Rolle spielen.
Ich nehme also an, dass jemand sein Büro betreten hat
und er mich wissen lassen wollte, dass er aus diesem
Grund unser Gespräch beenden muss.
Ironie und Humor
Die Verletzung einer Maxime gilt bei Grice als Indiz für
die Berechtigung bestimmter Schlussfolgerungen. Die Ironie nun ist für Grice (1979, 258) ein Beispiel für Verstöße
gegen die Maxime der Qualität. Das heißt, dass für Grice
eine ironische Äußerung dadurch gekennzeichnet sein
soll, dass sie nicht der Wahrheit entspricht und dass der
Sprecher davon überzeugt ist, dass sie nicht der Wahrheit
entspricht und der Hörer dies erkennen soll. Grice folgt
damit vorrangig der Definition der Ironie als Äußerung
des Gegenteils des Gemeinten.
Also noch einmal: „Seit wir die Eisenbahnen haben,
laufen die Pferde schlechter.“ Der alte Stechlin und sein
Diener Engelke wissen beide, dass die Äußerung des alten Stechlin nicht der Wahrheit entspricht. Der alte Stechlin hat also gegen die Maxime der Qualität verstoßen.
Aufgrund dieses wechselseitigen Wissens kann der alte
Stechlin jedoch nicht beabsichtigt haben, seinen Diener
zu täuschen. Unter der Annahme, dass er zumindest das
allgemeine Kooperationsprinzip beachtet, muss Engelke
zu der Auffassung gelangen, dass der alte Stechlin etwas
ganz anderes gemeint hat, als er wörtlich gesagt hat. Weil
nun aber sein Hintergrundwissen – ebenso wenig wie das
des Lesers – keinen Zusammenhang zwischen der Erfindung der Eisenbahnen und der Laufgeschwindigkeit von
Pferden herzustellen vermag, kann man auch an diesem
Beispiel feststellen, dass die Ironie als Verletzung der Maxime der Qualität gar nicht notwendigerweise eines Wahrheitsbezuges bedarf. Sowohl Engelke wie auch der Leser
des Romans interpretieren das vom alten Stechlin Gemeinte vielmehr in humoristischem Sinne. Es werden hier
nämlich, wie in Witzen und anderen Formen des Humors
auch, zwei Rahmen zur Überlappung, mehr noch: in einen
kausalen Zusammenhang gebracht, dem keine Wahrheit
entspricht. Und sowohl der alte Stechlin als Zeichenproduzent wie auch Engelke und der Leser als Zeicheninterpreten wissen, dass dies der Fall ist. Die Verletzung
der Maxime der Qualität führt hier zur konversationellen
Implikatur; aber erst die Inkongruenz der „Welt“-Wissensrahmen – nämlich des gebotenen und des wahren – führen
dazu, dass es komisch wirkt. Diese Inkongruenz zwischen
dem („wahren“) Begriff und der (gegebenen) Anschauung
war bekanntlich schon für Schopenhauer die Ursache des
Komischen, vorausgesetzt freilich, dass die Inkongruenz
sich auf lebensweltlich Unbedeutendes bezieht, und in
der Tat sind es in der Regel Inferenzen, Normenbrüche,
Dissoziationen, Sinnüberschneidungen, Überlappungen
von inkompatiblen Rahmen, die dafür sorgen, dass etwas
als komisch empfunden wird. Das Grundmodell kann man
an jedem beliebigen Witz studieren, der in der Regel aus
Einleitung („Adam fragt Gott:“), Komplikation („,Warum
hast du Eva gemacht?‘ Gott: ,Damit du nicht so allein
bist!‘ – Adam: ,Warum hast du sie so schön gemacht?‘
31
'bb' 106-4/2003
Gott: ,Damit sie dir gefällt!‘ – Adam: Und warum hast du
sie so dumm gemacht?‘“) und Pointe („Gott: ,Damit du
ihr gefällst!‘“) besteht. In der Pointe überlappen sich die
beiden Rahmen, kommen die Handlungspläne der beiden
Partner zur Inkongruenz (vgl. dazu Ulrich 1980).
Humor ist insofern ein perlokutionärer Effekt, unter
anderem ein perlokutionärer Effekt ironischer Zeichenproduktion. Es ist – nicht erst, aber auch – seit Sigmund
Freuds Schrift über den „Witz und seine Beziehung zum
Unbewußten“ bekannt, dass das Lachen, wie das Weinen
auch, menschliche Ausdrucksformen sind, beide grundsätzlich psycho-motorische Vorgänge, die nicht steuerbar
sind. Das Phänomen des Humors ist damit durch und
durch dialogisch, und es ist, wie erwähnt, ein mögliches
Resultat ironischer Sprachzeichenproduktion. Festzuhalten ist deshalb, dass eine Entgegensetzung von wohlmeinendem, gutmütigen Humor und kaltherzig-spöttischer
Ironie nicht trifft. Die Ironie ist ein Werkzeug, Humor
eines ihrer Ziele. Seit der deutschen Romantik sind beide
eng aufeinander bezogen; bei Jean Paul heißt die Ironie
gar „epischer Humor“, und nach ihm haben viele das
Humoristische mit dem Ironischen zu verbinden gesucht
(vgl. Preisedanz 2000, 103). Daneben hat sich freilich der
Zweig der spöttischen, mitunter zynischen Ironie erhalten.
Fazit
Das Fazit der Annäherungen sei in Bezug auf einen
sprachpragmatischen „Ironie“-Begriff zunächst ex negativo gezogen: Ironie ist an keine bestimmte Form von
Sprachhandlungen gebunden; jede Sprachhandlung kann
ironisch (gemeint) sein. Grundlage der Erzeugung von
Ironie ist die Herstellung von Inkongruenzen, Sinnüberschneidungen zwischen einem konventionellen (erwartbaren, mithin normierten) „Welt“-Wissensrahmen und dem
sprachlich realisierten Rahmen, wobei es unterschiedliche
Mittel zur Herstellung dieser Inkongruenzen gibt (z.B. Inkongruenz para- und nonverbaler Signale mit der Pragmatik und Semantik des verbalen Textes; lexikalisch-semantische Inkongruenz von Wortbedeutungsmerkmalen und
Merkmalen des Referenzobjekts [z.B. Staubsaugerpilotin
,Reinigungskraft‘, Heizöl-Ferrari ,Mercedes‘]; Inkongruenz
zwischen Textsorte(nstil) und Textinhalt [z.B. „Das Wort
zum Sonntag“ von Otto Waalkes]).
Wird die Ironie so verstanden, kommt der Aspekt der
Kundgabe von Sprechereinstellungen heller zum Vorschein: Mit Hilfe einer ironischen Äußerung bringt der
Sprecher seine Einstellungen zu einem Gegenstand/Sachverhalt/einer Person und zugleich seine Beziehung zu der
Person, mit der er spricht, zum Ausdruck. Er nutzt dazu
allerdings nicht den illokutionären Teilakt, da sich Ironie
nicht als Sprechhandlungstyp gebrauchen lässt, sondern
verlegt die Funktion der ironischen Äußerung in den
perlokutionären Versuch, in den Bewirkungsversuch des
Sprechakts. Die Ironie bleibt damit ein Mittel der Rhetorik, der Kunst des wirkungsvollen Sprechens.
Ironie kann sodann nicht allein erklärt werden mit
Bezug auf die Wörtlichkeit/Nicht-Wörtlichkeit einer Äu-
32
ßerung (also bezogen auf die Proposition). „Man kann
wörtlich nicht-ernsthaft, oder aber nicht-wörtlich ernsthaft sein, ebenso wie man wörtlich oder nicht-wörtlich
aufrichtig oder unaufrichtig sein kann.“ (Lapp 1997, 159)
Ironie kann aber auch nicht allein erklärt werden als Doppelillokution, wie sie beim indirekten Sprechakt vorliegt.
Indirekte Sprechakte sind, wie oben festgestellt, zumeist
konventionell; die Ironie hingegen ist zwar eine intentionale Handlung, grundsätzlich aber nicht konventionell mit
bestimmten Handlungsmitteln verknüpft. Damit trifft für
die Ironie in einem weiten Sinne das zu, was John L. Austin über den perlokutionären Teilakt ausgesagt hat: „Perlokutionäre Akte sind [...] nicht konventionell; allerdings
kann man konventionelle Handlungen benutzen, um den
perlokutionären Akt zustande zu bringen.“ (Austin 1979,
137). Ein sprachpragmatisch gesättigter „Ironie“-Begriff
wird diese zu den perlokutionären Teilakten zu stellen
haben, das heißt zu den zwar mit Hilfe konventioneller
Mittel zu erzeugenden Sprachhandlungsteilakten, deren
Folgewirkungen und auch „Nachspiele“ indes mehr als die
lokutionären und illokutionären Teilakte auf die Mitwirkung des Hörers angewiesen sind. Und die Differentia
specifica zu anderen perlokutionären Teilakten (wie z.B.
ÜBERZEUGEN, BERUHIGEN u.a.) besteht eben darin,
dass der Sprecher, um Ironie zu erzeugen, das Gegenteil
oder anderes als das Gemeinte äußert, zwei „Welt“-Wissensrahmen ineinander verschränkt, deren Inkongruenz
der Hörer schlussfolgern muss.
Literatur
Austin, John L.: Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with
Words). Dt. Bearb. von Eike von Savigny. 2. Aufl. Stuttgart 1979.
Behler, E.: Ironie, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von
Gert Ueding, Bd. 4: Hu – K, Tübingen 1998, 599-624.
Grice, H. Paul: Logic and Conversation, in: P. Cole/J. L. Morgan (eds.):
Syntax and Seman­tics, Vol. 3: Speech Acts, New York, San
Francisco, London 1975, 41–58; dt.: Logik und Gesprächsanalyse, in: Paul Kußmaul (Hrsg. und Übers.): Sprechakttheorie. Ein
Reader, Wiesbaden 1980, 109-126.
3
GWb: DUDEN. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn
Bänden. 3., völlig neu bearb. und erw. Aufl. [...], Mannheim
[usw.] 1999.
Henne, Helmut/Rehbock, Helmut: Sprachzeichenkonstitution, in: Hans
Peter Althaus/Helmut Henne/Herbert Ernst Wiegand (Hrsg.):
Lexikon der germanistischen Linguistik. 2., vollständig neu bearb.
und erw. Aufl. Tübingen 1980, 151-159.
Holly, Werner: Zum Begriff der Perlokution. Diskussion, Vorschläge und
ein Textbeispiel, in: Deutsche Sprache 1979, 1-27.
Kilian, Jörg: Jurek Becker: Jakob der Lügner in: Renate Stauf/CordFriedrich Berghahn (Hrsg.): Weltliteratur. Eine Braunschweiger
Vorlesung, Bielefeld 2004, 449-467.
LaDaF: Langenscheidts Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache
[...], 6. Aufl. Berlin [usw.] 1997.
Lapp, Edgar: Linguistik der Ironie. 2., durchjgesehene Aufl. Tübingen
1997.
Müller, Wolfgang G.: Ironie, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft [...]. Hrsg. von Harald Fricke, Bd. II: H – O, Berlin,
New York 2000, 185-189.
Preisedanz, Wolfgang: Humor, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft [...]. Hrsg. von Harald Fricke, Bd. II: H – O, Berlin,
New York 2000, 100-104.
Searle, John R.: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, Frankfurt/M. 1971
Ulrich, Winfried: Der Witz im Deutschunterricht, Braunschweig 1980.
Weinrich, Harald: Linguistik der Lüge, 4. Aufl. Heidelberg 1970.
'bb' 106-4/2003
fachbeitrag: bibel und moderne gesellschaft
friedrich weber
Das Jahr der Bibel in 2003 hat unsere moderne Gesellschaft in vielen Bereichen neu motiviert, sich mit der
Bibel auseinander zu setzen. Schon lässt sich als Ertrag
festhalten, dass ein breiter Konsens in unserer Gesellschaft darin besteht, dass wir mit dem Kanon der Bibel
die literarischen Texte haben, die, wie nur wenig andere,
unsere kulturelle Gestimmtheit und unsere kulturellen
Prägungen bis in den heutigen Tag nachhaltig beeinflußt
und geprägt haben. Die entscheidenden, auch unserer
säkularen Gesellschaft zu Grunde liegenden Werte, wie
z. B. die Achtung vor der Natur, die Unantastbarkeit der
menschlichen Würde und die Formulierung der Menschenrechte, das Gebot der Solidarität und des Gemeinnutzes
vor dem Egoismus und dem Eigennutz, als auch die Verantwortung vor der Geschichte verdanken sich biblischen
Geschichten.
Der Mensch als Ebenbild Gottes begründet die Unantastbarkeit der Menschenwürde. Die von Gott geschaffene
Welt, die Schöpfung, die dem Menschen zum Bebauen und
Bewahren übergeben worden ist, begründet die Achtung
vor der Natur und der Ökologie mit ihren Zusammenhängen, und die Verantwortung vor Gott hängt elementar
zusammen mit der Verantwortung des Menschen vor der
Geschichte.
Das heißt, es gibt genügend Gründe sich auch in der
säkularen Kultur, auch in der modernen westlichen Welt
mit der Bibel zu beschäftigen, damit die Begründungszusammenhänge unserer tragenden Werte nicht verloren
gehen.
Bibel und Kultur
Die Bibel ist ein Grundtext unserer Kultur. Im säkularen
Kontext – z.B. in Museen, in der Sprache unserer Zeit,
in der Musik und Literatur – treffen wir auf Hauptmotive biblischer Geschichte: Schöpfung, Adam und Eva im
Paradies, Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies,
Sintflut und Arche Noah, Abraham und Isaak, die Geschichte Jakobs, Josef und seine Brüder, ägyptische Gefangenschaft, Moses, die 10 Gebote oder aus dem Neuen
Testament Mariäe Verkündigung und die Geburt Jesu, die
Heiligen drei Könige, das letzte Abendmahl, Christus am
Ölberg, Passionsgeschichte und Auferstehung!
Mit diesen und vielen anderen Texten hat die Bibel unsere
abendländische Kultur so stark und intensiv durchdrungen, wie nicht einmal das einzige Gegenstück, das in Frage käme, eine ebenso starke kulturelle Prägung ausgelöst
zu haben, nämlich die griechisch-lateinische Antike in der
Überlieferung von Homer bis Ovid.
Zeitgemäßheit der Bibel
Das hohe Alter der biblischen Überlieferung läßt die Bibel
beinahe zeitlos und anachronistisch erscheinen. Aber
gerade deshalb erweist sie sich immer wieder als höchst
zeitgemäß und hat in jeder Lebensphase Wichtiges und
Entscheidendes zu sagen. „Denn es ist ja nicht wahr,
dass unser Leben so völlig anders verläuft als zur Zeit
der Urgemeinde oder der Wüstenwanderung. Äußerlichkeiten haben sich dramatisch verändert. Unsere seelische
Wahrnehmung und Verstehensmöglichkeit jedoch greift
immer wieder auf Quellen zurück, die seit Jahrtausenden
kaum verändert worden sind. Geschwisterrivalität und
Familienkonflikte, Verliebtheit und Ehebruch, Zuspruch
der Menschenwürde, Rechtfertigung allein aus Gnade. Die
Bibel ist kein Besitz von Geistlichen und Schriftgelehrten,
sondern Allgemeinbesitz. Die Bibel lebt auf ihre eigene
Weise Besitzlosigkeit. Spätestens seit der Reformation
steht sie in der jeweiligen Muttersprache zur Verfügung,
hat unsere Muttersprache mit Gottes väterlicher Sprache
verbunden.“1 Die Texte sind in ihrer schriftlichen Fixierung zum Teil älter als 2000 Jahre, dennoch helfen sie,
das Leben zu verstehen und zu deuten, indem sie ihm eine
Tiefenperspektive geben. „Beachte“, sagt Luther, „dass
die Kraft der Schrift die ist: sie wird nicht in den gewandelt, der sie studiert, sondern sie verwandelt den, der sie
liebt, in sich und ihre Kräfte hinein.“ (WA 3, 397, 9 – 11)
Mit ihren Geschichten und Gestalten rührt die Bibel an die
Grundfragen unserer Existenz: An das Woher und Wohin,
das Warum und Wozu, an Grund und Ziel des Lebens. Man
denke an Figuren wie Kain und Abel, Hiob und Jona, Saul
und David, Judith und Dalila, Lazarus und Maria Magdalena, an den verlorenen Sohn oder den barmherzigen
Samariter. Sie alle sind Grundtypen und Symbolfiguren,
enthalten das Lebenswissen, die Menschheitserfahrung
gleichsam in verdichteter Form: Erkenntnisdrang und
Sündenfall, Familienzwist und Brudermord, Krieg und
33
'bb' 106-4/2003
Frieden, Macht und Recht, Liebe und Verrat, Glück und
Verzweifelung, Leiden und Sterben. In der Beschäftigung
mit diesen Figuren, ihrer Geschichte, ihrem Glauben kann
sich eigene Geschichte, eigenes Leben, eigener Glaube
erschließen.
Dialog zwischen Bibel und moderner
Gesellschaft
Wir alle wachsen unabhängig von unserer genuinen kirchlichen Verortung in einem Kulturisationsprozess auf, in
einem kulturellen Umfeld, das von den Geschichten und
Worten der Bibel bestimmt und geprägt ist. Zitate, Sinnsprüche und Bilder der Bibel sind in der Sprache allgegenwärtig. Auf einige sei hingewiesen:
Man isst vom Baum der Erkenntnis, man lebt nicht
vom Brot allein, man wirft Perlen vor die Säue oder
wäscht seine Hände in Unschuld, Philister und Pharisäer,
Kainszeichen und Judaskuss, babylonische Verwirrung
und Abrahams Schoß, alt wie Methusalem, keusch wie
Josef, nackt geboren wie Adam und weise wie Salomo. Die
Liste ließe sich beliebig verlängern. Und nicht zuletzt, das
ist meine Erfahrung aus meiner Zeit als Gemeindepfarrer,
gibt es noch immer viele Menschen, die in ihrem Leben einen treuen biblischen Begleiter haben, ein Bibelwort, ausgesprochen zur Taufe, zur Konfirmation oder zur Trauung.
Die kulturelle Verankerung biblischer Bilder und Geschichten in uns ist nicht zu bestreiten. Dennoch weiß ich
natürlich auch, dass diese anonyme, gleichsam unterirdische Tradition zwar in den Menschen der modernen
Gesellschaft präsent ist, aber von vielen nicht mehr als
biblisch verortet und identifiziert wird. Keine Zeit hat
wahrscheinlich so bibelkenntnislos und bibelfern gelebt
wie unsere Epoche. Um so wichtiger ist daher der Dialog
zwischen Bibel und moderner Gesellschaft. Dies um so
mehr, als die biblischen Defizite Seite an Seite mit einem
allgemeinen klassischen Bildungs- und Traditionsverlust
stehen. „Der oft beschworene Bildungskanon existiert
nicht mehr und mit ihm ging auch seine Grundlage, die
Kenntnis der antiken, speziell der biblischen Welt, ihrer
Sprache und Mythen, ihrer religiösen und sozialen Ordnung verloren. Kaum noch kann vorausgesetzt werden,
dass ein Schulabsolvent weiß, wer Odysseus, Antigone,
Ödipus oder Elektra gewesen sind. Wie sollte er dann wissen, was es mit Abraham und Isaak, Jakob und Josef oder
auch mit Lazarus und Pilatus auf sich hat. Umgekehrt,
wer den Turm von Babel nicht kennt, wird auch vom
„goldenen Vlies“ nichts wissen wollen. Wem die Namen
Judith und Dalila nichts sagen, kann auch mit Medea und
Kassandra wenig anfangen. Mit einem Wort, es geht hier
nicht allein um ein Problem der Kirchen und des Christentums, sondern um ein Problem unserer Kultur“.2
Es geht eben nicht nur um die Frage nach der Zukunft
der Kirche, sondern es geht auch um die Frage, ob unsere
Gesellschaft in der Lage ist, die sie prägenden Bilder,
Symbole und Texte noch zu verstehen, zu entschlüsseln
und zu deuten. Ob sie in der Lage ist zu begreifen, welche
34
Wertsubstanz ihr verloren geht, wenn sie sich endgültig von der abendländischen, insbesondere auch der
christlichen Kultur verabschiedet und sie dem Vergessen
preisgibt. Und es geht dann auch um die Frage, welche
Ideologie, welche anderen Symbole und Texte sich in
diese Leerstelle einnisten werden und in den Köpfen und
Herzen der Menschen von morgen regieren werden.
