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braunschweiger beiträge für theorie und praxis von ru und ku 106 4/2003 issn 0172-1542 herausgegeben vom KIRCHENCAMPUS Wolfenbüttel schriftleitung: hans-georg babke und heiko lamprecht gesamtkirchliche dienste der ev.-luth. landeskirche in braunschweig arbeitsbereich religionspädagogik und medienpädagogik postfach 16 64, 38286 wolfenbüttel telefon: [05331] 802-507 oder -504 • fax: [05331] 802 713 http://www.arpm.de • e-mail: [email protected] impressum Schriftleitung: Pfarrer Dr. phil. Hans-Georg BABKE, ARPM, Wolfenbüttel Pfarrer Heiko LAMPRECHT, ARPM, Wolfenbüttel Mitarbeiter dieses Heftes: Prof. Dr. Hans-Martin GUTMANN, Schwenckestr. 52 20255 Hamburg Bernhard BRENNECKE-BETSCHEL, Ulmenweg 4, 38364 Schöningen Dr. Necla KELEK, Isestr. 57, 20149 Hamburg PD Dr. Jörg KILIAN, Parkstr. 5, 38350 Helmstedt Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, Immelmannstr. 40, 31137 Hildesheim Prof. Dr. Herbert SCHULTZE, Tangstedter Landstr. 32B, 22415 Hamburg Malte Stoffel, Böcklerstr. 5, 38102 Braunschweig Pfarrer PD Dr. Werner Thiede, Richard-Wegner-Str. 8, 75242 Neuhausen Dr. Friedrich Weber, Landesbischof der Ev.-luth. Landeskirche in Braunschweig, Dietrich-Bonhoeffer-Str. 1, 38300 Wolfenbüttel Layout: Veronika SCHNEIDER, ARPM, Wolfenbüttel Druck: Druckerei KOTULLA, Wolfenbüttel ‘braunschweiger beiträge’ erscheinen viermal im Jahr. Preis im Abonnement 9,00 EURO; Einzelheft 3,00 EURO Auflagenhöhe ‘bb’ Heft 106-4/2003: 2.500 Exemplare Bestellaufnahme: Arbeitsbereich Religionspädagogik und Medienpädagogik Gesamtkirchliche Dienste der Ev.-luth. Landeskirche in Braunschweig Dietrich-Bonhoeffer-Str. 1, 38300 Wolfenbüttel Tel.: [05331] 802 507 • Fax: [05331] 802 713 http://www.arpm.de • e-mail: [email protected] Landeskirchenkasse Wolfenbüttel, EKK Hannover, Konto 65 05, BLZ 250 607 01 Ab- und Raubdrucke sowie Fotokopien und sonstige Vervielfältigungen sind dringend erwünscht. Bitte Quellenangaben nicht vergessen, zwei Exemplare immer als Beleg an uns. Wir freuen uns, danke! Quellen: Titelbild: „Tanzendes Paar“, „Lebensfäden“ Stickbild, Erdmute Trustorff Beilage: Folie „Die heilige Liturgie v. Michael Damaskenos“, 16. Jhdt. (Sinaitische Hg. AikaterineKirche, a.d. Hl. Menas-Kirche, Herakleion) Liebe Leserin, lieber Leser! Auf dem Gang treffen sich zwei Kollegen. Sagt der eine mit finsterem Gesicht: „Hast du schon gehört, McKinsey will uns abschaffen!“ und beginnt düstere Szenarien zu entwickeln. Darauf der andere augenzwinkernd: „Sag ich doch: Alles wird besser!“ Beide grinsen. In Zeiten der Umbrüche, Veränderungen und Ungewissheiten hat Humor Hochkonjunktur, nicht nur der Galgenhumor. Und schon gar nicht der oberflächliche. Ironie schafft Distanz, schafft Raum zum Durchatmen. In der Herstellung von Inkongruenzen drückt der Sprechende verschlüsselt seine Einstellung zum Sachverhalt und seine Beziehung zum Gegenüber aus. Aber wie funktioniert Ironie? Eine Antwort gibt Jörg Kilian in seiner Betrachtung sprach- und kommunikationswissenschaftlicher Aspekte des Themas „Ironie und Humor“. Ein weiterer Schwerpunkt dieses Heftes ist die Frage der Lebenswelten Jugendlicher. Necla Kelek stellt Ergebnisse ihrer Untersuchung zur Religiosität türkischstämmiger Jugendlicher vor. Ihr Artikel, in dem sie auch auf eigene biografischen Erfahrungen zurückgreift, zeigt, wie notwendig verstärkte Integrationsbemühungen von beiden Seiten und speziell auch die Verständigung über einen Wertekonsens sind. Im Rahmen der Debatte um die Ergebnisse der aktuellen Shell-Jugendstudien und der Frage sinnvoller Organisation von Bildung weitet Hans-Martin Gutmann den Blick auf die prägenden Kontexte, in den Jugendliche aufwachsen: die Perspektivlosigkeit angesichts von Massenarbeitslosigkeit, ebenso wie der Verlust stabiler sozialer Räume, die Orientierung, aber auch soziale Heimat bieten. Das Jahr 2004 bringt für das Schulwesen in Niedersachsen einschneidende Veränderungen, neben den Orientierungsstufen werden auch die Bezirksregierungen abgeschafft. Vieles stellt sich erst in Umrissen dar. Klar ist dagegen für etliche Kolleginnen und Kollegen, dass für sie ein Neuanfang ansteht. Dieses gilt auch für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im ARPM, das nun nicht mehr ein „Amt“ ist, sondern ein „Arbeitsbereich für Religionspädagogik und Medienpädagogik“. In diese Zeit des Übergangs, der Veränderung, auch der Ungewissheiten begleitet uns die Jahreslosung, die zu einem hilfreichen Perspektivwechsel einlädt: „Jesus Christus spricht: Himmel und Erde werden vergehen; meine Worte aber werden nicht vergehen.“ (Mk. 13, 31) Mit herzlichem Gruß meditation „Weil die Welt, umgeben von der Weisheit Gottes, Gott durch ihre Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott wohl, durch die Torheit der Predigt selig zu machen, die daran glauben.“ Das könnte Paulus heute nicht so leicht passieren: durch die „Torheit der Predigt“ aufzufallen! Ich meine damit weniger den Umstand, dass in unserer Kirche gerade dort, wo man sich um aktuelle Klugheiten bemüht, manch törichte Predigt gehalten wird. Vielmehr denke ich daran, dass die „Torheit der Predigt“ oder allgemeiner: die Torheit, die Narrheit in religiösen Angelegenheiten hier und da zur Mode oder sogar zur Methode geworden ist. Ein bekanntes Beispiel dafür wären die Jünger des vor zehn Jahren verstorbenen Gurus „Osho“: Der hatte als „Bhagwan“ seine göttliche Erleuchtung gerade mit dem Hinweis unterstrichen, dass seine Jünger sich des Verstandes entledigen sollten! Und wie Paulus hatte dieser neureligiöse Führer dabei durchaus die „wahre Weisheit“ im Blick. Aber auch an die Beliebtheit des Irrationalen im Gesamtumfeld der Esoterik sei erinnert. Und sogar dann, wenn wir von der Welt des Religiösen einmal absehen, grinst uns das postmoderne Phänomen einer Relativierung aller Auffassungen von „Vernunft“ entgegen. In der Folge gewinnen vielerlei Tendenzen erneuter Mythologisierung in Kultur und Politik Raum, egal ob links oder rechts. Kurzum – das Ja zu einer „Torheit der Predigt“ ist heute nichts spezifisch Christliches mehr. Ich gehe noch weiter und sage: Sogar das Gegenteil ist zunehmend unter uns der Fall! Denn das, was Paulus mit „Torheit“ gemeint hatte, nämlich die Rede vom Gekreuzigten, den Gott (laut Römer 3,25) als „Sühnopfer“ öffentlich aufgestellt hat, ist im Raum unserer Kirche mittlerweile für nicht wenige tatsächlich zum Skandalon geworden. Als „Torheit“ gilt heutzutage unter vielen Theologen, was unsere Väter in ihren Gesangbuchversen noch als Gottes Erlösungstat gepriesen haben. Das „vergossene Blut des Opferlammes Jesus“ ist, um nur eines von vielen Beispielen zu nennen, für den Wort-zum-Sonntag-Prediger Heiko Rohrbach ein „biblischer Alptraum“, und er bedauert ausdrücklich, „dass Teile der frühen Christenheit Jesu Tod als rituelles Opfer dargestellt haben“. Nur keine „Torheit der Predigt“ dem zahlenmäßig ohnehin schrumpfenden Kirchenvolk zumuten! Das überlässt man lieber den sogenannten „Sekten“ und „Fundamentalisten“. Mit sektiererischen Tendenzen dürfte Paulus bereits zu tun gehabt haben, als er sein Wort von der „Torheit der Predigt“ formulierte. Wie der Kontext der Eingangskapitel des 1. Korintherbriefs verrät, gab es in der Adressatengemeinde Spaltungen, etwa eine Apollos- und sogar eine eigene Christus-Gruppe. Darunter waren Leute, die in enthusiastischer Gesinnung sich schon spirituell reich und satt wussten; sie hatte der Apostel offensichtlich im Blick, als er vor jener „Weisheit der Rede“ warnte, die das Kreuz Christi entwertet. Aber auch in dieser Hinsicht ist die Lage heute eben eine andere. Wir sind nämlich mit etlichen Sekten und Theosophien konfrontiert, die das Kreuz Christi keineswegs zu entwerten, sondern durchaus hochzuschätzen pflegen. Die Palette reicht von den Mormonen und Zeugen Jehovas über die Anthroposophen bis hin zum Orden Fiat Lux und zum „Universellen Leben“. Sie alle fürchten sich vor solcher „Torheit“ mitnichten. Ja sie verstehen es, den Gekreuzigten in die von ihnen propagierte „wahre Weisheit“ zu integrieren. Beinahe möchte man im Blick auf dieses Phänomen den Apostel erneut zitieren: „Was vor der Welt töricht ist, hat Gott erwählt, damit er die Weisen zuschanden mache, ... auf dass sich kein Fleisch vor Gott rühme.“ 2 'bb' 106-4/2003 Und doch muss man gerade bei den betreffenden Sekten und Esoterikern feststellen, dass sie das Kreuz Christi, indem sie es in ihre Weltanschauung eingebaut haben, auf subtile Weise zum Eigenruhm missbrauchen. Sie predigen den Gekreuzigten jeweils so, dass er ihnen zur Selbsterhöhung dient. Was sie aus dem Kreuz machen, ist in der Regel doch kaum mehr als ein Baustein im Gebäude religiöser Leistungsgerechtigkeit. Ihre Weisheit ist ungeachtet ihrer Rede vom Kreuz Jesu im Sinne des Apostels Paulus als „Weisheit dieser Welt“ einzuordnen. Sie ist insofern letztlich doch nicht besser und nicht schlechter als die Weisheit jener Welt, von der sich Sektierer so gern absetzen. Überhaupt gilt ja von allen „religiösen“ Menschen, von Heiden und Juden gleichermaßen, was Paulus über Weisheit und Torheit schreibt. Er spricht von der Welt insgesamt, die – obwohl von Gottes Weisheit umgeben – durch ihre Weisheit Gott nicht erkannte. Selbst in dieser Hinsicht muss man freilich fragen, ob wir heutzutage noch so reden können. Dass die Welt von Gottes Weisheit umgeben sei, ist im Laufe der Neuzeit immer weniger selbstverständlich geworden. Die neue Chaosforschung hält für das Werden und Bestehen der Welt den Begriff der „Selbstorganisation“ bereit. Aber auch abgesehen von der modernen Naturwissenschaft lassen spätestens seit Ausschwitz und Hiroshima all die Menschen, die am Schöpfer zweifeln, sich nicht einfach mehr als „Toren“ hinstellen. Dennoch kann uns gerade in dieser Situation die Rede vom Gekreuzigten in ihrer Weisheit neu bedeutungsvoll werden. Denn das Wort vom Kreuz spricht eben von dem Gott, dessen Anwesenheit vermisst wird, der „das alles zulässt“. In Jesu Gebetsschrei am Kreuz „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ vermittelt sich das Paradoxon der verborgenen Transzendenz. Daraus quillt jene Weisheit, die die Welt in keiner Weise zu beschönigen braucht – und die trotzdem an Gottes Liebe glauben kann, über alle menschliche Vernunft hinaus! Deshalb existieren Christen im Raum einer letzten Umgriffenheit: als „Sterbende, und siehe, wir leben“, als „Betrübte, aber allezeit fröhlich“, wie Paulus an die Korinthergemeinde schreibt. In solcher Fröhlichkeit, in solch heiliger Freude dürfen wir als Narren Christi gelten: als Toren, denen sich im Gekreuzigten Gottes Sein als unendliche, unwiderrufbare Liebe erschlossen hat, als Menschen, die deshalb noch lachen oder lächeln können, wo andere dafür keinen Anlass mehr sehen. Werner Thiede 3 'bb' 106-4/2003 u-entwurf: menschen fragen nach gott bernhard brennecke-betschel Einzelthemen der Unterrichtseinheit: 1. Menschen erfahren Licht und Schatten 2. Wenn alles zu Bruch geht. Eine Lebenserfahrung (1-2 Stunden) 3. Wie Menschen mit der Wirklichkeit umgehen 4. Wo ist da Gott? 5. Wie Christen versucht haben die Frage nach Gott zu beantworten 6. Jesus redet von Gott Geplante nächste Unterrichtseinheit: Krieg und Frieden Angaben zur Unterrichtseinheit und Stellung der Stunde in der Einheit Die Einheit basiert auf dem Wunsch der Schülerinnen, die Frage nach Gott zu erörtern. Hierbei handelt es sich um eine Aufgabenstellung, die im schulischen Kontext nur durch didaktische Reduktion auf wesentliche Elemente angenommen werden kann. In dieser Einheit geht es im Wesentlichen darum, ausgehend von Grunderfahrungen menschlicher Existenz nach Gott zu fragen und in elementarisierter Form einige theologiegeschichtliche und religionskritische Weichenstellungen zur Gottesfrage so zu vermitteln, dass Schülerinnen eigene Probleme wiedererkennen und reflektieren können. Von Bedeutung wird sein, den Schülerinnen zu vermitteln, dass Gott nicht auf die Ebene des Beweisbaren oder nicht Beweisbaren gebracht werden kann, sondern dass wir uns bei der Diskussion um die Gottesfrage im Bereich der gedeuteten menschlichen Erfahrungen bewegen. Wie alle Erfahrungen ist auch die Frage nach Gott umstritten. Auch Fehlschlüsse sind möglich und im Verlauf der Geschichte immer wieder vorgekommen. Daher sollen die Schülerinnen zum Ende der Unterrichtseinheit bestimmte Denkmechanismen durchschauen, die zu Fehlentwicklungen in Theologie und Frömmigkeit geführt haben. Der Hinweis auf den Christus, der in einer bis dahin völlig neuen Weise von Gott spricht, ist unerlässlich. Die vorliegende Stunde greift besonders den Themenbereich der elementaren Erfahrungen menschlicher Existenz auf und verbindet diesen mit der Themenstellung der 4 Einheit. Vom Verlauf dieser Stunde leiten sich nachfolgende inhaltliche Schwerpunkte ab. Zur Situation der Lerngruppe: Die Lerngruppe ist seit Beginn des Schuljahres 2002/2003 aus den Klassen 10.1/10.2 zusammengesetzt und besteht aus 11 Schülern und 8 Schülerinnen. Etwa die Hälfte der Schülerinnen wird von mir seit der 7. Klasse in evangelischer Religion unterrichtet. Der Unterricht wird z.Zt. mit einer Wochenstunde erteilt. Den Inhalten des Religionsunterrichtes haben die meisten Schülerinnen Interesse entgegengebracht und ihre Bereitschaft zur Mitarbeit durch gute Beteiligung am Unterrichtsgeschehen gezeigt. Hierbei wurden kreative Arbeitsanweisungen und Methoden besonders geschätzt. Die Arbeit in dieser Lerngruppe ist geprägt von dem Verlangen der Schülerinnen nach neuer Wertorientierung und der Forderung nach einem verlässlichen, eigenständig erlangten Weltbild. Hieraus ist das Thema der Unterrichtseinheit erwachsen. Zu berücksichtigen ist auch, dass Religionsunterricht in dieser Abschlussklasse zunehmend dem Interesse an Fragen der Berufsfindung, Problemen der Arbeitswelt und - aus aktuellem Anlass - der vermehrten Diskussion um Krieg und Frieden ausgesetzt ist. Diesem Umstand soll durch ein entsprechendes Themenangebot unbedingt Rechnung getragen werden. Didaktische Legitimation Die vorliegende Unterrichtseinheit integriert sich in den Katalog der verbindlichen Themen, die in den Rahmenrichtlinien für das 10. Schuljahr vorgesehen sind. Insbesondere wird hier das Lernfeld „Bedingungen und Möglichkeiten individueller und gesellschaftlicher Existenz“ berührt. Unter „Beispielhafte Inhalte“ ist das Thema „Lebenskrisen“ ausgewiesen. Die Hospitationsstunde greift dieses Thema direkt auf. Darüber hinaus lassen nachfolgende Stunden sinnvolle Verknüpfungen zu anderen thematischen Aspekten erkennen, so sind z.B. Inhalte der Bergpredigt Bestandteil der 6. Stunde der Einheit. Auch der Umstand, dass sich für viele Menschen gerade in tiefen Lebenskrisen die Frage nach Gott besonders dringlich stellt, findet hier Berücksichtigung. 'bb' 106-4/2003 Die Entscheidung, auf welcher Grundlage die Thematik den Schülerinnen nahegebracht werden soll, ist sowohl theologischer als auch didaktischer Natur. Theologisch besteht die Möglichkeit, mit Aussagen über die Wesenhaftigkeit Gottes einzusetzen und von daher zur Welt und zum Menschen vorzudringen. Das beschreibt den Weg von „oben nach unten“. Er kann legitim sein, birgt aber die Gefahr in sich, in dogmatischen Glaubensformulierungen zu enden, die kaum Widerspruch zulassen. Aus diesem Grund entscheide ich mich, den entgegengesetzten Weg zu wählen, nämlich bei der menschlichen Wirklichkeit anzusetzen, bei ihrer Vielfalt und Widersprüchlichkeit und von da aus zurückzufragen nach Erfahrungen der Anwesenheit Gottes. Zur Lebenswirklichkeit vieler Schülerinnen gehört die Erfahrung des Auseinanderfallens der Familie, der Verlust von Freunden und Bezugspersonen, sowie die Einschränkung von Zukunftsperspektiven u.a.m. Das Thema der Unterrichtsstunde ist also durchaus im Erfahrungshorizont der Schülerinnen verankert. Die Hinweise und Inhalte der Unterrichtsplanung verstehen sich als eine Möglichkeit zur Bewältigung von bereits erlebten oder zukünftigen Krisensituationen. Sachanalyse Die Schülerinnen dieser Altersgruppe stehen in mehrerer Hinsicht in einem Übergangsstadium. Zum einen ist es die biologische Schwelle zwischen Kindheit und Erwachsensein und zum anderen der Übergang vom Schulleben zur Arbeitswelt, von Vertrautem zu Fremdem. Dieser Übergang ist naturgemäß begleitet von bestimmten Hoffnungen, Vorfreude und z.T. euphorischer Aufbruchstimmung, andererseits gibt es Befürchtungen, Selbstzweifel und Versagensängste. Nicht jeder Lebensweg verläuft geradlinig nach oben. Auch das Scheitern und der Zerbruch sind möglich. Dies gehört zu den elementaren Lebenserfahrungen, von denen im Prinzip niemand ausgenommen ist. Eine Vielzahl biblischer Texte thematisiert diesen Teil menschlicher Wirklichkeit. Das Wesentliche ist, dass der Zustand zwar erkannt und beschrieben wird, hier in der Symbolik eines zerbrochenen Kruges, die Zusagen des Evangeliums aber nicht im bloßen Klagen darüber verharren. Vielmehr ist es das Anliegen dieser Texte, gerade in der Krise Trost zu spenden, neue Hoffnung zu wecken und zum positiven Handeln zu ermutigen. Indem die Bruchstücke wieder zusammengesetzt werden, entsteht etwas Neues. Der Zerbruch wird zur Chance eines kreativen Prozesses; zum Beginn einer neuen Schöpfung. Die Intentionen der biblischen Texte können also in diesem Sinne so gedeutet werden, dass das neu Entstandene nicht eine minderwertige Notlösung ist, sondern eine eigenständige, unverwechselbare, individuelle und wertvolle Kreation. Konkret soll dies bedeuten, dass die Zusagen der biblischen Texte aus Jesaja 43 Vers 19 sowie Psalm 34 Vers 19 dazu auffordern und ermutigen, sich den Herausforderungen eines Neubeginns aus dem Zerbruch zu stellen, nicht im Sinne einer Wiederherstellung des alten Zustandes, sondern einer Neuwerdung. Auf dieser Grundlage können z.B. Beziehungen neu gestaltet werden, Sinngebungen der Existenz neu definiert werden, kurz: dem Leben und seinen Möglichkeiten zugewandt bleiben. Lernziele: Ziele der Unterrichtseinheit: • • • • Die Schülerinnen sollen erkennen, wie inmitten der menschlichen Wirklichkeit von Gott geredet werden kann. Die Schülerinnen sollen erkennen, wie Christen in unterschiedlichen geschichtlichen Situationen versucht haben, ihre Gottesvorstellungen zu verdeutlichen. Die Schülerinnen sollen erkennen, dass es zu den zentralen Intentionen des christlichen Glaubens gehört, die Menschen zu ermutigen dem Leben positiv zugewandt zu bleiben. Die Hinweise der Unterrichtseinheit sollen die Schülerinnen anregen, Konsequenzen für ihr persönliches Leben und ihr mitmenschliches Engagement zu ziehen. Ziele der Stunde: Die Schülerinnen sollen... • die Hinweise der christlichen Religion, besonders in krisenhaften Lebenssituationen, als Angebot zur Bewältigung und Gestaltung des Lebens erkennen. • wissen, dass es zu den wesentlichen Intentionen des christlichen Glaubens gehört, anstelle von Resignation zu Hoffnung und Neubeginn zu ermutigen. Feinziele: Die Schülerinnen sollen erkennen dass... • zwischen Wunsch und Wirklichkeit oft ein großer Unterschied besteht. • im menschlichen Lebensvollzug auch Scheitern und Zerbruch in unterschiedlichen Lebensbereichen möglich ist. • bestimmte biblische Texte menschliche Erfahrung und Wirklichkeit wiedergeben. • die Zusagen des Evangeliums auch extreme Situationen des körperlichen und seelischen Zerbruchs mit einschließen. • Krisensituationen als Chance eines Neubeginns interpretiert werden können. 5 'bb' 106-4/2003 Methodische Begründung Als Medium zum Einstieg in die Unterrichtsstunde wird eine Folie gewählt, die einen jungen Mann zeigt, der im Türrahmen stehend einen Raum verlässt und einen Treppenanstieg vor sich hat. In dem verlassenen Raum finden sich verschiedene Insignien der Kindheit. Diese Folie bietet den Schülerinnen viele Möglichkeiten zur Identifikation und Parallelen zur eigenen Situation an. Es darf daher mit motivierter Mitarbeit gerechnet werden. Der optische Impuls der Barriere führt zu einer vertieften Auseinandersetzung mit möglichen Schwierigkeiten im konkreten Lebensvollzug. Zur weiteren Steigerung der Dramaturgie wird ein zuvor als idyllisch wahrgenommenes Bild abrupt zerstört. Was gerade noch heil und harmonisch war, ist mit einem Schlag zerstört; es bleibt ein Scherbenhaufen zurück. Der symbolische Gehalt dieses Vorganges scheint mir sehr deutlich auf bestimmte Erfahrungen menschlicher Existenz hinzuweisen und wird sehr wahrscheinlich von den Schülerinnen erkannt und im Sinne der angestrebten Lernziele umgesetzt. An dieser Stelle ist es nun angebracht, den Schülerinnen die Gelegenheit zu geben, eigene Erfahrungen einzubringen, wobei der Sitzkreis die optimale Erzählsituation gewährleistet. Es kann nicht selbstverständlich davon ausgegangen werden, dass Schülerinnen in diesem Rahmen bereit sind, von eigenen Lebenskrisen, die u.U. sehr persönlich und intim sein können, zu berichten. Daher werden die Fotos als weiteres Medium ausgelegt. Indem die Schülerinnen die Geschichte auf eine fiktive Person projizieren, entsteht ein geschützter Raum. Man kann so die eigene Erfahrung berichten, ohne sich zu „outen“. Schon das Aussprechen von belastenden Erlebnissen kann unter der Voraussetzung des Schutzraumes als Ent- lastung empfunden werden und soll zumindest als Möglichkeit angeboten werden. Da es sich in dieser Phase um eine sehr offene Unterrichtssituation handelt, kann der zeitliche Rahmen nicht eindeutig bestimmt werden. Sollte hier ein starkes Mitteilungsbedürfnis deutlich werden, wird der Lehrer diesem den nötigen Raum geben. Ein vorschnelles Beenden soll vermieden werden, weil die Wahrnehmung und Darstellung menschlicher Krisensituationen eine wichtige Grundlage der weiteren Gestaltung des Unterrichts sind. Insofern ist der weitere Verlauf von den Interessen und Beiträgen der Schülerinnen abhängig. Um auch tiefe Lebenskrisen mit in die Überlegung einzubeziehen, kann der Lehrer sich schließlich selbst an dem Erzählen von Beispielen beteiligen oder die Ballade als Liedvortrag wählen. Diese hätte den Vorteil, das Motiv der Folie aufzugreifen und, indem sehr drastisch der körperliche und seelische Zerbruch eines jungen Menschen geschildert wird, den Unterricht inhaltlich voranzubringen und so weit zuzuspitzen, dass das anschließende Bibelzitat nahezu optimal vorbereitet und in seiner Aussage den Schülerinnen verständlich wird. Außerdem können Schülerinnen, die möglicherweise bisher innerlich distanziert geblieben sind, zu größerer 6 emotionaler Nähe und Betroffenheit gelangen. Erfahrungen aus anderem Kontext haben gezeigt, dass viele Schülerinnen zu dieser Möglichkeit einen guten Zugang haben. Die Entscheidung, welche methodische Variante gewählt wird, soll aus der Situation heraus erfolgen. Eine zentrale Fragestellung ist die nach den Möglichkeiten der Bewältigung von Lebenskrisen. Als mögliche Antwort bietet sich ein ganzer Markt an „Heilsbotschaften“ der verschiedensten Weltanschauungen an. Das Einbringen biblischer Texte ist die bewusste Kanalisierung auf den Anspruch der christlichen Religion. Auch die Reihenfolge der Texte ist von Bedeutung: Geht es im ersten Zitat darum, einen krisenhaften Zustand anschaulich zu beschreiben und ihn somit zu Bewusstsein zu bringen, also nicht zu verdrängen, so will das zweite Zitat Mut zusprechen, den Aufbruch aus der Krise zu wagen. Diese Reihenfolge ist aus psychologischer Sicht sinnvoll. Als Kontrast zu dem Scherbenhaufen präsentiert der Lehrer schließlich einen unvollkommen zusammengeklebten Krug, der als Vase nicht mehr geeignet ist, aber für eine neue Aufgabe „wie geschaffen“ ist. Durch dieses anschauliche Objekt haben Schülerinnen und Lehrer viele Möglichkeiten, Assoziationen zu wecken und Symbolisches zu Konkretem zu transferieren. Sinnanregendes Lernen findet so statt. Es wird bewusst die Methode gewählt, vom Symbol her die Frage nach Gott zu deuten. Alle Versuche von Gott zu reden können nur unvollkommen sein. Symbole ermöglichen einen Zugang, sehr Komplexes anschaulich zu machen. Ein sehr ansprechendes, meditatives Bild könnte entstehen, wenn eine Kerze entzündet wird und die zerbrochene Vase nun eine neue Bestimmung als Leuchte erhält, durch die der Kerzenschimmer hindurchscheint. Um diese symbolischen Bilder zu konkretisieren, wird der Lehrer bei Bedarf von Personen berichten, die auf Grund ihres Glaubens die Kraft gefunden haben, persönliche Katastrophen nicht nur zu meistern, sondern zu einer neuen Sinngebung gefunden haben. Obwohl dies für viele biblische Gestalten zutrifft, ist es für Schülerinnen eher überzeugend von heute lebenden Persönlichkeiten zu hören, wie z.B. • Nelson Mandela • Michael Lapsley • u.a. Literaturliste Niedersächsisches Kultusministerium: Rahmenrichtlinien für 10. Klassen an Hauptschulen. Hannover 1999. Früchtel/Lorkowski: Religion im 9./10. Schuljahr. Göttingen 1993. Helmut Hanisch u.a.: Kursbuch Religion 9./10.. Frankfurt a. Main 1993. Heinz Zahrnt: Die Sache mit Gott. Die protestantische Theologie im 20. Jahrhundert. München 1978. Evangelisches Missionswerk in Deutschland: Schritte gegen Tritte. Ein ökumenisches Lernprojekt für Schulen und Gemeinden. Hamburg 2003. Bernhard Sieland/Madlen Sieland: Klinische Psychologie für Pädagogen. Aachen-Hahn 1991. Manfred Kwiran: Fotos zur Motivation und Differenzierung. Impulse 1-3. Braunschweig. 'bb' 106-4/2003 Quellennachweis Bildmaterial (Folie) und Ballade Helmut Hanisch u.a.: Kursbuch Religion 9/10.. Frankfurt a .Main 1993. S. 123. The Dubliners: The Masters. Disc two, Song Nr 2. Verwendete Zitate Psalm 31 Vers 13b: Jesaja 43 Vers 19: Psalm 34 Vers 19: Blaise Pascal: „...ich bin geworden wie ein zerbrochenes Gefäß...“. „Siehe, ich will ein Neues schaffen!‘ „Der Herr ist nahe denen, die zerbrochenen Herzens sind und hilft denen, die ein zerschlagenes Gemüt haben.“ „Es ist nicht auszudenken, was Gott aus den Bruchstücken unseres Lebens machen kann, wenn wir sie ihm ganz überlassen.“ „Blessed are the cracked they let the light through.” 7 'bb' 102-4/2002 Ballade : The Band Played Waltzing Matilda* 1 5 Als ich ein junger Mann war, schnürte ich mein Bündel und lebte das freie Leben eines Vagabunden. Von den fröhlichen grünen Wasserläufen bis hin zur staubigen Wildnis hab ich die Schönheit meiner Heimat erlebt. 10 Dann, eines Tages, sagte man mir, es ist Zeit mit dem Herumstreunen aufzuhören, es gibt Arbeit zu tun. Darum gaben sie mir einen Blechhut und ein Gewehr und schickten mich fort in den Krieg. 