Bibel und Naturwissenschaften
Wer aber die Bibel in der modernen Gesellschaft neu auf
die Tagesordnung setzen möchte, muss noch einen Schritt
weiter gehen. Die Bibel muss sich auch im Verhältnis zu
den Wissenschaften verorten, denn nichts hat so nachhaltig das Leben der Menschen in der Neuzeit bestimmt, wie
die Erkenntnisse und die Tagesordnung der Wissenschaften. Während die Geistes- und Sozialwissenschaften von
der Anlage und Struktur her als hermeneutische Wissenschaften dem biblischen Denken verwandter sind, ist
durch die Jahre hindurch immer wieder neu der Gegensatz
zwischen Bibel und Naturwissenschaft betont worden.
Kreationisten und andere biblische Fundamentalisten haben ihren Teil dazu beigetragen, die Fronten zu verhärten
und auch die Naturwissenschaft zu verunglimpfen.
Der konstruktive Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft ist aber zwingend notwendig. Das biblische
Weltbild und die moderne Naturwissenschaft werden
immer noch gegeneinander ausgespielt, da das mythische nicht aufgeklärte Welt- und Menschenbild der Bibel
angeblich nicht mit der aufgeklärten und der Vernunft
zugänglichen Welt der Naturwissenschaft vermittelbar ist.
Stimmt dieser Widerspruch? Natürlich hat sich zugegebenermaßen die Naturwissenschaft in ihren Anfängen
gegen das biblische Weltbild durchsetzen müssen. Aber
gleichzeitig hat der biblische Schöpfungsglaube naturwissenschaftlichen Erkenntniswillen gefördert. Denn das
biblische Weltbild, gerade in den Schöpfungsberichten,
ist der erste Versuch der Vernunft, des Logos, die Welt zu
begreifen und dem Menschen einen Platz in ihr anzuweisen. Der erste Schöpfungsbericht, der die Erschaffung
der Welt in sechs Tagen schildert, beinhaltet eine Art von
Evolutionslehre in mythischer Form, bei der, ebenso wie
in der modernen Evolutionslehre, der Mensch am Ende
der Evolution auftritt und, so wird es deutlich im zweiten Schöpfungsbericht formuliert, die Verantwortung für
diese Welt, sie zu bebauen und zu bewahren, übertragen
bekommt. An einer Stelle ist die Bibel in ihrer Erkenntnisschärfe der modernen Naturwissenschaft sogar überlegen.
Die Naturwissenschaft kann den Menschen mit all ihrem
Wissen keinen wert- oder sinnvollen Platz in dieser Welt
anbieten und ihm sagen, worin die Qualität, die Güte, der
Sinn seines Lebens besteht. Der Bibelwissenschaftler
Gerd Theissen schreibt: „Naturwissenschaft beschränkt
sich asketisch auf das, was der Fall ist und blendet aus,
was dabei wert- oder sinnvoll sein könnte. Wir können
daher wohl mit all unserem Wissen die Natur weit besser
erkennen als die Verfasser des biblischen Schöpfungsbe-
'bb' 106-4/2003
richts, aber wir können mit ihm nicht jenen Satz formulieren, der den biblischen Schöpfungsbericht als Refrain
durchzieht: Und Gott sah, dass es gut war.“3
Biblische Ethos als kritisches Potential
Die Bibel und die moderne Gesellschaft sind also rein
formal durch die Wissenschaftsgeschichte und die Entwicklung unserer modernen Wissenschaften verbunden.
Zugleich beinhaltet die Bibel die kulturellen Grundinformationen, die wir brauchen, um unsere Welt verstehen,
deuten und interpretieren zu können. Zuletzt brauchen wir
den Dialog von Bibel und Naturwissenschaft, weil die moderne Naturwissenschaft etwas Entscheidendes verloren
hat, nämlich die Deutung der Welt als etwas Wertvolles
leisten zu können. Die Basis des Dialogs zwischen Bibel
und Naturwissenschaft besteht dann darin, dass Gott die
Welt so geschaffen hat, dass sie in sich die Fähigkeit zu
einer immer höheren Entwicklung im Prozess der Evolution trägt. Die sieben Tage des Schöpferhandelns Gottes
sind dann Ausdruck des Versuches, die Jahrmillionen
der Evolution in menschenzugängliche Zeithorizonte zu
übersetzen. Der Dialog zwischen Bibel und Naturwissenschaft ist natürlich nicht hinreichend darin beschrieben,
wenn unser Ziel nur im Aufweis von Gemeinsamkeiten
von Grundlagen für den Dialog bestehen würde. Es gibt
auch Momente, wo mit der Bibel gegen die Gesetze der
Naturwissenschaft – auch gegen die Regeln der Evolution – andere Prinzipien zu ihrem Recht gebracht werden
müssen. Wenn das Gesetz der Evolution darin besteht,
das Schwache, das nicht gut Angepasste aus der weiteren
Entwicklung auszuschalten, so besteht das Prinzip der
Bibel dagegen im Antiselektionismus. Dem Selektionsprinzip wird in der Bibel mit dem Barmherzigkeitsprinzip
widersprochen. Die Bibel ist ein Aufbegehren gegen das
Selektionsprinzip, das die Schwachen und Unangepassten
ausscheidet. Damit prägt das biblische Ethos unsere Kultur bis zum heutigen Tage.
Die moderne Welt, die nur der Wissenschaft vertraut,
kann aus sich selbst keine Argumente dafür geben, den
Alten ein gutes Leben zu ermöglichen, Behinderten einen
Platz in unserer Gesellschaft zu eröffnen und sich um die
Kranken zu kümmern. Insofern hängt das Gelingen der
menschlichen Kultur daran, dass die Botschaft der Bibel
in ihr Recht gesetzt wird und Menschen nicht nur den
Wissenschaften, sondern auch der Bibel vertrauen. Zu
Recht schreibt Peter Noll: „Man kann die Bibel aufschlagen, auf welcher Seite man auch will, immer stimmt sie
nachdenklich und regt zu einem Denken an, das weiterführt, als das rein operationale.“4 Und beim Lesen in der
Bibel wird man immer wieder entdecken, dass der biblische Gott einer ist, „der sich gerade derjenigen erbarmt,
die das Selektionsgesetzt ständig ins Nichts wirft.“5 Die
Evolutionstheorie der modernen Naturwissenschaft kann
dem einzelnen Menschen keinen Platz, keinen Sinn anbieten. Ganz anders wird dagegen der biblische Gott in seiner
Menschenfreundlichkeit und in seiner Zugewandtheit zum
Einzelnen beschrieben: „der Allmächtige selbst übernimmt
die Rolle des Schwächsten, des Verachtesten, des schließlich Gehängten und erklärt sich damit solidarisch mit all
denjenigen, die die Evolution nicht überstanden, die unter
ihre Räder gekommen, von ihr über das Selektionsprinzip
ausgemerzt worden sind.“6
Zur biblischen Hermeneutik
Bibel und moderne Welt: wir stehen am Anfang eines neuen Dialogs, der für beide Seiten von Gewinn sein wird. Im
zurückliegenden Jahr der Bibel 2003 haben wir in zahlreichen Veranstaltungen genauso wie in ganz persönlicher
neuer Zuwendung den Schatz, der uns mit der Bibel geschenkt ist, neu zu entdecken begonnen. Die Bibel ist voller Geschichten des Lebens und gerade in Situationen, in
denen uns die Worte fehlten und in denen auch keine Worte aus der sonstigen Literatur hilfreich waren, schenken
uns zum Beispiel die Psalmen Worte, die Menschen in der
Tiefe berührten. Wir haben aber auch erlebt und erleben
es im Augenblick in der Debatte um die Segnung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften äußerst schmerzlich,
dass sich in der Auslegung der Schrift Gräben in unserer
Kirche öffnen, die ich für überwunden gehalten habe. Wir
alle sind durch das Feuer der hermeneutischen Fragen
gegangen und mussten Antworten auf Fragen finden, wie
zum Beispiel die Schöpfungsgeschichte und die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften zusammengehen
können. Wir haben gelernt, dass die Bibel – Gottes Wort
– uns in der Gestalt menschlicher Worte begegnet, eingebettet in bestimmte soziokulturelle und zeitgeschichtliche Verhältnisse, von deren Ethik, zum Beispiel in der
Bewertung der Rolle der Frauen, auch wenn sie als Worte
in der Bibel stehen, wir uns dennoch zu Recht abgrenzen. Und gerade weil wir das wissen, wird die Auslegung
der Schrift nicht zu einem beliebigen Verfahren, sondern
muss sich an wenigen übergeordneten Kriterien orientieren.7 Sie wissen um Luthers „was Christum treibet“ als
Unterscheidungsmerkmal. Sie wissen um den Unterschied
zwischen Gesetz und Evangelium und Sie wissen darum,
dass die Kernbotschaft, an der sich alles andere auszurichten und zu messen hat, die von der Rechtfertigung
des Gottlosen allein aus Gnaden ist. Das ist die Mitte der
Schrift, von der her wir die Bibel lesen und deuten lassen
müssen. Im Umgang mit der Heiligen Schrift sind wir also
nicht ermächtigt, deduktiv Urteile aus biblischen Texten
abzuleiten, sondern die Bibel will nach dem Prinzip „was
Christum treibet“ unseren Urteilsbildungsprozess bestimmen. Dieser bildet sich darin aus, dass wir auf der Suche
nach der Wahrheit geschwisterlich beieinander bleiben
und Wahrheit und Einheit nicht gegeneinander ausspielen
werden dürfen. Wahrheit verlangt Auseinandersetzung,
das Leben verlangt, beieinander zu bleiben in der Liebe,
in Christus. Das ist die Botschaft der Heiligen Schrift, wie
sie uns in Jesus Christus anvertraut ist.
35
'bb' 106-4/2003
Die Bibel im Lessingjahr
In dieser Situation ist es gut, an einen Mann zu erinnern,
der am 22. Januar 1729 geboren wurde, dessen 275. Geburtstag wir in diesem Jahr gedenken und der in unserem
Braunschweiger Land, besonders in Wolfenbüttel, gewirkt
hat, Gotthold Ephraim Lessing. Er hat in seiner Zeit
scharfsinnig die geistige Problemlage durchschaut:
Es ging um die Spannung zwischen einem Totalanspruch der Vernunft und einem Bibelfundamentalismus,
der sich auf Offenbarung berief und den Gehalt der
biblischen Schriften als historische Wahrheit verstand,
die gehorsam zu glauben seien. In dieser Situation hatte
Lessing von Wolfenbüttel aus Texte, damals Fragmente
genannt, des radikalen Aufklärers Reimarus aus Hamburg
veröffentlicht. Reimarus wollte die Wundergeschichten
der Bibel, weil sie der Vernunft widersprächen, als Lüge
entlarven. Lessing verschärfte damals den Streit, um die
geistige Problemlage zwischen Aufklärungstheologie, die
alles vor der Vernunft verantworten wollte, und einem
kirchlichen bibelfundamentalistischen orthodoxen Glauben in einen Dialog zu bringen. Zwischen einer Theologie
der Aufklärung, für die Gott nur noch ein erster Verursacher, aber sonst von keiner Bedeutung ist und einem
Offenbarungspositivismus, der jedes Wort in der Bibel
direkt als Gottes Wort kennzeichnet, hat Lessing sich
positioniert.
In einem Brief beschrieb er die beiden damaligen Positionen sarkastisch: „Und was ist die andere, unsere neumodische Theologie gegen die Orthodoxie als Mistjauche
gegen unreines Wasser“.
Es ist gut, dass wir uns in diesem Jahr besonders an
Lessing erinnern werden. Es ist gut, im Umgang mit der
Bibel aber auch für die Frage der Gestaltung unserer Kultur und unseres Zusammenlebens. Denn wir können bei
Lessing lernen, dass eine Verabsolutierung der Vernunft,
die alle Wirklichkeit steuern und das Leben meistern
will, zum Scheitern verurteilt ist. Nach Lessing endet ein
Wille, der die geschichtliche Realität unter das Joch der
Rationalität zwingen möchte, im Terror. Zugleich können
wir von Lessing lernen, dass ein religiöser Glaube, der die
religiöse Wahrheit als historische Fakten behauptet, das
Gewissen und das Leben der Menschen terrorisiert. Insofern ist Lessing immer Gegenpol für jede Art von Fundamentalismus und überzogenem Rationalismus.
Für mich folgt daraus, dass wir in der Auseinandersetzung mit der Bibel lernen können, dass wir die Wahrheit
über das Leben nicht haben. Weder im Griff der Vernunft,
der Rationalität noch im bloßen Fürwahrhalten christlicher Glaubensaussagen. Wahrheit ist Begegnung in Personen. In der Rede von Christus, wie sie uns in der Heiligen Schrift überliefert ist, begegnet uns die Wahrheit in
Person. Gott begegnet uns als Mensch und damit in einer
Art und Weise, die wir verstehen können. Die Begegnung
mit der Wahrheit in Christus zeigt uns zuallererst, wer wir
vor Gott sind, und diese Wahrheit ist etwas anderes als
das Bild, das wir von uns selber haben. Die Wahrheit des
Evangeliums über uns ist schmerzlich, aber auch heilsam,
36
denn sie zieht uns weg aus der Verkehrung immer mehr
zu uns selbst hin. So gibt es denn im Blick auf das Wort
„Bibelkritik“ viele Gründe, darunter nicht nur unsere
Kritik an der Bibel zu verstehen, sondern die Kritik der
Bibel an uns. Eine Kritik, die mir aus den biblischen Texten zuwächst und in mir die Erkenntnis reifen lässt, dass
ich mich nicht mir selbst verdanke noch mich geschaffen
habe, sondern dass ich von Gott als endliches und geschaffenes Wesen konstituiert bin und in dieser Abhängigkeit von Gott meine Freiheit begründet ist. Für eine solide
Zukunft unserer gesellschaftlichen Entwicklung haben
wir keine bessere Grundlage als die biblische Überlieferung. Lassen sie uns gemeinsam an dieser Bibel des Alten
und des Neuen Testamentes festhalten und gemeinsam
miteinander, aber auch mit der Bibel um Wahrheit für unser Leben ringen. Das Kapitel „Die Bibel und die moderne
Gesellschaft“ hat gerade erst angefangen. Lassen sie uns
dieses Buch mit Fleiß und Enthusiasmus weiterschreiben.
Bemerkungen
1
2
3
4
5
6
7
Michael Schiebilski, Bibel im kulturellen Gedächtnis, epd-Dokumentation 47/2003, S. 13
Hanjo Kesting, Bibel im kulturellen Gedächtnis, epd-Dokumentation 47/2003, S. 21
Gerd Theissen. Zur Bibel motivieren. Gütersloh 2003, S. 38 f
Peter Noll, Diktate über Sterben und Tod, München 4. Auflage S.
215
Peter Noll, S. 153
Peter Noll, S. 156 f
Oswald Bayer, Martin Luthers Theologie, Tübingen 2003, S. 74
f: Damit ist der Maßstab – der „Kanon“ – gesetzt für das, was
Wahrheit schlechthin ist, was wahrhaft neu ist und nie wieder
alt wird. Dieses ewig Neue hat einen Namen: Jesus Christus.
Darin „stimmen alle rechtschaffenen heiligen Bücher überein,
dass sie allesamt Christum predigen und treiben. Auch ist das
der rechte Prüfstein, alle Bücher zu beurteilen: zu sehen, ob sie
Christum treiben oder nicht, da alle Schrift Christum zeiget, Röm
3 (,21) und der Heilige Paulus nichts als Christum wissen will,
1Kor 2 (,2). Was Christum nicht lehrt, das ist nicht apostolisch,
selbst wenn es der Heilige Petrus oder der Heilige Paulus lehrte.
Wiederum, was Christum predigt, das ist apostolisch, selbst
wenn es Judas, Hannas, Pilatus und Herodes täte“. Hier wird die
Grenze, die christliche Theologie von einem Bibelfundamentalismus trennt, in aller Klarheit sichtbar. Schärfer als Luther kann
man das inhaltliche, sachliche Kriterium – im Unterschied zu
einer Formalisierung der Schriftautorität – nicht herausstellen.
Worin und wie die biblischen Schriften „Christum treiben“ und
was der „rechte Prüfstein, alle Bücher zu beurteilen“, also der
Maßstab der Kritik ist, das wird des näheren durch die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium bestimmt: „Es ist eine
schlimme Gewohnheit, dass man die Evangelien und die Briefe
als Gesetzbücher ansieht, worin man lernen soll, was wir tun
sollen, und worin uns die Werke Christi nicht anders als das
Vorbild vor Augen gestellt werden. Wo nun diese irrige Meinung
im Herzen bleibt, da kann weder Evangelium noch Brief nützlich
und christlich gelesen werden; es bleiben lauter Heiden wie
zuvor.“ Kurz: Das evangelische Verständnis der Mitte der Schrift
bestimmt das Verständnis der Schriftautorität überhaupt. Das gepredigte und mündlich widerfahrende Wort der Schrift ist nichts
anderes als Jesus Christus in seiner Gegenwart; er ist gegenwärtig im Evangelium als Zusage und Gabe, unterschieden vom
Gesetz.
'bb' 106-4/2003
fachbeitrag: wiederkehr der erziehung?
zu lebenswelten jugendlicher und (religions-)
pädagogisch notwendigen perspektiven heute
hans-martin gutmann
1. Keine Jugend mehr?
Sieht man auf die Ergebnisse der jüngsten 14.Shell-Jugendstudie 2002, so könnte man den Eindruck haben,
dass „Jugend“ und „Jugendkultur“ als spezifische, von
der Erwachsenenkultur unterschiedene, vielleicht sogar
in Opposition zu ihr stehende Lebensgefühle und Sozialformen verschwinden. In den Zusammenfassungen der
Ergebnisse dieser Studie heißt es beispielsweise: Die heutige junge Generation blickt wieder optimistisch auf ihre
persönliche Zukunft. Neben „tollem Aussehen“, „Markenkleidung tragen“ und neuer „Technik“ (Internet, Handy
etc.), werden Orientierungen wie „Karriere machen“,
andererseits aber auch persönliche „Treue“ als absolut
„in“ bezeichnet. Sich „in die Politik einzumischen“ ist hingegen „out“, was allerdings nicht heißt, dass die Jugendlichen nicht gesellschaftlich aktiv sind. Diese Einstellung
der Jugend geht, so interpretieren die Autoren der Studie,
auf einen grundlegenden Wertewandel hin zu einer „neuen
pragmatischen Haltung“ zurück. Die Jugendlichen orientieren sich an konkreten und praktischen Problemen, die
für sie mit persönlichen Chancen verbunden sind. Dafür
zeigen sie heute wieder in erhöhtem Maße persönliche
Leistungsbereitschaft („Aufsteigen statt aussteigen“).
Nach der gerade veröffentlichten Jugendstudie 2003 des
Bundesverbandes deutscher Banken (BdB) wird dieses
Bild noch einmal radikalisiert.1 Danach sehen 72 Prozent
der Befragten m Alter zwischen 14 und 24 Jahren positiv
in die Zukunft – gegenüber 65 Prozent bei den Erwachsenen. „Statt Null-Bock-Stimmung herrscht jetzt in der
jungen Generation Leistungsbereitschaft, heißt es. 90
Prozent der Jugendlichen sind laut Umfrage mit ihrem
Leben zufrieden. 97 Prozent der Jugendlichen ist es wichtig oder sehr wichtig, sich in ihrem Leben etwas leisten
zu können. Und sie sind sparsam – 64 Prozent geben an,
dass Sparen für sie wichtig ist.“
Vergleicht man diese Ergebnisse und auch die der neuesten Shell-Studie mit den Vorgänger-Untersuchungen, so
werden die Unterschiede schnell deutlich. Selbst schon
im Fünf-Jahres-Abstand: Nach der 12. Shell-Jugendstudie
„Jugend ‚97‘„ beschäftigen die Jugendlichen am stärksten die Pro­bleme der Arbeitswelt, nicht die klassischen
Lehrbuchprobleme der Iden­titätsfindung, Partnerwahl
oder Verselbständigung. Die Jugendlichen äu­ßern in dieser Untersuchung vor allem die Sorge, dass die Massenarbeitslosigkeit, der Lehrstellenmangel, der Sozialabbau
und die Verarmungsprozesse insgesamt von der Politik
nicht angegangen werden und dass in absehbarer Zeit Lösungen nicht zu erwar­ten sind. Ein weiteres empirisches
Ergebnis dieser Studie war, dass Jugendliche den ‚klas-
sischen Institutionen‘ kaum Vertrauen entgegenbringen.
Den schlechtesten Vertrauensbonus überhaupt haben politische Par­teien, kaum weniger die Bundesregierung und
der Bundestag. Es gab allerdings bei der Befragung 1997
bei vielen Jugendlichen, und zwar unabhängig von der
Bildungsstufe, ein hohes Interesse und ein großes Wissen
um politisch-gesellschaftliche Probleme, gerade um soziale Probleme wie Armut und Arbeitslosigkeit und um ökologische Krisensituationen. Das relativ höchste Vertrauen
genießen nach der 1997er Studie bürgerschaftliche Organisationen wie Umweltschutzgruppen, Menschenrechtsgruppen und Bürgerinitiativen. Jugendliche engagieren
sich dann in sozialen und politischen Zusammenhän­gen,
wenn beispielsweise Freunde mitmachen, oder ‚weil es etwas anderes ist, als ich in der Schule/im Betrieb mache‘,
‚weil mir keiner Vorschriften macht‘.
Geht man zeitlich noch weiter zurück, ist der Unterschied
noch offensichtlicher. Gegenüber der Shell-Jugendstudie
von 1981, die in der öffentlichen Diskussion sehr intensiv
wahrgenommen wurde, hat es insofern eine signifikante
Veränderung gegeben, als gegenwärtig die Lebensstile in
der ‚Jugendkultur‘ zunehmend ihre Bedeutung und Vision einer ‚besseren‘ und jugendgemäßeren Gesellschaft
verlieren, wie dies nach der 1981er Studie der Fall war.
Jugendkul­turen werden heute in der Regel nicht mehr wie
noch zu Beginn der 80er Jahre als Gegenentwürfe und
geschlossene Abgrenzungen, auf lange Zeit praktizierte
lebensweltli­che und lebensgeschichtliche Muster entwickelt. Ganz im Gegenteil. Nach der Shell-Untersuchung
von 2002 räumen die Jugendlichen der Familie einen
hohen Stellenwert ein. Rund drei Viertel der Jugendlichen
zwischen 12 und 25 Jahre wohnt noch bei der Herkunftsfamilie. Fast 90% der Jugendlichen geben an, dass sie
mit ihren Eltern gut klar kommen, auch wenn es ab und
an einmal Meinungsverschiedenheiten gibt. Knapp 70%
– und damit deutlich mehr, als in früheren Shell Jugendstudien – würden oder wollen ihre Kinder genauso oder
wenigstens ungefähr so erziehen, wie sie selber von ihren
Eltern erzogen worden sind. Alles in allem zeigt sich
demnach zwischen den familiären Generationen ein hohes
Maß an Akzeptanz und Übereinstimmung.
Man könnte sich angesichts dieser Ergebnisse zu der
Frage provoziert fühlen: Verschwinden „Jugend“ und
„Jugendkultur“ als gegenüber der Erwachsenenkultur
unterschiedene, möglicherweise sogar oppositionelle
Lebensgefühle und soziale Lebenswelten? Ich denke,
man wird erhebliche Überraschungen erleben, wenn man
so denkt. Hans-Heinrich Muchow beispielsweise, ein in
Hamburg lebender Lehrer und Jugendtheoretiker, meinte
in seiner Anfang der 60er Jahre erschienen Untersuchung
37
'bb' 106-4/2003
beispielsweise mit Blick auf das in Helmut Schelsky’s
Buch „Die skeptische Generation“ erhobene Lebensgefühl
der Jugendlichen in den fünfziger Jahren, es gebe Jugend
im emphatischen Sinne nicht mehr. Wir wissen, dass diese
These in den Jahren nach 1968 einigermaßen klar widerlegt wurde, eine Epoche, die für das Lebensgefühl für die
meisten Jugendlichen heute wahrscheinlich genauso weit
weg ist wie der 30jährige Krieg. So oder so: Muchow
hat gerade in seiner Untersuchung ein Instrumentarium
der Interpretation entwickelt, das ihn vor solchen ebenso weitreichenden wie voreiligen Schnellschüssen hätte
bewahren können. Gerade seine Theorie des Jugendalters
macht es nämlich möglich, einigermaßen sicher vorherzusagen, dass die Dinge in spätestens einem Jahrzehnt,
von heute aus gerechnet, wieder sehr viel anders liegen
werden als heute.
Muchow2 sieht „Jugend“ als historisches Phänomen
an: im „Sturm und Drang“ der Romantik, in der 2.Hälfte
des 18.Jahrhunderts entsteht „Jugend“ als Le­bensphase
mit einem spezifischen Lebensgefühl, das sich deutlich
von anderen Lebensphasen unterscheidet. Seine These
ist, dass von der Entstehungszeit einer abgegrenzten, von
anderen Altersklassen unterschiedenen „Jugend“ in der
zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts an eine Bewegung von
„Herausforderung und Antwort“ einsetzt: eine Jugendgeneration, die sich durch ein emphatisches, vorwärtsdrängendes, revolutionäres Lebensgefühl auszeichnet, wird
von einer tendenziell eher angepassten, aufstiegsorientierten Jugendgene­ration abgelöst. Es handelt sich um ein
Schema von „challenge“ und „response“: Sind die „revolutionären“ Jugendlichen zur Erwachsenengeneration
geworden, so antwortet die neue Jugend­generation mit einem eher angepassten Lebensgefühl, und umgekehrt. In
der Auseinandersetzung von Jugend und Zeitgeist, nämlich der „Auseinandersetzung der Eigenkräfte der Jugend
mit den sozia­len Zwängen ihrer Zeit“ (ebd., S.165) folgt
auf eine Generation von Jugendlichen, die sich gegenüber
diesen Zwängen durchsetzen und ein Lebensgefühl sowie
Ausdrucksformen spezifischen Charakters entwickeln
können, jeweils eine Generation von Jugendlichen, die
schlicht als Marionette des Zeitgeistes begriffen werden
müssen. – Prophetische Worte, was das aktuelle Lebensgefühl von Jugendlichen heute angeht? Wir werden sehen.
2. Die Grenzen der Inividualisierungsthese
Wirft man einen kurzen Blick auf die Untersuchungsergebnisse der Shell-Jugendstudie „Jugend 2000“, die
gerade am Verhältnis „Jugend und Religion“ sehr interessiert war, so wird man feststellen, dass die hier abgefragten Items, die über religiöse Bindung der Jugendlichen
Auskunft geben sollen, eine signifikante Schwächung in
der letzten zehn Jahren anzeigen.3 Insgesamt findet sich
bei Jugendlichen heute eine galoppierend zunehmende
Entfremdung von Lebensvollzügen der ausgearbeiteten
Religionsgestalt institutionalisierter Kirchlichkeit. Interessant sind einige Korrelationen zu anderen Feldern,
beispielsweise: „Wer betet, gehört eher einem Verein oder
einer Organisation an, interessiert sich eher für Politik
und für die Diskussion über die europäischen Einigung,
38
hat eher niedrige Werte auf der Skala Persönliche Distanz
zur Politik.“4
Es erscheint spontan einleuchtend, den schwindenden
Einfluss institutionalisierter Religion ebenso wie anderer
Institutionen auf dem Hintergrund der so genannten „Individualisierungsthese“ zu interpretieren. Dann wäre die
Abwendung von der institutionalisierten Kirchlichkeit bei
heutigen Jugendlichen als ein Element einer umfassenderen Bewegung wahrnehmbar, die die lebensweltliche ebenso wie die institutionelle Verfasstheit gesellschaftlichen
Lebens insgesamt betrifft, also nicht nur die ausgearbeitete Religionsgestalt kirchlicher Handlungsfelder.
Insbesondere die Bielefelder Pädagogen Dieter Baacke
und Wilhelm Heit­meyer haben sich mit den Phänomenen
der „Individualisierung“ in der Jugendkultur auseinandergesetzt. Der kürzlich verstorbene Kollege Baacke spricht
von einer „Entstrukturierung der Jugendphase“.5 Die Pubertät wird vorverlagert und die Kindheit wird früher abge­
schlossen, auf der anderen Seite verweilen die Menschen
heute in der Regel heute länger als früher im Bildungssystem. Hinzu kommt, dass „Erwachsensein“ als so genannte
„Zielspannung“ nachgelassen hat. Auch 50jährige tragen
heute Jeans und Turn­schuhe. Sie joggen und besuchen
Discos, kurz: Die Kenn­zeichen ju­gendtypischen Verhaltens sind immer weniger an eine Alters­gruppe gebunden
Man kann heute Jugend nicht mehr als „Übergangszeit“
verstehen, nicht mehr als Spiel- und sozialen Erprobungsraum, da die Anfänge und die Endpunkte von Jugend nicht
mehr deutlich bestimmbar sind.
Jugendliche leben heute, so meint Baacke, mit einer
Fülle unauflösbarer Pro­bleme, mit Dilemma-Situationen. Dilemmata sind einander widersprechende Hand­
lungsaufforderungen, die nicht gleichzeitig befolgt werden
können, aber von den Jugendlichen faktisch gleichzeitig
befolgt werden müssen. Ein Beispiel: Arbeit und Ausbildung auf der einen Seite und Freizeit und Medienkonsum
auf der anderen Seite fördern ver­schiedene Wertorientie­
rungen. Auf der einen Seite sind Leistungs­bereitschaft
gefordert, Selbstkon­trolle, soziale Verant­wortung,
Selbstdisziplin, Nüchternheit im Verhalten, konsequente
Lebensfüh­rung; auf der anderen Seite wird von der Konsum- und Me­diensphäre der Unterhaltungsindustrie die
Grundhaltung des Hedo­nismus, Emo­tionalität und Erotik,
eine Haltung der Augenblicksorientie­rung, ja der ekstatischen Selbstaufgabe gefordert.
Eine weitere Widersprüchlichkeit in der Situation der
Jugendphase liegt, so Baacke, im Gegeneinander von mittelbarer und unmittelba­rer Kommunikation. Unmit­telbare
Beziehun­gen bestehen immer dann, wenn Menschen
ungeplant, spontan, im direkten Ich-Du-Kontakt ihre Interaktionen gestalten. In der mo­dernen Gesellschaft leben
die meisten Menschen aber über vermittelte Be­ziehungen,
und solche Beziehungen sind nicht spon­tan, sondern über
In­stitutionen geregelt: die Familie, die Schule, die Firma,
die Univer­sität. Gleichzeitig sind jedoch die Jugendlichen
in Prozesse eingebunden, durch die gerade die mittelbaren, also über Institutionen vermit­telten Kommunikationsformen gestört oder sogar zer­stört werden. Und hier
schlägt der Individualisierungsprozess zu: Gewach­sene
Le­bensumwelten werden zerstört, Arbeiterquartiere eben-
'bb' 106-4/2003
so wie land­schaftliche Gliederungen verschwinden, die
Traditionen von Nachbar­schaften und vertrauten Quartieren, die Verbindlichkeit von fami­lialen Lebensformen und
Freundschaften werden aufgelöst oder zu­mindest schwächer, die Umwelt wird nach Verkehrsschnelligkeit und
nicht nach Kommuni­kationsdichte gestaltet. Alles, was
die mit­telbaren Beziehungen strukturiert hat oder strukturieren kann – die Familien, die Nachbarschaften, die
Milieus -, wird in der Kon­sequenz tendenziell entwertet.
Im Gegenzug entstehen jedoch neue Formen von quasi-unmittelbaren Beziehungen, die durch die Medien vermittelt
werden; beispiels­weise können zu Rock-Stars wie Robbie
Williams oder Christina Aquilera Beziehungen entwickelt
werden, die ei­ner unmittelbaren Be­ziehung zu­mindest
sehr nahe kommt, selbst wenn sich die Interak­tionen ganz
auf der Ebene der virtuellen Realität abspielen.
In diesem Sinne bedeutet „Individualisierung“ für die
Jugendphase auf der einen Seite eine historisch unbekannte Zunahme von Frei­heitsräumen, in der Kehrseite jedoch
eine äußerst krisenhafte Ten­denz: Nämlich eine Entstrukturierung, eine Verundeutlichung und eine zunehmende
Gestaltlosig­keit des Jugendalters.6
Ich stehe der Reichweite, erst recht der normativen
Kraft der Individualisierungsthese allerdings kritisch
gegenüber. Dies betrifft zum einen ihren Geltungsbereich.
Ich vermute, dass die durch Individualisierung eröffneten
Möglichkeiten selbsttätiger Lebensgestaltung für Jugendliche heute nicht in dem Maße gewachsen sind, wie die
alten Grenzen von Klasse, Geschlecht und Nationalität gefallen sind. Und wenn man genau hinsieht, stimmt ja nicht
mal das: sonst hätte die Tochter einer türkischen Änderungsschneiderin in unserer Gesellschaft die gleichen Lebenschancen wie der älteste Sohn des deutschen Textilfabrikanten in der gleichen Stadt, oder wenigstens wie die
Tochter einer Pfarrerin oder eines Theologieprofessors.
Untergründig wirken die tradi­tionellen Zuge­hörigkeiten
zu Klasse, Schicht, Milieu, Geschlecht und Nationalität,
die im Individualisierungsprozess doch entmächtigt sein
sollen, auch in der individualisierten Gesellschaft wei­ter.
Wenn auch auf subtilere Weise als in früheren Zeiten, so
werden dennoch noch Chancen und Angebote für Lebenswege und für die Partizipation an kulturellen, politi­schen
und ökonomischen Le­bensmöglichkeiten strukturell ungleich ver­teilt: Nach Geschlecht, nach ethnischer Zugehörigkeit, nach sozialer Her­kunft.
Ich sehe mich in der Kritik an der empirischen Geltung der Individualisierungsthese auch durch die neueren
Shell-Jugendstudien bestätigt. Wirft man einen Blick auf
die Studie „Jugend 2000“, nämlich auf das Kapitel „Moderne Orientierungsmuster: Inflation am Wertehimmel‘, so
wird man belehrt, dass die nach der Individualisierungsthese eigentlich zu vermutende Entwertung traditioneller (z.B. familien- und beziehungsbezogener) gegenüber
modernen Wertorientierungen („Teilhabe an Politik und
technischem Fortschritt“) so nicht umstandslos zutrifft.
Auf der einen Seite ist eine geschlechtsdifferente Polarisierung deutlich: „Wenn wir die Wertedimension der
Menschlichkeit eine ‚Frauen-Dimension‘ genannt haben,
dann müssen wir diese Wertedimension der Modernität
und Teilhabe am gesellschaftlichen Fortschritt unzweifel-
haft als ‚Männer-Dimension‘ bezeichnen“.7 Auf der anderen Seite ist aber unabhängig von Geschlecht und sozialer
Lage ein Ergebnis der Wertorientierungen Jugendlicher in
der Lage, die Totalität des Erklärungswertes der Individualisierungsthese nachhaltig in Frage zu stellen, nämlich
„...dass das Konzept von der Familie als dem zentralen Lebensziel von keiner Kontrastgruppe wesentlich abgelehnt
wird ... Selbst die stark Freizeit- und Eigenzeitorientierten
stimmen dem Konzept von der Familie als Wichtigstes im
Leben zu. Es gibt keine negative Korrelation ... Das Partnerschaftsmodell ‚mit Partner/Partnerin in einer Wohnung
zusammen leben und vielleicht später einmal heiraten‘ erreicht mit 73% die höchste Wertorientierung und wird von
allen unabhängig von ihren Wertorientierungen gleichermaßen geteilt.“8 Diese Ergebnisse werden von der neuesten Shell-Jugendstudie 2002, soweit ich sehe, bestätigt.
In meinen Augen ein Hinweis, dass die Erklärungskraft
der Individualisierungsthese für die Wahrnehmung des
Jugendalters begrenzt ist – nicht nur in Hinblick auf die
sozialen Grenzen ihres Geltungsanspruches, sondern auch
in Hinblick auf einen wichtigen Aspekt der Binnensicht
jugendlicher Weltbilder.
Skeptisch bin ich vor allem gegenüber normativen
Implikationen der Individualisierungsthese. Ich bin geneigt, die Gewichtsverteilung zwischen beiden Seiten der
Ambivalenz, die für die Individualisierung kennzeichnend
ist, nämlich Freiheitsgewinn und Entstrukturierung/Verundeutlichung, ausgesprochen skeptisch anzusehen. Dies
betrift nicht nur die Wahrnehmung der Jugendkultur. Ich
habe in diesem Zusammenhang viel aus einem Buch von
Richard Sennett gelernt, „Der flexible Mensch“. Sennett
fragt: Was geschieht eigentlich mit Menschen, die ihr
Leben nach den Zumutungen des neuen, globalen Kapitalismus ausrichten müssen, der eine neue Form eines auf
Kurzfristigkeit und Elastizität ausgerichteten Wirtschaftens hervorgebracht hat? Die Zumutung an den „flexiblen
Menschen“ heißt: du musst dir ständig neue Aufgaben
stellen. Du musst immer bereit sein, deine Arbeitsstelle, deine berufliche Orientierung, deinen Wohnort zu
wechseln. Aber Menschen sind, wenn sie als Menschen
aufwachsen und leben können wollen, auf Langfristigkeit,
auf Verlässlichkeit, auf Entwicklung angewiesen. Wenn
Menschen keine langfristigen, verlässlichen Beziehungen
mehr aufbauen können, dann entsteht das, was Sennett
„Drift“ nennt, ein zielloses Dahintreiben. Ein außenorientiertes Leben, immer darauf angewiesen, Erfolg zu haben
und Scheitern zu vermeiden. Es würden auch die psychischen Kapazitäten fehlen, dies verarbeiten zu können.
Ich formuliere in diesem Zusammenhang ein erstes
m.E. schlechterdings notwendiges Ziel für pädagogische
Arbeit heute: Gegen die zerstörerischen Züge gesellschaftlicher Individualisierung soll in sozialen Nahräumen – in
lebensweltlichen face-to-face-Beziehungen, wie Familien
und Freundeschaftsgruppen ebenso wie in den Bildungsinstitutionen und auch in den Kirchen – die Herausbildung
von Interaktionsräumen gefördert und begleitet werden,
in denen Vertrautheit, wechselseitige Wahrnehmung, Solidarität und Beheimatung eröffnet, ermöglicht und eingeübt werden können.
39
'bb' 106-4/2003
Einzelne Menschen, erst recht Kinder und Jugendliche können keine Lebenssicherheit ge­winnen, wenn
sie Lebensperspektiven allein durch je eigenen Entwurf
und eigene Wahl auf der einen, durch Identifikation oder
Abgrenzung gegenüber abstrakten ge­sellschaftlichen
Großeinheiten auf der anderen Seite entwickeln müssen.
Zwar ist es unbestreitbar, dass die „Überlebenseinheiten“ der Menschen längst von lokalen oder regionalen zu
nationa­len oder sogar globalen Größen geworden sind.
Die Globalisierung der Märkte, auch der aktuell betriebene politische Prozess einer europäische Eini­gung machen
es unmöglich, überschaubare lebensweltliche Zusammenhänge mit vertrauten und verpflichteten Beziehungen unangetastet, gewissermaßen als „heile Welt“ den
großgesellschaftlichen Abstraktionsprozessen emphatisch
entgegenzustellen. Aber für das Lebensgefühl der betroffenen Menschen bleiben solche Großeinheiten völlig unan­
schaulich. Wenn dies die allein übrigbleibenden Faktoren
von Gesellschaft sind: die indivi­dualisierten Menschen auf
der einen, die gesellschaftlichen Großeinheiten auf der anderen Seite, dann kann Leben nicht mehr gelingen. Es ist
für Menschen überhaupt und für Kinder und Jugendliche
insbesondere überlebensnotwendig, sich in überschaubaren und verlässlichen Gruppen zu „beheimaten“.9 Wo dies
nicht gelingt, werden z.B. neofaschistische Gruppierun­gen
zu einer Notlösung mit gefährlicher Faszination.10
Es ist eine zentrale allgemeinpädagogische und auch
religions­pädagogisch zu konkretisierende Aufgabe, für
Jugendliche Räume zu schaffen und bereitzustellen – aber
auch Jugendliche darin zu un­terstützen und gewähren zu
lassen, sich eigenständig Räume zu su­chen – in denen
Vertrautheit, Gemeinschaft und Solidarität erlebt werden können, ohne dass diese Erfahrung auf Kosten des
Fremden und Anderen – heute insbesondere der Behinderten, der Ausländer, der AsylbewerberInnen – gehen muss.