15 Nur zu gut erinnere ich mich an den schrecklichen Tag als unser Blut den Sand und das Wasser färbte. Und was zur Hölle wird „Soula Bay“ genannt. Wir waren wie Schafe im Schlachthaus. 20 Der Feind war so gut vorbereitet – er beregnete uns mit Kugeln und es hagelte Granaten. Nach fünf Minuten war alles platt Kanoniere pusteten uns zurück nach Hause. 25 Und die Band spielte „Waltzing Matilda“ als wir aufhörten, um unsere Gefallenen zu begraben. Wir begruben die unseren – der Feind begrub die seinen. Dann fing alles wieder von vorne an. 30 Dann schlug mir eine tückische Granate den Hintern über den Kopf und als ich in meinem Krankenhausbett erwachte und sah, was es angerichtet hatte, wünschte ich mir tot zu sein. Ich wusste nicht, dass es etwas Schlimmeres als Sterben gibt. 35 Und nie wieder gehe ich zum Tanzen um den Maibaum herum. Weil, um sich im Kreise zu drehen, braucht ein Mensch beide Beine. Nie wieder „Waltzing Matilda“ für mich. 40 Sie sammelten die Verwundeten, Krüppel und Verrückten aufs Schiff und schickten uns zurück nach Hause. Die ohne Arme, die ohne Beine, Blinde und Verwirrte, die im Stolz so verletzten Helden von „Soula“. 45 Und als das Schiff an einem der hinteren Kais anlegte, sah ich dorthin, wo früher meine Beine einmal waren und dankte Gott, dass da niemand, war der auf mich wartete, um zu jammern, zu klagen und zu bedauern. Und die Band spielte „Waltzing Matilda“, als sie uns die Gangway heruntertrugen. Und niemand grüßte – sie standen nur da und starrten dann wendeten alle ihr Gesicht von uns ab. Und die Band spielte „Walzing Matilda“ als das Schiff ablegte. Zwischen all den Tränen, Fahnenschwenken und Grüßen segelten wir davon nach Galapoli. Diejenigen, die am Leben waren, versuchten nur zu überleben, in dieser verrückten Welt aus Blut, Tod und Feuer. Und zehn lange Wochen hielt ich mich am Leben, während um mich herum die Berge der Leichen immer höher wurden. * Übersetzung mit geringfügigen Textabweichungen vom Original 8 'bb' 102-4/2002 Vertiefung Erarbeitung II L. ergänzt die Ss.-Beiträge evtl. durch eine Ballade. 15 min 10 min Erarbeitung I 10 min Ss schauen zu Ss äußern sich verblüfft, evtl. erschrocken Frontaluntericht Ss beschreiben das Bild; danach Deutungsversuche; Ss nennen Wünsche u. Erwartungen des jungen Mannes aber auch mögliche Ängste Ss ziehen Rückschlüsse auf ihre eigene Situation Ss deuten den optischen Impuls: – Sackgasse – keine Hoffnung/Zukunft etc. Ss nennen Beispiele: – Arbeitslosigkeit/Entlassung – persönliche Katastrophen Ss bilden einen Sitzkreis L. bringt eine Interpretation aus Sicht der christl. Religion in die Diskussion ein, er bedient sich dabei eines aus Bruchstücken zusammengesetzen Kruges als Symbol. L. fragt weiter nach Möglichkeiten der Bewältigung von Lebenskrisen L. bringt Auszug aus Psalm 31 ein. Impuls: Was hilft, wenn jemand vor einem solchen Scherbenhaufen steht. Ss hören zu, stellen ggf. Rückfragen, setzen sich mit den Inhalten auseinander. Ss hören zu und verfolgen den Lebensweg, der in der Ballade beschrieben wird. Sie nennen die Stationen, die den „Zerbruch“ beschreiben. Ss äußern sich dazu. Im gelenkten U.-gespräch erkennen sie: nur den Zustand beklagen und resignieren hilft nicht weiter. Ss erkennen in dem Bibeltext die Beschreibung einer elementaren menschlichen Erfahrung. Ss äußern ihre Meinung U.-gespräch Tonpapier beschr.:Psalm 39 Vers 19 Tonkrug L.-Vortrag/Gitarre Ballade: The band played „Waltzing Matilda“ in, The Dubliners „The masters“ Disc two, Song Nr. 2 Textblatt mit Übersetzung Tonpapier beschr.: „... ich bin geworden wie ein zerbrochenes Gefäß“ Psalm 31 Sitzkreis Fotos zur Meditation „Impulse“ U.-Gespräch Decke als Unterlage; Tonvase; Deko Hammer Sitzkreis OH-Projektor Folie „Schritt ins Leben“ Folie mit Grafik Folienschreiber Sozialform/Medien erwartetes Schülerverhalten Ss nennen evtl. mit Hilfe des Lehrers: – Menschen erleiden Schicksalsschläge – erfahren Lebenskrisen – Hoffnungen und Pläne werden zu einem Scherbenhaufen L. legt einige Fotos, auf denen verschiedene Menschen ab- Ss wählen ein Bild aus, denken sich eine Geschichte dazu gebildet sind, in den Kreis. Er bittet Ss eines auszuwählen aus und erzählen sie. Möglichst spontan, sonst nach einer kurzen Bedenkzeit. Sie beginnen: „Bei diesem Scherbenund die Geschichte dieses Menschen zu erzählen. haufen denke ich an...“ Er gestaltet ein „idyllisches Bild“ in der Mitte L. bittet die Ss, dieses Bild eine Weile auf sich wirken zu lassen. Danach geht er hin und zerschlägt die Vase mit einem Hammer. L. leitet U.-Gespräch zur Deutung dieses Vorganges. Impulse: Was bedeutet es, vor einem Scherbenhaufen zu stehen? Das Schicksal hat zugeschlagen? L. organisiert Änderung der Sozialform Breite Innenstreifen dienen der Beschriftung. Er legt einen auf Folie gemalten Balken an den oberen Rand des Bildes, quer über den „Lebensweg“. L. präsentiert das Bild „Schritt ins Leben“ Einstieg 10 min geplantes Lehrerverhalten Phase Zeit christliche orthodoxie im unterricht hans-georg babke 1. Didaktische Vorüberlegungen Das orthodoxe Christentum der Ostkirchen mit ihrer Ikonenverehrung ist nach den Rahmenrichtlinien für Evangelische Religion kein relevantes und schon gar kein eigenständiges Thema. Man findet allenfalls Andeutungen bei den beispielhaften Inhalten unter dem Leitthema „Ökumene“ für die Jahrgangsstufe 9/10 (Realschule/Hauptschule) oder „Kirche spricht in Bildern und Symbolen“ (Gymnasium 7-10 [alt]). Ein ähnlich negativer Befund bieten die Rahmenrichtlinien für die gymnasiale Oberstufe. Wesentlich stärker als die innerchristliche Ökumene, die reduziert ist auf das Verhältnis „Evangelisch/Katholisch“, werden die anderen Weltreligionen Judentum und Islam thematisiert. Das ist bezogen auf den Islam verständlich, weil in der Lebenswelt der Schüler/-innen eher muslimische Mitschüler/-innen vorkommen als solche mit einem orthodoxen Glauben. Andererseits unverständlich, weil Griechenland ein beliebtes touristisches Ziel ist und dort die orthodoxe Kirche und deren erkennbares Kultpersonal das alltägliche Erscheinungsbild mitprägen. Die orthodoxen Kirchen bieten sich auch deshalb als Thema an, weil • mit Hilfe der Ikonen nicht nur die Theologie und Frömmigkeit einer fremden Konfession bilddidaktisch erschlossen werden können, sondern auch zentrale Glaubensgrundlagen der evangelischen Kirche (Trinitätslehre; Zwei-Naturen-Lehre); • mit ihrer Hilfe die neuplatonische, qualitativ gestufte Seinsordnung der Welt erarbeitet werden kann; • die fremde Welt der Orthodoxie, ohne dass diese von vornherein negativ konnotiert ist, Neugier und vielleicht auch Respekt bei den Schülern auszulösen vermag; • es schließlich – zumindest in größeren Städten – orthodoxe Gemeinden gibt, deren Kirchen und Gottesdienste man als außerschulische Lernorte nutzen kann. Ikonenmalerin Konstantina Stephanaki in ‚braunschweiger beiträge’ 105. 2.1 Der orthodoxe Gottesdienstraum Wer sich einer orthodoxen Kirche nähert und sie dann betritt, dem werden sofort einige Unterschiede zu unseren westlichen Kirchen auffallen: Sie haben in der Regel viele Türmchen, zuweilen in Zwiebelform, und einen quadratischen Zentralbau mit Kuppel. In der Kirche fehlt weitgehend die Bestuhlung außer einigen Sitzbänken an den Wänden für ältere und gebrechliche Menschen. Der Gottesdienst wird in der Regel stehend gefeiert. Es riecht stark nach Weihrauch. Wie bei uns auch sind die orthodoxen Kirchen nach Osten, nach Jerusalem hin ausgerichtet. Der Altarraum ist scharf getrennt vom Gemeinderaum. Bei der Trennwand handelt es sich um die sog. Ikonostase, einer mit zahlreichen Ikonen bebilderten und mit drei Türen versehenen Wand. Die mittlere Tür ist die sog. Königstür, durch die nur der geweihte Priester treten darf, die Nordtür und die Südtür sind den Geistlichen mit niederen Weihen vorbehalten. Frauen ist der Zutritt zum Altarraum verwehrt. Die Motive der Ikonen auf der Königstür, unmittelbar neben der Königstür sowie im gesamten Zentralbereich der oberen Ränge sind in allen orthodoxen Kirchen weitgehend identisch. Nach oben hin wird die Ikonostase durch das Kreuz abgeschlossen. 2. Sachanalyse Ich beschränke mich hier auf die Darstellung des Kirchenraumes und der Strukturelemente des orthodoxen Gottesdienstes sowie auf die Bedeutung der Ikone für den orthodoxen Glauben. Dabei nehme ich auch Bezug auf die Ikone „Die Heilige Messe“ von Michael Damaskenos aus dem 16. Jahrhundert, die dieser Ausgabe als Folie beigefügt ist. Im übrigen verweise ich auf das Interview mit der 10 Abb. 1: Der Aufbau der Ikonostase1 'bb' 106-4/2003 1a: Ankündigung der Geburt an Maria 1 b-d:Evangelisten 2: Abendmahl Jesu 3: Erzengel Gabriel und Michael 4:Gottesmutter 5: Christus Pantokrator 6:Lokalheiliger 7: Namenspatron der Kirche 8, 9: Lokalheilige 10: Thronender Pantokrator mit Johannes dem Täufer, Erzengel Gabriel, Apostel Paulus sowie weiteren Heiligen (rechts) und Gottesmutter (links), Erzengel Michael, Apostel Petrus sowie weiteren Heiligen 11: Die wichtigsten zwölf orthodoxen Festtage 12: Gottesmutter des Zeichens mit at.lichen Propheten 13: Heilige Dreifaltigkeit mit den Vorvätern von Adam bis Mose Die Gestaltung der Ikonostase ist theologisch motiviert: Von oben nach unten gelesen stellt sie die Heilsgeschichte Gottes, vom Gott des Alten Testaments und den Stammvätern Jesu über die alttestamentliche Trinität (Gen 18,1 ff.), die neutestamentliche Trinität, die Gottesmutter mit dem Medaillon Christi auf der Brust (Jes. 7,14), umrahmt von Propheten und Heiligen, bis hin zur Menschwerdung Gottes in Christus dar. Aus der Perspektive des Betrachters – von unten nach oben gelesen – zeigt sich der Heilsweg für den von Gott entfremdeten Menschen. „Der Weg nach oben, der Aufstieg steht dem Menschen offen. Er beginnt mit dem Hören des Wortes (Evangelisten), der Teilhabe an der Liturgie [Abendmahl, bab] und führt durch Gebet und Hilfe der Heiligen zur Willenseinung mit Gott. Wie die Gottesmutter der Verkündigung ergibt sich der Mensch in den Willen Gottes. Der Willenseinung folgt die sakramentale Einung im Abendmahl. Die Fürsprache der Heiligen läßt ihn einen gnädigen Richter finden. Im Pantokrator ist die ganze Heilsgeschichte und das Geheimnis Gottes beschlossen.“2 Historisch hat sich die Ikonostase entwickelt aus einer Schranke, auf die später Säulen mit einem Querbalken als Abschluss gesetzt wurden; sodann wurden die Zwischenräume mit Vorhängen geschlossen, auf die Bilder angebracht wurden. Im Zentrum des Heiligen, sichtbar durch die geöffnete Königstür, befindet sich der Altar, auf dem die Abendmahlsgeräte stehen und das Evangelienbuch liegt. Auf der linken Seite befindet sich der Zubereitungstisch für die Abendmahlselemente und rechts vom Altar der Vorbereitungsraum für die Liturgen. 2.2 Die Göttliche Liturgie (Der Gottesdienst) Der orthodoxe Gottesdienst besteht aus drei Hauptteilen: a. aus der Zurüstung des Kultpersonals (Anlegen der gottesdienstlichen Kleidung) und der Vorbereitung der Abendmahlselemente, b. aus der Liturgie der Katechumenen (Taufbewerber) und c. der Liturgie der Gläubigen. Während des Gottesdienstes wird der Altarraum und der Kirchenraum mehrmals mit Weihrauch geschwängert. Bei der Vorbereitung des Abendmahls wird aus einem extra dazu gebackenen Brot ein quadratisches Stück herausgeschnitten, das Christus als Lamm Gottes symbolisiert, und auf den Diskus (= Teller) gelegt. Darum werden Brotstücke für die Gottesmutter, für die Propheten und Heiligen, für den Namenspatron der Kirche sowie für Lebende und Tote drapiert (vgl. Abb.2) „So ist der Diskus symbolisch die Kirche aller Zeiten um das Lamm = Christus versammelt.“3 Abb. 2: Abendmahlsteller Der zweite Hauptteil des Gottesdienstes wird „Liturgie der Katechumenen“ genannt, weil die Ungetauften am Ende dieses Teils den Gottesdienst verlassen mussten (Arkandisziplin). Hier steht das Wort mit Epistel- und Evangeliumslesung im Mittelpunkt. Nach Lobpreis, Fürbittengebet und einem im Wechsel gesprochenen Psalm folgt der sog. Kleine Einzug, eine Prozession der Liturgen mit dem Evangelienbuch vom Altarraum durch den gesamten Kirchenraum zurück zur Königstür. Dieser Kleine Einzug symbolisiert das Kommen und die Gegenwart Christi im Wort, in der Verkündigung von Christus. Die Lesungen sind eingerahmt durch liturgische Gesänge und evtl. eine kurze Predigt, die aber auch ganz am Schluss nach dem Segen gehalten werden kann, sowie durch ein großes Fürbittengebet und einem Segen. Den Höhepunkt des Gottesdienstes bildet der 3. Hauptteil, die „Liturgie der Gläubigen“, mit der Eucharistie- bzw. Abendmahlsfeier. Vom Wortlaut ähnelt dieser Teil der Liturgie sehr stark unserer Abendmahlsliturgie. Am Anfang wird erneut Weihrauch geschwenkt. Abermals prozessieren die Liturgen vom Altarraum durch den gesamten Kirchenraum, diesmal mit den Abendmahlsgaben. Es ist der „Große Einzug“. Mit dieser Prozession werden der Einzug Jesu in Jerusalem und sein Opfertod am Kreuz symbolisiert. Am Ende der Prozession werden die Abendmahlsgaben auf den Altar gestellt. Nach dem Gesang von Kyrie, dem Sprechen des Darbringungsgebetes, dem Austausch von Küssen unter dem Kultpersonal und dem Glaubensbekenntnis in der Form des Nicäno-Konstantinopolitanums aus dem Jahre 381, das bei uns nur an den 11 'bb' 106-4/2003 großen Festtagen gesprochen wird (EG Nr. 805) folgt dann die eigentliche Abendmahlszeremonie. Es werden die Einsetzungsworte gesprochen und der Heilige Geist angerufen. Wie nach römisch-katholischer Auffassung verwandeln sich dabei die natürlichen Elemente Brot und Wein in die übernatürlichen des Leibes und Blutes Christi. Nach dieser Konsekration wird der verstorbenen Heiligen, der Gottesmutter sowie aller Toten und Lebenden gedacht. Nach Gebet und Vaterunser wird das gewandelte Brot in Stücke gebrochen; diese werden dann in den mit Wein gefüllten Kelch gegeben und der Wein mit warmem Wasser gemischt. Als erste nehmen die Liturgen die Kommunion ein, allerdings Brot und Wein getrennt. Es folgen die Gläubigen, denen die getränkten Brotstücke aus dem Kelch mit einem Löffel gereicht werden. Der Gottesdienst endet mit Gebet und Segen, sofern nicht noch eine kurze Predigt folgt. Nach Abschluss des Gottesdienstes werden die nicht konsekrierten Brotteile Gläubigen und Nichtgläubigen zum Essen gereicht. Gemeindelieder spielen im orthodoxen Gottesdienst keine Rolle. Dementsprechend weist der orthodoxe Kirchenraum in der Regel auch keine Instrumente, wie Orgel oder Harmonium auf. 2.3 Ikone „Die heilige Liturgie“ von Michael Damaskenos aus der Hagia Aikatherine Sinaiton in Herakleion/Kreta Im Zentrum des Bildes sitzen auf derselben Ebene hinter einem Altartisch mit dem Evanglienbuch zwei Männer, der rechte mit grauem Bart deutlich älter als der linke. Der ältere ist Gott, der Vater, der linke mit dunklem Haar und der Kreuz-Stola Gott, der Sohn. Der Vater hat die Hand zum Segen erhoben. Der Sohn dagegen scheint mit der Assistenz eines Heiligen die Gottesmutter Maria gerade zum Empfang der Abendmahlsgaben, die über ihr gehalten werden, einzuladen. Zwischen Gott Sohn und Gott Vater – ebenfalls auf gleicher Höhe, aber doch näher am Vater – eine weiße Taube, Symbol des Heiligen Geistes. Ein deutlicher Hinweis auf die Trinität, die göttliche Dreifaltigkeit. Alle drei eines Wesens. In diesem Detail scheinen die Worte des Glaubensbekenntnisses von Nicäa-Konstantinopel aus dem Jahr 325 bzw. 381 auf, in dem es von Christus heißt: „Gott von Gott, Licht von Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater...“ Und vom Heiligen Geist wird bekannt: „Wir glauben an den Heiligen Geist, der Herr ist und lebendig macht, der aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht; der mit dem Vater und dem Sohn angebetet und verherrlicht wird.“ Ein Bekenntnis zur Göttlichkeit des präexistenten Christus im Unterschied zur arianischen Partei, die Christus dem Vater unterordnete und ihn als erstes Geschöpf verstand und ihn damit auf die Seite der anderen Geschöpfe stellte. Aus der Ikone des Michael Damaskenos erhellen sich deutlich das orthodoxe Eucharistieverständnis und andere zentrale Dogmen orthodoxer Theologie. Abb. 4 Abb. 3 12 Als logische Konsequenz dieses Konzilsbeschlusses wurde auf einem weiteren Konzil in Ephesus 431 gegen Nestorius der Maria der Titel „Gottesgebärerin“, „Gottesmutter“ gegeben und nicht nur der nestorianische 'bb' 106-4/2003 Titel einer „Christusgebärerin“. Gleichzeitig macht aber die größere Nähe der Taube zum Vater als zum Sohn die orthodoxe Reserviertheit gegenüber dem „filioque“, dem Ausgangspunkt des Heiligen Geistes auch im Sohn deutlich (... an den Heiligen Geist,...der aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht...), eine Aussage, die aus dem weströmischen Christentum in das Bekenntnis eingetragen worden war. Die Gottesmutter befindet sich im Kreis anderer vollendeter Heiliger, als Engel mit Flügeln dargestellt, und im Kreis der Erzengel und Cherubim, sowie in der Gemeinschaft von Evangelisten, anderen frommen Toten und geflügelten Köpfen (Seelen), für die sich die Heiligen zu Fürsprechern machen. Diese vollendeten Wesen feiern die Eucharistie. Der Blick zumindest der vorderen himmlischen Wesen ist aber nicht auf die göttliche Dreifaltigkeit gerichtet, sondern auf die Stelle, wo der Kreis eine Lücke aufweist, nämlich vorn unten, zur Erde hin. Dort nehmen zwei Irdische, eine Mann und eine Frau, andächtig an der Göttlichen Liturgie teil. Über ihnen das Evangelienbuch und die Weihrauchgefäße, von den vordersten Engelwesen gehalten bzw. geschwenkt. Der irdische Gottesdienst ist ein Abbild des himmlischen. Der Altartisch der göttlichen Dreifaltigkeit bekommt seine Bedeutung von dem Tisch ganz oben, auf dem Christus liegt, der sich für die Menschen geopfert hat. Erde zwischen den beiden Gläubigen gerät dadurch selbst zu einem Altar. Im Abbild ist das Urbild real präsent. Im großen Cherubim-Hymnus zu Beginn des Großen Einzugs heißt es: „Die wir die Cherubim geheimnisvoll abbilden und die lebenschaffende Dreieinigkeit mit dem Hymnus ‚Dreimal Heilig‘ besingen – laßt uns nun jegliche Sorge des Alltagslebens ablegen, auf daß wir den König des Alls empfangen, der unsichtbar von den himmlischen Heerscharen im Triumph geleitet wird. Halleluja, Halleluja, Halleluja.“4 „Der orthodoxe Gottesdienst ist nach orthodoxem Verständnis Theophanie, also ein jetzt und hier gegenwärtiges Offenbarungsgeschehen. Im Gottesdienst wird die Trennung zwischen Mensch und Gott von Christus mit der Gegenwart im Heiligen Geist durchbrochen. Er bringt für die Gläubigen jetzt und hier ‚das ewige Leben‘, Glück und die nicht enden wollende Freude des Himmels.“5 Abb. 6 Abb. 5 Im irdischen Abendmahlsgottesdienst ist damit sowohl der gekreuzigte als auch der siegreiche Christus präsent. Und die, die auf Erden die heilige Liturgie feiern, nehmen schon jetzt teil an der himmlischen Liturgie. Das Stück In der Eucharistiefeier schrumpfen Vergangenheit und Zukunft auf die ewige Gegenwart zusammen. In ihr haben die Gläubigen schon jetzt teil an der himmlischen Welt. Der Aufstieg der Gläubigen in die himmlische Sphäre im Sakrament und die Gemeinschaft der Gläubigen aller Zeiten nimmt auf, was sich schon in der Anordnung des Brotes auf dem Diskus gezeigt hatte, dass nämlich Brotstücke für die Heiligen, die Gottesmutter und Propheten um das quadratische Brot angeordnet sind, von dem die Gläubigen im Gottesdienst essen werden. „Das ‚Materialprinzip‘ der orthodoxen Kirche, ihr Verständnis des von Gott geschenkten Heils, ist darin zu sehen, daß der Mensch am göttlichen Mysterium teilbekommt und 13 'bb' 106-4/2003 so in das neue Sein der Ewigkeit hineinverwandelt wird. Die entscheidende Gabe der Erlösung ist der Anteil am ewigen Leben über den Tod hinaus... Was in der Menschwerdung des Sohnes Gottes angefangen hat, ist in der Auferstehung des gekreuzigten Jesus vollendet worden: die Teilhabe des Menschen an der göttlichen Natur, die ‚Vergöttlichung‘ (theosis) des Menschen. Die Vorstellung einer ‚Vergöttlichung‘ mag auf Christen der anderen Kirchen fremd wirken, scheint hier der Abstand zwischen Gott und Mensch nicht gewahrt zu sein. Doch handelt es sich bei der Vergöttlichung um ein Geschenk Gottes. Die Glaubenden werden hineingenommen in die Gemeinschaft mit dem dreieinigen Gott.“6 In der Ikonostase würde ich diese Ikone im oberen Rang der Heiligen Dreifaltigkeit verorten. Ikonen findet man nicht nur in orthodoxen Kirchen, sondern auch in den Privathäusern orthodoxer Christen, darüber hinaus als Medaillons und kleine Klappikonen für die Reise. Sie begleiten den orthodoxen Christen von der Geburt bis zum Grab. Letzteres gilt insbesondere für die Ikone des Namenspatrons eines Menschen.11 Ikonen sind keine individuellen Kunstwerke eines Ikonenmalers. Seit dem 16. Jahrhundert gibt es Musterbücher, in denen Normen für die Gesichtsproportionen (die Nase als Maß), für den Gesichtsausdruck einer Person, für die Hand-, Kopf- und Fußstellung, für den Faltenwurf der Gewänder, die Insignien der Heiligen und die Farbgebung festgelegt wurden. Die Identität des Abbildes mit dem Urbild ist „nur dann gesichert, wenn immer wieder die vorhandenen Ikonen treu kopiert werden.“12 2.4 Die Bedeutung der Ikone für den orthodoxen Glauben 3. Didaktisch-methodische Erwägungen Die orthodoxe Ikonenverehrung gibt es in voll ausgebildeter Gestalt seit dem ausgehenden 5. Jahrhundert. Zu ihr gehören das Entzünden von Kerzen vor einer Ikone, ihre Beweihräucherung und Segnung bei der In-Gebrauchnahme, das Niederknien der Gläubigen vor ihr und das Küssen der Ikone.7 Hinter der Ikonenverehrung verbirgt sich die neuplatonische Auffassung eines in hierarchischen Qualitätsstufen geordneten Kosmos. Irdische Dinge und Ereignisse, insbesondere religiöse, sind Symbole im ontologischen Sinne. Sie verweisen zum einen auf die unsichtbare göttliche Welt. Zum anderen haben sie teil an der unsichtbaren Welt und repräsentieren diese in der sichtbaren Welt.8 So sind Symbole sichtbare Abbilder der unsichtbaren Urbilder. Die Ikone weist einerseits über sich hinaus. Andererseits ist das Dargestellte in der Darstellung selbst gegenwärtig, der herrschende Christus, die Gottesmutter oder der dargestellte Heilige. „Weil in der Ikone die abgebildete Person präsent gedacht ist, wird auch das Bild wie eine Person handelnd und reagierend erfahren... Von der Ikone, das heißt von dem Heiligen, wird Hilfe erbeten.“9 Zwar kommt theologisch korrekt nur dem dreifaltigen Gott Anbetung zu und der Ikone wie den Heiligen lediglich die Verehrung, in der Praxis aber – so stellt es sich jedenfalls für den Nicht-Orthodoxen dar – spielt diese subtile Unterscheidung keine Rolle. Bereits in der frühesten byzantinischen Zeit wurde die Ikonenverehrung von den sog. Ikonoklasten (Bilderstürmern) als Aberglaube kritisiert und mit dem Hinweis auf das alttestamentliche Bilderverbot (Ex. 20, 4 f.; Dtn. 5, 8 f.) abgelehnt. Gegen sie hat das 7. Ökumenische Konzil von Nicäa im Jahre 787 entschieden. Darin wurde nicht nur die Ikonenverehrung toleriert, sondern mit dem Hinweis auf die Inkarnation Gottes, seine Menschwerdung in Christus, gerechtfertigt und geboten. Weil sich Gott selbst in Christus bildlich und sichtbar dargestellt hat, ist Christus die Ikone Gottes geworden. Wer die Ikonenverehrung ablehnt, so die orthodoxe Auffassung, lehnt damit auch die Menschwerdung Gottes ab.10 14 Die Orthodoxie der Ostkirchen, deren Theologie und philosophischen Voraussetzungen sowie die Ikonenverehrung können im Unterricht in unterschiedlicher Komplexität, Intensität und in unterschiedlichem Umfang behandelt werden. Man kann sie als eigenständiges Thema im Rahmen einer konfessionskundlichen Einheit in der Jahrgangsstufe 10 oder eines entsprechenden Kursthemas in der gymnasialen Oberstufe behandeln. Die Orthodoxie kann aber auch im Rahmen des Kursthemas „Christologie“ oder „Ekklesiologie“ als integraler Bestandteil bei der Behandlung der Trinitätslehre thematisiert werden. 3.1 Eigenständiges Thema im Rahmen einer konfessionskundlichen Einheit Zentrum und Zielpunkt einer kleinen Konfessionskunde sind der Besuch bei der entsprechenden Religionsgemeinschaft und die Teilnahme an deren Gottesdienst bzw. – wo das nicht möglich ist – ersatzweise die Einladung von Vertretern in den Unterricht. Dem Besuch am außerschulischen Lernort ist deshalb der Vorzug zu geben, weil die Schüler/-innen dort auch Atmosphärisches erfahren. Besuch und Gespräch müssen gründlich vorbereitet werden. Ein sinnvoller Einstieg in eine konfessionskundliche U-Einheit ist zunächst einmal die Sammlung von Religionsgemeinschaften in Form eines Brainstorming. Bei der Fixierung an der Tafel sollte sofort eine Klassifizierung nach Konfessionsfamilien (orthodox, römisch-katholisch, evangelisch/protestantisch, außerhalb der Konfessionsfamilien) vorgenommen werden. Beispiele für die Zuordnung: orothodox: griechisch-orthodox, russisch-orthodox, serbisch-orthodox; römisch-katholisch: katholisch, aber auch anglikanisch, neuapostolisch; evangelisch/protestantisch: lutherisch, reformiert, baptistisch, methodistisch; außerhalb: Mormonen, Zeugen Jehovas. Jeweils zwei oder drei Schüler/innen bekommen den Auftrag, ein Referat zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft vorzubereiten. Hier sollten die fairen Darstellungen der Evangelischen Zentralstelle der EKD für Weltanschau- 'bb' 106-4/2003 ungsfragen (www.ezw-berlin.de) oder des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim (www.ekd.de/ki/) den Schülern als Materialien für die Erstbegegnung bereitgestellt werden. Aufgrund der dort gegebenen Informationen können dann auch Selbstdarstellungen aus dem Internet für die Referate oder in Print-Form herangezogen werden. Bei den Referaten erweist es sich als günstig, wenn sie identisch strukturiert sind: Geschichte der Religionsgemeinschaft/Kirchengründer, Aufbau und Struktur, Rechtsstatus und Finanzierung, zentrale Lehren (Bibelverständnis, weitere autoritative Schriften, Bedeutung Christi, Trinität, Kirchenverständnis einschl. Ämterlehre, Zahl, Art und Verständnis der Sakramente), Glaubenspraktiken (Gottesdienste, Sakramentspraxis, Feier- und Festtage, kirchliche Handlungsfelder). Die Zwischenzeit bis zu den ersten Referaten sollte mit der Behandlung der Traditionen der eigenen Kirche nach demselben Schema ausgefüllt sein, weil dadurch schon beim Hören der Referate die Differenzen deutlich werden. Methodisch sinnvoll ist die Gegenüberstellung der Attribute der Kirche „eine, heilige, katholische, apostolische Kirche“ in der unterschiedlichen Interpretation von evangelischer und katholischer Seite. Nach einem Referat werden dann einige der erwähnten Aspekte, insbesondere die, die sich von der eigenen Tradition unterscheiden, intensiver behandelt. In Bezug auf die Orthodoxie kann die Intensivierung mit Hilfe der Ikone von Michael Damaskenos und mit Hilfe der Abbildung einer Ikonostase vorgenommen werden. Die Einführung in den Gottesdienst kann mit Tonbildserien oder Videofilmen geschehen (z.B. Anastasios Basdekis, Die orthodoxe Kirche, München 1983, Medienzentrale TB 236; Nikolaus Thon, Orthodoxe Kirche – Einheit in der Vielfalt, Freiburg 1985, Medienzentrale TB 208; Ulrike Gräfin von Bethusy, Fenster zur Ewigkeit – Geschichte der Ikonen, Deutschland 1992, Medienzentrale VC 1001). Der platonisch-neuplatonische Hintergrund der griechischen Orthodoxie kann leicht – auch schon in der 10. Jahrgangsstufe – mit der Beschreibung in „Sofies Welt“13 erschlossen werden. Der Erstkontakt mit der orthodoxen Gemeinde – wie auch bei anderen Religionsgemeinschaften – sollte durch die Lehrkraft hergestellt werden. Bei Wiederholung kann das auch von den Schülern selbst geleistet werden. Für den Besuch empfiehlt sich die Erstellung einer Liste mit vorbereiteten Fragen. Die letzte Phase der Beschäftigung mit einer Religionsgemeinschaft ist dann die Auswertung des Gesprächs/Besuchs, wobei hier vor allem auch die Stärken herauszuarbeiten sind, damit das Ziel des Respekts gegenüber einem anderen Glauben nicht verfehlt wird. 3.2 Die Ikone im Oberstufenkurs „Christologie“ Eine Möglichkeit der Strukturierung des Kursthemas „Jesus Christus“ ist die historisch-genetische Darstellung der Bedeutungszuweisung an die Person Jesu. Während beim historischen Jesus der apokalyptische Erwartungshintergrund mit der Messias-Menschensohn-Vorstellung thematisiert werden muss, muss man in Bezug auf den griechischen Kontext Christus gemäß der neuplatonischen Emanationslehre zunächst als den Logos Gottes (Origenes), der mit Gott zwar gleich ewig, ihm qualitativ aber untergeordnet ist, charakterisieren. In der Folge der Logos-Christologie betonte die arianische Partei den Aspekt der Unterordnung und bezeichnete den präexistenten Christus als erstes Geschöpf mit einem freien Willen, das Gott aus freien Stücken gehorsam war (moralisches Vorbild für den Menschen), während die spätere Orthodoxie den Aspekt der gleichen Ewigkeit Christi mit dem Vater betonte, damit er dem Menschen Unsterblichkeit vermitteln könnte. Angedeutet sei hier nur, dass im römischen Rechtsdenken und auch in der Reformation der Rechtsgedanke des Freispruches des Menschen im Gericht Gottes und in der Aufklärung erneut der moralische Vorbildcharakter Christi herausgestellt wurden. Im Zusammenhang mit der Ausbildung der Trinitätslehre als Folge des arianischen Streits im 4. Jhdt. kann die Ikone von der heiligen Liturgie eingesetzt werden, um den soteriologischen Aspekt der Vergöttlichung des Menschen und der Teilhaberschaft an der göttlichen Welt durch den eucharistischen Gottesdienst deutlich zu machen. Die Behandlung der Ikone und der Ikonenfrömmigkeit dient in diesem Zusammenhang nur der Illustrierung des griechischen Heilsinteresses, das zur Formulierung der Trinitätslehre geführt hat. In Arbeitsgruppen können die einzelnen Szenen (s. Abbildungen) vorläufig und im Unterrichtsgespräch endgültig erschlossen werden. Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 Aus: Hämmerle et al., aaO, Diedrich, aaO, 89 ebd., 50 Hämmerle et al., aaO, 39 ebd. Rössler, aaO, 22f. Heussi, aaO, 111 Paul Tillich, aaO, 53 ff. Diedrich, aaO, 94 Hämmerle et al., aaO, 150 f. Vgl. Interview mit Konstantina Stephanaki, in: bb 105. Diedrich, aaO, 100 Gaarder, aaO, 162 ff. Literatur Alfred Adam, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 1: Die Zeit der alten Kirche, Mohn: Gütersloh 19702, 374 ff. Hans-Christian Diedrich (Hg.), Das Glaubensleben der Ostkirche, Beck: München 1989 H. Fischer, Die Ikone. Ursprung – Sinn – Gehalt, Herder: Freiburg 1989 Jostein Gaarder, Sofies Welt, Hanser: München/Wien 199321 Heinz Paul Gerhard, Welt der Ikonen, Aurel Bongers: Recklinghausen 19807 Eugen Hämmerle/Heinz Ohme/Klaus Schwarz, Zugänge zur Orthodoxie, Vandenhoeck&Ruprecht: Göttingen 1989 Karl Heussi, Kompendium der Kirchengeschichte, Mohr: Tübingen 197113 Andreas Rössler, Positionen, Konfessionen, Denominationen – Eine kleine Kirchenkunde, Calwer: Stuttgart 1988 Paul Tillich, Wesen und Wandel des Glaubens, Ullstein: West-Berlin 1969 http://www.hh.schule.de/lehrer/horstleps/orthbyz/ikonostase.html The Yorck Project Berlin: CD „Ikonen der orthodoxen Kirche“ 15 'bb' 106-4/2003 fachbeitrag: islam im deutschen alltag religiosität im leben türkischstämmiger jugendlicher necla kelek 1 Einleitung Im Tagesspiegel stand ein kurzer Bericht über eine Reise des Berliner Bildungssenators Klaus Böger nach Ankara. Es ging um Entwicklungshilfe. Entwicklungshilfe, die die türkische Regierung dem Berliner Senat angeboten hat, um die Integrationsbereitschaft der 200.000 in Berlin lebenden Türken zu fördern. Denn es sieht nicht gut aus bei der Integration der Türken in Deutschland. Türkische Kinder kommen oft erst bei der Einschulung mit der deutschen Sprache in Berührung. Ihre Mütter sprechen meist kein Deutsch. Jeder vierte in Berlin lebende türkische Jugendliche schafft keinen Schulabschluss. Nur 5% der türkischen Jugendlichen bestehen das Abitur. Jeder zweite Insasse einer Jugendstrafanstalt in Deutschland ist Muslim. Sie werden sich natürlich jetzt Fragen, was hat dies mit dem heutigen Thema zu tun. Und die Frage stellt sich provokativ auch so: Ist der Islam oder das, was von den türkisch-muslimischen Organisationen gelebt wird, ein Hindernis für die Integration? Ich sage es gleich vorweg. Ich bin in großer Sorge und beurteile den Prozess der Integration muslimischer Migranten in Deutschland skeptischer denn je. Ursache hierfür sind sicherlich strukturelle Benachteiligungen und eine verfehlte Integrationspolitik in der Vergangenheit, die von der „Lebenslüge“ „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ getragen war. Ebenso fatal waren die linken oder liberalen Ansätze einer „multi-kulturellen Gesellschaft“, die mit ihrer mehr oder minder folkloristischen Sichtweise zu einer Abgrenzung der Mehrheit der Bevölkerung und Selbstausgrenzung der Migranten beigetragen hat. In Deutschland ist es typisch, dass beide Seiten einander jeweils als „die Anderen“ bezeichnen und sich mit den Hinweis auf kulturelle Unterschiede abgrenzen. Das gilt für die Deutschen, wobei ich jetzt gar nicht die „Ausländer raus“ – Neonazis meine. Sondern die normalen Bürger, die beim „Türken“ gerne ihr Gemüse kaufen, aber Sorge haben vor einer Islamisierung ihres Stadtteilviertels oder dem Verlust deutscher Identität. Ich kann diese Befürchtungen in gewissen Rahmen nachvollziehen. Hier und heute befasse ich mich nicht mit Versäumnissen der Politik. Sondern ich frage meine Landsleute: Wann wollt ihr ankommen? 16 Sie bleiben unter sich. Man pflegt das Vorurteil von den sozial kalten nur auf den eigenen Vorteil bedachten, Schweinefleisch essenden, ihren Kindern keinen Ehrbegriff beibringenden Deutschen. Meine Untersuchung hat ergeben, dass von den befragten Jugendlichen außerhalb der Schule nur wenige deutsche Freunde haben und Kontakte zwischen den eigenen Landsleuten pflegen. Kontakte zu deutschen Familien sind die absolute Ausnahme. Eine spätere Heirat mit einer Deutschen konnte sich kein männlicher Befragter und ein verschwindender Teil der Mädchen vorstellen oder nur, wenn der zum Islam übertritt. Die Frage der Abgrenzung aus religiösen Gründen ist hier ein Beispiel für die Bedeutung des Islam im Zusammenhang mit Integrationsproblemen. Religiös fundierte Kulturmuster beeinflussen die Lebensverhältnisse der jungen Türken und Türkinnen zugleich stärker, als sich etwa die christliche Mehrheitsreligion auf deutsche Jugendliche auswirkt. 2. Meine Biografie Bevor ich Ihnen meine Untersuchung vorstelle, möchte ich Ihnen etwas über mich selbst erzählen. Weil es in vielen Details typisch ist. Ich bin in Istanbul geboren und lebe seit meinem 10. Lebensjahr in Deutschland, gehöre zur 2. Generation der türkischen Einwanderer. In Istanbul habe ich die Grundschule besucht. Meine Familie gehörte in Istanbul zur Mittelschicht. Mein Vater war Kaufmann. Meine Eltern kamen aus Zentralanatolien als Binnenmigranten. Sie waren republikanisch orientiert. D.h. mein Vater war ein überzeugter Kemalist, ein Demokrat, der das Muslim-sein nur zu Festtagen pflegte. Meine Mutter war äußerlich sehr modern, hatte amerikanische und europäische Filmstars als Vorbild, aber fastete am Ramadan und betete in diesem Monat täglich für die im Jahr zuvor aufgelaufenen Sünden. Damit wollte sie wenigstens eine der wichtigen Pflichten des Islam erfüllen, sagte sie. Sie war, wie Laie Akgün es bezeichnet, eine „Ramadan-Muslimin“. Zu vergleichen mit den von ihr sogenannten „Weihnachtschristen“, d.h. Christen, die nur an Weihnachten in die Kirche gehen. Mein Vater trank provokativ gerne im Monat Ramadan auf Atatürk, aber er trank wenig, und wenn, auf die Republik, die könne man schließlich nicht genug würdigen. 'bb' 106-4/2003 Erst in den letzten Jahren habe ich verstanden, was er damit gemeint hat. Als meine Eltern beschlossen, nach Deutschland zu gehen und verkündeten, mich und meine jüngeren Brüder mitzunehmen (zwei ältere Geschwister blieben zurück), wurden wir von ihnen auf Deutschland vorbereitet. Wir lernten die deutsche Nationalhymne auswendig zu singen, weil meine Eltern davon überzeugt waren, dass, wenn wir dies in der neuen Klasse in Deutschland vortragen, wir gleich anerkannt würden. Bis heute konnte ich keinem Deutschen die Hymne vorsingen, niemand wollte sie hören. Aber alles andere klappte wie vorgehabt. Wir kamen 1968 nach Deutschland und ich war zehn Jahre alt. Wir waren die ersten Türken in Bückeburg. Sehr schnell fand ich zu meinen Klassenkameradinnen Kontakt. Ich durfte Geburtstagsfeste besuchen und sie zu mir einladen. Die Schule machte mir Spaß. Ich lernte sehr schnell Deutsch. Auch meine Eltern hatten Kontakt zu deutschen Familien. Sie gingen zu Tanzveranstaltungen und feierten Karneval und Weihnachten. Allerdings bestand mein Vater darauf, dass der Weihnachtsbaum bereits im Oktober aufgestellt wurde. Der Monat Ramadan wurde vergessen, jetzt lebten wir ja in Deutschland. Und mein Vater wollte, dass dieses Land zu unserer Heimat wird. Mit meinem 13. Lebensjahr änderte sich mein Leben schlagartig. Es wurde von meinen Eltern bemerkt, dass die deutschen Mädchen offen an Jungen interessiert waren und ohne Scham zeigten, dass sie einen Freund haben. Dies überstieg die kulturelle und moralische Anpassungsfähigkeit meiner Eltern an die deutsche Gesellschaft. Ein Mädchen, das womöglich ihre Ehre, genauer die Ehre der Familie, verlieren könnte, war jenseits des Vorstell- und Tolerierbaren. Mir wurden weitere private Kontakte verboten. So durfte ich keine deutsche Freundin mehr haben oder sie besuchen. Ich hätte auch keine Zeit mehr gehabt, da ich immer mehr Hausarbeiten übernehmen musste und wie jede türkische Tochter die vielen türkischen Frauen, die meine Mutter meistens am Nachmittag zum Tee oder am Abend zum Abendtee besuchten, bedienen musste. Für meinen jüngeren Bruder galt diese Einschränkung nicht. Er war ein Sohn. Warum das so ist, darüber spreche ich später. Die neuen türkischen Landsleute kamen aus der ganzen Türkei, die meisten aus ländlichen Gebieten aus bäuerlichen Verhältnissen. Sie arbeiteten in der Fabrik am Fließband und fasteten selbstverständlich am Ramadan, Allah werde sie für die doppelte Qual doppelt belohnen, sagten sie. Auch meine Mutter ließ sich von ihnen überzeugen und nach fünf Jahren Pause begann auch sie wieder an Ramadan zu fasten. Sie fühlte sich immer mehr ihren türkischen Schwestern verbunden und zog sich von den Deutschen und von Deutschland zurück. Der einzige Vorteil, der uns gegenüber den anderen türkischen Familien blieb, dass wir weiter zur Schule gehen durften. Die anderen türkischen Kinder brachen die Schule schnell ab, weil sie Hausarbeit machen oder auf die kleineren Geschwister aufpassten mussten. Auch ich wurde in der Schule schlecht, musste vom Gymnasium in die Realschule, was ich mir lange nicht verzieh. Mein Alltag sah als 14jähriges Mädchen so aus: Morgens stand ich als erste auf, um Frühstück für mich und meinen Bruder zu machen. Auch seine Kleidung für den Tag legte ich zurecht und ging zur Schule. Direkt nach der Schule musste ich nach Hause, meistens um 13.20 Uhr, falls es zehn Minuten zu spät wurde, stand meine Mutter am Fenster und hielt Ausschau. Nach dem Essen musste ich Hausarbeit machen, für die Gäste backen, Tee kochen usw. Nachdem die letzten Gäste gegen 22.00 Uhr abends gegangen waren und die anderen längst im Bett waren, konnte ich meine Schulaufgaben machen. Die Jahre von 14 bis 19 habe ich (außer dass ich zur Schule ging) nur zu Hause verbracht. Meine Cousine Aysel, die inzwischen ebenfalls mit ihren Eltern in Bückeburg wohnte, musste seit ihrem achten Lebensjahr auf den neugeborenen Bruder aufpassen. Sie durfte nicht zur Schule. Und als sie später – sie war 17 – ich 19, mit mir einmal heimlich in die Disco verschwand und wir erwischt wurden, wurde sie sofort zu der Großmutter in die Türkei geschickt. Ich habe sie erst zehn Jahre später wiedergesehen. Ich hatte es dagegen gut, denn ich wuchs in einer aufgeschlossenen, säkularen Familie auf. 3. Die Untersuchung Die Fragen, was Migration für den Einzelnen und die Gesellschaft bedeutet, wurden zu meinem Thema. Über den zweiten Bildungsweg studierte ich zuerst Volkswirtschaft und promovierte in einem zweiten Studium in Soziologie. Aus meiner Untersuchung zum Thema „Islam im Alltag, islamische Religiosität und ihre Bedeutung in der Lebenswelt türkischer Schülerinnen und Schüler“ möchte ich Ihnen einige Ergebnisse vorstellen: Ich bin in verschiedenen Schulen in Hamburg und Berlin in fast einhundert Interviews, zahlreichen teilnehmenden Beobachtungen und Hospitationen der Frage nachgegangen, welche Rolle der Islam in der Welt der türkischstämmigen Jugendlichen spielt. Ich besuchte Moscheen, sprach mit Hodschas und den Familien der Jugendlichen. Auch konnte ich im Rahmen einer anderen wissenschaftlichen Studie in Strafanstalten mit muslimischen Gefangenen über ihren Glauben sprechen. Ich ging dabei der Frage nach: Wie und wo werden türkischstämmige Jugendliche sozialisiert? Wie und wo gewinnen sie Wertorientierung? Welche Rolle spielen die Koranschulen, die Familien und die deutsche Schule? Bei den Interviews und Gesprächen, ging es mir neben ihrer schulischen Situation und Fragen zum Lebenskonzept um ihre Religiosität. Ich stellte allen die gleiche Frage: „Bist du religiös?“ Und ich erhielt immer die gleiche Antwort: „Allah ist für mich alles“, sagt der 16jährige Mete aus Hamburg. 17 'bb' 106-4/2003 Alle befragten Jugendlichen bezeichnen sich als religiös und als Muslime. Die Selbstzuordnung zum Islam ist selbstverständlicher Teil ihrer türkischen Identität – die türkische Identität ist gleichzeitig eine muslimische Identität. Es geht ihnen dabei nicht um Religiosität im Sinne strenger Gläubigkeit, sondern die Jugendlichen verstehen dies als ihr Bekenntnis zur Zugehörigkeit zum türkischmuslimischen Kulturkreis. 3.1. Die Bedeutung der Religion Die Religion dient, so der Kulturanthropologe Clifford Geertz, der Orientierung der Menschen, und zwar ganz abstrakt, ohne dass es darauf ankommt, welche konkreten Inhalte Vorstellungen und Philosophien durch die Religion vermittelt werden. Er stellt die Frage: Welche soziale Funktion hat die Religion? Sowohl gesellschaftlich wie individuell dient Religion dem menschlichen Bedürfnis, umfassende und befriedigende Antworten auf die Fragen nach dem Sinn des Daseins zu geben, Halt, Trost und Orientierung zu verleihen, im Alltag und über die eigene Existenz hinaus. Durch kosmische Verankerung entsteht ein konsistentes glaubwürdiges Weltbild, nach dessen Maßgaben die Gläubigen denken, fühlen und handeln. Durch religiöse Handlungen können sich die Gläubigen ihrer Überzeugungen versichern. In der Gemeinschaft der Gläubigen entsteht ein Sozialsystem, in dessen Realitäten sich Religion, Kultur und Sozialstruktur auspendeln müssen. Zur kulturellen Dimension des Islam, d. h. des islamischen „Common Sense“ gehören natürlich religiöse Inhalte, eine bestimmte Ethik und ein bestimmtes Menschenund Weltbild, sowie eine religiöse Praxis – also alles, was die jeweilige islamische Sozialordnung an Orientierungsmitteln und Maßstäben zur Verfügung stellt. Die Inhalte und die praktische Ausübung des Islam sind höchst unterschiedlich. In Afghanistan, im Iran, in Indonesien oder in der Türkei werden sie unterschiedlich interpretiert und gelebt. Aber nach aller regionaler Differenzierung gibt es ein gemeinsames übergeordnetes Welt – und Menschenbild des Islam. 3.2. Welt- und Menschenbild des Islam Das Menschen – und Weltbild im islamischen Glauben unterscheidet sich nach den Forschungen von Georg Auernheimer, Clifford Geertz, Werner Schiffauer, Ursula Mihciyazgan u.a. vom christlich-abendländischen Weltbild grundsätzlich: Man spricht in diesem Zusammenhang beim Christentum von einer westlich-horizontalen Trennungslinie, die Körper und Geist, Individuum und Gesellschaft trennen. Beim Islam sieht man eine vertikale Trennungslinie, die Mann und Frau als zugehörig zu zwei verschiedenen Teilen der Gesellschaft sieht. Der Mann steht in der Öffentlichkeit. Er ist die öffentliche Instanz. Die Frau die 18 Privatheit, das Haus, und ist die Ehre des Mannes. Dabei spielt eine besondere Rolle, die im Islam der Sexualität zugesprochen wird. Der weibliche Körper hat eine solche Anziehungskraft, der Männer grundsätzlich nicht widerstehen können. Aus dieser Zuschreibung beziehen muslimische Frauen Selbstbewusstsein und Stärke. Mit dem Kopftuch unterstreichen sie symbolisch die Bedeutung ihres Körpers, weil sie sich ihrer körperlichen Reize bewusst sind. Aufgrund der positiven Bewertung der Sexualität – dies steht im Gegensatz zum Christentum, der dies als Sünde bezeichnet – ist das Prinzip der Geschlechtertrennung für die muslimischen Frauen in sich sinnhaft und fraglos gegeben. Aber darüber hinaus ist es auch ein Symbol für das islamische Geschlechterverhältnis, was sich auch in der Verhüllung der Frau ausdrückt. Die Religion des Islam ist auch eine Rechtsordnung, deren Bestand auf dieser – männlich bewachten – Trennung beruht. Darüber hinaus versteht sich der Islam als universale Ordnung (die Umma), die kein Recht auf Freiheit der Religion kennt. Das Menschenbild sieht den Menschen als SozialWesen, statt als Individual-Wesen und bestimmt ihn als einen Teil der Umma, der Gemeinschaft der Muslime in der Welt. Die Muslime sind als Brüder und Schwestern weltübergreifend miteinander verbunden. Das Recht auf persönliche Entscheidung ist den Muslimen nur in engen Grenzen möglich. In erster Linie trägt jedes Mitglied mit seinem Handeln Verantwortung gegenüber der Familie, Gemeinschaft und der Umma. Dieses Menschen- und Weltbild ist „fraglos gegeben“, d.h. kann nicht in Frage gestellt werden, weil es als Gesetzesreligion von Gott gegeben ist. Seine Wissens- und Wertbestände formen als Kulturmuster den islamischen Habitus und bilden den islamischen Common Sense. 4. Religiöser Einfluss auf die Lebenswelt der Jugendlichen. Jetzt möchte ich Ihnen anhand von einigen ausgewählten und beispielhaften Zitaten aus meinen Interviews anschaulich machen, wie dieser türkisch-muslimische Common Sense von den Jugendlichen gelebt wird. Eine große Rolle im Selbstverständnis spielt die Dankbarkeit und der Respekt den Eltern und Älteren gegenüber. Mit Dankbarkeit und Respekt wird die Daseinsschuld an Eltern und Großeltern verstanden. Man gehört sich nicht selbst, sondern der Familie. „Zitat Metin 16: „...also ich würde gerne erst mit 23 oder so heiraten, aber meine Großmutter möchte ja noch ihr Enkelkind sehen, und wir gehören ihnen mal, und ihr Herz brechen, das könnt ich nicht... und wenn es sein muss, heirate ich auch meine Kusine, die wartet schon in der Türkei, eine von der Seite meiner Oma. Aber bis dahin mach ich, was ich will, das ist nun mal so...“. Einer dieser religiös/kulturellen Regeln ist die Ehre des Mannes. Er hat die Aufgabe, seine Ehre, d.h. die weiblichen Mitglieder seiner Familie in der Öffentlichkeit zu schützen und zu verteidigen. 'bb' 106-4/2003 Mete, 16: „Also wenn meine Schwester nur einen hätte, also nur den einen kennenlernt und heiratet, kein Problem, ich würde, ich hätte, ich wäre nicht gleich hingegangen und hätte ihn geschlagen und so, aber ich würde hingehen, ich würde sie mitnehmen, ich würde dem Jungen sagen, ich will dich nie wiedersehen. Wenn du was willst, dann komm zu uns, um die Hand anzuhalten, aber nicht so rumtreiben und so.“ Der Effekt ist, das die Migrantinnen und Migranten von den Deutschen sich abgrenzen, auch deshalb, weil sie sagen, die Deutschen haben keine Ehre, sie sind nicht sozial, sie sind sich egal. Die türkischen Jugendlichen grenzen sich ab, weil sie in ihrer Kultur leben wollen und weil sie sich dort verstanden fühlen. Auch wird der Wunsch, nicht mehr verheiratet zu werden, sondern selber die Partnerin/Partner auszusuchen, genannt. Wobei die meisten ihren Eltern kaum widersprechen. In 40 Prozent aller türkischen Hochzeiten werden die Bräute von der zukünftigen Schwiegermutter in der Türkei ausgesucht und hergebracht. Dies hat u.a. die fatale Folge, dass die Bräute der Schwiegermütter untergeordnet sind, nicht Deutsch sprechen und die Kinder nach ihren eigenen Herkunftsmustern erziehen. Das ist dann die hier geborene 4. Generation, die ohne Deutschkenntnisse in die deutsche Schule kommen oder gleich in eine islamische Grundschule gehen, wo die Eltern sich eher identifizieren und das Kind begleiten können als in einer deutschen Schule. Wie wird der islamische Glaube im Alltag von den Jugendlichen gelebt? Für einen Muslim gilt es die fünf Säulen im Islam einzuhalten. Die Hauptpflichten sind: - Täglich das Glaubensbekenntnis aussprechen; - Namaz halten, d.h. fünfmal am Tag beten; - Almosen geben; - den Ramadan einhalten, d.h. vier Wochen im Jahr fasten; - einmal im Leben nach Mekka pilgern, um Hadsch zu werden. Das ist für die Jugendlichen natürlich kaum realisierbar, daher ist die praktische Religiosität stark relativiert, wenig rituell und stark individualisiert. Zitat Haldun 15: „...was ich befolgen kann? Es gibt zu viele Gesetze, ...zum Beispiel fasten, das tue ich auch gerne, und beten zu Allah, das geht auch, aber Namaz (5x am Tag) das schaff ich nicht, 1x in der Woche oder 2x vielleicht, ja natürlich zum Freitagsgebet mit meinen Brüdern und Onkels, das kann ich noch befolgen...“ (S. 143) Und Hadsch? Darüber denk ich, wenn ich alt bin, so ab 50, wenn ich weiße Haare bekomme, aber bis dahin will ich richtig leben, wenn ich sage, ich habe schöne Sachen gemacht, lass jetzt die Finger von, dann werde ich richtig religiös, nicht wie jetzt, so ein wenig und so...“ Zitat Fahriye 16: „...natürlich bin ich muslimisch, alle die ich kenne, sind müslüman, und ich glaube auch an Gott und ich liebe mein Gott deswegen, ich habe auch immer, als ich klein war, sechs oder so, bin ich schon angefangen mit oruc, ja ich liebe oruc (Fasten) ich muss das machen, aber beten so 5x am Tag, das ist schwer, die Gesetze sind richtig schwer, weil Gott will uns prüfen, aber ich schaff so ein mal am Tag, ein anderer Tag nicht...“ „…ich weiß wir müssen alle einhalten, werden auch bestraft, aber ich muss auch an die Schule denken, ich will ja später auch Sängerin werden, dafür bete ich auch schon so viel...“ (S. 118) Zusammenfassend zeigen die Interviews eine deutliche Übereinstimmung im Bekenntnis zum Muslim-Sein auf, dessen Funktion ganz wesentlich in der identifikatorischen Verankerung der Herkunft liegt und Orientierung durch die Normen und Werte der Migrantengesellschaft vermittelt. Zum anderen befinden sich die Jugendlichen handlungspraktisch mehr oder minder auf dem Weg in die Moderne, wo sie ihre Perspektiven sehen. Neben der Zuordnung zum Muslim-Sein findet auch ein Loslösungsprozess vom traditionellen Teil ihres Lebens satt, der keine hinreichende Orientierung für die Bewältigung des Lebens in Deutschland zur Verfügung stellen kann. Jedoch bietet die Mehrheitsgesellschaft kaum neue identitätsstiftende Angebote. Die Jugendlichen erfahren, dass die unterschiedlichen sozio-kulturellen Norm- und Wertsysteme nur begrenzt kompatibel sind, erleben Ausgrenzung von der einen und Disziplinierung von der anderen Seite. Im Bemühen, die unterschiedlichen kulturellen Anforderungen auszubalancieren, findet eine Subjektivierung im Selbstbezug zu den verschiedenen kulturellen Orientierungs- und Verhaltensmustern statt, die ihnen zum Teil als Verpflichtung, zum Teil als Angebote gegenüber stehen. Die Jugendlichen müssen eigene Bewältigungsstrategien entwickeln, für die kein Modell zur Verfügung steht. Ich bin inzwischen skeptisch, ob dies gelingen kann. Ich begleite Integrationsbemühungen der Institutionen und Lebensläufe von Jugendlichen seit nunmehr über zehn Jahren und muss feststellen, dass sich die Situation immer weiter zuspitzt. Die Abkehr von der deutschen Gesellschaft hat in diesem Zeitraum zugenommen, die Zuflucht in die geschlossene Migrantengesellschaft nimmt zu. Diese Entwicklung fand bisher im Wesentlichen unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Manchmal setzten sich die Migranten selbst auf die Tagesordnung, wie zuletzt die Lehrerin Ludin, die mit dem Kopftuchstreit bis vor das Bundesverfassungsgericht zog. 5. Die Bedeutung der religiösen Instanzen: Moscheen, Koranschulen Exkurs: Das Kopftuch Da die deutschen Schulen und gesellschaftlichen Institutionen nicht mehr in der Lage sind, akzeptable und identitätsstiftende Angebote für die Jugendlichen zu machen, weil sie inzwischen von den Jugendlichen nicht mehr 19 'bb' 106-4/2003 akzeptiert werden, gewinnen die muslimischen Organisationen zunehmend an Bedeutung. Immer mehr Moscheen werden gebaut, Koranschulen entstehen und selbst Sport wird religiös organisiert. Dies findet alles statt unter Ausschluss der Kontrolle durch die deutsche Gesellschaft. Die Koranschulen, in denen die Kinder ab vier Jahren lernen, den Koran zu lesen und nach muslimischen Regeln zu leben, bieten auch eine Reihe von Angeboten zur Freizeitgestaltung, aber keine Hilfe zur Integration in die deutsche Gesellschaft. In diesem Zusammenhang auch noch eine Anmerkung zum Streit um das Tragen des Kopftuches. Ich möchte jetzt nicht noch mal alle Argumente dafür oder dagegen aufzeigen, sondern nur etwas feststellen. Derya, 16: „Also bei mir, den ersten Tag, das war so, mein Bruder ist irgendwann mal nach Hause gekommen und hat mir erzählt, Kopftuchtragen wie das ist, warum das ist und dann hat er gesagt, hat er mich gefragt, möchtest Du ein Kopftuch tragen. Da war ich acht oder neun und dann habe ich gedacht, dass meine ganze Familie hat ja, meine Geschwister, die tragen alle Kopftuch und da, das hat mich verwirrt sozusagen, ich war ja auch klein, da habe ich mein erstes Kopftuch getragen...