Diese Aufgabe wird in dem Maße notwendiger, wie durch
die Prozesse von Indivi­dualisierung, aber auch durch soziale Kälte und Durchsetzung einer „Klassengesellschaft
von oben“ Lebensmöglichkeiten in vertrauten sozialen
Nah-Räumen gefähr­det und zerstört werden. Je abstrakter und kälter die Gesellschaft erfahren wird, umso mehr
wächst die Gefahr, dass die Suche nach „Heimat“ und
nach vertrauten, solidarischen Beziehungen durch rigide
Abgrenzung und Gewaltbe­reitschaft gegen alles erkauft
wird, was anders ist. Ich sehe es als zentrale Aufgabe
von Kirchengemeinden, aber auch des schuli­schen Religionsunterrichtes, Räume anzubieten, in denen nichtter­roristische Gemeinschaftserfahrungen möglich sind.
– Eine Zwischenbemerkung in diesem Zusammenhang: Es
ist, was die Chancen der Ermöglichung solcher Interaktionsräume angeht, schlicht heller Wahnsinn, wenn gegenwärtig beispielsweise in Hamburg durch ein neues Lehrerarbeitszeitmodell faktisch bestraft und in der Konsequenz
an vielen Schulen verunmöglicht wird, dass LehrerInnen
mit ihren Klassen Klassenfahrten unternehmen, kreative
Zusatzangebote in Arbeitsgruppen machen, sich Zeit nehmen, Beziehung zu ihren SchülerInnen über die unmitelbaren Unterrichtsverpflichtungen hinaus zu gestalten.
40
3. Die Notwendigkeit von Bildung
Ich halte es schlechterdings für unaufgebbar, an dem Begriff von „Bildung“ festzuhalten, wie er in der deutschen
pädagogischen Tradition im Gesprächszusammenhang
einer geisteswissenschaftlichen Pädagogik entwickelt
worden ist.11
Knapp zusammengefasst ist mit einem emphatischen und
kritischen Bildungsbegriff dies intendiert: Prozesse, in
denen sich Kinder zu Erwachsenen herausbilden, lassen
sich nicht in funktionalem Sinne so verstehen, als gehe es
um eine möglichst vollständige Anpassung an die vorgegebene Gestalt von Berufsbildern, von Verhaltensorientierungen, wie sie einem ökonomisch und politisch zurechnungsfähigen Zeitgenossen zugemessen werden, um
Anpassung an die Gestalt von Rollenmustern, wie man
Vater oder Mutter, Ärztin oder Friseur, Kirchenmitglied
oder Staatsbürger zu sein habe. Im Sinne der gemeinten Konzeption von „Bildung“ wäre die Vorstellung einer
vollständigen Anpassung und einer darauf hinwirkenden
– also funktional auf dieses Ziel bezogenen und in dieser
funktionalen Orientierung aufgehenden – Erziehung ein
pathologischer Grenzfall.
„Bildung“ im gemeinten emphatischen Sinne des
Wortes findet vielmehr gerade da statt, wo solche funktionalen Orientierungen durch die Selbsttätigkeit der
lernenden Sunjekte gebrochen werden, bisweilen auch
durcheinandergebracht und chaotisiert werden. „Bildung“
rechnet nämlich damit, dass im Prozess der (auch hier für
nötig gehaltenen) Anpassung von Individuen an gesellschaftliche Rollen die Dimension der Selbsttätigkeit des
Individuums, das sich diese Rollen aneignet, konstitutiv
hinzugehört, und zwar in schlechterdings unaufgebbarer
Weise. Und „Bildung“ rechnet damit, dass gesellschaftliche Regeln – Regeln der Sprache, moralische Standards,
berufliche und andere gesellschaftliche Rollen – nicht
unverändert bleiben, wenn sie von Individuen im Prozess
ihres Lebensvollzugs und insbesondere im Prozess ihrer
Aneignung durch heranwachsende Menschen in Anspruch
genommen und angeeignet werden: sondern in einer
Weise verändert werden, die weder im einzelnen planbar
noch beherrschbar ist. „Bildung“ betrachtet, mit einem
Wort, die Selbsttätigkeit des Individuums als notwendiges
Element in seiner Anpassung an Regeln und Rollen.
In diesem Zusammenhang lässt sich das globale Ziel
pädagogischen Handelns bestimmen. Es geht bei pädagogischem Handeln, ganz gleich an welchem gesellschaftlichen Ort und in welcher Institution, elementar um zwei
ineinander verschränkte Perspektiven. Die eine ist das
Zeigen: den Lernenden – Kindern und Jugendlichen, Schülern und Schülerinnen, Studenten und Studentinnen –
wird gezeigt/präsentiert, was im Gesamt der bestehenden
Kultur als lebenswert, erhaltenswert und als weiterzuentwickeln gelten soll. Weil das so umfassend ist, dass es
nicht durch bloßes Mitleben mit den Erwachsenen gelernt
werden kann, haben sich historisch besondere Institutionen herausgebildet, in denen das Lebenswerte nicht nur
gezeigt, sondern repräsentiert wird: die Welt noch einmal
in pädagogischen Inszenierungen und Institutionen.
Die zweite Großperspektive ist: Unterstützen der
Selbsttätigkeit der Lernenden. Das, was in einer Kultur
'bb' 106-4/2003
als lebenswert gezeigt werden soll, kann nicht so mitgeteilt werden, wie man Bier in Flaschen abfüllt. Die Lernenden nehmen es aus der Perspektive ihres Lebensvollzugs in Gebrauch und verändern es dabei – in einer Weise,
die durch pädagogische Inszenierungen nicht im einzelnen
beherrscht werden kann, und das ist gut so.
Ein kritischer Bildungsbegriff hat in der gegenwärtigen
Lage keine große Konjunktur. Und das ist nicht gut so.
Gegenwärtig stehen alle Bildungsinstitutionen, und so
auch Schulen und Universitäten, unter einem erheblichen
ökonomischen Druck. Seitdem nach 1989 offenbar auch
jede gedankliche Alternative zum marktwirtschaftlichen
Kapitalismus umstandslos zur Makulatur erklärt wird,
wird der Machtbereich von finanziellen Kalkülen tendenziell grenzenlos. Das Geld gerät zum alleinigen Medium
gesellschaftlicher Kommunikation und verdrängt überkommene Differenzierungen wie die zwischen Wahrheit
(in der Wissenschaft), Glaube (in der Religion) oder Liebe
(in intimen Beziehungen). Es ist gegenwärtig not-wendig,
der Logik einer solchen Totalisierungstendenz zu widerstehen. Wenn Universitäten, Kirchen, Schulen nach dem
Modell einer „Firma“ reorganisiert werden sollen, wenn
SchülerInnen und Studierende nicht mehr als selbsttätig
lernende Subjekte, sondern als „Konsumenten“ der Ware
Wissen verstanden werden, ist der Punkt erreicht, an dem
eine Wende notwendig ist. Mit ein bisschen Mut ist es
relativ leicht, des Kaisers neue Kleider zu lüften: letzten
Endes sind die Sprachspiele eines shareholder-orientierten Lebensgefühls – das ständige Gequassel von Controlling, Evaluation, Leitbild-Entwicklung – nicht viel mehr
als die leerlaufende Selbstbeschäftigung von Verwaltungen, denen ein wenig Selbstbesinnung auf die Traditionen
eines kritischen Bildungsbegriffs gut tun würde (übrigens
auch darin, den eigenen Ansprüchen etwas mehr Chancen
auf Realisierung zu geben).
Vor dem Hintergrund der Pisa-Studie hat sich in den
letzten Jahren die Debatte um die Schule verschärft. Gegenwärtig wird eine Lösung vor allem in einer Zunahme
an Effizienz, in einer Verkürzung des Schulweges, in einer
betriebswirtschaftlichen Durchorganisation der Schulen
gesucht. Damit droht in brisanter Situation gerade das
verloren zu gehen, was in den letzten zehn Jahren an bildungspolitischem Problembewusstsein erarbeitet wurde.
Ich nenne ein Beispiel: Vor einigen Jahren hat der damalige Ministerpräsident von NRW, Johannes Rau, einen
Bericht einer Kommission zur Reform des Schulwesens
vorgestellt, der so hochkarätige Pädagogen und Didaktiker wie Wolfgang Klafki, aber auch Wirtschaftsvertreter
wie Hilmar Kopper (Deutsche Bank) und Reinhard Mohn
(Bertelsmann) angehörten. Die Ergebnisse der Kommission sind so radikal wie der schulische Notstand, den sie beheben wollen. Die Kommission verkündet nichts geringeres als das Ende der bisherigen Bildungspolitik.
Einige ihrer Vorschläge: Statt bisher vier, sollen die
GrundschülerInnen sechs Jahre zusammenbleiben (Das
gibt es bisher nur in Berlin und Brandenburg). Noten
soll es in der Grundschule nicht mehr geben; stattdessen schlägt die Kommission eine schriftliche Äußerung
der Schule an Kinder und Eltern vor. Nach sechs Jahren
Grundschule wird ein Zweisäulenmodell vorgeschlagen:
der beruflich orientierte Schulzweig und der gymnasiale.
Ein Schulsystem mit zwei Wegen, das zum herkömmlichen Abitur führt und parallel ein Abitur im berufsbildenden Zweig ermöglicht. Der Hauptschulabschluss wird
weggelassen, stattdessen sollen alle Kinder zum Realschulabschluss geführt werden. Die Entscheidungsmöglichkeiten und das eigene Gesicht der einzelnen Schulen
sollen verstärkt werden. Die Schulen erhalten in finanziellen Fragen ein eigenes Budget und eine Teilautonomie.
Den einzelnen Schulen soll erlaubt sein, sich LehrerInnen selbst auszusuchen und sie auch leistungsgerecht zu
entlohnen. Die Schule müsse, so heißt es, „pädagogisches
Engagement, professionelles Handeln und verantwortungsbewusste Erziehungsarbeit fördern“ und eine „initiativreiche“ Tätigkeit des Schulpersonals auch entlohnen.12
– Mir scheinen solche Erinnerungen hilfreich und nötig.
Es geht darum, dass angesichts der aktuellen Marotte,
alles, aber auch alles nach betriebswirtschaftlichen und
marktökomischen Kriterien anzusehen, nicht auch gerade
solche Reformmodelle in Vergessenheit geraten, die am
ehesten noch in der Lage sind, Schule als Lebensort wahrnehmbar und gestaltbar zu machen.
4. Die Bildungskatastrophe als Katastrophe
der Erwachsenen- und nicht der Jugendkultur
Am Freitag, den 26.April 2002, gegen 11.00 Uhr tötete ein
neunzehnjähriger früherer Schüler in der Erfurter Gutenbergschule dreizehn Lehrerinnen und Lehrer, die Schulsekretärin, einen Schüler, einen Polizisten und danach sich
selbst. In der öffentlichen Debatte wurden sehr schnell
die gewalttätigen Computerspiele und Filme als Motivierung für diesen völlig unverständlichen Gewaltausbruch
ausfindig gemacht, die sich der junge Mann immer wieder
einverleibt hatte.
Ich will nicht missverstanden werden: Ich halte auch
manche dieser Spiele, die unter Jugendlichen heute weit
verbreitet sind, für hoch problematisch. Dazu möchte ich
am Schluss noch einiges sagen. Dennoch ist es mindestens vorschnell, den Erfurter Blutrausch vor allem oder
sogar allein als Konsequenz eines fehlgeleiteten Medienkonsums anzusehen. Tiefer gehen schon Fragen danach,
warum dieser zum Massenmörder gewordene Jugendliche
in seinem letzten Lebensjahr fast alle sozialen Beziehungen abgebrochen hat. Tiefer gehen auch Fragen nach den
gesetzlichen Vorgaben für das Thüringer Abitur, das einen
Schulabbrecher ohne jeden Schulabschluss entlässt. Ich
denke aber, es muss noch grundlegender nachgefragt
werden. Ich denke, dass sich in diesem Fall und vor allem
auch in der Form seiner Aufarbeitung eine tiefe Krise
unseres Bildungssystems zeigt, die vor allem als Krise in
Lebensgefühl und -gestaltung in der Erwachsenengeneration angesehen werden muss – und nicht zuerst als Krise
der Jugendlichen.
Immer, wenn etwas Furchtbares geschieht, blühen
die Sonntagsreden. Das war auch unmittelbar nach den
furchtbaren Tagen in Erfurt so. Landauf, landab wurde
die fehlende Wertorientierung und die Verödung der Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, überhaupt von
erwachsener und heranwachsender Generation beklagt.
41
'bb' 106-4/2003
Und wie immer zeigt sich auch diesmal, dass schon nach
wenigen Wochen alles vergessen ist, wenn es um bildungspolitische Weichenstellungen geht. Die gegenwärtig
vorherrschende Tendenz einer rigiden Durchökonomisierung von Schulen, Universitäten und anderen Bildungsinstitutionen wird faktisch nicht in Frage gestellt. In den
letzten Tagen hat sich Arbeitgeberpräsident Hundt ein
weiteres Mal dezidiert in dieser Richtung geäußert: Die
schulische Ausbildung müsse sich stärker an den Erfordernissen des Berufslebens ausrichten. „Wir brauchen
eine große Schulreform mit klar formulierten und vor
allem regelmäßig überprüften Leistungsstandards und
zentralen Abschlussprüfungen an allen Schulen.“ Hundt
kritisierte, dass bei etwa einem Viertel der Jugendlichen
auf der Suche nach einer Lehrstelle „die einfachsten
Bildungsvoraussetzungen“ fehlen und damit „das richtige
Rüstzeug“ für das spätere Leben. – Wir finden hier exemplarisch eine Position vor, die den gegenwärtigen Diskurs
über Erziehungsfragen weitgehend beherrscht. Sieht man
zudem auf gegenwärtig in vielen Bundesländern wirksame bildungspolitische Entscheidungen, so ist zu sagen:
Schulen und Universitäten sollen wie Firmen funktionieren. Bildung wird in diesem Konzept als Aufhäufung von
marktgängigen und vom Markt abgefragten Kenntnissen
und Fertigkeiten verstanden. Die Herausbildung von Wertbewusstsein und Zivilcourage, von Kritikfähigkeit oder
sogar religiöser Orientierung bleibt auf der Strecke.
Was wir dagegen heute aktuell, und zwar unmittelbar praktisch und tagespolitisch auf der Tagesordnung
brauchen, ist eine Selbstbesinnung auf die kritischen
Bildungstraditionen unserer Kultur. Noch einmal: Bildung
ist ein gesamtgesellschaftliches Projekt, in dem eine erwachsene Generation einer heranwachsenden Generation
aus dem eigenen kulturellen Lebenszusammenhang das
zeigt, was aus der Perspektive der kommenden Generation lebenswert und lebenswichtig ist: was es den Heranwachsenden möglich macht, ihre eigene Individualität und
Eigentümlichkeit auszuprägen (das ist die individuelle
Perspektive von Bildung) und zugleich in die Gesellschaft
hineinzuwachsen (das wäre die universelle Perspektive).13. Von „Bildungskatastrophe“ muss gegenwärtig auf
einen sehr grundsätzlichen Blick deshalb gesprochen
werden, weil die Bezie­hung zwischen der Erwachsenengeneration und der heranwachsenden Ge­neration, freundlich
formuliert, in dieser grundlegenden Perspektive undeutlich bleibt. Die erwachsene Generation weiß, sieht man
auf zentrale Aspekte des Lebensvollzugs, offenbar nicht,
was sie mit sich selbst will, und sie weiß auch nicht, was
sie mit der jungen Gene­ration will.
Wir haben heute an nahezu allen Orten Schulen mit
engagierten und kompetenten LehrerInnen und Lehrern, die sich oft weit über ihre Zeit- und Kraftgrenzen
engagieren. Wir finden zudem nahezu überall Versuche,
eine Schulkultur aufzubauen und gegen die Zumutungen
einer Durchökonomisierung der Bildungsinstitutionen zu
sichern. Ähnliches ist von den Universitäten zu sagen.
Es geht mir deshalb auch nicht um einen Angriff auf all
diese Menschen, deren Engagement wir brauchen. Ganz
im Gegenteil. Es geht mir allerdings um eine grundsätzliche, gesellschaftsweit nötige Selbstbesinnung. Das
42
Gesamtprojekt von Bildung, also das Gesamtprojekt der
Beziehung zwi­schen erwachsener und heranwachsender
Generation ist gegenwärtig gefährdet. Dies zeigt sich mit
erschütternder Deutlichkeit in den zentralen politischen
Ent­scheidungen, in denen die Kosten der ökologischen
und sozialen Krise auf die nachkommende Generation abgewälzt wird; dies zeigt sich im Kon­kreten in den Krisen
der Bildungsinstitutionen.
Die Stichworte sind allgemein bekannt: Umweltvernichtung. Armut und Arbeitslosigkeit. Kriegsbedrohung.
Die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und der in
abhängiger Position gehaltenen Menschen in den abhängigen Ländern, insbesondere der Ureinwohner dieser
Länder. Der grassierende Hunger und die politische
Entrechtung in weiten Teilen der Erde. Und zugleich auch
die Undeutlichkeit und Verborgenheit dieser Probleme auf
der Oberfläche der zwischenmenschlichen und politischen
Kommunikation.
All dies beeinträchtigt die Perspektive der Kinder auf
Zukunft: wie sollen sie in einer solchen Welt leben, lieben und arbeiten können? Vieles von den beschriebenen
Problemen geht nicht in das Lebensgefühl der Kinder und
Jugendlichen unmittelbar ein, auch dann nicht, wenn ihre
Lebensperspektiven betroffen sind. Und das ist sicher
auch gut so: Kein Mensch könnte so leben, dass er und
sie sich beständig die drängenden existenziellen Probleme
vor Augen hält. Dafür gibt es in der Jugendkultur besondere Zeiten und Orte: Es sind vor allem Werke der populären
Kultur – wie massenwirksame Popsongs und Kinofilme
– die das Ende der Welt als Ergebnis ökologischer oder
technologischer Katastrophen zeigen, die von jugendlichen BesucherInnen massenhaft konsumiert werden und
offenbar ihr Lebensgefühl erreichen, an denen sich die
grundlegende Verunsicherung über Lebensperspektiven
artikulieren kann.
Ein Problem geht jedoch auch in alltägliche Interaktionen und in alltägliches Lebensgefühl unmittelbar ein.
Massenarbeitslosigkeit und Verarmung, die als Drohung
über dem Lebenszusammenhang von Familie, Freundschaft und Bekannten lasten oder aber schon Wirklichkeit
geworden sind. Viele Kinder und Jugendliche erleben an
ihren eigenen Eltern, an Verwandten oder Freunden mit,
wie Arbeitslosigkeit das Selbstwertgefühl von Menschen
untergraben kann. Wie vertraute Rollenmuster von Männern und Frauen brüchig werden, oft ohne dass dies von
einem wirklichen Prozess der Selbstthematisierung der
Beteiligten begleitet würde. Die Kinder erleben mit, wie
Zeitstrukturen zerstört werden: wie die Unterscheidung
zwischen Arbeitszeit und Freizeit verloren geht, ebenso
auch die Unterscheidung zwischen Arbeitszeit und Urlaub. Zeit wird zu einem leeren Vorrat, der oft nicht durch
eigene Aktivität gefüllt werden kann und – im wahrsten
Sinne des Wortes – totgeschlagen werden muss. Kinder
und Jugendliche erleben mit, wie die soziale Anerkennung
und die Eingebundenheit ihrer Eltern in ein soziales Netz
von ArbeitskollegInnen, GewerkschaftsgenossInnen,
Nachbarn und Freunden dahinschwindet. Gerade wo es
besonders nötig wäre, reißt das soziale Netz. Die Kinder
erleben mit, wie das Geld knapper wird und sie sich im
Vergleich mit ihren MitschülerInnen und FreundInnen
'bb' 106-4/2003
nicht mehr soviel leisten können. In diesem zentralen
Feld des Hineinwachsens der Kinder und Jugendlichen in
die Rollen und Lebensfelder der Gesellschaft wird ihnen
faktisch, wenn auch nicht ausdrücklich signalisiert: Wir
brauchen euch nicht.