“ Dazu müssen zunächst die Migranten selbst etwas tun: - Die türkischen Kinder und ihre Eltern müssen die deutsche Sprache beherrschen lernen. - Dazu müssen schon im Kindergarten Sprachkurse und Sprachförderung selbstverständlich sein und genutzt werden. - Zwangsverheiratungen müssen aufhören. - Die muslimischen Organisationen müssen eine Vorbildfunktion bei der Integration leisten. - Es muss ein öffentliches Interesse daran bestehen, mit welchen pädagogischen Konzepten gelehrt und welche Inhalte in den Moscheen und Koranschulen vermittelt werden. Dies muss kontrollierbar sein. - Aber auch die deutsche Gesellschaft muss es schaffen, vor allem den Jugendlichen eine positive deutsche Identität anzubieten, auch aus dem Interesse, die eigenen Errungenschaften zu verteidigen. In allen meinen Gesprächen in den letzten Jahren mit sehr vielen Mädchen, die Kopftuch tragen, ist mir nicht ein einziges Kind begegnet, dass wirklich freiwillig Kopftuch trägt. Ein Kind vor der Pubertät hat nach allen entwicklungspsychologischen Erkenntnissen keine wirkliche Entscheidungsfreiheit, weil die Bindung und Abhängigkeit von der Familie prägend ist. Am Anfang meiner Ausführungen habe ich die vertikale Trennung in der muslimischen Gesellschaft beschrieben und dass das Kopftuch den Mann und die Frau voreinander schützen soll. Im Türkischen bezeichnet man den Vorgang sich Kopftuch anzulegen Kapatmak, übersetzt bedeutet das: Zumachen. Mir scheint, dass dies nicht nur auf das Kopftuch zutrifft. Die Muslime verschließen sich zunehmend mit dem Ausleben des muslimischen Common Sense einer offenen Gesellschaft. Sie machen zu. 6. Fazit: Der Islam und die Moderne. Forderungen an die muslimischen Institutionen und die deutsche Gesellschaft Mein Vater hat nach sieben Jahren trotz aller seiner Bemühungen, uns in Deutschland eine neue Heimat zu geben, aufgegeben und ist allein in die Türkei zurückgegangen. Nicht nach Istanbul, sondern in das Haus seiner Mutter in Zentralanatolien. Selbst bei bestem Willen ist es ungeheuer schwer, in einem fremden Land anzukommen. Auch die deutsche Gesellschaft muss diesen Prozess unterstützen und fördern. Aber auch die Migranten müssen ihren Teil dazu beitragen, müssen den Willen haben anzukommen. Es gibt einige ganz einfache, und doch schwer zu realisierende Voraussetzungen, die Integration leichter machen: 20 'bb' 106-4/2003 u-entwurf: ein kreuz wird zum lebensbaum hoffnung gestalten im religionsunterricht der grundschule – wie lässt sich das schwierige thema „abschied nehmen“ mit seinen unterschiedlichen aspekten kindgerecht aufbereiten? malte stoffel Zur Unterrichtseinheit: „Abschied nehmen“ Abschied nehmen ist Teil des Menschseins. Das Leben besteht aus vielen Abschieden. Man verabschiedet sich am Telefon, von seinem Besuch, von den Kollegen oder der Verkäuferin im Geschäft. Bewegen wir uns von der alltäglichen Ebene weg, kann der Abschied schon schwerer fallen, je nachdem, wie stark wir in den jeweiligen Strukturen verwurzelt sind: Man kann oder muss sich von bestimmten Lebensabschnitten verabschieden, wie sie beispielsweise durch die Schulstruktur vorgegeben werden oder macht selbst Schnitte im Berufs- oder Privatleben. Am Schwierigsten zu bewältigen ist wohl der endgültige Abschied: Der Tod, ob nun von einem geliebten Menschen oder, gerade in der kindlichen Gefühlswelt, vom Haustier, sorgt oft für Sprachlosigkeit und Ohnmacht. Er ist für uns selbst und die, die mit uns zu tun haben, eine schwierig zu bewältigende Situation. Der „richtige“ Umgang fällt uns schwer. Schon deshalb, weil jeder damit anders umgeht: Der eine möchte getröstet werden, der andere stürzt sich in die Arbeit, der dritte sucht Trost bei Gott, der vierte weiß selbst nicht, was ihm eigentlich gut tut usw. In den Niedersächsischen Rahmenrichtlinien Evangelische Religion für die Grundschule1 wird diese Problematik unter dem Thema „Leben und Tod“ behandelt. Das Groblernziel lautet: „Im christlichen Glauben die Hoffnung für Leben und Tod sehen“ (RRL 1984, S. 28). Die biblische Auferstehungsbotschaft als Trost und Hoffnung der Christen für ihr eigenes Leben ist darin als Feinlernziel verankert (vgl. RRL 1984, S. 28). Wie mir im Verlauf der Einheit bewusst wurde, haben sich Schüler2 einer 4. Klasse durchaus schon eingehend mit dem Thema Tod auseinander gesetzt, es besitzt also eine Gegenwartsbedeutung für Kinder dieser Altersstufe. Dies kann der Tod eines nahen Verwandten, eines Nachbarn oder des Kaninchens sein. Ist die Klassengemeinschaft und das Verhältnis zum Lehrer durch gegenseitiges Vertrauen geprägt, können sich fast philosophische Gespräche entwickeln. Auf der anderen Seite finden sich unterschwellige Ängste und Apathien, wie sie besonders beim Besuch des Friedhofs (und dem Gespräch darüber) zum Vorschein kamen (s.u.). Das „Abschied nehmen“ allein auf den Bereich Leben und Tod zu beschränken, erschien mir zu wenig. Wie bereits ausgeführt, beschränkt sich diese Thematik nicht allein auf diese beiden Begriffe, sondern findet in allen seinen Ausprägungen lebenslang statt (Zukunftsbedeutung). Gerade für eine 4. Klasse bot es sich an, den Abschluss der Grundschulzeit als das Ende eines Lebensabschnittes in seiner Ambivalenz zu überdenken und an den Anfang dieser Einheit zu stellen: Die Schüler haben in diesen vier Jahren viele Freundschaften geschlossen und sich als Klassengemeinschaft zusammengefunden. Die Strukturen ihrer Grundschule sind ihnen bekannt und vertraut, ob es sich um den Schulweg, den Schulhof oder den Mathelehrer handelt. Das Verlassen dieser wohlbekannten Umgebung in eine neue (OS, IGS), die mit einem Wechsel des Ortes, des Gebäudes, der Stundentafel, der Lehrer usw. verbunden ist, ist sicher für viele mit Unbehagen, vielleicht sogar Angst behaftet. Andererseits bieten sich zahlreiche neue Möglichkeiten und Chancen: Die bestehende Klassengemeinschaft kann, gerade nach so langer Zeit, als einengend für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit empfunden werden. Die vorhandenen Strukturen sind vielleicht starr, so dass bestimmte Rollenverteilungen („Führer“, Außenseiter usw.) unabänderlich erscheinen oder sind. Gerade Außenseitern bietet eine andere Gruppe eine neue Chance zur Integration. So ließen sich auch sicher Pro-Argumente anführen, die ein Wechsel der Lehrkräfte mit sich bringt. Zusätzliche Lernangebote wie zahlreiche neue AGs ergänzen die positiven Erwartungen. Alle diese Punkte wurden von den Schülern mehr oder weniger direkt angeführt (1. Stunde). Dass die Grundschulzeit mit vielen gemeinsamen Erinnerungen behaftet ist, wurde in der zweiten Stunde „Wir hinterlassen Spuren“ thematisiert: Der eigene „Fußabdruck“ (auf Tonpapier) wurde mit Foto versehen und von den Schülern beschriftet („Meine schönste Erinnerung“). Beim anschließenden Unterrichtsgespräch wurde deutlich, dass die Schüler viel miteinander erlebt haben. Sie haben Spuren (=Erinnerungen) bei anderen hinterlassen und andere bei ihnen. Dass ein bestimmtes Erlebnis von vielen Schülern gleichzeitig als besonders schön bzw. erinnerungswürdig empfunden wurde, zeigte sich in der häufigen Nennung einer Klassenfahrt. Danach erfolgte dann die Auseinandersetzung mit dem endgültigen Abschied, dem Tod (3. und 4. Stunde): Der (mögliche) Umgang mit dem Tod wurde anhand der 21 'bb' 106-4/2003 bekannten Geschichte von Susan Varley „Leb wohl, lieber Dachs“ thematisiert. Die Abfolge von Trauer, Trost und dankbarem Erinnern bilden den Kern dieser kindgerechten Geschichte, die hilft, die Sprachlosigkeit zu überwinden und über den Tod ins Gespräch zu kommen. Die Übertragung auf die Tierwelt schafft zum einen Distanz für die Schüler, die sich nicht über persönliche Erfahrungen äußern wollen oder können. Zum anderen bietet die Geschichte die Möglichkeit, eigene Erlebnisse einfließen zu lassen. Gerade bei dieser Thematik ist es oberstes Gebot, dass die Schüler sich nur freiwillig äußern. Der anschließende Gang auf den Friedhof, dem sich ein Gespräch anschließen muss, machte deutlich, dass der Umgang mit dem Tod stark mit Ängsten und Verdrängung behaftet ist: Viele Schüler fühlten sich unwohl oder empfanden gar „Ekel“, weil ja „unter der Erde die toten Menschen liegen“. Eine Reihe Schüler war vorher noch nie (bewusst) auf einem Friedhof. Hieran wurde nochmals deutlich, wie wichtig die Beschäftigung mit dem Thema „Tod“ ist. Entscheidend für die Auseinandersetzung mit dem Tod im Unterricht ist, dass man niemals das Leben aussparen darf. „Leben“ muss immer im Hintergrund vorhanden sein, um die Schüler nicht mit ihren Ängsten und Gedanken alleine zu lassen. Der Hoffnungsaspekt schiebt sich im Verlauf der Einheit immer stärker in den Vordergrund. Die Überwindung des Todes durch Jesus Christus bildet den Abschluss und Höhepunkt der Einheit im christlichen Religionsunterricht. Der Umfang ist in diesem Zusammenhang variabel, da das Thema „Passion und Auferstehung – Ostern“ wiederholt Thema des Religionsunterrichts in der Grundschule ist. In diesem Zusammenhang war es für mich besonders wichtig, die christliche Botschaft, dass über den Tod hinaus Hoffnung auf neues Leben besteht bzw. dass aus dem Tod immer wieder neues Leben hervorgeht, für die Schüler möglichst anschaulich und erlebnis- bzw. handlungsorientiert zu gestalten. Sie sollten erkennen, dass zwischen Tod (Symbol: Kreuz) und Leben (Symbol: Lebensbaum) nur ein scheinbarer Widerspruch besteht, dass sie im Grunde genommen zusammen gehören.3 Vielleicht konnte er sogar auf emotionaler Ebene im Ansatz aufgelöst werden. Im Zentrum dieses Ansatzes stand für die folgende Stunde (5. Stunde) die Frage: „Warum pflanzt man auf einen Friedhof Lebensbäume?“ Zur Unterrichtsstunde: „Der Lebensbaum“ Die Stunde wurde mit einer Fantasiereise begonnen, die die Verwandlung einer Raupe zum Schmetterling zum Inhalt hat, der anschließend von Pflanze zu Pflanze fliegt und sich über alles freut.4 Die Schüler sollten diese Verwandlung nachvollziehen (innere Bilder, Empfindungen) und durch das anschließende Unterrichtsgespräch sollte ihnen in einem ersten Schritt deutlich werden, dass das Leben nicht auf einen Seinszustand beschränkt ist. Der anschließende Impuls überführte auf die Ebene realer Anschaulichkeit: In die Mitte des Sitzkreises stellte ich 22 einen kleinen Lebensbaum, in dem ein Schmetterling aus Seide saß. Danach schickte ich jeden Schüler in den Gruppenraum, damit er sich (ohne den Namen der Pflanze zu nennen) seinen Lebensbaum holt und ihn beliebig anordnet. So entstand ein kleiner „Wald“. Danach wurde, in Rückgriff auf den Unterrichtsgang, geklärt, dass man diese Pflanzen häufig auf einem Friedhof findet, dessen zentrales Symbol das Kreuz (Tod) ist. Anschließend ließ ich die Schüler die Bäume in Kreuzform anordnen. Dabei gingen sie sehr sorgfältig und behutsam vor. Nun stand vor uns ein Kreuz aus Lebensbäumen. Mit der Klärung des Namens dieser Pflanzen sollte den Schülern dieser (scheinbare) Widerspruch bewusst werden und durch das dargestellte Kreuz mit echten Lebensbäumen besonders anschaulich werden: Das Symbol des Todes wurde mit Symbolen des Lebens dargestellt. Warum findet man diese Symbole des Lebens auf dem Friedhof? In einem nächsten Schritt ließ ich die Schüler in Gruppenarbeit nach Antworten auf die oben angeführte Frage „Warum pflanzt man auf einen Friedhof Lebensbäume?“ suchen und diese anschließend auf Papierblüten notieren. Es bietet sich hier auch Partnerarbeit an. Auf jeden Fall ist es nicht sinnvoll, die Schüler allein nach Antworten suchen zu lassen, da dann bei diesem stark emotionalen Thema keine Austausch- oder Rückzugsmöglichkeiten (in Gruppenarbeit) mehr bestehen. Die gefundenen Schülerantworten übertrafen meine Erwartungen bei Weitem. Sie reichten von Äußerungen wie „Damit die Gräber immer schön grün aussehen.“ bis „Damit will man sagen, dass das Leben nach dem Tod weitergeht.“ Um die Hoffnung auf neues Leben über den Tod hinaus für die Schüler handlungsorientiert und anschaulich darzustellen, wurde dann mit grünen Tüchern (Kett-Material) und den rosa Blüten der Schüler aus dem Kreuz ein Lebensbaum gestaltet. Mit Hilfe der Tücher wurde die Baumkrone gestaltet, indem die Tücher in die vier „Zwischenräume“ des oberen Teils des Kreuzes gelegt wurden. Anschließend verteilten die Schüler die Blüten auf den Tüchern. Der so entstandene große, blühende Lebensbaum ist das gemeinschaftlich gestaltete Symbol des Lebens (siehe Abbildung 1). Er zeigt, wie aus dem Tod neues Leben entstanden ist. Jeder Schüler bekam von mir abschließend den Lebensbaum für den neu anbrechenden Lebensabschnitt geschenkt. Dieses Abschiedsgeschenk kann so im Garten oder auf dem Balkon an die vergangene Grundschulzeit erinnern und steht gleichzeitig für den Neubeginn an der weiterführenden Schule. Die Einheit schloss, entsprechend der Zeit im Kirchenjahr, mit einer Stunde über Ostern (6. Stunde). Groblernziel der Unterrichtseinheit: Die Schüler sollen erkennen, dass „Abschied nehmen“ (von einem Lebensabschnitt, Tod) ein Vorgang ist, der Teil des Menschseins ist. Sie sollen den ambivalenten Charakter dieses Vorgangs wahrnehmen: Jedes Ende ist auch ein neuer Anfang. 'bb' 106-4/2003 Aufbau der Unterrichtseinheit: Thema der Stunde Didaktischer Schwerpunkt 1. Stunde Schulabschied: Die Grundschulzeit geht zu Ende 2. Stunde Wir hinterlassen Spuren Ein Lebensabschnitt geht zu Ende: Den Abschluss der Grundschulzeit als ambivalente Situation überdenken Wir hinterlassen Spuren (Erinnerungen) bei anderen und andere bei uns 3. Stunde Tod: Trauer, Trost, Erinnerung: Leb wohl, lieber Dachs Endgültiger Abschied: Mit dem Tod umgehen: Trauer, Trost und dankbares Erinnern 4. Stunde Auf dem Friedhof Den Friedhof als Ort des Gedenkens an die Toten kennen lernen 5. Stunde Auf dem Weg zum Leben: Der Lebensbaum Der Tod verweist auf das Leben: Hoffnung gestalten: Ein Kreuz wird zum Lebensbaum 6. Stunde Jesus zeigt uns den Weg zum Leben Sehen, wie der Osterglaube Hoffnungslosigkeit zu überwinden und neues Leben zu schenken vermag Groblernziel der Unterrichtsstunde: Die Schüler sollen erkennen, dass über den Tod hinaus, Hoffnung auf neues Leben besteht. Feinlernziele der Unterrichtsstunde: Die Schüler sollen… FZ1… wahrnehmen, dass Leben nicht auf einen Seinszustand beschränkt ist, indem sie in ihrer Fantasie die Verwandlung der Raupe zum Schmetterling nachvollziehen (innere Bilder, Empfindungen) und diese anschließend artikulieren. FZ2… den scheinbaren Widerspruch zwischen Tod (Symbol: Kreuz) und Leben (Symbol: Lebensbaum) erkennen und zumindest ansatzweise auflösen, indem sie Antworten auf die Frage „Warum pflanzt man auf einen Friedhof Lebensbäume?“ suchen, diese schriftlich auf (Papier-)Blüten fixieren und aus dem Kreuz einen blühenden Lebensbaum gestalten. FZ3… im gemeinsamen Tun Gemeinschaft erleben, indem sie die [ihre] einzelnen Lebensbäume (und Materialien) zu gemeinsamen „Bildern“ („Wald“, Kreuz, blühender Lebensbaum) zusammenstellen. Literatur Ardey, Karin/Hagemann, Waltraud u.a. (1997): Religion – einmal anders 3/4. Lehrermaterial für das 3. und 4. Schuljahr. Paderborn Baltz-Otto, Ursula/Buschbeck, Bernhard (1990) u.a.: Kinder fragen nach dem Leben. Religionsbuch 3. und 4. Schuljahr. Lehrerhandbuch mit Kopiervorlagen. Berlin Baltz-Otto, Ursula/Buschbeck, Bernhard (1988)) u.a.: Kinder fragen nach dem Leben. Religionsbuch 3. und 4. Schuljahr. Berlin Freudenberg, Hans (Hrsg.) (1998): Religionsunterricht praktisch. Unterrichtsentwürfe und Arbeitshilfen für die Grundschule. 4. Schuljahr. Göttingen 6., neubearbeitete Aufl. Gartmann, Michael/Göllner, Reinhard u.a. (1989): Große Freude. Religion im 4. Schuljahr. Lehrerhandbuch. Hildesheim Itze, Ulrike/Plieth, Martina (2002): Tod und Leben. Mit Kindern in der Grundschule Hoffnung gestalten. Donauwörth Niedersächsischer Kultusminister (Hrsg.) (1984): Rahmenrichtlinien für die Grundschule. Evangelische Religion. Hannover Oberthür, Rainer (1995): Kinder und die großen Fragen. Ein Praxisbuch für den Religionsunterricht. München Lied: Krenzer, Rolf/Edelkötter, Ludger (o.J.): Halte zu mir, guter Gott. Dreisteinfurt Bemerkungen Abbi. 1: Blühender Lebensbaum 1 Niedersächsischer Kultusminister (Hrsg.) (1984): Rahmenrichtlinien für die Grundschule. Evangelische Religion. Hannover 2 Die im Folgenden verwendete Bezeichnung „Schüler“ meint Jungen und Mädchen. 3 So wie durch die Auferstehungsbotschaft das Kreuz vom Symbol des Todes zum Symbol des Lebens wird. 4 Vgl. Oberthür, Rainer (1995): Kinder und die großen Fragen. Ein Praxisbuch für den Religionsunterricht. München, S. 101f. 23 'bb' 106-4/2003 24 'bb' 102-4/2002 Begrüßung Stilleübung Impuls: „Heute machen wir gemeinsam eine Reise – eine Fantasiereise.“ Fantasiereise Gespräch über die Fantasiereise 9.00 – 9.03 9.03 – 9.12 Ss lesen Ergebnisse vor; Gespräch Impuls: „Könnt ihr euch denken, warum ihr eure Antworten auf Blüten notiert habt?“ Ss gestalten mit Tüchern und Blüten aus dem Kreuz einen blühenden Lebensbaum; abschließende Deutung 9.32 – 9.45 Ergebnissicherung (II u. III) Gemeinsames Lied: „Halte, zu mir guter Gott“ Ss erarbeiten Antworten (7.) in Gruppen und notieren Ergebnisse auf den Blüten 9.22 – 9.32 Erarbeitung III Stundenschluss bzw. Did. Reserve Impuls: L stellt Lebensbaum mit Schmetterling in die Kreismitte 1. spontane Ss-Äußerungen 2. L-Impuls: „Der Schmetterling flog von Pflanze zu Pflanze und freute sich über alles.“ - L schickt ersten S in Gruppenraum und lässt ihn „ein Teil von dem holen, was dort für die Ss steht“ 3. Ss holen ihre Lebensbäume nacheinander aus dem Gruppenraum und ordnen sie beliebig an („Wald“) 4. L: „Wo findet man sehr häufig diese Pflanzen?“: Friedhof, zentrales Symbol: Kreuz (Tod) 5. Ss ordnen Lebensbäume in Kreuzform an 6. Klärung des Namens der Pflanzen: Lebensbäume 7. L: „Warum pflanzt man auf einen Friedhof Lebensbäume?“ 9.12 – 9.22 Erarbeitung II Erarbeitung I Ergebnissich. I Geplanter Unterrichtsverlauf Zeit/Phase/FZ Verlaufsplanung U-Gespräch m. Gestaltung / Sitzkreis Gruppenarbeit Gitarre Lebensbäume, Blüten aus Papier, Tücher Blüten aus Papier Selbsttätigkeit der Ss stärken (freie Anordnung); Einzelnes zu einem Ganzen verbinden einen Widerspruch schaffen (4.-7.) Lebensbäume aus dem Symbol des Todes (Ende des irdischen Lebens) wird gemeinschaftlich ein Symbol des Lebens gestaltet (Transfer zur Passion u. Auferstehung Jesu je nach Verlauf [Ss-Ergebnisse] möglich, eingehend thematisiert in der nächsten Stunde: Ostern) Stärkung der Gemeinschaft; inhaltlich: Angebot, dass Gott auch in schweren Zeiten für mich da ist Gruppenergebnisse präsentieren einen Denkanlass geben rücksichtsvoll miteinander umgehen und gemeinsam etwas erarbeiten; Gruppe bietet Austausch- u. Rückzugsmöglichkeiten (stark emotionales Thema) Selbsttätigkeit der Ss stärken: Wie ordne ich die Lebensbäume zu einem Kreuz an? den Widerspruch stehen lassen und den Ss die selbständige Klärung übertragen Verbindung zur Fantasiereise, Übergang zur Erarbeitung II Verbindung herstellen Impuls: L erwartet hier keine Ss-Vermutungen über den weiteren Ablauf, sondern erhöht so die Neugier (Motivation) Lebensbaum mit Schmetterling U-Gespräch m. Gestaltung / Stuhlkreis Konzentration, innere Bilder; Aspekte: Befinden der Ss (neue Übungsform); Inhalt (Bilder, Deutung) gegenseitiger Respekt Ritual: innere und äußere Sammlung Didakt.-meth. Kommentar Text: Fantasiereise, Klangschale Triangel Medien Einzelarbeit U-Gespräch / Stuhlkreis Klassenunterricht Aktions-/ Sozialform fachbeitrag: ironie und humor annäherungen aus linguistischer und kommunikationswissenschaftlicher sicht jörg kilian Ironie als Wort, Bedeutung, Begriff – semantische Annäherungen Die Ironie des Schicksals der Ironie ist, dass sie allen bekannt und doch allen ein Geheimnis ist. Sie ist allen bekannt, das meint: Jeder kompetente Sprecher einer Sprache ist grundsätzlich in der Lage, ironische Rede zu produzieren und ironische Rede verstehend zu rezipieren. Und das Wort Ironie sowie das von diesem Substantiv abgeleitete Adjektiv ironisch gehören trotz ihrer fremdsprachlichen Herkunft aus dem griechischen εìρωνεία bzw. ihrer Entlehnung ins Deutsche aus dem lateinischen īrōnīa und trotz ihrer terminologischen Verankerung in der rhetorischen Tropenlehre keineswegs in erster Linie einer Sparte des in der deutschen Sprache beheimateten Fremd- oder Fachwortschatzes an, sondern sind standardsprachliche, ja mithin umgangssprachliche Wörter. Die Äußerung: „Das war (doch) ironisch gemeint.“ oder die Redewendung „Das ist die Ironie des Schicksals.“ darf sich wohl täglichen Gebrauchs in der deutschen Sprache erfreuen. Die gängigen Wörterbücher des Deutschen verzichten denn auch bei diesen Wörtern auf die sonst sehr rasch verteilten varietätenspezifischen Markierungen, wie sie beispielsweise in unmittelbarer alphabetischer Umgebung die Stichwörter Iris („med.“), irrational („bildungsspr.“) und Irrealis („Sprachw.“) zieren (vgl. 3GWb). – Und die Ironie ist allen ein Geheimnis, das meint: Kaum ein kompetenter Sprecher vermag auf Nachfrage hinreichend zu beschreiben, wie ironische Rede zu produzieren ist, geschweige denn, was das Wort Ironie im engeren Sinne bedeutet. Schon die Abgrenzung von bedeutungsähnlichen Wörtern wie Hohn, Spott, Unernst, Witz und den entsprechenden Adjektiven fällt schwer, um so mehr die enzyklopädische Beschreibung, das heißt: die Beschreibung der Ironie als Gegenstand bzw. Sachverhalt. Insofern die Wörter Ironie und ironisch, wie festgestellt, nicht auf fachwissenschaftlich-terminologische Gebräuche festgelegt sind, sondern zum standard- und umgangssprachlichen Wortschatz des Deutschen gehören, mag ein Blick in ein standardsprachliches Wörterbuch Abhilfe schaffen. Im „Großen Wörterbuch der deutschen Sprache“ aus dem Duden-Verlag ist zu lesen (3GWb 1999, Bd. 5, S. 1980): Iro|nie, die; -, -n <Pl. selten> [lat. ironia < griech. eironeía= erheuchelte Unwissenheit, Verstellung; Ironie]: a) feiner, verdeckter Spott, mit dem man etw. dadurch zu treffen sucht, dass man es unter dem augenfälligen Schein der eigenen Billigung lächerlich macht: eine feine, zarte, bittere verletzende I.; die I. aus jmds. Worten heraushören; etw. mit [unverhüllter] I. sagen; seine Rede war mit I. gewürzt; So fühlte sich Thomas Mann, wie er es seinem Geschöpf Gustav Aschenbach mit leiser I. nachgesagt hatte, verpflichtet, womöglich immer gütig und bedeutend zu sein (Reich-Ranicki, Th. Mann 12); diese Nummernoper mit ihren Parodien und -n (MM 20. 4. 72, 48); ich meine das ohne jede I.; b) paradoxe Konstellation, die einem als Spiel einer höheren Macht erscheint: die I. einer Situation; I. des Lebens, der Geschichte; Den Beginn seines neunten Jahrzehnts feierte der rüstige Hansdampf ... im Münchner Prinzregententheater. Die I. des Schicksals: Gerade im Prinzregententheater war Rühmann als junger Mime beim Vorsprechen gescheitert (Focus 41, 1994, 286). Es bedarf wohl keines ausführlicheren Kommentars, dass Teilbedeutung a) „feiner, verdeckter Spott, mit dem man etw. dadurch zu treffen sucht, dass man es unter dem augenfälligen Schein der eigenen Billigung lächerlich macht“ nicht ganz das trifft, was die kompetente Sprecherin meint, wenn sie sagt: „Das war (doch) ironisch gemeint.“ Teilbedeutung b) hingegen: „paradoxe Konstellation, die einem als Spiel einer höheren Macht erscheint“ beschreibt in groben Zügen die Redewendung „Das ist die Ironie des Schicksals“. Zu einem vergleichbaren Ergebnis führt die Durchsicht auch anderer standard- oder allgemeinsprachlicher Wörterbücher. So mag die Erklärung in „Langenscheidts Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache“ zwar auf den ersten Blick treffender erscheinen (LaDaF 1997, S. 513): Ironie die; -; nur Sg; ein Sprachmittel, bei dem man bewußt das Gegenteil von dem sagt, was man meint (bes um zu kritisieren od. um witzig zu sein) [...] Diese Sachbeschreibung, dass also die Ironie eine Form des Sprachhandelns sei (das Wort „Sprachmittel“ als Genus proximum ist ungeeignet, denn Sprachmittel sind Phoneme, Morpheme, Lexeme usw.), mit der die Sprecherin absichtlich (das ist wohl mit „bewußt“ gemeint) das Gemeinte indirekt bzw. uneigentlich zum Ausdruck bringt, indem sie das Gegenteil sagt, wird auch vielen ausführlicheren begriffsgeschichtlichen Darstellungen gleichsam als Kernbedeutung des Wortes Ironie und als prototypischer Inhalt des Begriffes „Ironie“ seit der Antike vorangestellt (vgl. z.B. Behler 1998, Sp. 599f.; Müller 2000, S. 185). Und in der Tat scheint sie das Wesen der Ironie auf den Punkt zu bringen: Wer sagt: „Das ist ja eine schöne Bescherung!“ meint konventionell, dass der Sachverhalt, auf den sich die Äußerung bezieht, nicht schön ist und deshalb auch keine „Bescherung“; und wer sagt: „Du bist mir ja ein toller Held!“, meint konventionell, dass der Angesprochene keine heldenhafte Leistung vollbracht hat. 25 'bb' 106-4/2003 Und doch: Bei näherem Hinsehen erweist sich diese Bedeutungserklärung bzw. Sachbeschreibung der Ironie als Äußerung des Gegenteils des Gemeinten als nicht hinreichend. Da ist, zum einen, das Problem mit der Konventionalität: Wer sagt: „Das ist ja eine schöne Bescherung!“, kann zwar konventionell das Gegenteil meinen, doch ist dies trotz der Konventionalität dieser Äußerung stets abhängig vom jeweiligen Sachverhalt, auf den sich diese Äußerung bezieht. Denn die Äußerung kann unter besonderen Umständen auch „eigentlich“, das heißt wörtlich gemeint sein (z.B. bei der Übergabe eines Geschenks an Weihnachten). Lediglich die Intonation, die Gestik, die Mimik – und natürlich der Äußerungskontext – geben hier Indikatoren für eine eindeutige ironische oder nicht ironische Interpretation ab. Dasselbe gilt auch für die Äußerung „Du bist mir ja ein toller Held!“. Aber mehr noch: Wer die Äußerung tatsächlich im mittlerweile konventionell gewordenen ironischen Sinne meint, der meint zwar möglicherweise tatsächlich propositional (also in Bezug auf den Inhalt) das Gegenteil dessen, was er sagt, doch handelt er sprachpragmatisch nicht notwendigerweise „gegenteilig“, sondern macht, so oder so, z.B. eine FESTSTELLUNG. In sprachpragmatischer Hinsicht ist die Definition, Ironie sei eine Sprachhandlung zum Zweck, das Gegenteil des Gemeinten zu sagen, denn auch keineswegs so ohne weiteres zutreffend. Wer beispielsweise eine ironische Frage stellt (z.B. die Bankangestellte am Schalter zum Kunden: „Darf es etwas mehr sein?“), tut sprachpragmatisch nicht das Gegenteil von dem, was er unironischerweise getan hätte, sondern vollzieht dieselbe Sprachhandlung, die er unter anderen situationellen Umständen auch ohne Ironie vollziehen könnte („Darf es etwas mehr sein?“ z.B. an der Fleischertheke). Der Unterschied liegt darin begründet, dass Sprachhandlungen in ironischem Gebrauch ganz andere Wirkungen entfalten sollen. Die ironische Frage am Bankschalter etwa impliziert das „Welt“-Wissen, dass jeder Kunde gern etwas mehr Geld hätte und dass keine Bankangestellte etwas mehr Geld als nötig und möglich herausgibt. Die ironisch gebrauchte Frage ist denn mithin gar keine FRAGE. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Hinzu kommt, dass die Definition der Ironie als Äußerung des Gegenteils des Gemeinten nicht allein für die Ironie gilt. Die „Uneigentlichkeit“ und sogar das Gegenteil des Gemeinten kann nämlich auch auf andere Art und Weise ausgedrückt werden, zum Beispiel mit Hilfe von abtönenden Partikeln (z.B. im Supermarkt, kurz vor Ladenschluss die Äußerung der Kassiererin: „Können Sie mal langsam zur Kasse kommen?“) oder mit Hilfe anderer rhetorischer Tropen wie der Litotes (mit anerkennender Intonation: „Das Buch ist nicht schlecht.“). Die Rhetorik lenkt denn auch den Blick unmittelbar darauf, die Ironie nicht allein aus propositional-semantischer („Gegenteil“), sondern aus pragmatisch-semantischer Perspektive zu betrachten. 26 Ironie als Zeichenkonstitution – semiotische Annäherungen Im Folgenden gilt es, sprachpragmatische und kommunikationstheoretische Aspekte der Ironie zu erläutern und anhand von Beispielen illustrieren (die Beispiele sind zwar u.a. literarische Beispiele, doch wird die Ironie als literarästhetischer Begriff hier nicht Gegenstand sein). Die Ironie, so haben die Auszüge aus den Wörterbüchern gezeigt, ist verwandt mit Formen der abschätzigen Rede, also mit Spott, Hohn und Häme (daher auch die häufige Übersetzung des griechischen εìρωνεία mit ,Spottrede‘). Sie soll allerdings nicht direkt verletzen, sondern auf indirekte Weise Kritik üben. Auf der anderen, gewissermaßen der guten, witzigen Seite, und die soll hier im Vordergrund stehen, ist die Ironie ebenfalls nicht immer deutlich zu unterscheiden: vom Witz, vom Scherz, vom Spaß. Und doch ist die Ironie anders, ist sie gleichsam der Weg zum Ziel des Witzes, Scherzes, Spaßes. Das zeigen schon die Wortbedeutungen und ihre Gebrauchsbedingungen. Während man davon sprechen kann, man habe einen Witz, einen Scherz oder einen Spaß gemacht, kann man nicht sagen, man habe eine Ironie gemacht. Die Anfänge der Begriffsgeschichte spiegeln diese Doppelbödigkeit der Ironie: Ursprünglich handelt es sich beim Begriff eiron „um ein derbes Schimpfwort, das den Typ des Ironikers, [eben] den eiron, mit ,Lügnern, Rabulisten, Rechtsverdrehern, durchtriebenen, abgefeimten glatten Gesellen‘ in Verbindung bringt. [...] Er betrügt durch leere Redensarten, hohles Geschwätz und gibt sich den Schein des Wissens, um zu täuschen, zu heucheln, zu höhnen, zu spaßen und sich durchzuwinden.“ (Lapp 1997, 18f.) Als das prototypische Mittel dieser Verstellung ist schon in der Antike die „spöttische Redeweise, bei der das Gegenteil des Gemeinten zum Ausdruck gebracht wird“, definiert worden, und diese Definition hat sich, wie oben dargelegt, in der rhetorischen Tropen- und Figurenrede bis heute gehalten (Lapp 1997, 21). Zum Humor kommt die Ironie schließlich bei den römischen Rhetorikern. Cicero erweitert die klassische „Gegenteilsdefinition“: Einmal gebe es in der Tat die Ironie, bei der das Gegenteil vom Gemeinten gesagt wird; zum anderen sei es aber auch ironisch, wenn man lediglich etwas anderes als das Gemeinte sagt, aber auch dies durchscheinen lässt. Damit ist der Weg frei für die scherzhafte Ironie. Im Anschluss an Edgar Lapp lassen sich somit zwei Definitionen der Ironie unterscheiden (Lapp 1997, 24): 1.) Ironie ist: Das Gegenteil von dem sagen, was man meint. 2.) Ironie ist: Etwas anderes sagen als man meint. Das geht a) indem man beispielsweise ein Antonym (ein Gegensatzwort) zum Gemeinten wählt: Du bist entzückend! Tolles Wetter heute! [bei Platzregen], b) indem man eine andere Sprechhandlung ausführt als man meint: FRAGE: Aber sonst geht es noch ganz gut, 'bb' 106-4/2003 ja? Gemeint: VORWURF im Kleid der FESTSTELLUNG: ,Dir geht es doch nicht gut‘, ,du spinnst‘. c) indem man innerhalb desselben Sprechhandlungstyps bleibt, aber eine gegenteilige Proposition meint, z.B. die AUFFORDERUNG Mach nur weiter so! möglich. Wir nutzen den Terminus „Ironiesignal“ weiterhin, meinen heute damit aber gleichsam intendierte nonverbale oder paraverbale „Störfaktoren“, die die Rede begleiten und sie als ironische Rede kennzeichnen sollen. Wir sind nun an dem Punkt, wo geklärt werden muss, was sich zwischen Sprecher und Hörer abspielt in einer Alle Fälle sind von der Lüge dadurch unterschieden, dass natürlichen Kommunikationssituation. Gegeben sei folder Hörer aufgrund von Betonung, Gestik und Mimik und gendes „Modell virtueller und aktueller SprachzeichenÄußerungskontext erkennen soll, dass das Gegenteil oder konstitution“ (Henne/Rehbock 1980,151ff.): etwas anderes gemeint ist. Ein Täuschungsversuch liegt Dargestellt wird hier, wie Sprecher („Zeichenproalso nicht vor; das Ironische der Ironie scheint mithin duzent“) und Hörer („Zeicheninterpret“) sich auf eine in den genannten äußerungsbegleitenden Umständen gemeinsame „Welt“ – und Weltwahrnehmung – beziehen (er)fassbar. Harald Weinrich hat denn auch in seinem müssen, um dem geäußerten Sprachzeichen eine überBuch „Linguistik der Lüge“ diese äußerungsbegleitenden einstimmende Interpretation zuzuweisen. KonventioUmstände im Begriff des „Ironiesignals“ zusammenzufasnelle Sprachzeichen bieten dafür kraft ihrer abstrakten sen gesucht. Die Ironie werde als solche erkannt – und virtuellen Existenzweisen einen Bezugsrahmen an und stecken damit zugleich den Rahmen für die konkreten aktualisierten „Welt“-Bezüge des Sprachzeichens ab. Das ist eine Grundvoraussetzung für sprachliche, also symbolisch vermittelte Kommunikation, spielt indes besonders im Rahmen „uneigentlichen“ Sprechens und somit auch im Rahmen ironischen Sprechens eine außerordentlich wichtige Rolle. Ironischer Humor beispielsweise bliebe unverstanden, wenn nicht beide Dialogbeteiligte denselben virtuellen „Welt“-Hintergrund zugrunde legten, um vom Verstehen des „wörtlichen“ gesagten Rahmens zum Verständnis des aktuell gemeinten Rahmens zu gelangen. Der virtuelle Rahmen gestattet also zwar neben den Abb. 1: Vereinfachtes Modell virtueller und aktueller Sprachzeichenkonstitution. „wörtlichen“ auch ironische das soll sie ja – an Ironiesignalen: „Das mag ein AugenAktualisierungen, die Ironie selbst allerdings wird erst zwinkern sein, ein Räuspern, eine emphatische Stimme, im Zuge der Aktualisierung, im Zuge des Sprechaktes, eine besondere Intonation, eine Häufung bombastischer produziert. Und das heißt: Die Mittel der Ironie sind somit Ausdrücke, gewagte Metaphern, überlange Sätze, Wortzwar virtuell gegeben, die Ironie indes ist grundsätzlich ein wiederholungen oder – in gedruckten Texten – KursivPhänomen der aktuellen Rede, der Parole, der Performanz. druck und Anführungszeichen.“ (Weinrich 1970, 60ff.) Der In Bezug auf das aktuelle Sprachzeichen wird deshalb Sprecher kann also durch non- und paraverbale Mittel, folgerichtig in diesem Modell der Sprachzeichenkonstitudurch Gebärden, durch Imitation der Aussprache oder der tion differenziert zwischen Konstituieren und Meinen: Der Gebärden einer anderen Person seinen Text ironisieren. Zeichenproduzent „konstituiert“ aus der Äußerung von Im Sinne eines „Codes“ sind derlei Ironiesignale indes A’ mit der aktuellen Bedeutung I’ ein Sprachzeichen mit nicht zu systematisieren. Im Grunde kann (fast) alles IroBezug auf einen „Sachverhalt“. Indem er diesen sprachzeinie signalisieren; feste Zuordnungen, also beispielsweise chenbasierten Bezug herstellt, „meint“ er den Bezug auf eine solche, dass derjenige, der eine ironische Bemerkung diesen bestimmten „Sachverhalt“. Auch beim ironischen zur Belustigung der Hörer mache, mit den Augen zwinkeGebrauch eines Wortes konstituiert der Zeichenproduzent re, wohingegen derjenige, der eine ironische Bemerkung das konventionell mit diesem „Sachverhalt“ verknüpfte zur Kritik des Hörers mache, die Stirn runzele, sind nicht Sprachzeichen, meint jedoch, wie oben festgestellt, das 27 'bb' 106-4/2003 Gegenteil oder etwas ganz anderes. Dem ironischen Gebrauch eines Wortes liegt demnach grundsätzlich dessen „wörtliche“ oder „eigentliche“ Bedeutung sowohl virtuell wie auch aktuell zugrunde. Letztere wird sodann durch „soziale“, „individuelle“, besonders aber „situationale Bedeutungskomponenten“ ergänzt – im Falle der Ironisierung aber sogar überlagert. Insofern die Ironie von der Lüge u.a. dadurch unterschieden werden kann, dass der Zeicheninterpret diese Überlagerung erkennen soll, ist ein relativ großer Bereich gemeinsamen und der Äußerung gemeinsam präsupponierten „Welt“-Wissens Voraussetzung für das Verständnis ironischer Äußerungen, und zwar selbst bei relativ konventionell gewordenen ironischen Äußerungen wie „Das ist ja eine schöne Bescherung“ oder, wenn man beispielsweise die lexikalische Ironie nimmt, bei der Äußerung des Wortes Bauern-Ferrari mit Bezug auf einen Mercedes. Wer dieses Wort äußert, setzt beim Hörer ein „Welt“-Wissen voraus zumindest über folgende Bereiche: das Image der Automobilmarke Mercedes das Image der Automobilmarke Ferrari die Automarkenvorliebe vieler Menschen im landwirtschaftlichen Bereich den Unterschied zwischen einem Dieselfahrzeug und einem Sportwagen Einem Kleinkind oder einem Lerner des Deutschen als Fremdsprache mag an diesem Wort, die Kenntnis der „wörtlichen“ Bedeutung seiner Bestandteile vorausgesetzt, möglicherweise gar nichts rätselhaft erscheinen, weil es/er den überlagernden ironischen Rahmen noch nicht zu deuten vermag. Ironie als Sprecherhandlung und Hörerwirkung – pragmatische Annäherungen Es ist Aufgabe der Sprachpragmatik, genauer zu (er)klären, was der Zeichenproduzent tut, wenn er (ironisch) spricht. Sprechen ist im sprachpragmatischen Sinne eine Form sozialen Handelns und dementsprechend intentional: Der Handelnde verfolgt ein Ziel, die Handlung hat einen Zweck/eine Funktion. Im Unterschied dazu ist Verhalten nicht-intentional, nicht zielgerichtet. Sprachhandlungen sind darüber hinaus grundsätzlich konventionell: Mit sozialem Handeln ist kommunikatives Handeln gemeint, und damit dieses Handeln gemäß der Intention des Senders kommunikativ sein kann, muss die Sprachhandlung gesellschaftlichen Konventionen folgen. Als Faustregel gilt: Eine Handlung ist konventionell, wenn ihre Realisierung allgemein als Vollzug der Handlung X gilt. So gilt ein Sprechakt, der eine Aussage über die Welt macht und den Glauben des Sprechers an die Wahrheit dieser Aussage versichert, als FESTSTELLUNG: 28 Heinrich Heine: Das Fräulein stand am Meere Und seufzte lang und bang, Es rührte sie so sehre Der Sonnenuntergang. „Mein Fräulein! sein Sie munter, Das ist ein altes Stück; Hier vorne geht sie unter Und kehrt von hinten zurück.“ Was tut der Sprecher, wenn er sagt: „Hier vorne geht sie unter/Und kehrt von hinten zurück.“? Die linguistische Sprechakttheorie unterscheidet drei Teilhandlungen, die der Zeichenproduzent vollzieht, wenn er spricht. Sie seien hier vereinfacht und ohne Diskussion der wissenschaftlichen Kontroversen, die sie im Einzelnen hervorgerufen haben, referiert: 1) Er äußert einen Satz der deutschen Sprache („lokutionärer Akt“). 2) Indem er ihn (in einer bestimmten gesellschaftlichen Rolle in einer bestimmten Gesellschaft) äußert, vollzieht er die Handlung eines „illokutionären Aktes“, der die geäußerten Worte in eine bestimmte Beziehung mit der „Welt“ setzt: Er STELLT einen Sachverhalt FEST, er BITTET, er VERSPRICHT, er DANKT u.a. 3) Dadurch, dass er das tut, sucht er beim Zeicheninterpreten eine Wirkung hervorzurufen, die der hergestellten Beziehung korrespondiert („perlokutionärer Akt“): Der Zeicheninterpret soll z.B. den dargestellten Sachverhalt glauben und davon überzeugt werden, dass der dargestellte Sachverhalt wahr ist; oder er soll der BITTE Folge leisten und die „Welt“ so verändern, wie es die Äußerung der BITTE vorgibt. Ein großes Problem in diesem Modell der Teilakte, das die beiden Väter der Sprechakttheorie, John L. Austin und John R Searle, aufgestellt haben, bilden die perlokutionären Teilakte, denn erst in ihnen wird, insofern an ihrem „Glücken“ Zeichenproduzent und Zeicheninterpret gemeinsam dialogisch beteiligt sein müssen, die Sprechhandlung zur sozialen Handlung im engeren Sinne – und das wirft die Frage auf, wer für das Glücken des perlokutionären Teilakts zuständig ist. Austin rechnete die konventionellen Folgen eines Sprechaktes zum illokutionären Teilakt und wies lediglich die nicht konventionellen Folgen und „Nachspiele“ zum perlokutionären Teilakt. Dies scheint allerdings fraglich, denn gerade der Fall ironischen Sprechens macht deutlich, dass die vom Sprecher intendierten Folgen grundsätzlich nicht konventionell mit den geäußerten Sprechakten verknüpft sind: Mit den Worten „Hier vorne geht sie unter/Und kehrt von hinten zurück.“ kann man Humor ERZEUGEN und dadurch TRÖSTEN, doch konventionell ist das nicht. Es 'bb' 106-4/2003 macht deshalb Sinn, in Bezug auf die Folgen illokutionären Handelns zwischen perlokutionären Versuchen (bzw. Intentionen) des Sprechers und perlokutionären Effekten beim Hörer zu unterscheiden (vgl. Holly 1979). Im Falle der Ironie, und zumal im Falle der literarischen Ironie, kommt noch hinzu, dass grundsätzlich ein doppelter Adressatenbezug vorliegt. Zur Veranschaulichung diene ein Beispiel aus Theodor Fontanes Roman „Der Stechlin“: Der alte Stechlin berät mit seinem Diener Engelke, welche Gäste zu einem gesellschaftlichen Abend einzuladen seien und sagt u.a.: „Schlage was vor. Baron Beetz und der alte Zühlen, die die besten sind, die wohnen zu weit ab, und ich weiß nicht, seit wir die Eisenbahnen haben, laufen die Pferde schlechter.“ (Theodor Fontane: Der Stechlin, in: Sämtliche Werke [...]. Hrsg. von Walter Keitel, Bd. 5, München 1966, 250) Es gibt hier wenigstens zwei dialogische Strukturen: In der fiktionalen Dialogstruktur nimmt der alte Stechlin die Rolle des Sprechers, sein Diener Engelke die Rolle des Hörers ein; die Äußerung des alten Stechlin soll auch von Engelke als ironische Äußerung verstanden werden. In der narrativen Dialogstruktur hingegen spricht der Erzähler zum Leser und auch für diesen soll die Äußerung als ironische Äußerung verständlich sein. Derlei Mehrfachadressierung ein und derselben Äußerung gehören zum alltäglichen Dialogrepertoire; dabei erfüllt ein und dieselbe Äußerung je Adressat grundsätzlich unterschiedliche Funktionen. Indem der alte Stechlin zu seinem Diener sagt: „seit wir die Eisenbahnen haben, laufen die Pferde schlechter“, so macht er im wörtlichen Äußerungssinn eine FESTSTELLUNG. Eine FESTSTELLUNG gehört zur Gruppe der repräsentativen Sprechakte, die – im Sinne des illokutionären Zwecks – dadurch gekennzeichnet ist, dass sich der Zeichenproduzent darauf festlegt, dass die in der Äußerung enthaltene Aussage (Proposition) wahr ist, dass er dies auch glaubt und dass er – das wäre dann die perlokutionäre Intention – den Zeicheninterpreten davon überzeugen möchte, dies zu glauben. Der perlokutionären Intention entspricht auf der Seite des Zeicheninterpreten der perlokutionäre Effekt (vgl. Holly 1979) – was nicht heißt, dass perlokutionäre Intention und perlokutionärer Effekt im konkreten Fall einander korrespondieren müssen – wie jeder weiß, der es trotz aller Mühe nicht vermocht hat, jemanden zu überzeugen. Das liegt darin begründet, dass der perlokutionäre Effekt vom Sprecher kaum zu steuern ist. Während nämlich zwar der konventionelle Effekt einer FESTSTELLUNG in der Tat dahingehend beschrieben werden kann, dass der Zeicheninterpret (Hörer) dem Zeichenproduzenten (Sprecher) glaubt, kann der Sprechakt auch eine ganz andere, nicht intendierte, nicht konventionelle Folgewirkung zeitigen: Engelke könnte, z.B., am Verstand des alten Stechlin zweifeln oder aber, als Pferdeliebhaber, aufgrund der Äußerung Gegner des Eisenbahnwesens werden o.a. Was schon oben im Zusammenhang mit der Sprachzeichen- konstitution in Bezug auf die Ironie beobachtet werden konnte, wiederholt sich hier: Die Ironie ruht auf dem Rahmen des konventionellen Zusammenspiels von Lokution, Illokution und perlokutionärer Intention auf, wie es beispielsweise John R. Searle seiner Klassifikation von fünf Sprechaktklassen zugrunde legt; sie überlagert diesen konventionellen Rahmen allerdings durch einen zweiten Rahmen, der einer perlokutionären Intention (z.B. „HUMOR ERZEUGEN“) des Sprechers folgt und den konventionellen illokutionären Zweck des Sprechaktes gleichsam verbiegt, in eine andere Richtung steuert. Austin spricht in diesem Zusammenhang davon, dass „der gewöhnliche Gebrauch parasitär ausgenutzt“ wird (1979, 44), und dieser Einschätzung darf man wohl zustimmen. Festzuhalten ist aber auch, dass „der gewöhnliche Gebrauch“ überhaupt erst vollzogen werden muss, um parasitär ausbeutbar zu sein. Das ist ja gerade der Grund dafür, weshalb jede Äußerung grundsätzlich ironisch gemeint sein kann, und weshalb es oft der metakommunikativen Klärung bedarf, ob eine Äußerung ironisch gemeint war oder nicht. Im Grundsatz können wohl alle illokutionär definierten Sprechakttypen ironisch „parasitär ausgenutzt“ werden (vgl. auch Lapp 1997, 99ff.): Repräsentativa, z.B. FESTSTELLEN: „Na, das ist ja ein feines Wetter heute!“ (bei Sonnenschein/Regen), Direktiva, z.B. AUFFORDERN: „Setzen Sie sich doch auf meinen Schoß!“ (zum Platznachbarn im Zug), Kommissiva, z.B. VERSPRECHEN (Mann zur Frau) „Das nächste Kind bekomme ich.“, Expressiva, z.B. GRÜSSEN: „[Der Angestellte kommt anstatt um 8 Uhr morgens um 12 Uhr mittags. Der Chef sagt:] Guten Morgen.“ (Lapp 1997, 91), Deklarativa, z.B. TAUFEN: „Ich taufe dich auf den Namen ,Thunderbird‘. [Den alten Gebrauchtwagen] (Lapp 1997, 91). Von der parasitären Ausbeutung durch ironische Verwendung betroffen ist mittelbar der propositionale Teilakt, insofern der Sprecher, wie erwähnt, primär eine gegenteilige oder andere Proposition meint als er offenkundig sagt; des Weiteren ist mittelbar betroffen der illokutionäre Teilakt, insofern der Sprecher die „Redlichkeit“ (Austin) bzw. die „Regeln der Aufrichtigkeit“ (Searle) des illokutionär vorgegebenen Zwecks der Sprachhandlung verletzt und „die Gültigkeit der gesamten Sprechhandlung in Frage stellt“ (Lapp 1997, 95) – allerdings so, dass der Hörer es erkennen soll. Der illokutionäre Akt ist gleichwohl nur mittelbar betroffen, da der Illokutionstyp keine Veränderung erfahren muss. Unmittelbar betroffen scheint mir einzig der perlokutionäre Teilakt, denn der Sprecher verfolgt nicht die dem jeweils „gewöhnlichen Gebrauch“ eines konkreten Sprechakttyps korrespondierende perlokutionäre Intention (z.B. bei einer FESTSTELLUNG, dass sie geglaubt wird; bei einem BEFEHL, dass er ausgeführt wird u.a.), sondern will erreichen, dass der Hörer 29 'bb' 106-4/2003 vom Gesagten auf das gegenteilig oder anders Gemeinte schließt und darin den Ausdruck einer Einstellung des Sprechers zum im propositionalen Teilakt ausgedrückten Gegenstand/Sachverhalt und mittelbar auch zum Hörer selbst erkennt. Diese abstrakte perlokutionäre Intention ist konventionell mit ironischer Rede verbunden; die darüber hinausgehenden je konkreten perlokutionären Intentionen, wie z.B. HUMOR ERZEUGEN, BELUSTIGEN, VERÄRGERN hingegen nicht. Die konkrete ironische Sprachhandlung ist auch deshalb zwar intentional, aber nicht konventionell. Aus diesem Grund kann die Ironie aus sprechakttheoretischer Sicht auch nicht als indirekter Sprechakt im engeren Sinne begriffen werden, also als Sprechakt, der im Kleid der Illokution A die Illokution B vollzieht: Wer sagt: „Können Sie mal langsam zur Kasse kommen?“ vollzieht im Kleid der FRAGE eine AUFFORDERUNG, und wer sagt: „Darf ich Sie nach dem Weg zum Bahnhof fragen?“, vollzieht im Kleid der FRAGE1 („Darf ich Sie fragen?“) die FRAGE2 („Welcher Weg führt zum Bahnhof?“). Im Falle der Ironie jedoch wird nicht auf dem Rücken einer sekundären Illokution A eine primäre Illokution B vollzogen, sondern sowohl die Proposition wie auch die Illokution insgesamt werden um der perlokutionären Intention willen in Frage gestellt. Es ist deshalb auch nicht möglich, von einer „ironischen Illokution“ auf eine „nicht-ironische Illokution“ zu schließen. Indirekte Sprechakte dienen oft der Höflichkeit, auch der Ökonomie; sie sind zu einem Großteil konventionell bzw. gar idiomatisch, und dies auch spricht dagegen, die Ironie sprechakttheoretisch zu den indirekten Sprechakten zu stellen. Andererseits: Wer unaufrichtig sein will, wird indirekte Sprechakte zu vermeiden suchen, denn indirekte Sprechakte fordern den Hörer zur Suche des Gemeinten im Kleid des Gesagten auf. Dies wiederum teilt die Ironie mit den indirekten Sprechakten, denn der Zeichenproduzent beabsichtigt im Falle ironischen Sprechens nicht, unaufrichtig zu sein, sondern, wie erwähnt, in semantisch-pragmatischer Hinsicht das Gegenteil oder etwas anderes zu meinen als er sagt, und das soll der Hörer erkennen. Doch wie erkennt der Hörer dies? Indem einer sagt „seit wir die Eisenbahnen haben, laufen die Pferde schlechter“, macht er eine FESTSTELLUNG und legt sich, wie oben erläutert, damit konventionell darauf fest, dass die in der Äußerung enthaltene Aussage (Proposition) wahr ist, dass er dies auch glaubt und dass er den Zeicheninterpreten davon überzeugen möchte, dies zu glauben. Der Zeicheninterpret soll hier jedoch schließen, dass dieser in der Form der FESTSTELLUNG geäußerte Sprechakt nicht dem illokutionären Zweck und der konventionellen perlokutionären Intention einer FESTSTELLUNG folgt. Doch woher weiß er, dass es sich hier nicht um eine FESTSTELLUNG der ausgedrückten Proposition handelt, sondern um den Ausdruck einer bestimmten Sprechereinstellung, hier wohl mit der perlokutionären Intention, in einer angespannten Situation Humor zu erzeugen? Woran erkennt Engelke diese Seite der Sprechhandlung des alten Stechlin, wo doch diese Äußerung nicht einmal non- oder 30 paraverbale „Ironiesignale“ bietet? Den Schlüssel zur Erkenntnis der Ironie liefert wiederum das gemeinsame „Welt“-Wissen: Engelke weiß, dass die satzsemantisch temporale, hier genauer sogar kausale Verknüpfung der beiden Satzinhalte: „Wir haben Eisenbahnen.“ und „Deshalb laufen die Pferde schlechter.“ keinem „Sachverhalt“ in der Realität entspricht; Menschen aus eisenbahn- oder pferdefernen Kulturen, kleine Kinder oder andere mögen hingegen dem wörtlichen Kleid der FESTSTELLUNG folgen und den „Sachverhalt“ glauben. Der Sprachphilosoph H. Paul Grice hat einen Ansatz vorgelegt, der noch genauer zu erklären vermag, weshalb Engelke die Ironie des alten Stechlin versteht, und weshalb überdies ein Zeicheninterpret unter normalen Umständen ironische Äußerungen als solche versteht. Nach dem Ansatz Grices sind indirekte Sprechakte in der Regel „konventionelle Implikaturen“, das heißt, dass das, was der indirekt Sprechende mit seiner Äußerung impliziert, auf der Grundlage der konventionellen Wortbedeutungen, grammatischen Strukturen und pragmatischen Indikatoren vom Hörer erschlossen werden kann. So gilt ein Sprechakt, der dem Hörer eine vorausgegangene negative Handlung bescheinigt, als VORWURF, auch wenn er im Kleid der FRAGE daherkommt, wie im folgenden Cartoon von Uli Stein: Abb. 2 Ist dieser Schluss dem Hörer indes nicht möglich, ohne dass er zusätzlich Annahmen über die Gesprächskooperation des Sprechers anstellen muss, so spricht Grice von einer „konversationellen Implikatur“. Es heißt „konversationelle Implikatur“, weil das, was der Sprecher impliziert, nicht allein auf konventionellen Mitteln aufruht, sondern dem Dialogko- und ‑kontext (also der „Konversation“) entnommen werden muss. Ebenso wie beim indirekten Sprechakt und im Unterschied zur Lüge intendiert der Sprecher, dass der Hörer das Implizierte erschließt. Und dies kann der Hörer, so Grice, wenn er die Äußerung des Sprechers auf der Grundlage folgender Maximen prüft: Jeder dialogischen Kommunikation liegt nach Grice ein „Kooperationsprinzip“ zugrunde, das er im Anschluss an Kants „kategorischen Imperativ“ formuliert (Grice 1979, 'bb' 106-4/2003 248ff.): „Gestalte deinen Gesprächsbeitrag so, dass er dort, wo er im Gespräch erscheint, dem anerkannten Zweck dient, den du gerade mit deinen Gesprächspartnern verfolgst.“ Dazu gibt es nun vier Maximen, deren Befolgung mit dem Kooperationsprinzip harmoniert: 1. Quantität: Mache deinen Gesprächsbeitrag so informativ wie nötig. Mache deinen Gesprächsbeitrag nicht informativer als nötig. 2. Qualität: Versuche, deinen Gesprächsbeitrag so zu gestalten, dass er wahr ist. Behaupte nichts, von dessen Wahrheit du nicht überzeugt bist. Behaupte nichts, wofür du keine hinreichenden Beweise hast. 3. Relation Sei relevant. 