Bildungspolitische Entscheidungen auf Länder- und
Bundesebene dementieren immer wieder die gute und
engagierte pädagogische Arbeit, die von LehrerInnen und
Lehrern, UniversitätsprofessorInnen, SozialpädagogInnen, KindergärtnerInnen in vielen Bildungseinrichtungen
geleistet wird – z.B. die strikte Verweigerung, die Schultypen bis zum 6.Schuljahr beieinander zu lassen, z.B. die
faktische Abschaffung der zweiten Phase der Lehrerausbildung zugunsten des Einsatzes von RefrendarInnen als
billige Vollzeitlehrkräfte, z.B. die Erschwerung von Fortbildungsmöglichkeiten für LehrerInnen, oder beispielsweise in Hamburg die Verkürzung der Gymnasialschullaufbahn auf 12 Jahre, ohne die Zeit und die Mittel, vor allem
das Personal für eine solche Veränderung bereitzustellen.
Verheerend wirken aber vor allem die ökonomischen,
ökologischen und sozialen Verwerfungen in unserer
Gesellschaft. Gegenwärtig wird eine Politik gegen und
auf Kosten der kommenden Generation gemacht, und
zwar sowohl was die sozialen Kosten als auch was die
ökologischen Kosten an­geht. In therapeutischen Zusammenhängen wird mit Gewinn nach unbewussten Botschaften gefragt, die beispielsweise Eltern gegenüber ihren
Kindern aussenden. Ich halte es für sinnvoll, dieses z.B.
in der Transaktionsanalyse erprobte Verfahren auch auf
die Wahrnehmung der pädagogischen Situation, also der
Beziehung zwischen erwachsener und heranwachsender Generation insgesamt anzuwenden. Das Ergebnis ist
niederschmetternd. So wie gegenwärtig die bildungspolitischen Entscheidungen für Schulen und Universitäten, so
wie gegenwärtig die politischen Entscheidungen für oder
besser gegen die finanzielle Ausstattung von Bildungsinstitutionen getroffen werden, und vor allem: in der Weise, welche Partizipationschancen am gesellschaftlichen
Leben, insbesondere am Arbeitsleben den Mitgliedern der
heranwachsenden Generation eröffnet werden, muss man
eine geheime Botschaft erkennen, die die erwachsene Generation der heranwachsenden Generation macht: Ihr seid
überflüssig.14
Welchen Sinn soll es für eine individuelle Lebensplanung haben, möglichst schnell und effektiv die Bildungsinstitutionen zu durchlaufen, wenn spätestens dann
überdeutlich signalisiert wird: Wir brauchen dich nicht?
Welche Möglichkeit zur Herausbildung eines lebensbejahenden Lebensgefühls, mit Lust arbeiten und lieben zu
können – in ihrer aktuellen Lebensgestaltung wie ihrer
Perspektive – bleibt Heranwachsenden und jungen Erwachsenen, bleibt Schülern und Studierenden, um es nicht
noch schärfer zu sagen: wenn die erwachsene Generation der nachfolgenden Generation durch ihre politischen
Entscheidungen beständig signalisiert, dass sie ihre bloße
Existenz schon nicht will? Aktuell 4,352 Millionen Arbeitslose (im August 2003), und jedes Jahr Probleme bei
der Einigung zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen auf eine Ausbildungsplatzgarantie. Die Botschaft an die heranwachsene Generation heißt: Ihr seid
überflüssig. Durchökonomisierung und Fachidiotisierung
der Bildung – die Botschaft an die kommende Generation
heißt: bleibt blöd, wir brauchen bloß Eure Arbeitskraft.
Das ist die geheime Botschaft an die kommende Generation: Existiert nicht. Seid nicht da. Ihr seid zu viele, also
seht zu, wo ihr bleibt.
Ich denke, dies macht – auf einen grundsätzlichen
Blick – die Bildungskatastrophe heute aus. Hier ist eine
fundamentale Neuorientierung schlechterdings notwendig, um der Liebenswürdigkeit der Menschen und um der
Schönheit unseres Landes willen. Sich in dieser Frage zu
engagieren, mit Körper und Kopf, das ist schließlich, so
denke ich, eine der wenigen Lebensorientierungen, wo
man halbwegs guten Gewissens von Patriotismus sprechen kann.
5. Die mediale Kultur ist nicht Verursacher
der Bildungskrise – aber durchaus ihr
Bestandteil
Kinder und Jugendliche leben heute nicht nur in den
Welten alltäglich-alltagssprachlicher Kommunikation in
Familie, Clique, Schulklasse, Ausbildungsplatz, sondern
zugleich in den virtuellen Welten beispielsweise von
Computerspielen und Internet. Durch die neuen Medien
und die in ihnen zugänglichen virtuellen Welten ist eine
Frage für Lebensgefühl und Lebenswelt von Kindern und
Jugendlichen, die heute heranwachsen, aber auch für Erwachsene besonders brisant geworden: Was ist eigentlich
Wirklichkeit? Viele aktuelle massenwirksame Kinofilme
thematisieren ausdrücklich diese Frage (z.B.: „Mulholland Drive – Straße der Finsternis“, USA 2001, Regie:
David Lynch; „Matrix“, USA 1999, Regie: Joel Silver),
und ebenfalls viele dieser Filme thematisieren auch die
Gefahren, die von den neuen Medien für Freiheit und Lebensmöglichkeiten der Menschen ausgehen, insbesondere
durch Überwachungstechnologien und das Internet (z.B.
„Staatsfeind Nr.1“, USA 1998, Regie: Tony Scott; „Das
Netz“, USA 1995, Regie: Irwin Winkler). Die Tatsache,
dass solche Filme „funktionieren“, dass sie hier und jetzt
das Lebensgefühl erreichen, lässt darauf schließen: es ist
heute keineswegs umstandslos ausgemacht, was zur Welt
der Tatsachen gehört, die in der Wirklichkeit statthaben.
Und dies wird nicht nur als faszinierend erlebt, sondern
offenbar auch als beunruhigend und beängstigend.
Unter kinder- und jugendtherapeutischen Gesichtspunkten ist dazu viel Kritisches zu sagen und auch gesagt
worden15: Internet, Computerspiele, massenwirksame
Fernsehserien und Hollywood-Filme, überhaupt der neue
Standard der digital vermittelten Realitätserfahrung können mit einer spezifischen Konstellation in der seelischen
Entwicklung heutiger Menschenkinder eine destruktive
Verbindung eingehen – und gehen sie tatsächlich in vielen
Fällen ein –, die zu einer Zerstörung der psychischen
Instanz des „Gewissens“ führt. Denn Computerspiele, das
Internet, Reality-Sendungen, die digitale Welt überhaupt
gewinnen ihre Faszination gerade dadurch, dass sie die
in der lebensgeschichtlichen psychischen Entwicklung
mühsam und schmerzvoll erworbenen Kompetenzen und
43
'bb' 106-4/2003
Energien unnötig machen, unterlaufen, ja außer Kraft
setzen, sich mit Grenzen auseinanderzusetzen, langfristige Perspektiven zu entwickeln, Verluste zu verschmerzen
und trauern zu lernen.
Nimmt man weit verbreitete Typen von Computerspielen in den Blick, so ist dieser Analyse schlicht zuzustimmen. Der narzissmustheoretische Erklärungsansatz
rechnet mit einer gewissen Diffusität, mit einer fehlenden
Konturiertheit, mit der Gestaltlosigkeit virtueller Welten
in dem Sinne, dass gerade so die Rückkopplung zwischen
virtueller Umgebung, in die die Kids eintauchen, und
ihren narzißtischen Sehnsüchten nach Unbegrenztheit
und Totalität der Wunscherfüllung gelingen kann. In dem
Maße aber, wie in Computerspielen konsistente Erzählwelten inszeniert werden, in denen nicht selten auch
religiöse Symbolwelten zitiert werden – aber auch in dem
Maße, wie hier virtuelle Umwelten wie z.B. Interieurs von
Gebäuden, Stadtlandschaften usw. präsentiert werden, in
denen auf möglichst genaue historische, soziale, politische Details geachtet wird –, muss der Erklärungsansatz
m.E. erweitert werden. Denn hier wird, so oder so, Gestalt
entwickelt. Es wird erzählt. Es werden mythologische und
religiöse Muster zitiert und auf diese Weise in eine neue
Gestalt eingebracht. Es wird eine Wirklichkeit erzeugt, in
der andere Regeln gelten, als dies in der Alltagsrealität
vorausgesetzt wird.
In all dem funktionieren Computerspiele wie performative Sprechakte, sie stellen die Wirklichkeit her, die
sie inszenieren. Und sie beinhalten zudem oft eine eigene
Verheißungs-Struktur: Ich werde überleben, wenn ich
möglichst alle Feinde erschieße; oder: ich werde die Welt
retten, wenn ich nach den Vorgaben der hier angebotenen
mythischen bzw. religiösen Erzählwelt das Böse zur Strecke bringe, die alte gute Ordnung wieder herstelle und
in die Rolle des Messias hineinschlüpfe – oder was auch
immer im Wissens- und Gefühlshaushalt der Spieldesigner
an Resten mythologischer und religiöser Bildwelten lebendig gewesen ist.
Sind die bisher vorgetragenen Überlegungen auch nur
halbwegs zutreffend, so ist zu fragen: welche Konsequenzen sind zu ziehen für die pädagogische Begleitung von
Heranwachsenden in diesem Feld?
Keine Lösung wäre, Kinder und Jugendlichen vor der
Konfrontation mit virtuellen Welten dieses Typs zu bewahren. Sie haben die alltäglichen Lebenswelten so weitgehend durchdrungen, dass sich die Frage angemessen nur
stellen lässt als die nach dem angemessenen Umgang mit
diesen Dingen, nicht nach pädagogisch inszenierter Abschottung. Anders liegt der Fall allerdings bei indizierten
Spielen besonders gewalttätiger, z.T. politisch faschistoider Tendenz.
Um hier aber überhaupt unterscheidungs- und entscheidungsfähig zu werden, scheint mir als erste Maxime
unausweichlich: Erwachsene müssen sich, ob als Eltern,
als LehrerInnen oder anders in die pädagogische Begleitung Heranwachsender verwickelte Erwachsene, zumindest exemplarisch kundig machen, was ihre „Zöglinge“
da so fasziniert. Lassen Sie sich von ihren Kindern in die
Welt der Spiele einführen! Spielen Sie selbst, zumindest
einige ausgewählte Spiele! Erleben Sie am eigenen Leibe,
44
wie sich die Wirklichkeitswahrnehmung verändert: wie
Zeitstrukturen verschwimmen (wo sind die letzten vier
Stunden eigentlich geblieben?), wie Sie all das für die
Dauer des Spieles vergessen müssen, was sie an Mustern
von Realitätseinschätzung und moralischer Orientierung
verinnerlicht haben, um der Geschwindigkeit der geforderten Reaktionen auch nur einigermaßen standhalten zu
können.
Dies ist die Voraussetzung für die zweite, eigentlich
entscheidende Maxime, die ich für dieses Feld vorschlagen möchte: Zentrales Ziel im Umgang mit virtuellen
Welten ist, die Grenze zwischen virtueller Welt und realer
Alltagswelt thematisierbar zu halten und/oder erst thematisierbar zu machen, und zwar in allen Dimensionen
sprechakttheoretischer Kompetenzen (Wahrheit/Wahrhaftigkeit/Richtigkeit/Wirklichkeitssetzung). Der Weg dahin
wird m.E. begehbar, wenn in der Familie, in der Freundesgruppe und in der Schule immer wieder Situationen
genutzt und ein Setting hergestellt wird, in dem über die
Spiele, über die mit ihnen gemachten Erfahrungen und
Erlebnisse, über die hier vorausgesetzten Kompetenzen
und errungenen Erfolge „gequatscht“ werden, d.h. ohne
ausdrücklichen moralischen Zeigefinger ein entspanntes
Gespräch geführt werden kann. Es macht schlicht einen
Unterschied, ob die Kids Tag für Tag für Stunden in diesen
virtuellen Welten versinken, oder ob sie sich beim Frühstück, beim Gespräch nebenbei oder auch in konzentrierteren Situationen darüber austauschen. Aus diesem Grunde halte ich es auch für pädagogisch unterstützenswert,
wenn sich Jugendliche zu gemeinsamen Spielen, teilweise
mit untereinander vernetzten Computern, verabreden. Im
schulischen Religionsunterricht oder auch im Konfirmandenunterricht schließlich ist es eine lohnende Aufgabe
eines symboldidaktischen Unterrichts, die in den Spielen zitierten mythologischen und religiösen Figuren zu
entziffern; in Verbindung mit anderen Fächern könnte im
Projektunterricht in verschiedenen Perspektiven darüber
hinaus untersucht werden, wie diese Spiele „gemacht“
sind: technisch, als Erzählzusammenhang, auch als Verheißungsstruktur.
Der Verheißungscharakter massenwirksamer populärkultureller Inszenierungen könnte im Konfirmanden- und
Religionsunterricht z.B. an aktuellen Fernsehproduktionen entschlüsselt werden. Gab die im Jahr 2000 in
der ersten Staffel höchst erfolgreiche Reality-Show „Big
Brother“ noch die Verheißung: Man muss schlechterdings
nichts drauf haben, um Star in einem populärkulturellen
Drama zu werden16, so lebt Günter Jauchs RTL-Dauerbrenner „Wer wird Millionär“, der nach meiner Anschauung auch von vielen Jugendlichen regelmässig gesehen
wird, von der Verheißung: wenn du in wie auch immer
abseitigen Wissensgebieten (zwischen Königshäusern
und Sport-Events, mittelalterlicher Geschichte und Musikszene) gedächtnisstark Wissen präsentieren kannst,
schaffst du (zumindest finanziell) den gesellschaftlichen
Aufstieg oder kannst dir wenigstens ohne weitere Mühe
einen Kleinwagen leisten. Angesichts der realen Situation und der absehbaren Lebensperspektiven zumindest
von Haupt- und BerufsschülerInnen heute sind aber beide
Versprechen eine Lüge. Ohne erfolgreich abgeschlossenen
'bb' 106-4/2003
Schulbesuch und Lehre können junge Menschen heute mit
noch so viel Charme und Lebenslust dennoch keine gesellschaftliche Anerkennung und Lebenssicherung gewinnen
(gegen die Zlatko-Lüge von „Big Brother“), aber leider allzu oft auch mit schulischen und beruflichen Kenntnissen
nicht oder zumindest nicht sicher (gegen die Jauch-Lüge
in „Wer wird Millionär“). Ob jemand einen Arbeitsplatz
erhält und – in diesem Zusammenhang noch unsicherer
– ihn auch behält, hängt immer stärker von den (Fehl-)
Leistungen des Managements (Holzmann lässt grüßen)
und der gesamtwirtschaftlichen Lage ab als von den individuellen Kompetenzen der abhängig Arbeitenden. Ich
denke allerdings auch, dass medial verbreitete populärkulturelle Verheißungen gerade deshalb „funktionieren“,
massenhaft begeistern oder zumindest zerstreuen können,
weil sie ein Versprechen abgeben, das in der Realität der
Arbeits- und Lebensverhältnisse der Leute keine Realisierungschance hätte17.
Im alltäglichen Zusammenleben von Erwachsenen
und Kindern/Jugendlichen, aber auch in der unterrichtlichen Wahrnehmung solcher medialen Inszenierungen
soll eine „ästhetische“ Haltung gegenüber virtuellen
Welten unterstützt werden, indem die Grenze zwischen
Alltagswelt und virtueller Welt bearbeitet wird, indem in
verschiedenen Perspektiven gefragt wird, wie es gemacht
ist, und so zumindest punktuell und exemplarisch eine
Haltung distanzierter Re-Konstruktion eingenommen
werden kann. Kompetenzen, die dabei exemplarisch an
der Entschlüsselung von Fernsehserien, Hollywood-Filmen oder Computerspielen erworben werden („Wie ist es
gemacht“?), können, dies ist die implizite Hoffnung, auf
andere Felder übertragen werden – einschließlich der
Frage nach politisch und ökonomisch interessierten Realitätsverdrehungen.
10 11 12 13 14 Bemerkungen
1
2
3
4
5
6
7
8
9
Zit. nach: Hamburger Abendblatt, 20.August 2003, S.1; 19
H.-H.Muchow, Jugend und Zeitgeist. Morphologie der Kulturpubertät. Reinbek 1962
Dies gilt – zunächst sind die Jugendlichen aus dem christlich
geprägten Milieu im Blick – für den Glauben an ein Weiterleben
nach dem Tod (von 56% 1991 auf 32% 1999 bei den Jugendlichen West, von 39% auf 28% bei den Jugendlichen Ost), für die
Gebetspraxis (manchmal oder regelmäßig: von 39% auf 28% bei
den Jugendlichen West, von 21% auf 11% bei den Jugendlichen
Ost), erst recht für den Gottesdienstbesuch (mindestens einmal
in den letzten vier Wochen: von 21% auf 16% bei den Jugendlichen West, von 10% auf 7% bei den Jugendlichen Ost). Bei den
muslimischen Jugendlichen, die in dieser Studie zum ersten Mal
mit befragt wurden, sind die Ergebnisse in allen Punkten etwa
doppelt so hoch, die Verbindlichkeit religiöser lebenspraktiken
entsprechend höher.
Jugend 2000. 13. Shell-Jugendstudie, Opladen 2000,
S.162.166
D. Baacke, Individualisierung und Privatisierung von Religion. In:
I. Lohmann und andere, Dialog zwischen den Kulturen..., Mün­
ster/New York 1994, S. 187ff.
Vgl. H. Mogge/Grotjahn, Von der Möglichen Wirklichkeit und der
wirk­lichen Möglichkeit ..., a.a.O. 1995.
Jugend 2000. 13. Shell-Jugendstudie, a.a.O., S.110f
Ebd., S.137
Vgl. zur Ambivalenz der Rede von „Gemeinschaft“:
R.Sistermann, Gemeinschaft ohne Konsens? ... In: Ders.,
15 16 17 B.Beuscher, H.Schroeter Hg., Prozesse postmoderner Wahrnehmung. Kunst-Pädagogik-Religion. Wien 1996, S.49-60.
Vgl. z.B.F.-J.Krafeld, Jugendarbeit mit rechten Jugendszenen ...,
In: H.-U.Otto, R.Merten Hg., Rechtsradikale Gewalt im vereinigten Deutschland ... (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1993, S.310-318; H.Castner, Th.Castner,
Rechtsextremistische Strömungen in der Schule und pädagogische Gegenmaßnahmen. In: ebd., S.382-391; F.-J.Krafeld,
K.Möller, A.Müller, Jugendarbeit in rechten Szenen ..., Bremen
(Schriftenreihe der Landeszentrale für politische Bildung) 1993,
S.11-91; H.Heitmann, Jugendarbeit im Umgang mit Gewalt...,
in: S.Behn, H.Heitmann Hg., Jugendarbeit und Rechtsextremismus..., Berlin (Informations-, Forschungs-, Fortbildungsdienst
Jugendgewaltprävention IFFJ-Schriften Nr.6), o.J., S.135-151;
Th.Mücke, J.Korn, Neue Wege der Jugendarbeit, ‚Miteinander
statt ge­geneinander‘ – ein Versuch des Dialogs mit rechtsextrem orientierten Jugendlichen. In: ebd., S.81-109; A.Klose,
Th.Schneider, Fan-Projekte – Grundlagen und Möglichkeiten von
sozial­raumbezogenen Drehpunkteinrichtungen. In: ebd., S.123133; R.Degen, ‚Deutschland den Deutschen!‘ Nationalismus und
Rechtsextremismus in theologisch-pädagogischer Sicht. In: JRP
10, 1993 (erschienen 1995, S.173-188); W.Heigl, Arbeitsbuch
gegen Ausländerfeindlich­keit. Unterrichtsvorschläge für Schule
und Jugendarbeit. Weinheim und Basel 1996, S.150-154.
Die Tradition einer geisteswissenschaftlichen Pädagogik ist
mit Namen wie Wilhelm von Humboldt, Friedrich Daniel Ernst
Schleiermacher, Herman Nohl und Wilhelm Flitner, aber auch
Wolfgang Klafki und Klaus Mollenhauer verbunden.
ebd.
Vor fast zwei Jahrhunderten, als der Theologe und Pädagoge Daniel Schleiermacher diese beiden Basisaufgaben der
Bildung Heranwachsender formuliert hatte, hatte er im Blick
auf die universelle Perspektive der Bildung vor allem die Lebensbereiche von Staat und Wissenschaft, Kunst, Religion
und geselligem Verkehr im Blick, heute müssen mindestens
die Lebensbereiche von Wirtschaft und Beruf hinzugerechnet
werden. Alle besonderen pädagogischen Perspektiven sind
als Teilelemente des umfassenden Beziehungsgeschehens
zwischen erwachsener und heranwachsender Generation zu
verstehen. F.D.E.Schleiermacher, Theorie der Erziehung ... in:
E.Lichtenstein Hg., F.D.E.Schleiermacher. Ausgewählte pädagogische Schriften. Paderborn, 2.Aufl. 1964
Den Vorschlag, die interaktionsanalytische Frage nach den in
Interaktionen mitgeteilten unbewussten Botschaften nicht nur
auf die Interaktionen zwischen Individuen zu beziehen („Ich bin
okay – du bist nicht okay“), sondern auch Botschaften wahrzunehmen, die von zerstörten Wohnquartieren, unzureichenden
Bildungsinstitutionen, gesellschaftspolitischen Grundorientierungen auf die jeweils Betroffenen zielen, verdanke ich U.Pfäfflin,
Sind unsere Städte heilbar? In: WzM 33/1981, S.484ff.
W.Bergmann, Abschied vom Gewissen. Die Seele in der digitalen
Welt. Stuttgart 2000
Big-Brother-Container-Mitbewohner Zlatko beispielsweise hatte
sein Coming out als Popstar mit seiner Unfähigkeit zu entscheiden, ob Shakespeare nun ein Schauspieler oder Regisseur sei.
Vgl. zum Verheißungs-Charakter dieser Serie ausführlich: H.M.Gutmann, Populäre Kultur im Religionsunterricht. In: P.Biehl
u.a. Hg., Religionspädagogik und Kultur. Neukirchen 2000,
S.188ff.
Die genannten Fernsehshows sollen hier als ein Beispiel für viele
genannt werden. Verheißungs-Muster können sehr gut auch
an massenwirksamen Hollywood-Filmen entschlüsselt werden,
nach deren immer wiederkehrendem Erzählmuster durch das
Selbstopfer des Helden das Böse gebannt und die Rettung der
menschlichen Sozialität bewirkt wird. Vgl. ausführlich: H.M.Gutmann, Der Herr der Heerscharen, die Prinzessin der Herzen
und der König der Löwen. Gütersloh 3.Aufl. 2002, passim; am
Beispiel von Apokalypse-Filmen z.B. S. 123ff.
45
'bb' 106-4/2003
buchtipps
Beate LeSSmann (Hg.)
Mein Gott, mein Gott..., Mit Psalmworten
biblische Themen erschließen, Ein Praxisbuch für Schule und Gemeinde, Mit Beiträgen von Birgit Brandt, Daniela Kuschmierz,
Beate Leßmann, Annegret Middel-Peters und
Berthold Schwab, VIII/198 Seiten, Anlagen
(Bunte Bilder mit Interpretationsansätzen
aus dem Unterricht), CD-ROM mit Lied- und
Musikbeispielen, Neukirchener Verlag, 2002
Die im folgenden besprochene Veröffentlichung schlägt so
manche wirklich gute Publikation zum Jahr der Bibel um
Längen. Wenn den darin zusammengefassten Arbeiten geschieht, was sie verdienen, dann werden sie für noch lange
Zeit gekauft, verwendet, weitergegeben, verschenkt. Es wird
ihnen eben das geschehen, was guten Büchern zuteil wird.
Sie werden immer wieder zur Hand genommen. Unterstüzt
wird dies durch die Tatsache, dass es sich um ein in sich
multimediales Werk handelt. Zeichungen und Bilder sind gestaltete Fragen und Antworten, in spannenden Fällen beides
miteinander. Noch vielschichtiger wird die Angelegenheit,
kommt Musik dazu. Daniela Kuschmierz unternimmt es, die
uns nicht überlieferten Kompositionen zu den Psalmtexten
neu zu erfinden. (S. 149ff; besonders 158ff). Hinsichtlich der
Frage, ob unter dem Motto „im Meer der Angst“ auch noch
die Geschichte von der Stillung des Sturms nach Markus 4,
35-41 unterrichtlich entfaltet und existenziell gedeutet werden sollte, mag es verschiedene Meinungen geben. Doch
gewiss gehört es zu den Vorzügen des vorliegenden Buches,
dass in ihm so viel Verschiedenes gewagt wird. Ein so breites
Angebot kommt den eigenen didaktischen Entscheidungen der Leserinnen und Leser zugute. Es ist nicht der Sinn
einer Buchbesprechung, deren Gegenstand noch einmal zu
wiederholen. Also sei empfohlen: Selber lesen! Keine Seite,
keine Zeile, keine der erstaunlich einfallsreichen Abbildungen aus der Praxis verpassen! Damit wollen wir zu einigen
Hinweisen zum Umgang mit dem Buch kommen.
Das Buch ist schön, seinem Inhalt und seinen Methoden voll entsprechend, gestaltet. Das Schöne brauchte kein
Graphiker den vorliegenden Texten hinzuzufügen. Es ist
alles bereits in dem enthalten, was Autorinnen und Autoren
vorlegen. Für jede Lehrerin und jeden Lehrer praktisch und
theoretisch anregend nehmen sie die reiche Ernte bibeldidaktischer Erfahrungen und Einsichten auf und führen sie
weiter. Entdeckungen von Ingo Baldermann, Rainer Oberthür,
Alois Mayer und anderen im unterrichtlichen Umgang mit
Psalmen werden bei diesem Erntezug bevorzugt eingefahren. Meistens nahtlos schließen die Beobachtungen und
Ideen der Autorinnnen und des Autors, ihrer Schülerinnen
und Schüler an das Geerntete an.
Der Gefahr einer Bibelromantik erliegt erfreulicherweise
niemand von denen, die hier schreiben. Ihnen allen dient
die Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen zur
Sonde auf der Suche nach stimmigen existenziellen Deutungen von Psalmenworten. Die Beiträge des Buches sind
46
einfach spannend zu lesen. So nah verwandt sie unter
einander sind, jeder einzelne ist von unverwechselbar
individueller Feder geführt. Annegret Middel-Peters‘ Seelenvogel (S. 77 ff) z.B. in seinen gezeichneten und gedichteten Erscheinungsformen kann nicht mit Beate Leßmanns
Angebot zur Komposition von Bildvorgaben (Edward Munchs
Schrei) und vorbereitetend aufgeschriebenen Psalmworten
(S. 57 ff) verwechselt werden. Doch sind diese Erfahrungen
und Vorschläge einander nahe – kongenial mag das richtige
Wort sein. Zwischen anderen Beiträgen können ähnliche
Beziehungen beobachtet werden. Sie verlangen geradezu nach praktischer Erprobung. Ingo Baldermann nennt in
seinem Geleitwort dies „Buch eine neue Einladung zu einer
reizvollen Phantasie- und Entdeckungsreise, die ungewohnte
Ausblicke verspricht:“ (S. VI)
Die Schülerinnen und Schüler sowie Lernende außerhalb
der Schule werden realistisch gesehen. Fragen der eigenen
Lebenswirklichkeit, Gelingen und Scheitern, Angst und Hoffnung beherrschen die Gedanken und Gefühle der meisten
Menschen. Die Herausgeberin bemerkt einleitend „die
beeindruckende[n] Erfahrung [...], dass Worte der Psalmen
Kinder, Jugendliche und Erwachsene in Schule und Gemeinde so elementar in ihrem Menschsein ansprechen, dass sie
sich ganz spontan und unmittelbar auf die Sprache und die
Erfahrungen der Psalmen einlassen.“ (S. 1)
Am Anfang stehen zwei grundlegende Kapitel. Das erste
handelt von den alten Psalmen in heutigem religionspädagogischen Kontext (S. 3ff), während das zweite erfahrungsorientierte Zugänge zu Psalmworten aufzeigt, zugleich einen Methodenüberblick liefert (S. 21 ff). Es ist im Sinne eines korrekten
Umgangs mit Bibeltexten erfreulich und für die solide Arbeit
von Benutzerinnen und Benutzern hilfreich, dass exegetische,
z.B. auf die hebräische Ursprache bezogene Einsichten auf
unaufdringliche Weise anklingen. Das bewahrt davor, mit dem
einen oder anderen ‚Lieblingswort‘ beliebig umzugehen.
Die Herausgeberin behandelt in dem ersten der grundlegenden Kapitel die gewandelte Situation von Kindern und
Jugendlichen – nun unter dem Horizont von Psalmentexten.
Die Berührung von existenziellen Erfahrungen moderner
junger Menschen durch Klageworte in den Psalmen kommt
hier zur Sprache, die Abwesenheit des Gegenübers Gott bei
säkular aufwachsenden Kindern und die unbefangene Rede
von diesem Gegenüber bei anderen. Zu dieser Offenheit
für absolut unterschiedliches Schülerverhalten kann nicht
deutlich genug aufgerufen werden. An dieser Stelle wird
bereits klar, dass die Grundlegungen in jeder Zeile von der
Praxis mit Kindern handeln wie umgekehrt der bunte Reigen
der gebotenen Praxisbeispiele (S. 55 ff) immer wieder auf
Grundlegendes verweist. Es ist eine der Stärken des Buches,
dass darin der schematischen, für Schülerinnen und Schüler
übrigens langweiligen Trennung von Grundlegung und Praxis der Abschied gegeben wurde.
Eine andere delikate Frage berührt Leßmann, nämlich
wieweit der Unterricht theologisch orientieren soll, genauer
ob Gott als Adressat der Klagen in den Psalmen genannt
werden soll. Für sie steht fest: Das halte ich für notwendig,
'bb' 106-1/2004
um den Psalmen ihre Authentizität zuzugestehen. Aber auch,
um die Kinder und Jugendlichen heute ernst zu nehmen,
die spüren, dass sich solche Worte nicht an irgendjemanden
richten, sondern einen adäquaten Adressaten suchen. (S. 13)
Zum Beleg führt die Autorin Psalm 22,2 an, den Klageruf,
den christliche Tradition dem sterbenden Jesus zugeschrieben hat. In diesem Kontext besagt das Zitat, dass Jesus mit
seinem Gebetbuch gelebt hat – ein starkes Argument, aber
für Schülerinnen und Schüler – jedenfalls in der Grundschule – etwas subtil. Wer sich mit Texten der Bibel – Alten und
Neuen Testaments – beschäftigt, kommt um eine Auseinandersetzung mit jener von Dietrich Bonhoeffer für christliches
Reden in der säkularen, mündigen Welt erhobenen Forderung nicht herum. Sollen und können wir weiterhin religiös
von Gott reden, wie es eine lange Tradition uns lehrt? Oder
sollen wir von Gott reden, als ob es ihn nicht gäbe, etsi Deus
non daretur? Kein Beitrag in diesem Buch ist ohne eine von
Erfahrung getragene Liste von Psalmworten. Sie stellen uns
vor die Frage: Wie sieht das alles aus für ein Mädchen oder
einen Jungen, für die die gesamte Welt der Religion aus
‚Fremdwörtern‘ besteht?
Wichtiger erscheint die im Buch durchgängig berücksichtigte Praxis des jüdischen Gebets, dass die Worte der
Klage eng mit Elementen der Hoffnung und Zuversicht sowie
erfahrenener Hilfe verbunden sind. Anthropologisches und
Theologisches berühren sich hier wieder auf das engste
– wiederum sowohl in den Texten aus dem Psalter als auch
in den Lebenserfahrungen und ihrer Artikulation aus dem
Mund von Kindern und Jugendlichen.
Im Kapitel V, den Anlagen, sind drei unterschiedliche
Kompositionen innerhalb des Rahmens „Ich bin bei dir. Ich
bin für dich da“ abgebildet. Dreimal wird Edward Munchs
„Der Schrei“ verwendet. Vom Kontext her fast unterschiedliche Bilder! Die Geschichten eines Mädchens und von
zwei Jungen über ihre Angst und die Suche, da heraus zu
finden, erklären den Unterschied. Die Sehnsuchtsworte und
die Fragen, „„Bist du wie ein Arzt?“ (S. 212), „Bist du wie ein
guter Freund, dem ich vertrauen kann?“ (S. 213), und „Bist du
vielleicht mein Zuhause?“ (S. 214) eröffnen einen Blick in den
Reichtum des Lernprozesses, der hier abläuft. Alle Anlagen
mit Bildern in den originalen Farben und authentischen
Äußerungen der Lernenden sind beides zugleich: ein Schatz,
sich daran zu freuen, und reichhaltige Anregung für die eigene Praxis und das eigene Nachdenken.
Die Kapitel III (Praxisbeispiele) und IV (Beobachtung
eines 9-jährigen Jungen) des Buches entfalten zahlreiche
Beispiele für die erwähnten Erfahrungen. Jedes einzelne
davon hat für sich genug Überzeugungskraft, sodass es
die Autorinnen und Autoren den Leserinnen und Lesern
als Vorschlag anbieten können. Wir erläutern dies anhand
der auch in diesem Buch dominierenden Beispiele aus der
Grundschule.1 Die Tatsache, dass sich bereits jüngere Kinder
ebenso ernsthaft wie einfallsreich mit existenziellen Fragen
beschäftigen, ist für didaktische Ansätze grundlegend, die
unter den Chiffren „Philosophieren mit Kindern“ und „Theologisieren mit Kindern“ beliebt geworden sind. Das Vertrauen
auf die Sprachkraft von (nicht nur biblischen) Texten als Hilfe
zu ihrer Erschließung im Unterricht wurde im Anschluss an
Ingo Baldermann für längere Zeit als vorbildlich angesehen.
Gerade im Interesse eines bedachten Umgangs mit Sprache verdient es auch unsere Aufmerksamkeit, dass kritische
Rückfragen an diese in Leßmanns Buch so erfreulich dargestellte Vorgehensweise geäußert werden.
Die knappen, gefüllten und bildmächtigen Wendungen in
den Psalmen werden in den berichteten Beispielen aus den
sie ursprünglich umgebenden Kontexten herausgenommen.
Wenn Unterrichtende so vorgehen, bedienen sie sich der
assoziativen Denkfigur, die für kindliches Denken charakteristisch ist. Der dem Unterricht zugrunde liegende sprachliche
Ansatz ist demjenigen der Adressaten des Unterrichts ganz
nahe. Das ist aus inhaltlichen wie didaktischen Gründen zu
begrüßen. Inhaltlich ist festzuhalten, dass die Autoren von
Psalmen – zum Teil aus Gründen der Poesie – gern mit
assoziativen Verknüpfungen arbeiten. Didaktisch ist es immer
hilfreich, wenn Denkstrukturen eines Textes und jene von
Leserin bzw. Leser sich im Bereich der Assoziation treffen.
Allerdings fordert ein bewährter Grundsatz jeder
philologischen Arbeit, die Texte in ihrer je eigenen Struktur
zu belassen. Die Verfasser der Psalmen verwenden jene
ausdrucksstarken und in der existenziellen Wirklichkeit tief
verwurzelten Bilder. Aber diese stehen in den Texten nicht
isoliert. Sie sind vielmehr mit anderen, das Sein der Menschen beschreibenden Wendungen verbunden. Das ist zum
Beispiel bei der poetischen Parallelstruktur der Psalmen –
Parallelismus membrorum – der Fall. Um in diesem Widerspruch nicht in die Situation eines unauflöslichen Dilemmas
zu geraten, müssten die beiden Auslegungsformen – ganzer
Text und eine einzige, kurze Wendung – wechselseitig für
einander offen gehalten werden. Das geschieht in nicht
wenigen der hier vorgestellten Fälle.
Für Kinder und Jugendliche, denen wir im Unterricht begegnen, existiert diese Frage in entsprechender Weise. Es ist
ausgezeichnet, dass in dem von Beate Leßmann herausgegebenen, reichhaltigen und anregenden Buch solche Fragen
nicht vorschnell entschieden, sondern der Leserin und dem
Leser in großer Offenheit vorgelegt werden. Solche Offenheit
ist in sich ein Vorbild für guten Unterricht. In dieser Offenheit
werden Schülerinnen und Schüler einen angemessenen
Umgang mit Religion lernen. Die Sprache der Religion und
ihre Verankerung in der menschlichen Existenz sind wichtige Hilfen bei solcher Erkundung. Dies ist nicht einfach ein
weiteres Buch über Psalmworte im Unterricht. Es handelt sich
um eine Gemeinschaftsarbeit, die in der Thematik ein großes
Stück weiter führt. Denn damit liegt ein Buch vor, dem viele
Leserinnen und Leser zu wünschen sind. Es verdient nachhaltige Wirkung auf religionspädagogische Theorie und Praxis.
1
Der Herausgeberin wird in dem Gedanken zugestimmt, dass
Übertragungen der Beispiele auf die kirchliche Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, aber auch mit Gruppen von Erwachsenen ohne weiteres möglich sind. Um der besseren Lesbarkeit
dieser Besprechung willen wird dies jedoch weder im einzelnen ausgeführt noch häufiger angemerkt.
Herbert Schultze
Andreas Heinrich Bühler
Der Namaaufstand gegen die deutsche
Kolonialherrschaft in Namibia von 1904
bis 1913, IKO-Verlag, Frankfurt/M. – London
2003, 435 S., ISBN 3-88939-676-3, 42,90,
vierf. Paperback
Der Autor, der als Soziologe längere Zeit in Namibia gelebt
hat und dort während der Unabhängigkeitsbewegung mit
der SWAPO sympathisierte, legt mit dem Buch seine Dissertation vor. In der mit beinahe 2000 Anmerkungen versehenen Arbeit macht er sich auf die Spurensuche nach den
Ursachen und Auswirkungen des Widerstandes der Völker
im heutigen unabhängigen Staat Namibia während der
deutschen Kolonialzeit. Die Kenntnis- und Begriffsverwirrung
47
'bb' 106-1/2004
über vor und während der Kolonialherrschaft im damaligen
Deutsch-Südwestafrika lebenden Völker ist in der heutigen
Geschichtsschreibung nach wie vor groß. In Walter Nuhns
Buch „Sturm über Südwest“ (2002), in dem er über den
Hereroaufstand von 1904 als „düsteres Kapitel der deutschen
kolonialen Vergangenheit Namibias“ schreibt, nennt er als
„Eingeborenenstämme“ die Ovambo, Herero, Hottentotten,
Baster und Buschmänner. Bei der Unterscheidung der einzelnen Völker wird bis heute keine kulturelle und ethnologische
Differenzierung vor genommen, wie z. B. der Titel einer Hörfunksendung des DeutschlandRadio Berlin „Hottentotten. Der
Herero-Aufstand 1904 in Deutsch-Südwestafrika, von Ursula
Trüper (12.1.04) zeigt. Über den so genannten“ Herero-Aufstand, der sich in diesem Jahr zum einhundertsten Mal jährt,
gibt es mittlerweile eine Reihe von populärwissenschaftliche
Veröffentlichungen; über den so genannten Nama-Aufstand,
der von 1904 bis 1913 fast zehn Jahre dauerte, finden sich
bisher wenige Forschungsberichte. Die Nama, die eine
Untergruppe der Hottentotten bilden, sind, nach Nuhn, „eine
separate, schwer einzuordnende Rasse kurzwüchsigen,
mongoliden Typs, die sogenannte Khoisan-Rasse, deren
sprachliche Eigentümlichkeit die Schnalzlaute sind“. Im Lexikon-Eintrag (Das Bertelsmann-Lexikon in zehn Bänden, Bd.
4, 1973, S. 371) lesen wir: „Hottentotten, ein nomad. Hirtenvolk mit jägerischem Einschlag, das mit den Kap-H., Ost-H.,
Korana und Nama weite Teile Südafrikas bewohnte, aber
durch Verdrängung, Kriege... und Bastardisierung nahezu
ausgerottet ist, bis auf rd. 44.000 Nama, meist in Reservaten
Südwestafrikas. Kulturelle Ähnlichkeiten, bes. im Religiösen,
deuten auf Beziehungen zu den Buschmännern“. Der Begriff
„Hottentotten“ geht uns heute allerdings nicht so leicht über
die Lippen, weil er im deutschen (kolonialen und nachkolonialen?) rassistischen Sprachgebrauch angewandt wurde.
Die wissenschaftliche Spurensuche nach dem deutschen
Imperialismus und Kolonialismus ist schwierig, wie in einem
Ausstellungskatalog des Afrikahauses Sebnitz zu lesen ist;
und sie bedarf eines natürlich objektiven, behutsamen Vorgehens. A. H. Bühler dürfte dies mit seiner Forschungsarbeit
gelungen sein.