4. Modalität: Sei klar. Vermeide Unklarheit im Ausdruck. Vermeide Mehrdeutigkeit. Vermeide Weitschweifigkeit. Vermeide Ungeordnetheit. Grice hat gezeigt, dass und inwiefern man mit der Äußerung eines Satzes viel mehr kommunizieren kann, als die wörtliche oder die konventionell „uneigentliche“ Bedeutung hergibt. Dazu missachtet der Sprecher eine der Maximen offenkundig, hält sich aber an das Kooperationsprinzip und möchte, dass der Hörer die Missachtung der Maxime bemerkt und daraufhin das Gemeinte schlussfolgert. Die offenkundige Missachtung einer Maxime ist demnach typisch für das Entstehen einer konversationellen Implikatur. Zur Schlussfolgerung des Gemeinten bezieht sich der Hörer auf die konventionelle Bedeutung der Äußerung, das Kooperationsprinzip und seine Maximen, den sprachlichen und außersprachlichen Kontext, weiteres Hintergrundwissen, die Annahme, dass er selbst und der Sprecher alle diese Punkte kennen. Wenn beispielsweise der Beamte Meier auf der Dienstleitung ein Privatgespräch mit seiner Frau führt, plötzlich aber sagt: „Ja, selbstverständlich, Frau Schmidt, die Formulare für die Steuererklärung werden Ihnen wie jedes Jahr per Post zugestellt.“, so soll Frau Meier nicht am Verstand ihres Gatten zweifeln, sondern etwa folgenden Schluss ziehen: Die konventionelle Bedeutung der Äußerung ist eine Versicherung, dass mir die Formulare per Post zugestellt werden. Mein Mann hat im Gespräch mit mir kooperiert, und ich nehme an, dass er das auch während dieser Äußerung tat. Sein Gesprächsbeitrag ergibt in unserem Gespräch allerdings in der konventionellen Bedeutung keinen Sinn und widerspricht der Maxime ,Sei relevant.‘ Mein Mann ist im Büro und hat mich vom Dienstapparat während der Dienstzeit angerufen. Das ist nicht gestattet. Er spricht mich plötzlich mit ,Frau Schmidt‘ an und sagt mir Dinge, die in unserem Gespräch keine Rolle spielen. Ich nehme also an, dass jemand sein Büro betreten hat und er mich wissen lassen wollte, dass er aus diesem Grund unser Gespräch beenden muss. Ironie und Humor Die Verletzung einer Maxime gilt bei Grice als Indiz für die Berechtigung bestimmter Schlussfolgerungen. Die Ironie nun ist für Grice (1979, 258) ein Beispiel für Verstöße gegen die Maxime der Qualität. Das heißt, dass für Grice eine ironische Äußerung dadurch gekennzeichnet sein soll, dass sie nicht der Wahrheit entspricht und dass der Sprecher davon überzeugt ist, dass sie nicht der Wahrheit entspricht und der Hörer dies erkennen soll. Grice folgt damit vorrangig der Definition der Ironie als Äußerung des Gegenteils des Gemeinten. Also noch einmal: „Seit wir die Eisenbahnen haben, laufen die Pferde schlechter.“ Der alte Stechlin und sein Diener Engelke wissen beide, dass die Äußerung des alten Stechlin nicht der Wahrheit entspricht. Der alte Stechlin hat also gegen die Maxime der Qualität verstoßen. Aufgrund dieses wechselseitigen Wissens kann der alte Stechlin jedoch nicht beabsichtigt haben, seinen Diener zu täuschen. Unter der Annahme, dass er zumindest das allgemeine Kooperationsprinzip beachtet, muss Engelke zu der Auffassung gelangen, dass der alte Stechlin etwas ganz anderes gemeint hat, als er wörtlich gesagt hat. Weil nun aber sein Hintergrundwissen – ebenso wenig wie das des Lesers – keinen Zusammenhang zwischen der Erfindung der Eisenbahnen und der Laufgeschwindigkeit von Pferden herzustellen vermag, kann man auch an diesem Beispiel feststellen, dass die Ironie als Verletzung der Maxime der Qualität gar nicht notwendigerweise eines Wahrheitsbezuges bedarf. Sowohl Engelke wie auch der Leser des Romans interpretieren das vom alten Stechlin Gemeinte vielmehr in humoristischem Sinne. Es werden hier nämlich, wie in Witzen und anderen Formen des Humors auch, zwei Rahmen zur Überlappung, mehr noch: in einen kausalen Zusammenhang gebracht, dem keine Wahrheit entspricht. Und sowohl der alte Stechlin als Zeichenproduzent wie auch Engelke und der Leser als Zeicheninterpreten wissen, dass dies der Fall ist. Die Verletzung der Maxime der Qualität führt hier zur konversationellen Implikatur; aber erst die Inkongruenz der „Welt“-Wissensrahmen – nämlich des gebotenen und des wahren – führen dazu, dass es komisch wirkt. Diese Inkongruenz zwischen dem („wahren“) Begriff und der (gegebenen) Anschauung war bekanntlich schon für Schopenhauer die Ursache des Komischen, vorausgesetzt freilich, dass die Inkongruenz sich auf lebensweltlich Unbedeutendes bezieht, und in der Tat sind es in der Regel Inferenzen, Normenbrüche, Dissoziationen, Sinnüberschneidungen, Überlappungen von inkompatiblen Rahmen, die dafür sorgen, dass etwas als komisch empfunden wird. Das Grundmodell kann man an jedem beliebigen Witz studieren, der in der Regel aus Einleitung („Adam fragt Gott:“), Komplikation („,Warum hast du Eva gemacht?‘ Gott: ,Damit du nicht so allein bist!‘ – Adam: ,Warum hast du sie so schön gemacht?‘ 31 'bb' 106-4/2003 Gott: ,Damit sie dir gefällt!‘ – Adam: Und warum hast du sie so dumm gemacht?‘“) und Pointe („Gott: ,Damit du ihr gefällst!‘“) besteht. In der Pointe überlappen sich die beiden Rahmen, kommen die Handlungspläne der beiden Partner zur Inkongruenz (vgl. dazu Ulrich 1980). Humor ist insofern ein perlokutionärer Effekt, unter anderem ein perlokutionärer Effekt ironischer Zeichenproduktion. Es ist – nicht erst, aber auch – seit Sigmund Freuds Schrift über den „Witz und seine Beziehung zum Unbewußten“ bekannt, dass das Lachen, wie das Weinen auch, menschliche Ausdrucksformen sind, beide grundsätzlich psycho-motorische Vorgänge, die nicht steuerbar sind. Das Phänomen des Humors ist damit durch und durch dialogisch, und es ist, wie erwähnt, ein mögliches Resultat ironischer Sprachzeichenproduktion. Festzuhalten ist deshalb, dass eine Entgegensetzung von wohlmeinendem, gutmütigen Humor und kaltherzig-spöttischer Ironie nicht trifft. Die Ironie ist ein Werkzeug, Humor eines ihrer Ziele. Seit der deutschen Romantik sind beide eng aufeinander bezogen; bei Jean Paul heißt die Ironie gar „epischer Humor“, und nach ihm haben viele das Humoristische mit dem Ironischen zu verbinden gesucht (vgl. Preisedanz 2000, 103). Daneben hat sich freilich der Zweig der spöttischen, mitunter zynischen Ironie erhalten. Fazit Das Fazit der Annäherungen sei in Bezug auf einen sprachpragmatischen „Ironie“-Begriff zunächst ex negativo gezogen: Ironie ist an keine bestimmte Form von Sprachhandlungen gebunden; jede Sprachhandlung kann ironisch (gemeint) sein. Grundlage der Erzeugung von Ironie ist die Herstellung von Inkongruenzen, Sinnüberschneidungen zwischen einem konventionellen (erwartbaren, mithin normierten) „Welt“-Wissensrahmen und dem sprachlich realisierten Rahmen, wobei es unterschiedliche Mittel zur Herstellung dieser Inkongruenzen gibt (z.B. Inkongruenz para- und nonverbaler Signale mit der Pragmatik und Semantik des verbalen Textes; lexikalisch-semantische Inkongruenz von Wortbedeutungsmerkmalen und Merkmalen des Referenzobjekts [z.B. Staubsaugerpilotin ,Reinigungskraft‘, Heizöl-Ferrari ,Mercedes‘]; Inkongruenz zwischen Textsorte(nstil) und Textinhalt [z.B. „Das Wort zum Sonntag“ von Otto Waalkes]). Wird die Ironie so verstanden, kommt der Aspekt der Kundgabe von Sprechereinstellungen heller zum Vorschein: Mit Hilfe einer ironischen Äußerung bringt der Sprecher seine Einstellungen zu einem Gegenstand/Sachverhalt/einer Person und zugleich seine Beziehung zu der Person, mit der er spricht, zum Ausdruck. Er nutzt dazu allerdings nicht den illokutionären Teilakt, da sich Ironie nicht als Sprechhandlungstyp gebrauchen lässt, sondern verlegt die Funktion der ironischen Äußerung in den perlokutionären Versuch, in den Bewirkungsversuch des Sprechakts. Die Ironie bleibt damit ein Mittel der Rhetorik, der Kunst des wirkungsvollen Sprechens. Ironie kann sodann nicht allein erklärt werden mit Bezug auf die Wörtlichkeit/Nicht-Wörtlichkeit einer Äu- 32 ßerung (also bezogen auf die Proposition). „Man kann wörtlich nicht-ernsthaft, oder aber nicht-wörtlich ernsthaft sein, ebenso wie man wörtlich oder nicht-wörtlich aufrichtig oder unaufrichtig sein kann.“ (Lapp 1997, 159) Ironie kann aber auch nicht allein erklärt werden als Doppelillokution, wie sie beim indirekten Sprechakt vorliegt. Indirekte Sprechakte sind, wie oben festgestellt, zumeist konventionell; die Ironie hingegen ist zwar eine intentionale Handlung, grundsätzlich aber nicht konventionell mit bestimmten Handlungsmitteln verknüpft. Damit trifft für die Ironie in einem weiten Sinne das zu, was John L. Austin über den perlokutionären Teilakt ausgesagt hat: „Perlokutionäre Akte sind [...] nicht konventionell; allerdings kann man konventionelle Handlungen benutzen, um den perlokutionären Akt zustande zu bringen.“ (Austin 1979, 137). Ein sprachpragmatisch gesättigter „Ironie“-Begriff wird diese zu den perlokutionären Teilakten zu stellen haben, das heißt zu den zwar mit Hilfe konventioneller Mittel zu erzeugenden Sprachhandlungsteilakten, deren Folgewirkungen und auch „Nachspiele“ indes mehr als die lokutionären und illokutionären Teilakte auf die Mitwirkung des Hörers angewiesen sind. Und die Differentia specifica zu anderen perlokutionären Teilakten (wie z.B. ÜBERZEUGEN, BERUHIGEN u.a.) besteht eben darin, dass der Sprecher, um Ironie zu erzeugen, das Gegenteil oder anderes als das Gemeinte äußert, zwei „Welt“-Wissensrahmen ineinander verschränkt, deren Inkongruenz der Hörer schlussfolgern muss. Literatur Austin, John L.: Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words). Dt. Bearb. von Eike von Savigny. 2. Aufl. Stuttgart 1979. Behler, E.: Ironie, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding, Bd. 4: Hu – K, Tübingen 1998, 599-624. Grice, H. Paul: Logic and Conversation, in: P. Cole/J. L. Morgan (eds.): Syntax and Semantics, Vol. 3: Speech Acts, New York, San Francisco, London 1975, 41–58; dt.: Logik und Gesprächsanalyse, in: Paul Kußmaul (Hrsg. und Übers.): Sprechakttheorie. Ein Reader, Wiesbaden 1980, 109-126. 3 GWb: DUDEN. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden. 3., völlig neu bearb. und erw. Aufl. [...], Mannheim [usw.] 1999. Henne, Helmut/Rehbock, Helmut: Sprachzeichenkonstitution, in: Hans Peter Althaus/Helmut Henne/Herbert Ernst Wiegand (Hrsg.): Lexikon der germanistischen Linguistik. 2., vollständig neu bearb. und erw. Aufl. Tübingen 1980, 151-159. Holly, Werner: Zum Begriff der Perlokution. Diskussion, Vorschläge und ein Textbeispiel, in: Deutsche Sprache 1979, 1-27. Kilian, Jörg: Jurek Becker: Jakob der Lügner in: Renate Stauf/CordFriedrich Berghahn (Hrsg.): Weltliteratur. Eine Braunschweiger Vorlesung, Bielefeld 2004, 449-467. LaDaF: Langenscheidts Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache [...], 6. Aufl. Berlin [usw.] 1997. Lapp, Edgar: Linguistik der Ironie. 2., durchjgesehene Aufl. Tübingen 1997. Müller, Wolfgang G.: Ironie, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft [...]. Hrsg. von Harald Fricke, Bd. II: H – O, Berlin, New York 2000, 185-189. Preisedanz, Wolfgang: Humor, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft [...]. Hrsg. von Harald Fricke, Bd. II: H – O, Berlin, New York 2000, 100-104. Searle, John R.: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, Frankfurt/M. 1971 Ulrich, Winfried: Der Witz im Deutschunterricht, Braunschweig 1980. Weinrich, Harald: Linguistik der Lüge, 4. Aufl. Heidelberg 1970. 'bb' 106-4/2003 fachbeitrag: bibel und moderne gesellschaft friedrich weber Das Jahr der Bibel in 2003 hat unsere moderne Gesellschaft in vielen Bereichen neu motiviert, sich mit der Bibel auseinander zu setzen. Schon lässt sich als Ertrag festhalten, dass ein breiter Konsens in unserer Gesellschaft darin besteht, dass wir mit dem Kanon der Bibel die literarischen Texte haben, die, wie nur wenig andere, unsere kulturelle Gestimmtheit und unsere kulturellen Prägungen bis in den heutigen Tag nachhaltig beeinflußt und geprägt haben. Die entscheidenden, auch unserer säkularen Gesellschaft zu Grunde liegenden Werte, wie z. B. die Achtung vor der Natur, die Unantastbarkeit der menschlichen Würde und die Formulierung der Menschenrechte, das Gebot der Solidarität und des Gemeinnutzes vor dem Egoismus und dem Eigennutz, als auch die Verantwortung vor der Geschichte verdanken sich biblischen Geschichten. Der Mensch als Ebenbild Gottes begründet die Unantastbarkeit der Menschenwürde. Die von Gott geschaffene Welt, die Schöpfung, die dem Menschen zum Bebauen und Bewahren übergeben worden ist, begründet die Achtung vor der Natur und der Ökologie mit ihren Zusammenhängen, und die Verantwortung vor Gott hängt elementar zusammen mit der Verantwortung des Menschen vor der Geschichte. Das heißt, es gibt genügend Gründe sich auch in der säkularen Kultur, auch in der modernen westlichen Welt mit der Bibel zu beschäftigen, damit die Begründungszusammenhänge unserer tragenden Werte nicht verloren gehen. Bibel und Kultur Die Bibel ist ein Grundtext unserer Kultur. Im säkularen Kontext – z.B. in Museen, in der Sprache unserer Zeit, in der Musik und Literatur – treffen wir auf Hauptmotive biblischer Geschichte: Schöpfung, Adam und Eva im Paradies, Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies, Sintflut und Arche Noah, Abraham und Isaak, die Geschichte Jakobs, Josef und seine Brüder, ägyptische Gefangenschaft, Moses, die 10 Gebote oder aus dem Neuen Testament Mariäe Verkündigung und die Geburt Jesu, die Heiligen drei Könige, das letzte Abendmahl, Christus am Ölberg, Passionsgeschichte und Auferstehung! Mit diesen und vielen anderen Texten hat die Bibel unsere abendländische Kultur so stark und intensiv durchdrungen, wie nicht einmal das einzige Gegenstück, das in Frage käme, eine ebenso starke kulturelle Prägung ausgelöst zu haben, nämlich die griechisch-lateinische Antike in der Überlieferung von Homer bis Ovid. Zeitgemäßheit der Bibel Das hohe Alter der biblischen Überlieferung läßt die Bibel beinahe zeitlos und anachronistisch erscheinen. Aber gerade deshalb erweist sie sich immer wieder als höchst zeitgemäß und hat in jeder Lebensphase Wichtiges und Entscheidendes zu sagen. „Denn es ist ja nicht wahr, dass unser Leben so völlig anders verläuft als zur Zeit der Urgemeinde oder der Wüstenwanderung. Äußerlichkeiten haben sich dramatisch verändert. Unsere seelische Wahrnehmung und Verstehensmöglichkeit jedoch greift immer wieder auf Quellen zurück, die seit Jahrtausenden kaum verändert worden sind. Geschwisterrivalität und Familienkonflikte, Verliebtheit und Ehebruch, Zuspruch der Menschenwürde, Rechtfertigung allein aus Gnade. Die Bibel ist kein Besitz von Geistlichen und Schriftgelehrten, sondern Allgemeinbesitz. Die Bibel lebt auf ihre eigene Weise Besitzlosigkeit. Spätestens seit der Reformation steht sie in der jeweiligen Muttersprache zur Verfügung, hat unsere Muttersprache mit Gottes väterlicher Sprache verbunden.“1 Die Texte sind in ihrer schriftlichen Fixierung zum Teil älter als 2000 Jahre, dennoch helfen sie, das Leben zu verstehen und zu deuten, indem sie ihm eine Tiefenperspektive geben. „Beachte“, sagt Luther, „dass die Kraft der Schrift die ist: sie wird nicht in den gewandelt, der sie studiert, sondern sie verwandelt den, der sie liebt, in sich und ihre Kräfte hinein.“ (WA 3, 397, 9 – 11) Mit ihren Geschichten und Gestalten rührt die Bibel an die Grundfragen unserer Existenz: An das Woher und Wohin, das Warum und Wozu, an Grund und Ziel des Lebens. Man denke an Figuren wie Kain und Abel, Hiob und Jona, Saul und David, Judith und Dalila, Lazarus und Maria Magdalena, an den verlorenen Sohn oder den barmherzigen Samariter. Sie alle sind Grundtypen und Symbolfiguren, enthalten das Lebenswissen, die Menschheitserfahrung gleichsam in verdichteter Form: Erkenntnisdrang und Sündenfall, Familienzwist und Brudermord, Krieg und 33 'bb' 106-4/2003 Frieden, Macht und Recht, Liebe und Verrat, Glück und Verzweifelung, Leiden und Sterben. In der Beschäftigung mit diesen Figuren, ihrer Geschichte, ihrem Glauben kann sich eigene Geschichte, eigenes Leben, eigener Glaube erschließen. Dialog zwischen Bibel und moderner Gesellschaft Wir alle wachsen unabhängig von unserer genuinen kirchlichen Verortung in einem Kulturisationsprozess auf, in einem kulturellen Umfeld, das von den Geschichten und Worten der Bibel bestimmt und geprägt ist. Zitate, Sinnsprüche und Bilder der Bibel sind in der Sprache allgegenwärtig. Auf einige sei hingewiesen: Man isst vom Baum der Erkenntnis, man lebt nicht vom Brot allein, man wirft Perlen vor die Säue oder wäscht seine Hände in Unschuld, Philister und Pharisäer, Kainszeichen und Judaskuss, babylonische Verwirrung und Abrahams Schoß, alt wie Methusalem, keusch wie Josef, nackt geboren wie Adam und weise wie Salomo. Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Und nicht zuletzt, das ist meine Erfahrung aus meiner Zeit als Gemeindepfarrer, gibt es noch immer viele Menschen, die in ihrem Leben einen treuen biblischen Begleiter haben, ein Bibelwort, ausgesprochen zur Taufe, zur Konfirmation oder zur Trauung. Die kulturelle Verankerung biblischer Bilder und Geschichten in uns ist nicht zu bestreiten. Dennoch weiß ich natürlich auch, dass diese anonyme, gleichsam unterirdische Tradition zwar in den Menschen der modernen Gesellschaft präsent ist, aber von vielen nicht mehr als biblisch verortet und identifiziert wird. Keine Zeit hat wahrscheinlich so bibelkenntnislos und bibelfern gelebt wie unsere Epoche. Um so wichtiger ist daher der Dialog zwischen Bibel und moderner Gesellschaft. Dies um so mehr, als die biblischen Defizite Seite an Seite mit einem allgemeinen klassischen Bildungs- und Traditionsverlust stehen. „Der oft beschworene Bildungskanon existiert nicht mehr und mit ihm ging auch seine Grundlage, die Kenntnis der antiken, speziell der biblischen Welt, ihrer Sprache und Mythen, ihrer religiösen und sozialen Ordnung verloren. Kaum noch kann vorausgesetzt werden, dass ein Schulabsolvent weiß, wer Odysseus, Antigone, Ödipus oder Elektra gewesen sind. Wie sollte er dann wissen, was es mit Abraham und Isaak, Jakob und Josef oder auch mit Lazarus und Pilatus auf sich hat. Umgekehrt, wer den Turm von Babel nicht kennt, wird auch vom „goldenen Vlies“ nichts wissen wollen. Wem die Namen Judith und Dalila nichts sagen, kann auch mit Medea und Kassandra wenig anfangen. Mit einem Wort, es geht hier nicht allein um ein Problem der Kirchen und des Christentums, sondern um ein Problem unserer Kultur“.2 Es geht eben nicht nur um die Frage nach der Zukunft der Kirche, sondern es geht auch um die Frage, ob unsere Gesellschaft in der Lage ist, die sie prägenden Bilder, Symbole und Texte noch zu verstehen, zu entschlüsseln und zu deuten. Ob sie in der Lage ist zu begreifen, welche 34 Wertsubstanz ihr verloren geht, wenn sie sich endgültig von der abendländischen, insbesondere auch der christlichen Kultur verabschiedet und sie dem Vergessen preisgibt. Und es geht dann auch um die Frage, welche Ideologie, welche anderen Symbole und Texte sich in diese Leerstelle einnisten werden und in den Köpfen und Herzen der Menschen von morgen regieren werden. Bibel und Naturwissenschaften Wer aber die Bibel in der modernen Gesellschaft neu auf die Tagesordnung setzen möchte, muss noch einen Schritt weiter gehen. Die Bibel muss sich auch im Verhältnis zu den Wissenschaften verorten, denn nichts hat so nachhaltig das Leben der Menschen in der Neuzeit bestimmt, wie die Erkenntnisse und die Tagesordnung der Wissenschaften. Während die Geistes- und Sozialwissenschaften von der Anlage und Struktur her als hermeneutische Wissenschaften dem biblischen Denken verwandter sind, ist durch die Jahre hindurch immer wieder neu der Gegensatz zwischen Bibel und Naturwissenschaft betont worden. Kreationisten und andere biblische Fundamentalisten haben ihren Teil dazu beigetragen, die Fronten zu verhärten und auch die Naturwissenschaft zu verunglimpfen. Der konstruktive Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft ist aber zwingend notwendig. Das biblische Weltbild und die moderne Naturwissenschaft werden immer noch gegeneinander ausgespielt, da das mythische nicht aufgeklärte Welt- und Menschenbild der Bibel angeblich nicht mit der aufgeklärten und der Vernunft zugänglichen Welt der Naturwissenschaft vermittelbar ist. Stimmt dieser Widerspruch? Natürlich hat sich zugegebenermaßen die Naturwissenschaft in ihren Anfängen gegen das biblische Weltbild durchsetzen müssen. Aber gleichzeitig hat der biblische Schöpfungsglaube naturwissenschaftlichen Erkenntniswillen gefördert. Denn das biblische Weltbild, gerade in den Schöpfungsberichten, ist der erste Versuch der Vernunft, des Logos, die Welt zu begreifen und dem Menschen einen Platz in ihr anzuweisen. Der erste Schöpfungsbericht, der die Erschaffung der Welt in sechs Tagen schildert, beinhaltet eine Art von Evolutionslehre in mythischer Form, bei der, ebenso wie in der modernen Evolutionslehre, der Mensch am Ende der Evolution auftritt und, so wird es deutlich im zweiten Schöpfungsbericht formuliert, die Verantwortung für diese Welt, sie zu bebauen und zu bewahren, übertragen bekommt. An einer Stelle ist die Bibel in ihrer Erkenntnisschärfe der modernen Naturwissenschaft sogar überlegen. Die Naturwissenschaft kann den Menschen mit all ihrem Wissen keinen wert- oder sinnvollen Platz in dieser Welt anbieten und ihm sagen, worin die Qualität, die Güte, der Sinn seines Lebens besteht. Der Bibelwissenschaftler Gerd Theissen schreibt: „Naturwissenschaft beschränkt sich asketisch auf das, was der Fall ist und blendet aus, was dabei wert- oder sinnvoll sein könnte. Wir können daher wohl mit all unserem Wissen die Natur weit besser erkennen als die Verfasser des biblischen Schöpfungsbe- 'bb' 106-4/2003 richts, aber wir können mit ihm nicht jenen Satz formulieren, der den biblischen Schöpfungsbericht als Refrain durchzieht: Und Gott sah, dass es gut war.“3 Biblische Ethos als kritisches Potential Die Bibel und die moderne Gesellschaft sind also rein formal durch die Wissenschaftsgeschichte und die Entwicklung unserer modernen Wissenschaften verbunden. Zugleich beinhaltet die Bibel die kulturellen Grundinformationen, die wir brauchen, um unsere Welt verstehen, deuten und interpretieren zu können. Zuletzt brauchen wir den Dialog von Bibel und Naturwissenschaft, weil die moderne Naturwissenschaft etwas Entscheidendes verloren hat, nämlich die Deutung der Welt als etwas Wertvolles leisten zu können. Die Basis des Dialogs zwischen Bibel und Naturwissenschaft besteht dann darin, dass Gott die Welt so geschaffen hat, dass sie in sich die Fähigkeit zu einer immer höheren Entwicklung im Prozess der Evolution trägt. Die sieben Tage des Schöpferhandelns Gottes sind dann Ausdruck des Versuches, die Jahrmillionen der Evolution in menschenzugängliche Zeithorizonte zu übersetzen. Der Dialog zwischen Bibel und Naturwissenschaft ist natürlich nicht hinreichend darin beschrieben, wenn unser Ziel nur im Aufweis von Gemeinsamkeiten von Grundlagen für den Dialog bestehen würde. Es gibt auch Momente, wo mit der Bibel gegen die Gesetze der Naturwissenschaft – auch gegen die Regeln der Evolution – andere Prinzipien zu ihrem Recht gebracht werden müssen. Wenn das Gesetz der Evolution darin besteht, das Schwache, das nicht gut Angepasste aus der weiteren Entwicklung auszuschalten, so besteht das Prinzip der Bibel dagegen im Antiselektionismus. Dem Selektionsprinzip wird in der Bibel mit dem Barmherzigkeitsprinzip widersprochen. Die Bibel ist ein Aufbegehren gegen das Selektionsprinzip, das die Schwachen und Unangepassten ausscheidet. Damit prägt das biblische Ethos unsere Kultur bis zum heutigen Tage. Die moderne Welt, die nur der Wissenschaft vertraut, kann aus sich selbst keine Argumente dafür geben, den Alten ein gutes Leben zu ermöglichen, Behinderten einen Platz in unserer Gesellschaft zu eröffnen und sich um die Kranken zu kümmern. Insofern hängt das Gelingen der menschlichen Kultur daran, dass die Botschaft der Bibel in ihr Recht gesetzt wird und Menschen nicht nur den Wissenschaften, sondern auch der Bibel vertrauen. Zu Recht schreibt Peter Noll: „Man kann die Bibel aufschlagen, auf welcher Seite man auch will, immer stimmt sie nachdenklich und regt zu einem Denken an, das weiterführt, als das rein operationale.“4 Und beim Lesen in der Bibel wird man immer wieder entdecken, dass der biblische Gott einer ist, „der sich gerade derjenigen erbarmt, die das Selektionsgesetzt ständig ins Nichts wirft.“5 Die Evolutionstheorie der modernen Naturwissenschaft kann dem einzelnen Menschen keinen Platz, keinen Sinn anbieten. Ganz anders wird dagegen der biblische Gott in seiner Menschenfreundlichkeit und in seiner Zugewandtheit zum Einzelnen beschrieben: „der Allmächtige selbst übernimmt die Rolle des Schwächsten, des Verachtesten, des schließlich Gehängten und erklärt sich damit solidarisch mit all denjenigen, die die Evolution nicht überstanden, die unter ihre Räder gekommen, von ihr über das Selektionsprinzip ausgemerzt worden sind.“6 Zur biblischen Hermeneutik Bibel und moderne Welt: wir stehen am Anfang eines neuen Dialogs, der für beide Seiten von Gewinn sein wird. Im zurückliegenden Jahr der Bibel 2003 haben wir in zahlreichen Veranstaltungen genauso wie in ganz persönlicher neuer Zuwendung den Schatz, der uns mit der Bibel geschenkt ist, neu zu entdecken begonnen. Die Bibel ist voller Geschichten des Lebens und gerade in Situationen, in denen uns die Worte fehlten und in denen auch keine Worte aus der sonstigen Literatur hilfreich waren, schenken uns zum Beispiel die Psalmen Worte, die Menschen in der Tiefe berührten. Wir haben aber auch erlebt und erleben es im Augenblick in der Debatte um die Segnung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften äußerst schmerzlich, dass sich in der Auslegung der Schrift Gräben in unserer Kirche öffnen, die ich für überwunden gehalten habe. Wir alle sind durch das Feuer der hermeneutischen Fragen gegangen und mussten Antworten auf Fragen finden, wie zum Beispiel die Schöpfungsgeschichte und die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften zusammengehen können. Wir haben gelernt, dass die Bibel – Gottes Wort – uns in der Gestalt menschlicher Worte begegnet, eingebettet in bestimmte soziokulturelle und zeitgeschichtliche Verhältnisse, von deren Ethik, zum Beispiel in der Bewertung der Rolle der Frauen, auch wenn sie als Worte in der Bibel stehen, wir uns dennoch zu Recht abgrenzen. Und gerade weil wir das wissen, wird die Auslegung der Schrift nicht zu einem beliebigen Verfahren, sondern muss sich an wenigen übergeordneten Kriterien orientieren.7 Sie wissen um Luthers „was Christum treibet“ als Unterscheidungsmerkmal. Sie wissen um den Unterschied zwischen Gesetz und Evangelium und Sie wissen darum, dass die Kernbotschaft, an der sich alles andere auszurichten und zu messen hat, die von der Rechtfertigung des Gottlosen allein aus Gnaden ist. Das ist die Mitte der Schrift, von der her wir die Bibel lesen und deuten lassen müssen. Im Umgang mit der Heiligen Schrift sind wir also nicht ermächtigt, deduktiv Urteile aus biblischen Texten abzuleiten, sondern die Bibel will nach dem Prinzip „was Christum treibet“ unseren Urteilsbildungsprozess bestimmen. Dieser bildet sich darin aus, dass wir auf der Suche nach der Wahrheit geschwisterlich beieinander bleiben und Wahrheit und Einheit nicht gegeneinander ausspielen werden dürfen. Wahrheit verlangt Auseinandersetzung, das Leben verlangt, beieinander zu bleiben in der Liebe, in Christus. Das ist die Botschaft der Heiligen Schrift, wie sie uns in Jesus Christus anvertraut ist. 35 'bb' 106-4/2003 Die Bibel im Lessingjahr In dieser Situation ist es gut, an einen Mann zu erinnern, der am 22. Januar 1729 geboren wurde, dessen 275. Geburtstag wir in diesem Jahr gedenken und der in unserem Braunschweiger Land, besonders in Wolfenbüttel, gewirkt hat, Gotthold Ephraim Lessing. Er hat in seiner Zeit scharfsinnig die geistige Problemlage durchschaut: Es ging um die Spannung zwischen einem Totalanspruch der Vernunft und einem Bibelfundamentalismus, der sich auf Offenbarung berief und den Gehalt der biblischen Schriften als historische Wahrheit verstand, die gehorsam zu glauben seien. In dieser Situation hatte Lessing von Wolfenbüttel aus Texte, damals Fragmente genannt, des radikalen Aufklärers Reimarus aus Hamburg veröffentlicht. Reimarus wollte die Wundergeschichten der Bibel, weil sie der Vernunft widersprächen, als Lüge entlarven. Lessing verschärfte damals den Streit, um die geistige Problemlage zwischen Aufklärungstheologie, die alles vor der Vernunft verantworten wollte, und einem kirchlichen bibelfundamentalistischen orthodoxen Glauben in einen Dialog zu bringen. Zwischen einer Theologie der Aufklärung, für die Gott nur noch ein erster Verursacher, aber sonst von keiner Bedeutung ist und einem Offenbarungspositivismus, der jedes Wort in der Bibel direkt als Gottes Wort kennzeichnet, hat Lessing sich positioniert. In einem Brief beschrieb er die beiden damaligen Positionen sarkastisch: „Und was ist die andere, unsere neumodische Theologie gegen die Orthodoxie als Mistjauche gegen unreines Wasser“. Es ist gut, dass wir uns in diesem Jahr besonders an Lessing erinnern werden. Es ist gut, im Umgang mit der Bibel aber auch für die Frage der Gestaltung unserer Kultur und unseres Zusammenlebens. Denn wir können bei Lessing lernen, dass eine Verabsolutierung der Vernunft, die alle Wirklichkeit steuern und das Leben meistern will, zum Scheitern verurteilt ist. Nach Lessing endet ein Wille, der die geschichtliche Realität unter das Joch der Rationalität zwingen möchte, im Terror. Zugleich können wir von Lessing lernen, dass ein religiöser Glaube, der die religiöse Wahrheit als historische Fakten behauptet, das Gewissen und das Leben der Menschen terrorisiert. Insofern ist Lessing immer Gegenpol für jede Art von Fundamentalismus und überzogenem Rationalismus. Für mich folgt daraus, dass wir in der Auseinandersetzung mit der Bibel lernen können, dass wir die Wahrheit über das Leben nicht haben. Weder im Griff der Vernunft, der Rationalität noch im bloßen Fürwahrhalten christlicher Glaubensaussagen. Wahrheit ist Begegnung in Personen. In der Rede von Christus, wie sie uns in der Heiligen Schrift überliefert ist, begegnet uns die Wahrheit in Person. Gott begegnet uns als Mensch und damit in einer Art und Weise, die wir verstehen können. Die Begegnung mit der Wahrheit in Christus zeigt uns zuallererst, wer wir vor Gott sind, und diese Wahrheit ist etwas anderes als das Bild, das wir von uns selber haben. Die Wahrheit des Evangeliums über uns ist schmerzlich, aber auch heilsam, 36 denn sie zieht uns weg aus der Verkehrung immer mehr zu uns selbst hin. So gibt es denn im Blick auf das Wort „Bibelkritik“ viele Gründe, darunter nicht nur unsere Kritik an der Bibel zu verstehen, sondern die Kritik der Bibel an uns. Eine Kritik, die mir aus den biblischen Texten zuwächst und in mir die Erkenntnis reifen lässt, dass ich mich nicht mir selbst verdanke noch mich geschaffen habe, sondern dass ich von Gott als endliches und geschaffenes Wesen konstituiert bin und in dieser Abhängigkeit von Gott meine Freiheit begründet ist. Für eine solide Zukunft unserer gesellschaftlichen Entwicklung haben wir keine bessere Grundlage als die biblische Überlieferung. Lassen sie uns gemeinsam an dieser Bibel des Alten und des Neuen Testamentes festhalten und gemeinsam miteinander, aber auch mit der Bibel um Wahrheit für unser Leben ringen. Das Kapitel „Die Bibel und die moderne Gesellschaft“ hat gerade erst angefangen. Lassen sie uns dieses Buch mit Fleiß und Enthusiasmus weiterschreiben. Bemerkungen 1 2 3 4 5 6 7 Michael Schiebilski, Bibel im kulturellen Gedächtnis, epd-Dokumentation 47/2003, S. 13 Hanjo Kesting, Bibel im kulturellen Gedächtnis, epd-Dokumentation 47/2003, S. 21 Gerd Theissen. Zur Bibel motivieren. Gütersloh 2003, S. 38 f Peter Noll, Diktate über Sterben und Tod, München 4. Auflage S. 215 Peter Noll, S. 153 Peter Noll, S. 156 f Oswald Bayer, Martin Luthers Theologie, Tübingen 2003, S. 74 f: Damit ist der Maßstab – der „Kanon“ – gesetzt für das, was Wahrheit schlechthin ist, was wahrhaft neu ist und nie wieder alt wird. Dieses ewig Neue hat einen Namen: Jesus Christus. Darin „stimmen alle rechtschaffenen heiligen Bücher überein, dass sie allesamt Christum predigen und treiben. Auch ist das der rechte Prüfstein, alle Bücher zu beurteilen: zu sehen, ob sie Christum treiben oder nicht, da alle Schrift Christum zeiget, Röm 3 (,21) und der Heilige Paulus nichts als Christum wissen will, 1Kor 2 (,2). Was Christum nicht lehrt, das ist nicht apostolisch, selbst wenn es der Heilige Petrus oder der Heilige Paulus lehrte. Wiederum, was Christum predigt, das ist apostolisch, selbst wenn es Judas, Hannas, Pilatus und Herodes täte“. Hier wird die Grenze, die christliche Theologie von einem Bibelfundamentalismus trennt, in aller Klarheit sichtbar. Schärfer als Luther kann man das inhaltliche, sachliche Kriterium – im Unterschied zu einer Formalisierung der Schriftautorität – nicht herausstellen. Worin und wie die biblischen Schriften „Christum treiben“ und was der „rechte Prüfstein, alle Bücher zu beurteilen“, also der Maßstab der Kritik ist, das wird des näheren durch die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium bestimmt: „Es ist eine schlimme Gewohnheit, dass man die Evangelien und die Briefe als Gesetzbücher ansieht, worin man lernen soll, was wir tun sollen, und worin uns die Werke Christi nicht anders als das Vorbild vor Augen gestellt werden. Wo nun diese irrige Meinung im Herzen bleibt, da kann weder Evangelium noch Brief nützlich und christlich gelesen werden; es bleiben lauter Heiden wie zuvor.“ Kurz: Das evangelische Verständnis der Mitte der Schrift bestimmt das Verständnis der Schriftautorität überhaupt. Das gepredigte und mündlich widerfahrende Wort der Schrift ist nichts anderes als Jesus Christus in seiner Gegenwart; er ist gegenwärtig im Evangelium als Zusage und Gabe, unterschieden vom Gesetz. 'bb' 106-4/2003 fachbeitrag: wiederkehr der erziehung? zu lebenswelten jugendlicher und (religions-) pädagogisch notwendigen perspektiven heute hans-martin gutmann 1. Keine Jugend mehr? Sieht man auf die Ergebnisse der jüngsten 14.Shell-Jugendstudie 2002, so könnte man den Eindruck haben, dass „Jugend“ und „Jugendkultur“ als spezifische, von der Erwachsenenkultur unterschiedene, vielleicht sogar in Opposition zu ihr stehende Lebensgefühle und Sozialformen verschwinden. In den Zusammenfassungen der Ergebnisse dieser Studie heißt es beispielsweise: Die heutige junge Generation blickt wieder optimistisch auf ihre persönliche Zukunft. Neben „tollem Aussehen“, „Markenkleidung tragen“ und neuer „Technik“ (Internet, Handy etc.), werden Orientierungen wie „Karriere machen“, andererseits aber auch persönliche „Treue“ als absolut „in“ bezeichnet. Sich „in die Politik einzumischen“ ist hingegen „out“, was allerdings nicht heißt, dass die Jugendlichen nicht gesellschaftlich aktiv sind. Diese Einstellung der Jugend geht, so interpretieren die Autoren der Studie, auf einen grundlegenden Wertewandel hin zu einer „neuen pragmatischen Haltung“ zurück. Die Jugendlichen orientieren sich an konkreten und praktischen Problemen, die für sie mit persönlichen Chancen verbunden sind. Dafür zeigen sie heute wieder in erhöhtem Maße persönliche Leistungsbereitschaft („Aufsteigen statt aussteigen“). Nach der gerade veröffentlichten Jugendstudie 2003 des Bundesverbandes deutscher Banken (BdB) wird dieses Bild noch einmal radikalisiert.1 Danach sehen 72 Prozent der Befragten m Alter zwischen 14 und 24 Jahren positiv in die Zukunft – gegenüber 65 Prozent bei den Erwachsenen. „Statt Null-Bock-Stimmung herrscht jetzt in der jungen Generation Leistungsbereitschaft, heißt es. 90 Prozent der Jugendlichen sind laut Umfrage mit ihrem Leben zufrieden. 97 Prozent der Jugendlichen ist es wichtig oder sehr wichtig, sich in ihrem Leben etwas leisten zu können. Und sie sind sparsam – 64 Prozent geben an, dass Sparen für sie wichtig ist.“ Vergleicht man diese Ergebnisse und auch die der neuesten Shell-Studie mit den Vorgänger-Untersuchungen, so werden die Unterschiede schnell deutlich. Selbst schon im Fünf-Jahres-Abstand: Nach der 12. Shell-Jugendstudie „Jugend ‚97‘„ beschäftigen die Jugendlichen am stärksten die Probleme der Arbeitswelt, nicht die klassischen Lehrbuchprobleme der Identitätsfindung, Partnerwahl oder Verselbständigung. Die Jugendlichen äußern in dieser Untersuchung vor allem die Sorge, dass die Massenarbeitslosigkeit, der Lehrstellenmangel, der Sozialabbau und die Verarmungsprozesse insgesamt von der Politik nicht angegangen werden und dass in absehbarer Zeit Lösungen nicht zu erwarten sind. Ein weiteres empirisches Ergebnis dieser Studie war, dass Jugendliche den ‚klas- sischen Institutionen‘ kaum Vertrauen entgegenbringen. Den schlechtesten Vertrauensbonus überhaupt haben politische Parteien, kaum weniger die Bundesregierung und der Bundestag. Es gab allerdings bei der Befragung 1997 bei vielen Jugendlichen, und zwar unabhängig von der Bildungsstufe, ein hohes Interesse und ein großes Wissen um politisch-gesellschaftliche Probleme, gerade um soziale Probleme wie Armut und Arbeitslosigkeit und um ökologische Krisensituationen. Das relativ höchste Vertrauen genießen nach der 1997er Studie bürgerschaftliche Organisationen wie Umweltschutzgruppen, Menschenrechtsgruppen und Bürgerinitiativen. Jugendliche engagieren sich dann in sozialen und politischen Zusammenhängen, wenn beispielsweise Freunde mitmachen, oder ‚weil es etwas anderes ist, als ich in der Schule/im Betrieb mache‘, ‚weil mir keiner Vorschriften macht‘. Geht man zeitlich noch weiter zurück, ist der Unterschied noch offensichtlicher. Gegenüber der Shell-Jugendstudie von 1981, die in der öffentlichen Diskussion sehr intensiv wahrgenommen wurde, hat es insofern eine signifikante Veränderung gegeben, als gegenwärtig die Lebensstile in der ‚Jugendkultur‘ zunehmend ihre Bedeutung und Vision einer ‚besseren‘ und jugendgemäßeren Gesellschaft verlieren, wie dies nach der 1981er Studie der Fall war. Jugendkulturen werden heute in der Regel nicht mehr wie noch zu Beginn der 80er Jahre als Gegenentwürfe und geschlossene Abgrenzungen, auf lange Zeit praktizierte lebensweltliche und lebensgeschichtliche Muster entwickelt. Ganz im Gegenteil. Nach der Shell-Untersuchung von 2002 räumen die Jugendlichen der Familie einen hohen Stellenwert ein. Rund drei Viertel der Jugendlichen zwischen 12 und 25 Jahre wohnt noch bei der Herkunftsfamilie. Fast 90% der Jugendlichen geben an, dass sie mit ihren Eltern gut klar kommen, auch wenn es ab und an einmal Meinungsverschiedenheiten gibt. Knapp 70% – und damit deutlich mehr, als in früheren Shell Jugendstudien – würden oder wollen ihre Kinder genauso oder wenigstens ungefähr so erziehen, wie sie selber von ihren Eltern erzogen worden sind. Alles in allem zeigt sich demnach zwischen den familiären Generationen ein hohes Maß an Akzeptanz und Übereinstimmung. Man könnte sich angesichts dieser Ergebnisse zu der Frage provoziert fühlen: Verschwinden „Jugend“ und „Jugendkultur“ als gegenüber der Erwachsenenkultur unterschiedene, möglicherweise sogar oppositionelle Lebensgefühle und soziale Lebenswelten? Ich denke, man wird erhebliche Überraschungen erleben, wenn man so denkt. Hans-Heinrich Muchow beispielsweise, ein in Hamburg lebender Lehrer und Jugendtheoretiker, meinte in seiner Anfang der 60er Jahre erschienen Untersuchung 37 'bb' 106-4/2003 beispielsweise mit Blick auf das in Helmut Schelsky’s Buch „Die skeptische Generation“ erhobene Lebensgefühl der Jugendlichen in den fünfziger Jahren, es gebe Jugend im emphatischen Sinne nicht mehr. Wir wissen, dass diese These in den Jahren nach 1968 einigermaßen klar widerlegt wurde, eine Epoche, die für das Lebensgefühl für die meisten Jugendlichen heute wahrscheinlich genauso weit weg ist wie der 30jährige Krieg. So oder so: Muchow hat gerade in seiner Untersuchung ein Instrumentarium der Interpretation entwickelt, das ihn vor solchen ebenso weitreichenden wie voreiligen Schnellschüssen hätte bewahren können. Gerade seine Theorie des Jugendalters macht es nämlich möglich, einigermaßen sicher vorherzusagen, dass die Dinge in spätestens einem Jahrzehnt, von heute aus gerechnet, wieder sehr viel anders liegen werden als heute. Muchow2 sieht „Jugend“ als historisches Phänomen an: im „Sturm und Drang“ der Romantik, in der 2.Hälfte des 18.Jahrhunderts entsteht „Jugend“ als Lebensphase mit einem spezifischen Lebensgefühl, das sich deutlich von anderen Lebensphasen unterscheidet. Seine These ist, dass von der Entstehungszeit einer abgegrenzten, von anderen Altersklassen unterschiedenen „Jugend“ in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts an eine Bewegung von „Herausforderung und Antwort“ einsetzt: eine Jugendgeneration, die sich durch ein emphatisches, vorwärtsdrängendes, revolutionäres Lebensgefühl auszeichnet, wird von einer tendenziell eher angepassten, aufstiegsorientierten Jugendgeneration abgelöst. Es handelt sich um ein Schema von „challenge“ und „response“: Sind die „revolutionären“ Jugendlichen zur Erwachsenengeneration geworden, so antwortet die neue Jugendgeneration mit einem eher angepassten Lebensgefühl, und umgekehrt. In der Auseinandersetzung von Jugend und Zeitgeist, nämlich der „Auseinandersetzung der Eigenkräfte der Jugend mit den sozialen Zwängen ihrer Zeit“ (ebd., S.165) folgt auf eine Generation von Jugendlichen, die sich gegenüber diesen Zwängen durchsetzen und ein Lebensgefühl sowie Ausdrucksformen spezifischen Charakters entwickeln können, jeweils eine Generation von Jugendlichen, die schlicht als Marionette des Zeitgeistes begriffen werden müssen. – Prophetische Worte, was das aktuelle Lebensgefühl von Jugendlichen heute angeht? Wir werden sehen. 2. Die Grenzen der Inividualisierungsthese Wirft man einen kurzen Blick auf die Untersuchungsergebnisse der Shell-Jugendstudie „Jugend 2000“, die gerade am Verhältnis „Jugend und Religion“ sehr interessiert war, so wird man feststellen, dass die hier abgefragten Items, die über religiöse Bindung der Jugendlichen Auskunft geben sollen, eine signifikante Schwächung in der letzten zehn Jahren anzeigen.3 Insgesamt findet sich bei Jugendlichen heute eine galoppierend zunehmende Entfremdung von Lebensvollzügen der ausgearbeiteten Religionsgestalt institutionalisierter Kirchlichkeit. Interessant sind einige Korrelationen zu anderen Feldern, beispielsweise: „Wer betet, gehört eher einem Verein oder einer Organisation an, interessiert sich eher für Politik und für die Diskussion über die europäischen Einigung, 38 hat eher niedrige Werte auf der Skala Persönliche Distanz zur Politik.“4 Es erscheint spontan einleuchtend, den schwindenden Einfluss institutionalisierter Religion ebenso wie anderer Institutionen auf dem Hintergrund der so genannten „Individualisierungsthese“ zu interpretieren. Dann wäre die Abwendung von der institutionalisierten Kirchlichkeit bei heutigen Jugendlichen als ein Element einer umfassenderen Bewegung wahrnehmbar, die die lebensweltliche ebenso wie die institutionelle Verfasstheit gesellschaftlichen Lebens insgesamt betrifft, also nicht nur die ausgearbeitete Religionsgestalt kirchlicher Handlungsfelder. Insbesondere die Bielefelder Pädagogen Dieter Baacke und Wilhelm Heitmeyer haben sich mit den Phänomenen der „Individualisierung“ in der Jugendkultur auseinandergesetzt. Der kürzlich verstorbene Kollege Baacke spricht von einer „Entstrukturierung der Jugendphase“.5 Die Pubertät wird vorverlagert und die Kindheit wird früher abge schlossen, auf der anderen Seite verweilen die Menschen heute in der Regel heute länger als früher im Bildungssystem. Hinzu kommt, dass „Erwachsensein“ als so genannte „Zielspannung“ nachgelassen hat. Auch 50jährige tragen heute Jeans und Turnschuhe. Sie joggen und besuchen Discos, kurz: Die Kennzeichen jugendtypischen Verhaltens sind immer weniger an eine Altersgruppe gebunden Man kann heute Jugend nicht mehr als „Übergangszeit“ verstehen, nicht mehr als Spiel- und sozialen Erprobungsraum, da die Anfänge und die Endpunkte von Jugend nicht mehr deutlich bestimmbar sind. Jugendliche leben heute, so meint Baacke, mit einer Fülle unauflösbarer Probleme, mit Dilemma-Situationen. Dilemmata sind einander widersprechende Hand lungsaufforderungen, die nicht gleichzeitig befolgt werden können, aber von den Jugendlichen faktisch gleichzeitig befolgt werden müssen. Ein Beispiel: Arbeit und Ausbildung auf der einen Seite und Freizeit und Medienkonsum auf der anderen Seite fördern verschiedene Wertorientie rungen. Auf der einen Seite sind Leistungsbereitschaft gefordert, Selbstkontrolle, soziale Verantwortung, Selbstdisziplin, Nüchternheit im Verhalten, konsequente Lebensführung; auf der anderen Seite wird von der Konsum- und Mediensphäre der Unterhaltungsindustrie die Grundhaltung des Hedonismus, Emotionalität und Erotik, eine Haltung der Augenblicksorientierung, ja der ekstatischen Selbstaufgabe gefordert. Eine weitere Widersprüchlichkeit in der Situation der Jugendphase liegt, so Baacke, im Gegeneinander von mittelbarer und unmittelbarer Kommunikation. Unmittelbare Beziehungen bestehen immer dann, wenn Menschen ungeplant, spontan, im direkten Ich-Du-Kontakt ihre Interaktionen gestalten. In der modernen Gesellschaft leben die meisten Menschen aber über vermittelte Beziehungen, und solche Beziehungen sind nicht spontan, sondern über Institutionen geregelt: die Familie, die Schule, die Firma, die Universität. Gleichzeitig sind jedoch die Jugendlichen in Prozesse eingebunden, durch die gerade die mittelbaren, also über Institutionen vermittelten Kommunikationsformen gestört oder sogar zerstört werden. Und hier schlägt der Individualisierungsprozess zu: Gewachsene Lebensumwelten werden zerstört, Arbeiterquartiere eben- 'bb' 106-4/2003 so wie landschaftliche Gliederungen verschwinden, die Traditionen von Nachbarschaften und vertrauten Quartieren, die Verbindlichkeit von familialen Lebensformen und Freundschaften werden aufgelöst oder zumindest schwächer, die Umwelt wird nach Verkehrsschnelligkeit und nicht nach Kommunikationsdichte gestaltet. Alles, was die mittelbaren Beziehungen strukturiert hat oder strukturieren kann – die Familien, die Nachbarschaften, die Milieus -, wird in der Konsequenz tendenziell entwertet. Im Gegenzug entstehen jedoch neue Formen von quasi-unmittelbaren Beziehungen, die durch die Medien vermittelt werden; beispielsweise können zu Rock-Stars wie Robbie Williams oder Christina Aquilera Beziehungen entwickelt werden, die einer unmittelbaren Beziehung zumindest sehr nahe kommt, selbst wenn sich die Interaktionen ganz auf der Ebene der virtuellen Realität abspielen. In diesem Sinne bedeutet „Individualisierung“ für die Jugendphase auf der einen Seite eine historisch unbekannte Zunahme von Freiheitsräumen, in der Kehrseite jedoch eine äußerst krisenhafte Tendenz: Nämlich eine Entstrukturierung, eine Verundeutlichung und eine zunehmende Gestaltlosigkeit des Jugendalters.6 Ich stehe der Reichweite, erst recht der normativen Kraft der Individualisierungsthese allerdings kritisch gegenüber. Dies betrifft zum einen ihren Geltungsbereich. Ich vermute, dass die durch Individualisierung eröffneten Möglichkeiten selbsttätiger Lebensgestaltung für Jugendliche heute nicht in dem Maße gewachsen sind, wie die alten Grenzen von Klasse, Geschlecht und Nationalität gefallen sind. Und wenn man genau hinsieht, stimmt ja nicht mal das: sonst hätte die Tochter einer türkischen Änderungsschneiderin in unserer Gesellschaft die gleichen Lebenschancen wie der älteste Sohn des deutschen Textilfabrikanten in der gleichen Stadt, oder wenigstens wie die Tochter einer Pfarrerin oder eines Theologieprofessors. Untergründig wirken die traditionellen Zugehörigkeiten zu Klasse, Schicht, Milieu, Geschlecht und Nationalität, die im Individualisierungsprozess doch entmächtigt sein sollen, auch in der individualisierten Gesellschaft weiter. Wenn auch auf subtilere Weise als in früheren Zeiten, so werden dennoch noch Chancen und Angebote für Lebenswege und für die Partizipation an kulturellen, politischen und ökonomischen Lebensmöglichkeiten strukturell ungleich verteilt: Nach Geschlecht, nach ethnischer Zugehörigkeit, nach sozialer Herkunft. Ich sehe mich in der Kritik an der empirischen Geltung der Individualisierungsthese auch durch die neueren Shell-Jugendstudien bestätigt. Wirft man einen Blick auf die Studie „Jugend 2000“, nämlich auf das Kapitel „Moderne Orientierungsmuster: Inflation am Wertehimmel‘, so wird man belehrt, dass die nach der Individualisierungsthese eigentlich zu vermutende Entwertung traditioneller (z.B. familien- und beziehungsbezogener) gegenüber modernen Wertorientierungen („Teilhabe an Politik und technischem Fortschritt“) so nicht umstandslos zutrifft. Auf der einen Seite ist eine geschlechtsdifferente Polarisierung deutlich: „Wenn wir die Wertedimension der Menschlichkeit eine ‚Frauen-Dimension‘ genannt haben, dann müssen wir diese Wertedimension der Modernität und Teilhabe am gesellschaftlichen Fortschritt unzweifel- haft als ‚Männer-Dimension‘ bezeichnen“.7 Auf der anderen Seite ist aber unabhängig von Geschlecht und sozialer Lage ein Ergebnis der Wertorientierungen Jugendlicher in der Lage, die Totalität des Erklärungswertes der Individualisierungsthese nachhaltig in Frage zu stellen, nämlich „...dass das Konzept von der Familie als dem zentralen Lebensziel von keiner Kontrastgruppe wesentlich abgelehnt wird ... Selbst die stark Freizeit- und Eigenzeitorientierten stimmen dem Konzept von der Familie als Wichtigstes im Leben zu. Es gibt keine negative Korrelation ... Das Partnerschaftsmodell ‚mit Partner/Partnerin in einer Wohnung zusammen leben und vielleicht später einmal heiraten‘ erreicht mit 73% die höchste Wertorientierung und wird von allen unabhängig von ihren Wertorientierungen gleichermaßen geteilt.“8 Diese Ergebnisse werden von der neuesten Shell-Jugendstudie 2002, soweit ich sehe, bestätigt. In meinen Augen ein Hinweis, dass die Erklärungskraft der Individualisierungsthese für die Wahrnehmung des Jugendalters begrenzt ist – nicht nur in Hinblick auf die sozialen Grenzen ihres Geltungsanspruches, sondern auch in Hinblick auf einen wichtigen Aspekt der Binnensicht jugendlicher Weltbilder. Skeptisch bin ich vor allem gegenüber normativen Implikationen der Individualisierungsthese. Ich bin geneigt, die Gewichtsverteilung zwischen beiden Seiten der Ambivalenz, die für die Individualisierung kennzeichnend ist, nämlich Freiheitsgewinn und Entstrukturierung/Verundeutlichung, ausgesprochen skeptisch anzusehen. Dies betrift nicht nur die Wahrnehmung der Jugendkultur. Ich habe in diesem Zusammenhang viel aus einem Buch von Richard Sennett gelernt, „Der flexible Mensch“. Sennett fragt: Was geschieht eigentlich mit Menschen, die ihr Leben nach den Zumutungen des neuen, globalen Kapitalismus ausrichten müssen, der eine neue Form eines auf Kurzfristigkeit und Elastizität ausgerichteten Wirtschaftens hervorgebracht hat? Die Zumutung an den „flexiblen Menschen“ heißt: du musst dir ständig neue Aufgaben stellen. Du musst immer bereit sein, deine Arbeitsstelle, deine berufliche Orientierung, deinen Wohnort zu wechseln. Aber Menschen sind, wenn sie als Menschen aufwachsen und leben können wollen, auf Langfristigkeit, auf Verlässlichkeit, auf Entwicklung angewiesen. Wenn Menschen keine langfristigen, verlässlichen Beziehungen mehr aufbauen können, dann entsteht das, was Sennett „Drift“ nennt, ein zielloses Dahintreiben. Ein außenorientiertes Leben, immer darauf angewiesen, Erfolg zu haben und Scheitern zu vermeiden. Es würden auch die psychischen Kapazitäten fehlen, dies verarbeiten zu können. Ich formuliere in diesem Zusammenhang ein erstes m.E. schlechterdings notwendiges Ziel für pädagogische Arbeit heute: Gegen die zerstörerischen Züge gesellschaftlicher Individualisierung soll in sozialen Nahräumen – in lebensweltlichen face-to-face-Beziehungen, wie Familien und Freundeschaftsgruppen ebenso wie in den Bildungsinstitutionen und auch in den Kirchen – die Herausbildung von Interaktionsräumen gefördert und begleitet werden, in denen Vertrautheit, wechselseitige Wahrnehmung, Solidarität und Beheimatung eröffnet, ermöglicht und eingeübt werden können. 