Dem Autor fällt zuerst einmal auf, dass es in der
bisherigen Aufarbeitung der Kolonialgeschichte DeutschSüdwestafrikas, im heutigen Namibia, zwar eine Reihe von
Arbeiten zum „Herero-Aufstand“ (1904) gebe, aber keine zum
langjährigen Aufstand im Nama-Land. Die Aktenlage zur
Geschichte des Nama-Aufstands sei schwierig, aber bei entsprechendem Aufwand hervorragend, so Bühler. Es gelang
ihm, die o.a. zahlreichen Quellenmaterialien aus staatlichen
Archiven in Namibia, Missionsbibliotheken dort, in Südafrika
und Deutschland und aus mehreren Privatsammlungen zusammen zu tragen. Der Urenkel des legendären Namaführers, Captain Reverend Dr. Hendrik Witbooi, stellte ihm sogar
eine Kopie des Tagebuchs seines Urgroßvaters Hendrik
Witbooi zur Verfügung.
Bei der Aufspürung nach den Ursachen der Aufstände
der einheimischen Bevölkerung, sowohl der Herero, als auch
des Nama-Volkes, kristallisiert sich aus der Quellenlage
heraus, dass besonders deren völlige Abhängigkeit von den
deutschen Kolonialherren sie zum Widerstand trieb: Wegnahme von Land und Weidegebieten, herrenvölkischer und
rassistischer Umgang, Ausbeutung durch weiße Händler,
Reservatspolitik.
Der Umgang der damaligen Reichsregierung mit den
Aufständischen, ihre rigorose, kompromisslose und nicht
zuletzt herrische und imperiale Machtpolitik, habe entscheidend zur Eskalation beigetragen, wie August Bebel von
48
den Sozialdemokraten im Reichstag am 9.5.1904 zusammen fasst: „...eine ganz und gar skrupellose Gewinnsucht
einzelner und ganzer Erwerbsgenossenschaften, insbesondere direkter betrügerischer Kauf und Verkauf, ... rigoroses
Schuldeneintreiben, ... Rechtlosigkeit der Hereros (und der
anderen Völker, J. S.) in sehr vielen Fällen, wo das Recht klar
auf ihrer Seite stand, ... Selbsthilfe der Weißen dort, wo der
Herero etwas beging, was sie glaubten sich nicht gefallen
lassen zu dürfen, körperliche Mißhandlungen der allerschlimmsten Art, vielfach auch Tötung einzelner Hereros...
sittlichen Verfehlungen der Weißen gegen Hererofrauen... in
sehr hohem Grade der Schnaps, der in ungeheuren Mengen
dort eingeführt wird, an der psychischen und moralischen
Degeneration der Eingeborenen gearbeitet... die Verbitterung
der Eingeborenen aufs höchste gefordert worden durch die
weitgehende Beschlagnahme ihres Grund und Bodens, die
Wegnahme ihrer besten Ländereien“. Die Entsendung von
Generalleutnant v. Trotha als militärischer Befehlshaber in
der Kolonie, und damit die Entmachtung des damaligen
Gouverneurs Leutwein, machte zudem die unterschiedlichen
Auffassungen sowohl im Reich als auch in der Kolonie über
die Art und Weise deutlich, wie die koloniale Politik geführt
werden sollte.
Beim langjährigen Nama-Aufstand nahm der Repräsentant des Volkes, Kapitän Hendrik Witbooi, eine Schlüsselposition ein. Er, der anfangs mit den Deutschen kooperierte
und dessen Loyalität sich die Kolonialherren sicher glaubte,
vor allem auch, weil die Witboois beim Herero-Aufstand auf
der Seite der Kolonialherren standen, führte den Widerstand
an. Aus den Quellenmaterialien wird deutlich, dass insbesondere die Enttäuschung Witboois über die Kolonialpolitik
der Deutschen zu seinem Gesinnungswandel beitrug: „In
den letzten Jahren sah Hendrik Witbooi mit Besorgnis, wie
sein Land immer kleiner wurde und eine Wasserstelle nach
der anderen in die Hände der Weißen überging...“. Die
unterschiedliche Interpretation des Schutzvertrages, den die
Kolonisatoren mit dem Nama-Volk 1894 schlossen, war ein
weiterer Grund zum Aufstand der Nama. Im Vertrag verpflichteten sich die Weißen, „die Gesetze und Sitten seines
Landes zu achten und nichts dagegen zu tun“, während
auf der anderen Seite der Kapitän für „Ruhe und Ordnung
zu sorgen und (zu) gestatten, dass die Weißen im ... (Land)
ungestört Handel (zu) treiben und Aufenthalt (zu) nehmen“
hatte. Die unzähligen Konflikte zwischen den Deutschen und
den Nama, die ungerechte, rassistische Rechtssprechung
und die Praktiken der Ausbeutung strapazierten schließlich
die Geduld der Kolonisierten bis zum Zerreißen!
SPD und Zentrum, vom letzteren vor allem der Abgeordnete Matthias Erzberger, griffen in der „Heimat“ immer wieder
die verschiedenen Skandale und Fehlentwicklungen in der
Kolonialverwaltung in Berlin, als auch in der Kolonie selbst,
auf; Erzberger bezeichnete den Besitz der Kolonie in DeutschSüdwestafrika in einer Reichstagsdebatte gar als „nationales Unglück“. Wegen der Bereicherungsversuche, auch der
monopolisierten Reederei Woermann aus Hamburg. Bismarck
benutzte in diesem Zusammenhang gar den Ausdruck, dass
die Kolonialpolitik dazu da sei, um Millionäre zu züchten.
Die Einschätzung und die Einflussnahmen auf die
verschiedenen militärischen und Verwaltungsaktionen der
Deutschen in der Kolonie, vor allem während der Hereround Nama-Aufstände, waren seitens der kolonialen Verwaltungs- und Regierungsstellen und der Missionen kontrovers.
So entwickelte sich seitens der Siedler wie des Gouverneurs
eine massive Kritik an den Tätigkeiten und Zielen insbesondere der Rheinischen Mission; den evangelischen Missio-
'bb' 106-1/2004
naren wurde, im Gegensatz zum Verhalten der katholischen
Mission, unpatriotisches Handelns vorgeworfen. So beklagt
sich etwa ein deutscher Farmer 1905, dass gerade bei
den kriegerischen Auseinandersetzungen die „christlichen
Eingeborenen sich als die arbeitsscheuesten, verlogensten,
frechsten und unehrlichsten unter ihren Stammesgenossen
erwiesen haben“. Parteinahme für die Rechte der Afrikaner
und die Anprangerung der Missstände und rassistischen Verhaltensweisen der Weißen durch die Missionare wurde von
den Kolonialherren als verwerflich angesehen. Der Windhoeker Pfarrer Anz stellte 1904 in einem Leserbrief fest: „Wenn
Mord und Totschlag, Misshandlungen mit Latten, Stöcken
und Rhinozerospeitschen bis zur Bewusstlosigkeit, Schändigung der Frauen und Töchter der Hereros diejenige Kultur
und Gesittung darstellen, die wir den Herero aufzudrängen
suchen, dann ist es kein Wunder, dass sich das edlere und
höhere sittliche Gefühl dieser Volksstämme gegen derartige
Schändlichkeiten empört“.
Eine besonders gravierende Maßnahme der Kolonialherren war es, die Anführer und Soldaten der Nama, die
Hendrik Witbooi den Deutschen zu Beginn des Herero-Aufstandes als Kämpfer zur Verfügung gestellt hatte, mit dem
Ausbruch des Nama-Aufstandes zu deportieren; zuerst in
Swakopmund, dann in Togo und Kamerun; mit dem Ergebnis,
dass durch die klimatischen und unmenschlichen Bedingungen der Haft ein Großteil der Betroffenen starb. In diesem
Zusammenhang fällt auch der Begriff „Konzentrationslager“,
wie denn auch die Zustände in den Internierungslagern
die Bezeichnung „Todeslager“ verdienen. Nach der Niederschlagung des Nama-Aufstandes durch den Einsatz von ca.
14.000 deutschen Soldaten stellte sich für die Kolonialverwaltung wie für die deutschen Farmer die Entschädigungsfrage. Die Schäden, durch Viehraub und Vernichtung von
Farmgebäuden wurde durch eine Regierungskommission auf
ca. 12,5 Millionen Reichsmark geschätzt. Den afrikanischen
Völkern wurden dafür große Stückzahlen des ihnen noch
verbliebenen Viehs abgenommen. Dazu wurden große Teile
des Stammlandes der namibischen Völker beschlagnahmt
und als Farmland an deutsche Siedler verkauft. Von Trothas
rigorose Kriegsführung und Rachegelüste obsiegten gegen
die Bedenken des Gouverneurs Leutwein und des Ansiedlerkommissars Rohrbach: „Man ist hier, um wegen eines Landes Krieg zu führen, das deutscher Besitz geworden ist; aber
wenn dieser Besitz nicht bloß aus totem Sand, Klippen und
Dornbusch bestehen, sondern einen lebendigen nationalen
Wert darstellen soll, so gehören eben die Ochsen und Kühe
wie die Hereros, die sie für uns züchten sollen, zu ihm, und
wenn dies lebendige Inventar an Mensch und Vieh einmal
vernichtet ist, so nützt alle zivile und militärische Befehlsgewalt nichts mehr dazu, um es wieder ins Dasein zu rufen“.
Auch im Reichstag kam seitens der SPD und des Zentrums
Widerstand: „... was soll mit den Eingeborenen Südwestafrikas überhaupt werden, wenn ihnen das Land genommen
wird? Sie würden gezwungen sein, auf den einzelnen
Farmen als Viehhüter und Tagelöhner ihr Brot zu verdienen“.
So bezeichnet Bühler denn auch die folgenden weiteren
Maßnahmen der Kolonialverwaltung „eine moderne Art von
Sklaverei im eigenen Land“. Durch die so genannten „Eingeborenenverordnungen“ wurden bereits 1905 Mischehen verboten, ab 1906 wurde allen Völkern, die nicht zu den Owambos gehörten, das Betreten des Owambolandes verboten;
das Vermögen und Land der Aufständischenführer, Hendrik
Witbooi, Simon Cooper, Samuel Maharero, Manasse Noroseb,
sowie der Witboois, Bethaniers, Fransmanns, Veldschoendragers, Roten Nations und Bondelzwarts enteignet. Der neue
Gouverneur von Lindequist führte ab 1907 weitere Maßnahmen durch: die „Maßregeln zur Kontrolle der Eingeborenen“,
die „Verordnungen über Dienst- und Arbeitsverhältnisse“ und
die „Verordnung über die Passpflicht der Eingeborenen“. Nun
endlich, so Bühlers Fazit, konnte die Kolonisierung Namibias
beginnen; ganz im Sinne eines zynisch wirkenden, in der Zeit
aber als sehr real dargestellten Beitrags in der Deutsch-Südwestafrikanischen Zeitung: „Kolonisieren ist und bleibt eine
Härte, eine Vergewaltigung, indem der eingesessenen eingeborenen Bevölkerung ihr Land und Besitz genommen wird;
nicht durch Morden und Würgen wie in alten Zeiten, sondern
durch zielbewusste kluge Politik. Der Eingeborene, der seinen
Besitz verloren hat, der arm geworden ist, tritt in den Dienst
des Weißen; dadurch, dass er den Segen der Arbeit kennen
lernt, wird auch der Wechsel für ihn zum Segen...“.
Wo bleibt das Lektorat, möchte man angesichts der doch
zahlreichen Druck- und Setzfehler im Buch fragen. Dieser
Mangel allerdings schmälert nicht die qualitativ und inhaltlich gute Arbeit von Andreas Heinrich Bühler. Er liefert damit
einen weiteren, notwendigen Baustein in der Erforschung
und Aufarbeitung eines der dunklen Kapitel deutscher
Kolonialgeschichte. Die deutschen kolonialen Verirrungen,
die sich dabei gezeigten Rassismen und Menschenfeindlichkeiten, müssen ans Tageslicht gebracht werden; genau so in
den ehemaligen Kolonien Togo, Kamerun, Ostafrika, Neuguinea und Samoa.
Obiora F. Ike / Ndidi Nnoli Edozien
Afrika in eigener Sache. Weisheit, Kultur
und Leben der Igbo, IKO-Verlag, Frankfurt/M – London, 2003, 195 S., 16,20; ISBN
3-88939-691-7
Die in der Reihe „Ezi Muoma – Afrika verstehen“ vom Fachbereich Katholische Theologie der Universität Frankfurt/M.
herausgegebene Schrift des Professors für Sozialethik und
afrikanische Studien, Leiters des Instituts für Entwicklung,
Gerechtigkeit und Frieden und Generalvikars der Diözese
Enugu, Obiora Francis Ike und des Managers Ndidi Nnoli
Edozien, beide aus Nigeria, ist eine jener erfreulicher Weise
in letzter Zeit zunehmenden Bemühungen von Afrikanern,
ihre kulturellen Sichtweisen und Reflexionen in den internationalen Diskurs zu bringen. 1962, in den Zeiten der ersten
Unabhängigkeitsjahre der meisten afrikanischen Länder,
warnte der madagassische Schriftsteller und Politiker, Jacques Rabemananjara in einem Aufsatz über die „Kolonialzeit
als Grundlage unserer Einheit“ die afrikanischen Völker:
„Wenn uns der Westen nicht bis ins Mark mit seinen heimlich
schwärenden Krankheiten infizieren soll, dürfen wir ... nichts
mehr übernehmen und nichts mehr nachleben, was wir
nicht selber durchdacht, geprüft und erfahren haben“. In den
Zeiten der sich immer interdependenter entwickelnden Welt,
den Problemen, die durch die Globalisierung vor allem für
die Menschen im Süden der Erde sich aufdrängen, sind kulturelle Bestandsaufnahmen und Analysen, gewissermaßen
als Folien für den interkulturellen Dialog, unverzichtbar.
Die Autoren beginnen ihr Buch mit einer Massai-Erzählung, im Stil einer Fabel. Das ist nicht ungewöhnlich, um den
afrikanischen Dialog zu beginnen; bildet doch die mündliche
Überlieferung, in der Märchen, Sprichwörter, Gesänge und
Geschichten ein über Jahrhunderte lebendiges Kommunikationsmittel sind (oder waren?), die Grundlage eines gemeinschaftsorientierten Zusammenlebens. Das Volk der Igbo
besiedelt überwiegend die Küstenregionen des heutigen
Nigeria, in Westafrika. Die menschheits- und sprachge-
49
'bb' 106-1/2004
schichtliche Herkunft des Igbo-Volkes lässt sich den BantuGruppen zuordnen, die ihren Ursprung im Großraum Sudan
haben. Die kulturelle Entwicklung der Igbo unterscheidet sich
von anderen Völkern der Region, so dass die Autoren von
„Igbo-Konzeptionen“ sprechen, die sich in der Kunst, Religion
und Religiosität, Ehe und Familie, Ahnenkult, Land, Besitz und
Eigentum und in egalitären gesellschaftlichen Wertvorstellungen ausdrücken. In Anlehnung an die in der „Bantu-Philosophie“ des flämischen Paters Pacide Tempels formulierte
„Lebenskraft“ (Energie) und an die Negritude Léopold Sédar
Senghors erinnernde, gemeinschaftsstiftende Auffassung
– „Ich bin, weil wir sind, und weil wir sind, bin ich“ – formulieren Ike und Edozien Werte, die sie als die „Spiritualität
Afrikas“ bezeichnen: „Chi, einer Identität, an jedes Geschöpf
– eine Seele, eine einmalige Bestimmung, die es frei und
einmalig machte und durch die es Achtung verdient“. Das
Geschenk Afrikas zum universellen, menschlichen und spirituellen Dialog seien Werte wie: Feiern, Lebensfreude, Lachen,
Achtung der Frau, Vergebung, Versöhnung und Spiritualität.
Aber ... die Erosion beginnt! Igbo-Land und das heutige
Afrika insgesamt befänden sich am Scheideweg zwischen
der Übernahme von (westlich beeinflussten) Modernisierungsentwicklungen und Bewahrung der traditionellen,
gesellschaftlichen Strukturen. Das Plädoyer könne jedoch
nicht lauten: Alles Moderne negieren, sondern sich „der Herausforderung stellen und die Welt für einen neuen geistigen
Rahmen gewinnen, in dem eine rein afrikanische Wirklichkeit
verankert ist“. Das Autorenteam unternimmt deshalb den
Versuch, ihre Sprache und die kulturellen Ursprünge ihres
Rechts zu reflektieren und zu definieren; das, was der Kenianer Henry Odera Oruka als „Sage Philosophy“ bezeichnet,
in der ethische Verantwortlichkeit, soziale und historische
Relevanz eine unabdingbare Verbindung eingehen. Sie
drücken es aus in dem „traditionellen Gebet über die Oji
(Kolanuss)“: „Was ein alter Mann im Liegen sieht: / Hat das
ein junger Mann je besser gesehen, / Selbst wenn er auf
dem höchsten Baum sitzt?..“. Im traditionellen Alltagsrecht
nehmen die Igbo Gebetssprüche als Ausdruck ihres Rechtsund Gerechtigkeitsempfindens zu Hilfe, z.B.: Nke onye diri ya
= Jede Person erhalte das, was ihr zusteht; Onye iro m diri,
ma m diri = Möge mein Feind leben, aber ich auch; Ogburu
onye n`onye ga-ala: Möge der, der tötet, dem Toten folgen;
Njo na njo zu kwara = Möge Böses mit Bösem vergolten
werden; Mma na Mma zu kwara = Möge Gutes mit Gutem
vergolten werden; Egbe bere, Ugo bere = Möge der Milan
auf der Stange sitzen, und der Adler auch. „Ala“, die Erde,
hat im Igbo-Dasein eine besondere Bedeutung und drückt
sich in vielen Kulten und Ritualen aus: „Der Glaube der Igbo
an die Erdgöttin bestärkt die soziale Gerechtigkeit“; und „Ekwensu“, die Mächte des Bösen, stehen immer als verführerische Alternative zum „guten Leben“. Beschworen wird auch
„Igwe Bu Ike“: Solidarität bedeutet Stärke. Sie setzen damit
dezidiert einen Kontrapunkt zu den individualistischen und
egoistischen Entwicklung, sowohl in der Igbo-, wie der WeltGesellschaft.
Es gilt, das könnte die Botschaft des Buches sein, sich
mit der Geschichte, Kultur, Philosophie und den alltäglichen
Lebensweisen der Menschen in Afrika zu beschäftigen und
sich auf die Suche nach authentischen und bleibenden Werten zu machen, um der Erosion der afrikanischen Integrität
Einhalt zu gebieten. Der Dialog zwischen den Kulturen ist
hierbei ein probates Mittel, um Ethno-, Euro- und Germanozentrismen aus unseren Köpfen zu bringen; gleichzeitig
es den Afrikanern zu ermöglichen, ihre eigenen kulturellen
Identitäten sich und uns bekannt zu machen – damit die
50
Miss-Entwicklungen, die Aimé Césaire in einem Brief an
Maurice Thorez 1956 an die Wand malte, nicht eintreten:
„Es gibt, für die Afrikaner, zwei Arten sich zu verlieren: durch
Einmauerung im Partikularen, oder durch Auflösung im
Universellen“. Deshalb: „Chukwo Gozie Afrika – Gott (und die
Menschen) mit dir!“
Das Buch „Afrika in eigener Sache“ liefert, so nebenbei,
eine Reihe von Texten, die als Unterrichtsmaterial verwendet
werden können: Sprichwörter, Märchen, Fabeln, Geschichten.
Die Interpretationen, die die Autoren im Sachzusammenhang
mitliefern, ermöglichen es, sie didaktisch einzusetzen.
Thomas Ducks
Von weißen Wilden und wilden Weißen.
Facetten der europäisch-überseeischen Begegnung; IKO-Verlag, Frankfurt/M. – London
2003, 103 S., ISBN 3-88939-679-8
Nationale und internationale Konflikte haben ihre Ursachen
nicht selten in nationalen und kulturellen Höherwertigkeitsvorstellungen, Ethnozentrismen, Fremdenfeindlichkeit,
Rassismen und Fundamentalismen. In der Zeit, in der die
Staaten der Erde und die Menschen sich in ihrem kulturellen
Denken und Handeln immer interdependenter entwickeln,
auf wirtschaftlichen, politischen, humanen und nicht zuletzt
kulturellen Gebieten, ist es notwendig, von der Grundlage
der eigenen kulturellen Identität aus einen interkulturellen
Perspektivenwechsel zu vollziehen und eine Kompetenz für
ein globales, gleichwertiges Bewusstsein zu erwerben. Der
Ethnologe, Politologe und Journalist Thomas Ducks bietet
dazu in dem dünnen Bändchen gewichtige Argumente und
gehaltvolle Informationen an.
Der Ethno- und Eurozentrismus hat im Laufe der Geschichte in vielfältiger Weise -ismen erzeugt, die sich in der
Macht von Menschen über Menschen darstellen. Vermeintlich „höherwertiges“ Denken herrschte über „primitives“ und
brachte Sklavenhandel, Kopfjagd (vgl. dazu: Martin Baer /
Olaf Schröter, Eine Kopfjagd. Deutsche in Ostafrika, Ch.LinksVerlag, Berlin 2001), Imperialismus und Kolonialismus hervor.
Ducks beginnt seine Schrift mit einer Provokation: Was wäre,
wenn die „anthropologische Gesellschaft auf Honolulu“
an den deutschen Reichskanzler das Ansinnen gerichtet
hätte, eine Anzahl typischer Schädel aus Deutschland, z. B.
Keltenschädel, wendische Schädel, bayerische Schädel...,
für Forschungszwecke zur Verfügung zu stellen? Und doch
waren Schädelmessungen und andere höchst zweifelhafte
anthropologische Methoden in der so genannten „KolonialEthnologie“ alltäglich und bestimmten nicht nur den wissenschaftlichen Diskurs, sondern selbstverständlich auch die
Einstellungen und Auffassungen des Großteils der Europäer.
Der Autor zeigt, wie in einem historischen Defilee mit
Aktualitätsbezug, verschiedene Daten auf, die zur „kolonialen Weltordnung“ führten, in Amerika, Afrika und Asien.
Neben einer Reihe von rassistischen, imperialistischen und
kolonialistischen Anlässen, entdeckt er auch einige positive
Bemühungen, wie sie etwa beim First Universal Races Congress im Juli 1911 in London, bei dem sich Wissenschaftler
aus allen Erdteilen darum bemühten, den Trend umzukehren
und „universale Menschlichkeit“ forderten; die jedoch in den
Vorzeichen zum Ersten Weltkrieg keine Chance hatten. In einer kulturgeschichtlichen Erwiderung auf die unsägliche und
rassistische Parole „Deutschland den Deutschen“ erinnert
er in zahlreichen Beispielen daran, dass wir geworden sind,
was wir sind, durch Kulturaustausch – und -einflüssen von
anderen Denkweisen auf unsere eigenen Kulturen. Unser
'bb' 106-1/2004
Bild vom Fremden ist geprägt von Stereotypen, an denen wir
festhalten, als wolle man uns ein Spielzeug wegnehmen,
formuliert Susan Arndt in ihrem Buch „AfrikaBilder. Studien
zu Rassismus in Deutschland (2001) das Problem. In zwei
Thesen stellt Ducks die aktuelle gesellschaftliche Situation so
dar: Europa und Außereuropa seien seit 1492 geteilte Andere, in der Gegenüberstellung von „Primitiv“ und „Zivilisiert“.
Diese geteilte Vergangenheit sei bis heute nicht aufgearbeitet; und: Trotz der Aufklärung habe sich in Europa bisher kein
nennenswertes Interesse an einem interkulturellen Dialog
entwickelt. Über das „Anschauen“ von unserer eigenen
hohen Warte der kulturellen Überlegenheit aus, seien wir
bisher nicht zu einem ganzheitlichen, globalen Bewusstsein
gelangt. Von den „Völkerschauen“ in den Tierparks um die
Jahrhundertwende, der Zurschaustellung der „Wilden“, bis
hin zur heutigen Unfähigkeit, historische Schuld einzugestehen, etwa während der deutschen Kolonialzeit – in diesem
Jahr jährt sich zum einhundertsten Mal der Völkermord
an den Hereros und Namas in der damaligen deutschen
Kolonie Südwestafrika (Namibia). Durch den Vergleich von
ausgewählten Sitten und Gebräuchen aus verschiedenen
Kulturen liefert er interessante Aspekte für den notwendigen
Diskurs zur Erreichung einer interkulturellen Kompetenz („Fettnäpfchen-Pädagogik“).
Sein „Brief an die Heimat“ ist eine köstliche Persiflage
und gleichzeitig eine satirische Meisterleistung: Im Stil der
bekannten „Blickwechsel-Literatur“, etwa Hans Paasches
Briefe des Afrikaners Lukanga Mukara aus Deutschland an
seine Landsleute, hält er uns einen wahrhaftigen Spiegel vor
über unsere „Wirklichkeiten“ und die Diskrepanzen zu unseren vermeintlichen und normativen Ansprüchen: „Ausländer
bereiten vielen Deutschen ein Gefühl des Unbehagens. Am
liebsten wären sie nur unter sich. Nicht wenige Bürgerinnen
und Bürger in Deutschland sind nämlich der festen Überzeugung, dass Verschiedenheiten die Menschen immer trennen
müssen und niemals verbinden können...“.
Den Schluss des Bändchens bildet eine kluge Auseinandersetzung um die Tendenzen, kulturelle Werte zu relativieren, besonders im Zusammenhang mit der Durchsetzung
der Menschenrechte auf der Erde. Die Schrift ergänzt auf
amüsante, kompetente und lehrreiche Weise die zum Glück
in den letzten Jahren intensivere Diskussion darüber, wie in
den Zeiten der Globalisierung das „Eine-Welt-Bewusstsein“
bei allen Menschen auf der Erde gestärkt werden kann. Wir
müssen bei uns damit anfangen!
Gregor Lang-Wojtasik / Claudia Lohrenscheit (Hg.)
Entwicklungspädagogik – Globales
Lernen – Internationale Bildungsforschung; IKO-Verlag, Frankfurt/M. – London
2003, 353 S., 24,80, ISBN 3-88939-675-5
Es gilt, eine gewichtige und innovationsausgreifende Initiative vorzustellen, die 1978 von Alfred K. Treml, heute Professor
für Allgemeine Pädagogik an der Universität der Bundeswehr in Hamburg, angeschoben wurde: Es gibt, so schrieb
er seinerzeit, kein einziges, regelmäßig erscheinendes Blatt,
das sich schwerpunktmäßig mit den Themenbereichen
von Entwicklung und Entwicklungsproblemen befasst. Eine
Zeitschrift musste also her, um den Diskurs in Gang zu bringen, was Entwicklung in unserer Gesellschaft und in denen
der Welt für eine Bedeutung habe(n) solle und wie in der
Pädagogik und Bildungsarbeit mit dem „Entwicklungsbegriff
im Wandel“ umzugehen sei. Die „Zeitschrift für Entwicklungspädagogik“ (ZfE) war geboren, die heute „Zeitschrift für
internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik“ (ZEP) heißt. Aus Anlass des 25jährigen Bestehens haben
Dr. Gregor Lang-Wojtasik, Wissenschaftlicher Assistent am
Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik an der Universität Erlangen-Nürnberg, und Dr. Claudia Lohrenscheit, interkulturelle
Pädagogin an der Universität Oldenburg und jetzt Mitarbeiterin des Deutschen Instituts für Menschenrechte, Berlin, den
o.a. Sammelband herausgegeben. Aus der Vielzahl der im
Laufe der 25 Jahre in der ZEP erschienenen Beiträge haben
sie 25 Texte ausgewählt. Sie ordnen sie ein in die Bereiche:
„Zur Theorie der Entwicklungspädagogik“, „Globales Lernen
in konzeptionellen Offerten und pädagogischen Handlungsfeldern“ und „Internationale Bildungsforschung“.
Entwicklungspädagogik als Begriff und (Bildungs- und
politische) Aufgabe hat besonders in der Zeit, in der die Länder und Regionen der Erde – und damit auch die Menschen
– immer interdependenter zusammenwachsen, kollidieren
oder ohnmächtig über sich ergehen lassen (müssen), eine
neue Bedeutung gewonnen. Widerstand oder Mitspielen der
Globalisierungstrends und -tatsachen, die auf allen Lebensgebieten die Menschen dieser tangieren, stehen im Widerstreit des Diskurses. Andreas Novy (Entwicklung gestalten,
2002) gibt dazu seinen Rat: „Wir werden das Spiel spielen
müssen und es gleichzeitig nicht akzeptieren – und es nicht
akzeptieren, indem man es anders spielt“. Jean Zieglers
Kritik am „Dschungelkapitalismus““ (Die neuen Herrscher der
Welt und ihre globalen Widersacher, 2002) ist anderer Art:
„Die brüderliche und solidarische, freiere und gerechtere Zivilgesellschaft, die auf einem von allen Beutejägern befreiten
Planeten entstehen wird – sie ist im Werden begriffen. Wie
sie aussehen wird, vermag niemand zu sagen“. Damit diese
„Eine Welt“ humaner, gerechter, friedfertiger und demokratischer sich entwickelt, ist Lernen als Möglichkeit zur Verhaltensänderung erforderlich. Im Diskurs der ZEP heißt dieser
Bildungsauftrag „Globales Lernen“, was dann bedeutet, „globale Probleme in komplexen Zusammenhängen pädagogisch so zu vermitteln, dass die Lernenden ermutigt werden,
Globalisierung kompetent zu gestalten“. Gegen die „Pax
americana“ oder die „Pax Nordesia“, als bisheriges Kennzeichen der „geteilten Welt“, in die nördliche Hemisphäre mit
Wohlhabenheit und Industrialisierung, und in die südliche
der „Habenichtse“, gilt es ein Bewusstsein zu entwickeln für
eine „weltbürgerliche Erziehung“ und „Erziehung zur internationalen Verständigung“ (Klaus Seitz).
„Allen Kulturen ist die Hoffnung auf (eine gerechtere
und friedvollere) Zukunft zu eigen“, dieses Paradigma des
leider viel zu früh verstorbenen Gottfried Mergner, eines der
wichtigen Motoren der internationalen Bildungsforschung, ist
heute aktueller denn je; geht es doch darum, in den Zeiten
der Hegemonalmächte das Bewusstsein dafür zu schärfen
und mit befördern zu helfen, die Entfremdungen zwischen
den Kulturen aufzuheben und die Mentalitäten zu dekolonisieren. Amüsant Barbara Töpfers den in der zeitweisen
ZEP-Rubrik ZEPpelin 1996 veröffentlichten Zwischenruf „...der
blinde Fleck der eigenen Lehre“ (des eigenen Tuns!) nachzulesen. Solche individuell-hintergründigen Reflexionen finden
sich heute leider kaum noch in Fachzeitschriften, auch nicht
in der ZEP; genau so wenig wie Alfred Tremls Notizen im
entwicklungspolitischen Tagebuch. Die ZEP-Redaktion sollte
solche „Zeitzeichen“ wieder in das Heft hinein nehmen. Ein
wichtiges Paradigma im interkulturellen, globalen Diskurs ist
die kritische Reflexion der eigenen Kultur und des eigenen
individuellen und gesellschaftlichen Handelns. Solche „Wege
kultureller Selbstreflexion“ (Renate Nestvogel) und der damit
als Aufklärungsaufgabe einzufordernder Perspektivenwech-
51
'bb' 106-1/2004
sel als Bestandteil einer interkulturellen Kompetenz benötigen der Beförderung in der pädagogischen, theoretischen
und praktischen Diskussion. „Kindheit ist nicht kinderleicht“
(Ulrich Klemm), hier bei uns nicht – und schon gar nicht in
den Ländern des Südens der Erde.
Das Verdienst der Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik (ZEP), die sicherlich
auf den Gebieten des Interkulturellen und Globalen Lernens
d a s kompetente Sprachrohr, Anregungs- und Innovationsinstrument in Deutschland darstellt, kann nicht hoch genug
eingeschätzt werden. Die bisherigen 25 Jahre stellen eine
solide Grundlage dar für weitere Jahrzehnte des Bestehens.
Der von Lang-Wojtasik und Lohrenscheit vorgelegte Sammelband sollte überall da in den Bücherregalen und Handapparaten stehen, wo darüber nachgedacht wird, wie wir
gemeinsam das Leben auf unserer Erde, in der Gegenwart
und Zukunft humaner, gerechter und demokratischer für alle
Menschen unserer EINEN WELT mit gestalten können.
Wolfgang Sander
Politik in der Schule. Kleine Geschichte
der politischen Bildung in Deutschland,
Schüren-Verlag, Marburg 2004, 175 S., 16,90
Euro, ISBN 3-89472-271-1
Politik als Fach, als fächerübergreifende Bildungsaufgabe
wie auch als Unterrichtsprinzip ist heute nicht mehr umstritten. Auch die politische, gesellschaftliche Erziehung
und Bildung von Kindern und Jugendlichen gehört seit der
Einführung des neuzeitlichen Schulwesens in Deutschland zu
den unverzichtbaren curricularen Bestandteilen des Lehrens
und Lernens in der Schule.
Wolfgang Sander, Didaktiker für Gesellschaftswissenschaften an der Justus-Liebig-Universität Gießen, Mitbegründer der Gesellschaft für Politikdidaktik und politische
Jugend- und Erwachsenenbildung (GPJE), Chefredakteur der
Zeitschrift kursiv - Journal für politische Bildung und Autor
verschiedenen Veröffentlichungen zur politischen Bildung,
will die Schrift als eine Einführung in die Geschichte der
schulischen politischen Bildung in Deutschland verstanden
wissen. Dabei beginnt er in seiner Darstellung mit der politischen Situation im 16. und 17. Jahrhundert; wobei er sich
in seiner Systematik eng an die Ereignisse der politischen
Geschichte, mit dem Blick auf die Entwicklung der schulischen Bildung, anlehnt. Die klug ausgewählten Text- und
Illustrationsbeispiele ermöglichen es dem Leser, die notwendigen Parallelen von der institutionalisierten Erziehung zu
Aufklärungspädagogik zu ziehen, also von den der Erkenntnis vom „Eigenrecht des Kindes und der Kindheit, die im Kind
nicht länger nur einen kleinen Erwachsenen erblickte und die
die individuelle Lebensgeschichte des Menschen als durch
Erziehung beeinflussbaren Prozess erkannte“, bis hin zur Einrichtung von Volks- und Elementarschulen in jener Zeit. Die
eigentliche Geburtsstunde der politischen, schulischen Bildung datiert Sander in die Zeit der Französischen Revolution
und die sich daraus entwickelnde Bildungspolitik in Preußen.
Von 1871 bis 1918, im deutschen Kaiserreich also, wirkten
zwei Entwicklungskräfte auf das Bewusstsein ein, dass zur
Allgemeinbildung des Menschen auch die politische Kompetenz gehört: Die mit der Industrialisierung einhergehende
Modernisierung des gesellschaftlichen Lebens, und die
durch die Bildung des neuen Nationalstaates notwendige
soziale Integration der Gesellschaft. Diese im politischen und
hierarchischen Kräftespiel nicht unumstrittene Auffassung
vom homo politicus wurde in der Weimarer Verfassung, Art.
52
148, fest geschrieben: „In allen Schulen ist sittliche Bildung,
staatsbürgerliche Gesinnung, persönliche und berufliche
Tüchtigkeit im Geiste des deutschen Volkstums und der
Völkerversöhnung zu erstreben“. Staatsbürgerkunde und Arbeitslehre wurden als ordentliche Lehrfächer in den Schulen
eingeführt. Doch bereits hier klafften zwischen dem Verfassungsanspruch und der schulischen Wirklichkeit Lücken; z. B.
heißt es in den Bestimmungen für die preußische Mittelschule 1925: „Für die Staatsbürgerkunde sind besondere Stunden
im Lehrplan nicht anzusetzen. Sie ist vielmehr mit dem
Geschichtsunterricht aufs engste zu verbinden“. Der ideologisierten Politisierung während der Zeit des Nationalsozialismus folgte schließlich die von den Siegermächten veranlasste „Umerziehung“ der Bevölkerung hin zu demokratischem,
in den Besatzungszonen des Westens, und sozialistischem
Denken und Handeln, in der sowjetisch besetzten Zone. Die
Gegenüberstellung der politischen schulischen Konzepte und
Curricula in den Schulen in der BRD auf der einen Seite und
denen in der DDR auf der anderen, bringt eine Reihe von
bedenkens- und aufhebenswerten Aspekten zu Tage; etwa,
wie die „Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit“ eingebunden war in eine, die gesamte schulische Erziehung und
Bildung umfassende „Weltanschauungsideologie“; und den
Schwierigkeiten, fachliche Profilierung und Professionalität in
der schulischen politischen Bildung zu etablieren. Erst Anfang
der 60er Jahre bildete sich eine eigenständige Fachdidaktik
Politik, die sowohl auf die schulische Curriculumentwicklung
Einfluss hatte, als auch auf die Hochschule, mit der Politikwissenschaft als wissenschaftliche Disziplin: „Der Mensch ist von
Natur aus zoon politikon“ (Kurt Gerhard Fischer).
Die „kleine Geschichte der politischen Bildung in
Deutschland“ endet heute. In der derzeitigen politikdidaktischen Theorie- und Praxisdiskussion geht es darum, das
„genaue Hinsehen und Hinhören“ als politische Kompetenz
zu vermitteln, und die Lehrenden instand zu setzen, „Lernumgebungen“ zu planen, die ein Lernen, im Sinne von
Verhaltensänderung, ermöglichen. Eine so verstandene
„politikdidaktische Diagnostik“ aber bedarf eines Schulsystems und einer Schulorganisation, die nicht (mehr) den
„zerstückelten Schüler“ produziert, der in der ersten Stunde
Mathe, in der zweiten Religion, in der dritten Deutsch, in der
vierten..., fachhäppchenweise vorgesetzt bekommt, sondern
der politische, gesellschaftliche und andere Zusammenhänge erkennen kann und sich selbst als Individuum als ein Teil
einer Gemeinschaft der Menschheit verstehen lernt.
In der Schrift fehlt leider die Auseinandersetzung um die
Bedingungen in der heute und morgen sich immer interdependenter sich entwickelnden Welt. Die „Zeit der Globalisierung“ und die auf den Einzelnen wie auf die regionale,
nationale und internationale Gemeinschaft einwirkenden
Kräfte und Mächte, erfordern auch von der schulischen und
außerschulischen politischen Bildung neue Überlegungen,
damit die allenthalben zu beobachtende „Politikmüdigkeit
und -resignation“ nicht zu einer Demokratie gefährdenden
Entwicklung wird. So sollte sich künftig die Politikdidaktik
meines Erachtens stärker den Aspekten eines ganzheitlichen,
globalen Lernens zuwenden, und - nicht zuletzt - auch für
eine (neue) Curriculum- und Schulsystemreform eintreten.
Das Buch „Politik in der Schule“ kann als Kompendium
Studierenden und LehrerInnen und all denen, die an der
Emanzipation der Bildung für die kulturelle und interkulturelle Identitätsentwicklung der Menschen interessiert sind,
wertvolle Anregungen bieten.
Jos Schnurer
'bb' 106-1/2004
inhalt 'bb' 106-4/2003
liebe leser
1
meditation
„weil die welt, umgeben von der weisheit gottes, gott durch ihre weisheit nicht er­kannte, gefiel es gott wohl, durch die
torheit der predigt selig zu machen, die daran glauben.“
2
u-entwurf:
menschen fragen nach gott
4
christliche orthodoxie im unterricht
10
fachbeitrag:
islam im deutschen alltag
religiosität im leben türkischstämmiger jugendlicher
16
ein kreuz wird zum lebensbaum
hoffnung gestalten im religionsunterricht der grundschule –
wie lässt sich das schwierige thema „abschied nehmen“
mit seinen unterschiedlichen aspekten kindgerecht aufbereiten?
21
ironie und humor
annäherungen aus linguistischer und
kommunikationswissenschaftlicher sicht
25
fachbeitrag:
bibel und moderne gesellschaft
33
fachbeitrag:
wiederkehr der erziehung? zu lebenswelten jugendlicher und (religions-)
pädagogisch notwendigen perspektiven heute
37
buch- und medientipps
46
heiko lamprecht
werner thiede
bernhard brennecke-betschel
hans-georg babke
necla kelek
u-entwurf:
malte stoffel
fachbeitrag: jörk kilian
friedrich weber
hans-martin gutmann

Documents pareils