39 'bb' 106-4/2003 Einzelne Menschen, erst recht Kinder und Jugendliche können keine Lebenssicherheit gewinnen, wenn sie Lebensperspektiven allein durch je eigenen Entwurf und eigene Wahl auf der einen, durch Identifikation oder Abgrenzung gegenüber abstrakten gesellschaftlichen Großeinheiten auf der anderen Seite entwickeln müssen. Zwar ist es unbestreitbar, dass die „Überlebenseinheiten“ der Menschen längst von lokalen oder regionalen zu nationalen oder sogar globalen Größen geworden sind. Die Globalisierung der Märkte, auch der aktuell betriebene politische Prozess einer europäische Einigung machen es unmöglich, überschaubare lebensweltliche Zusammenhänge mit vertrauten und verpflichteten Beziehungen unangetastet, gewissermaßen als „heile Welt“ den großgesellschaftlichen Abstraktionsprozessen emphatisch entgegenzustellen. Aber für das Lebensgefühl der betroffenen Menschen bleiben solche Großeinheiten völlig unan schaulich. Wenn dies die allein übrigbleibenden Faktoren von Gesellschaft sind: die individualisierten Menschen auf der einen, die gesellschaftlichen Großeinheiten auf der anderen Seite, dann kann Leben nicht mehr gelingen. Es ist für Menschen überhaupt und für Kinder und Jugendliche insbesondere überlebensnotwendig, sich in überschaubaren und verlässlichen Gruppen zu „beheimaten“.9 Wo dies nicht gelingt, werden z.B. neofaschistische Gruppierungen zu einer Notlösung mit gefährlicher Faszination.10 Es ist eine zentrale allgemeinpädagogische und auch religionspädagogisch zu konkretisierende Aufgabe, für Jugendliche Räume zu schaffen und bereitzustellen – aber auch Jugendliche darin zu unterstützen und gewähren zu lassen, sich eigenständig Räume zu suchen – in denen Vertrautheit, Gemeinschaft und Solidarität erlebt werden können, ohne dass diese Erfahrung auf Kosten des Fremden und Anderen – heute insbesondere der Behinderten, der Ausländer, der AsylbewerberInnen – gehen muss. Diese Aufgabe wird in dem Maße notwendiger, wie durch die Prozesse von Individualisierung, aber auch durch soziale Kälte und Durchsetzung einer „Klassengesellschaft von oben“ Lebensmöglichkeiten in vertrauten sozialen Nah-Räumen gefährdet und zerstört werden. Je abstrakter und kälter die Gesellschaft erfahren wird, umso mehr wächst die Gefahr, dass die Suche nach „Heimat“ und nach vertrauten, solidarischen Beziehungen durch rigide Abgrenzung und Gewaltbereitschaft gegen alles erkauft wird, was anders ist. Ich sehe es als zentrale Aufgabe von Kirchengemeinden, aber auch des schulischen Religionsunterrichtes, Räume anzubieten, in denen nichtterroristische Gemeinschaftserfahrungen möglich sind. – Eine Zwischenbemerkung in diesem Zusammenhang: Es ist, was die Chancen der Ermöglichung solcher Interaktionsräume angeht, schlicht heller Wahnsinn, wenn gegenwärtig beispielsweise in Hamburg durch ein neues Lehrerarbeitszeitmodell faktisch bestraft und in der Konsequenz an vielen Schulen verunmöglicht wird, dass LehrerInnen mit ihren Klassen Klassenfahrten unternehmen, kreative Zusatzangebote in Arbeitsgruppen machen, sich Zeit nehmen, Beziehung zu ihren SchülerInnen über die unmitelbaren Unterrichtsverpflichtungen hinaus zu gestalten. 40 3. Die Notwendigkeit von Bildung Ich halte es schlechterdings für unaufgebbar, an dem Begriff von „Bildung“ festzuhalten, wie er in der deutschen pädagogischen Tradition im Gesprächszusammenhang einer geisteswissenschaftlichen Pädagogik entwickelt worden ist.11 Knapp zusammengefasst ist mit einem emphatischen und kritischen Bildungsbegriff dies intendiert: Prozesse, in denen sich Kinder zu Erwachsenen herausbilden, lassen sich nicht in funktionalem Sinne so verstehen, als gehe es um eine möglichst vollständige Anpassung an die vorgegebene Gestalt von Berufsbildern, von Verhaltensorientierungen, wie sie einem ökonomisch und politisch zurechnungsfähigen Zeitgenossen zugemessen werden, um Anpassung an die Gestalt von Rollenmustern, wie man Vater oder Mutter, Ärztin oder Friseur, Kirchenmitglied oder Staatsbürger zu sein habe. Im Sinne der gemeinten Konzeption von „Bildung“ wäre die Vorstellung einer vollständigen Anpassung und einer darauf hinwirkenden – also funktional auf dieses Ziel bezogenen und in dieser funktionalen Orientierung aufgehenden – Erziehung ein pathologischer Grenzfall. „Bildung“ im gemeinten emphatischen Sinne des Wortes findet vielmehr gerade da statt, wo solche funktionalen Orientierungen durch die Selbsttätigkeit der lernenden Sunjekte gebrochen werden, bisweilen auch durcheinandergebracht und chaotisiert werden. „Bildung“ rechnet nämlich damit, dass im Prozess der (auch hier für nötig gehaltenen) Anpassung von Individuen an gesellschaftliche Rollen die Dimension der Selbsttätigkeit des Individuums, das sich diese Rollen aneignet, konstitutiv hinzugehört, und zwar in schlechterdings unaufgebbarer Weise. Und „Bildung“ rechnet damit, dass gesellschaftliche Regeln – Regeln der Sprache, moralische Standards, berufliche und andere gesellschaftliche Rollen – nicht unverändert bleiben, wenn sie von Individuen im Prozess ihres Lebensvollzugs und insbesondere im Prozess ihrer Aneignung durch heranwachsende Menschen in Anspruch genommen und angeeignet werden: sondern in einer Weise verändert werden, die weder im einzelnen planbar noch beherrschbar ist. „Bildung“ betrachtet, mit einem Wort, die Selbsttätigkeit des Individuums als notwendiges Element in seiner Anpassung an Regeln und Rollen. In diesem Zusammenhang lässt sich das globale Ziel pädagogischen Handelns bestimmen. Es geht bei pädagogischem Handeln, ganz gleich an welchem gesellschaftlichen Ort und in welcher Institution, elementar um zwei ineinander verschränkte Perspektiven. Die eine ist das Zeigen: den Lernenden – Kindern und Jugendlichen, Schülern und Schülerinnen, Studenten und Studentinnen – wird gezeigt/präsentiert, was im Gesamt der bestehenden Kultur als lebenswert, erhaltenswert und als weiterzuentwickeln gelten soll. Weil das so umfassend ist, dass es nicht durch bloßes Mitleben mit den Erwachsenen gelernt werden kann, haben sich historisch besondere Institutionen herausgebildet, in denen das Lebenswerte nicht nur gezeigt, sondern repräsentiert wird: die Welt noch einmal in pädagogischen Inszenierungen und Institutionen. Die zweite Großperspektive ist: Unterstützen der Selbsttätigkeit der Lernenden. Das, was in einer Kultur 'bb' 106-4/2003 als lebenswert gezeigt werden soll, kann nicht so mitgeteilt werden, wie man Bier in Flaschen abfüllt. Die Lernenden nehmen es aus der Perspektive ihres Lebensvollzugs in Gebrauch und verändern es dabei – in einer Weise, die durch pädagogische Inszenierungen nicht im einzelnen beherrscht werden kann, und das ist gut so. Ein kritischer Bildungsbegriff hat in der gegenwärtigen Lage keine große Konjunktur. Und das ist nicht gut so. Gegenwärtig stehen alle Bildungsinstitutionen, und so auch Schulen und Universitäten, unter einem erheblichen ökonomischen Druck. Seitdem nach 1989 offenbar auch jede gedankliche Alternative zum marktwirtschaftlichen Kapitalismus umstandslos zur Makulatur erklärt wird, wird der Machtbereich von finanziellen Kalkülen tendenziell grenzenlos. Das Geld gerät zum alleinigen Medium gesellschaftlicher Kommunikation und verdrängt überkommene Differenzierungen wie die zwischen Wahrheit (in der Wissenschaft), Glaube (in der Religion) oder Liebe (in intimen Beziehungen). Es ist gegenwärtig not-wendig, der Logik einer solchen Totalisierungstendenz zu widerstehen. Wenn Universitäten, Kirchen, Schulen nach dem Modell einer „Firma“ reorganisiert werden sollen, wenn SchülerInnen und Studierende nicht mehr als selbsttätig lernende Subjekte, sondern als „Konsumenten“ der Ware Wissen verstanden werden, ist der Punkt erreicht, an dem eine Wende notwendig ist. Mit ein bisschen Mut ist es relativ leicht, des Kaisers neue Kleider zu lüften: letzten Endes sind die Sprachspiele eines shareholder-orientierten Lebensgefühls – das ständige Gequassel von Controlling, Evaluation, Leitbild-Entwicklung – nicht viel mehr als die leerlaufende Selbstbeschäftigung von Verwaltungen, denen ein wenig Selbstbesinnung auf die Traditionen eines kritischen Bildungsbegriffs gut tun würde (übrigens auch darin, den eigenen Ansprüchen etwas mehr Chancen auf Realisierung zu geben). Vor dem Hintergrund der Pisa-Studie hat sich in den letzten Jahren die Debatte um die Schule verschärft. Gegenwärtig wird eine Lösung vor allem in einer Zunahme an Effizienz, in einer Verkürzung des Schulweges, in einer betriebswirtschaftlichen Durchorganisation der Schulen gesucht. Damit droht in brisanter Situation gerade das verloren zu gehen, was in den letzten zehn Jahren an bildungspolitischem Problembewusstsein erarbeitet wurde. Ich nenne ein Beispiel: Vor einigen Jahren hat der damalige Ministerpräsident von NRW, Johannes Rau, einen Bericht einer Kommission zur Reform des Schulwesens vorgestellt, der so hochkarätige Pädagogen und Didaktiker wie Wolfgang Klafki, aber auch Wirtschaftsvertreter wie Hilmar Kopper (Deutsche Bank) und Reinhard Mohn (Bertelsmann) angehörten. Die Ergebnisse der Kommission sind so radikal wie der schulische Notstand, den sie beheben wollen. Die Kommission verkündet nichts geringeres als das Ende der bisherigen Bildungspolitik. Einige ihrer Vorschläge: Statt bisher vier, sollen die GrundschülerInnen sechs Jahre zusammenbleiben (Das gibt es bisher nur in Berlin und Brandenburg). Noten soll es in der Grundschule nicht mehr geben; stattdessen schlägt die Kommission eine schriftliche Äußerung der Schule an Kinder und Eltern vor. Nach sechs Jahren Grundschule wird ein Zweisäulenmodell vorgeschlagen: der beruflich orientierte Schulzweig und der gymnasiale. Ein Schulsystem mit zwei Wegen, das zum herkömmlichen Abitur führt und parallel ein Abitur im berufsbildenden Zweig ermöglicht. Der Hauptschulabschluss wird weggelassen, stattdessen sollen alle Kinder zum Realschulabschluss geführt werden. Die Entscheidungsmöglichkeiten und das eigene Gesicht der einzelnen Schulen sollen verstärkt werden. Die Schulen erhalten in finanziellen Fragen ein eigenes Budget und eine Teilautonomie. Den einzelnen Schulen soll erlaubt sein, sich LehrerInnen selbst auszusuchen und sie auch leistungsgerecht zu entlohnen. Die Schule müsse, so heißt es, „pädagogisches Engagement, professionelles Handeln und verantwortungsbewusste Erziehungsarbeit fördern“ und eine „initiativreiche“ Tätigkeit des Schulpersonals auch entlohnen.12 – Mir scheinen solche Erinnerungen hilfreich und nötig. Es geht darum, dass angesichts der aktuellen Marotte, alles, aber auch alles nach betriebswirtschaftlichen und marktökomischen Kriterien anzusehen, nicht auch gerade solche Reformmodelle in Vergessenheit geraten, die am ehesten noch in der Lage sind, Schule als Lebensort wahrnehmbar und gestaltbar zu machen. 4. Die Bildungskatastrophe als Katastrophe der Erwachsenen- und nicht der Jugendkultur Am Freitag, den 26.April 2002, gegen 11.00 Uhr tötete ein neunzehnjähriger früherer Schüler in der Erfurter Gutenbergschule dreizehn Lehrerinnen und Lehrer, die Schulsekretärin, einen Schüler, einen Polizisten und danach sich selbst. In der öffentlichen Debatte wurden sehr schnell die gewalttätigen Computerspiele und Filme als Motivierung für diesen völlig unverständlichen Gewaltausbruch ausfindig gemacht, die sich der junge Mann immer wieder einverleibt hatte. Ich will nicht missverstanden werden: Ich halte auch manche dieser Spiele, die unter Jugendlichen heute weit verbreitet sind, für hoch problematisch. Dazu möchte ich am Schluss noch einiges sagen. Dennoch ist es mindestens vorschnell, den Erfurter Blutrausch vor allem oder sogar allein als Konsequenz eines fehlgeleiteten Medienkonsums anzusehen. Tiefer gehen schon Fragen danach, warum dieser zum Massenmörder gewordene Jugendliche in seinem letzten Lebensjahr fast alle sozialen Beziehungen abgebrochen hat. Tiefer gehen auch Fragen nach den gesetzlichen Vorgaben für das Thüringer Abitur, das einen Schulabbrecher ohne jeden Schulabschluss entlässt. Ich denke aber, es muss noch grundlegender nachgefragt werden. Ich denke, dass sich in diesem Fall und vor allem auch in der Form seiner Aufarbeitung eine tiefe Krise unseres Bildungssystems zeigt, die vor allem als Krise in Lebensgefühl und -gestaltung in der Erwachsenengeneration angesehen werden muss – und nicht zuerst als Krise der Jugendlichen. Immer, wenn etwas Furchtbares geschieht, blühen die Sonntagsreden. Das war auch unmittelbar nach den furchtbaren Tagen in Erfurt so. Landauf, landab wurde die fehlende Wertorientierung und die Verödung der Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, überhaupt von erwachsener und heranwachsender Generation beklagt. 41 'bb' 106-4/2003 Und wie immer zeigt sich auch diesmal, dass schon nach wenigen Wochen alles vergessen ist, wenn es um bildungspolitische Weichenstellungen geht. Die gegenwärtig vorherrschende Tendenz einer rigiden Durchökonomisierung von Schulen, Universitäten und anderen Bildungsinstitutionen wird faktisch nicht in Frage gestellt. In den letzten Tagen hat sich Arbeitgeberpräsident Hundt ein weiteres Mal dezidiert in dieser Richtung geäußert: Die schulische Ausbildung müsse sich stärker an den Erfordernissen des Berufslebens ausrichten. „Wir brauchen eine große Schulreform mit klar formulierten und vor allem regelmäßig überprüften Leistungsstandards und zentralen Abschlussprüfungen an allen Schulen.“ Hundt kritisierte, dass bei etwa einem Viertel der Jugendlichen auf der Suche nach einer Lehrstelle „die einfachsten Bildungsvoraussetzungen“ fehlen und damit „das richtige Rüstzeug“ für das spätere Leben. – Wir finden hier exemplarisch eine Position vor, die den gegenwärtigen Diskurs über Erziehungsfragen weitgehend beherrscht. Sieht man zudem auf gegenwärtig in vielen Bundesländern wirksame bildungspolitische Entscheidungen, so ist zu sagen: Schulen und Universitäten sollen wie Firmen funktionieren. Bildung wird in diesem Konzept als Aufhäufung von marktgängigen und vom Markt abgefragten Kenntnissen und Fertigkeiten verstanden. Die Herausbildung von Wertbewusstsein und Zivilcourage, von Kritikfähigkeit oder sogar religiöser Orientierung bleibt auf der Strecke. Was wir dagegen heute aktuell, und zwar unmittelbar praktisch und tagespolitisch auf der Tagesordnung brauchen, ist eine Selbstbesinnung auf die kritischen Bildungstraditionen unserer Kultur. Noch einmal: Bildung ist ein gesamtgesellschaftliches Projekt, in dem eine erwachsene Generation einer heranwachsenden Generation aus dem eigenen kulturellen Lebenszusammenhang das zeigt, was aus der Perspektive der kommenden Generation lebenswert und lebenswichtig ist: was es den Heranwachsenden möglich macht, ihre eigene Individualität und Eigentümlichkeit auszuprägen (das ist die individuelle Perspektive von Bildung) und zugleich in die Gesellschaft hineinzuwachsen (das wäre die universelle Perspektive).13. Von „Bildungskatastrophe“ muss gegenwärtig auf einen sehr grundsätzlichen Blick deshalb gesprochen werden, weil die Beziehung zwischen der Erwachsenengeneration und der heranwachsenden Generation, freundlich formuliert, in dieser grundlegenden Perspektive undeutlich bleibt. Die erwachsene Generation weiß, sieht man auf zentrale Aspekte des Lebensvollzugs, offenbar nicht, was sie mit sich selbst will, und sie weiß auch nicht, was sie mit der jungen Generation will. Wir haben heute an nahezu allen Orten Schulen mit engagierten und kompetenten LehrerInnen und Lehrern, die sich oft weit über ihre Zeit- und Kraftgrenzen engagieren. Wir finden zudem nahezu überall Versuche, eine Schulkultur aufzubauen und gegen die Zumutungen einer Durchökonomisierung der Bildungsinstitutionen zu sichern. Ähnliches ist von den Universitäten zu sagen. Es geht mir deshalb auch nicht um einen Angriff auf all diese Menschen, deren Engagement wir brauchen. Ganz im Gegenteil. Es geht mir allerdings um eine grundsätzliche, gesellschaftsweit nötige Selbstbesinnung. Das 42 Gesamtprojekt von Bildung, also das Gesamtprojekt der Beziehung zwischen erwachsener und heranwachsender Generation ist gegenwärtig gefährdet. Dies zeigt sich mit erschütternder Deutlichkeit in den zentralen politischen Entscheidungen, in denen die Kosten der ökologischen und sozialen Krise auf die nachkommende Generation abgewälzt wird; dies zeigt sich im Konkreten in den Krisen der Bildungsinstitutionen. Die Stichworte sind allgemein bekannt: Umweltvernichtung. Armut und Arbeitslosigkeit. Kriegsbedrohung. Die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und der in abhängiger Position gehaltenen Menschen in den abhängigen Ländern, insbesondere der Ureinwohner dieser Länder. Der grassierende Hunger und die politische Entrechtung in weiten Teilen der Erde. Und zugleich auch die Undeutlichkeit und Verborgenheit dieser Probleme auf der Oberfläche der zwischenmenschlichen und politischen Kommunikation. All dies beeinträchtigt die Perspektive der Kinder auf Zukunft: wie sollen sie in einer solchen Welt leben, lieben und arbeiten können? Vieles von den beschriebenen Problemen geht nicht in das Lebensgefühl der Kinder und Jugendlichen unmittelbar ein, auch dann nicht, wenn ihre Lebensperspektiven betroffen sind. Und das ist sicher auch gut so: Kein Mensch könnte so leben, dass er und sie sich beständig die drängenden existenziellen Probleme vor Augen hält. Dafür gibt es in der Jugendkultur besondere Zeiten und Orte: Es sind vor allem Werke der populären Kultur – wie massenwirksame Popsongs und Kinofilme – die das Ende der Welt als Ergebnis ökologischer oder technologischer Katastrophen zeigen, die von jugendlichen BesucherInnen massenhaft konsumiert werden und offenbar ihr Lebensgefühl erreichen, an denen sich die grundlegende Verunsicherung über Lebensperspektiven artikulieren kann. Ein Problem geht jedoch auch in alltägliche Interaktionen und in alltägliches Lebensgefühl unmittelbar ein. Massenarbeitslosigkeit und Verarmung, die als Drohung über dem Lebenszusammenhang von Familie, Freundschaft und Bekannten lasten oder aber schon Wirklichkeit geworden sind. Viele Kinder und Jugendliche erleben an ihren eigenen Eltern, an Verwandten oder Freunden mit, wie Arbeitslosigkeit das Selbstwertgefühl von Menschen untergraben kann. Wie vertraute Rollenmuster von Männern und Frauen brüchig werden, oft ohne dass dies von einem wirklichen Prozess der Selbstthematisierung der Beteiligten begleitet würde. Die Kinder erleben mit, wie Zeitstrukturen zerstört werden: wie die Unterscheidung zwischen Arbeitszeit und Freizeit verloren geht, ebenso auch die Unterscheidung zwischen Arbeitszeit und Urlaub. Zeit wird zu einem leeren Vorrat, der oft nicht durch eigene Aktivität gefüllt werden kann und – im wahrsten Sinne des Wortes – totgeschlagen werden muss. Kinder und Jugendliche erleben mit, wie die soziale Anerkennung und die Eingebundenheit ihrer Eltern in ein soziales Netz von ArbeitskollegInnen, GewerkschaftsgenossInnen, Nachbarn und Freunden dahinschwindet. Gerade wo es besonders nötig wäre, reißt das soziale Netz. Die Kinder erleben mit, wie das Geld knapper wird und sie sich im Vergleich mit ihren MitschülerInnen und FreundInnen 'bb' 106-4/2003 nicht mehr soviel leisten können. In diesem zentralen Feld des Hineinwachsens der Kinder und Jugendlichen in die Rollen und Lebensfelder der Gesellschaft wird ihnen faktisch, wenn auch nicht ausdrücklich signalisiert: Wir brauchen euch nicht. Bildungspolitische Entscheidungen auf Länder- und Bundesebene dementieren immer wieder die gute und engagierte pädagogische Arbeit, die von LehrerInnen und Lehrern, UniversitätsprofessorInnen, SozialpädagogInnen, KindergärtnerInnen in vielen Bildungseinrichtungen geleistet wird – z.B. die strikte Verweigerung, die Schultypen bis zum 6.Schuljahr beieinander zu lassen, z.B. die faktische Abschaffung der zweiten Phase der Lehrerausbildung zugunsten des Einsatzes von RefrendarInnen als billige Vollzeitlehrkräfte, z.B. die Erschwerung von Fortbildungsmöglichkeiten für LehrerInnen, oder beispielsweise in Hamburg die Verkürzung der Gymnasialschullaufbahn auf 12 Jahre, ohne die Zeit und die Mittel, vor allem das Personal für eine solche Veränderung bereitzustellen. Verheerend wirken aber vor allem die ökonomischen, ökologischen und sozialen Verwerfungen in unserer Gesellschaft. Gegenwärtig wird eine Politik gegen und auf Kosten der kommenden Generation gemacht, und zwar sowohl was die sozialen Kosten als auch was die ökologischen Kosten angeht. In therapeutischen Zusammenhängen wird mit Gewinn nach unbewussten Botschaften gefragt, die beispielsweise Eltern gegenüber ihren Kindern aussenden. Ich halte es für sinnvoll, dieses z.B. in der Transaktionsanalyse erprobte Verfahren auch auf die Wahrnehmung der pädagogischen Situation, also der Beziehung zwischen erwachsener und heranwachsender Generation insgesamt anzuwenden. Das Ergebnis ist niederschmetternd. So wie gegenwärtig die bildungspolitischen Entscheidungen für Schulen und Universitäten, so wie gegenwärtig die politischen Entscheidungen für oder besser gegen die finanzielle Ausstattung von Bildungsinstitutionen getroffen werden, und vor allem: in der Weise, welche Partizipationschancen am gesellschaftlichen Leben, insbesondere am Arbeitsleben den Mitgliedern der heranwachsenden Generation eröffnet werden, muss man eine geheime Botschaft erkennen, die die erwachsene Generation der heranwachsenden Generation macht: Ihr seid überflüssig.14 Welchen Sinn soll es für eine individuelle Lebensplanung haben, möglichst schnell und effektiv die Bildungsinstitutionen zu durchlaufen, wenn spätestens dann überdeutlich signalisiert wird: Wir brauchen dich nicht? Welche Möglichkeit zur Herausbildung eines lebensbejahenden Lebensgefühls, mit Lust arbeiten und lieben zu können – in ihrer aktuellen Lebensgestaltung wie ihrer Perspektive – bleibt Heranwachsenden und jungen Erwachsenen, bleibt Schülern und Studierenden, um es nicht noch schärfer zu sagen: wenn die erwachsene Generation der nachfolgenden Generation durch ihre politischen Entscheidungen beständig signalisiert, dass sie ihre bloße Existenz schon nicht will? Aktuell 4,352 Millionen Arbeitslose (im August 2003), und jedes Jahr Probleme bei der Einigung zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen auf eine Ausbildungsplatzgarantie. Die Botschaft an die heranwachsene Generation heißt: Ihr seid überflüssig. Durchökonomisierung und Fachidiotisierung der Bildung – die Botschaft an die kommende Generation heißt: bleibt blöd, wir brauchen bloß Eure Arbeitskraft. Das ist die geheime Botschaft an die kommende Generation: Existiert nicht. Seid nicht da. Ihr seid zu viele, also seht zu, wo ihr bleibt. Ich denke, dies macht – auf einen grundsätzlichen Blick – die Bildungskatastrophe heute aus. Hier ist eine fundamentale Neuorientierung schlechterdings notwendig, um der Liebenswürdigkeit der Menschen und um der Schönheit unseres Landes willen. Sich in dieser Frage zu engagieren, mit Körper und Kopf, das ist schließlich, so denke ich, eine der wenigen Lebensorientierungen, wo man halbwegs guten Gewissens von Patriotismus sprechen kann. 5. Die mediale Kultur ist nicht Verursacher der Bildungskrise – aber durchaus ihr Bestandteil Kinder und Jugendliche leben heute nicht nur in den Welten alltäglich-alltagssprachlicher Kommunikation in Familie, Clique, Schulklasse, Ausbildungsplatz, sondern zugleich in den virtuellen Welten beispielsweise von Computerspielen und Internet. Durch die neuen Medien und die in ihnen zugänglichen virtuellen Welten ist eine Frage für Lebensgefühl und Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen, die heute heranwachsen, aber auch für Erwachsene besonders brisant geworden: Was ist eigentlich Wirklichkeit? Viele aktuelle massenwirksame Kinofilme thematisieren ausdrücklich diese Frage (z.B.: „Mulholland Drive – Straße der Finsternis“, USA 2001, Regie: David Lynch; „Matrix“, USA 1999, Regie: Joel Silver), und ebenfalls viele dieser Filme thematisieren auch die Gefahren, die von den neuen Medien für Freiheit und Lebensmöglichkeiten der Menschen ausgehen, insbesondere durch Überwachungstechnologien und das Internet (z.B. „Staatsfeind Nr.1“, USA 1998, Regie: Tony Scott; „Das Netz“, USA 1995, Regie: Irwin Winkler). Die Tatsache, dass solche Filme „funktionieren“, dass sie hier und jetzt das Lebensgefühl erreichen, lässt darauf schließen: es ist heute keineswegs umstandslos ausgemacht, was zur Welt der Tatsachen gehört, die in der Wirklichkeit statthaben. Und dies wird nicht nur als faszinierend erlebt, sondern offenbar auch als beunruhigend und beängstigend. Unter kinder- und jugendtherapeutischen Gesichtspunkten ist dazu viel Kritisches zu sagen und auch gesagt worden15: Internet, Computerspiele, massenwirksame Fernsehserien und Hollywood-Filme, überhaupt der neue Standard der digital vermittelten Realitätserfahrung können mit einer spezifischen Konstellation in der seelischen Entwicklung heutiger Menschenkinder eine destruktive Verbindung eingehen – und gehen sie tatsächlich in vielen Fällen ein –, die zu einer Zerstörung der psychischen Instanz des „Gewissens“ führt. Denn Computerspiele, das Internet, Reality-Sendungen, die digitale Welt überhaupt gewinnen ihre Faszination gerade dadurch, dass sie die in der lebensgeschichtlichen psychischen Entwicklung mühsam und schmerzvoll erworbenen Kompetenzen und 43 'bb' 106-4/2003 Energien unnötig machen, unterlaufen, ja außer Kraft setzen, sich mit Grenzen auseinanderzusetzen, langfristige Perspektiven zu entwickeln, Verluste zu verschmerzen und trauern zu lernen. Nimmt man weit verbreitete Typen von Computerspielen in den Blick, so ist dieser Analyse schlicht zuzustimmen. Der narzissmustheoretische Erklärungsansatz rechnet mit einer gewissen Diffusität, mit einer fehlenden Konturiertheit, mit der Gestaltlosigkeit virtueller Welten in dem Sinne, dass gerade so die Rückkopplung zwischen virtueller Umgebung, in die die Kids eintauchen, und ihren narzißtischen Sehnsüchten nach Unbegrenztheit und Totalität der Wunscherfüllung gelingen kann. In dem Maße aber, wie in Computerspielen konsistente Erzählwelten inszeniert werden, in denen nicht selten auch religiöse Symbolwelten zitiert werden – aber auch in dem Maße, wie hier virtuelle Umwelten wie z.B. Interieurs von Gebäuden, Stadtlandschaften usw. präsentiert werden, in denen auf möglichst genaue historische, soziale, politische Details geachtet wird –, muss der Erklärungsansatz m.E. erweitert werden. Denn hier wird, so oder so, Gestalt entwickelt. Es wird erzählt. Es werden mythologische und religiöse Muster zitiert und auf diese Weise in eine neue Gestalt eingebracht. Es wird eine Wirklichkeit erzeugt, in der andere Regeln gelten, als dies in der Alltagsrealität vorausgesetzt wird. In all dem funktionieren Computerspiele wie performative Sprechakte, sie stellen die Wirklichkeit her, die sie inszenieren. Und sie beinhalten zudem oft eine eigene Verheißungs-Struktur: Ich werde überleben, wenn ich möglichst alle Feinde erschieße; oder: ich werde die Welt retten, wenn ich nach den Vorgaben der hier angebotenen mythischen bzw. religiösen Erzählwelt das Böse zur Strecke bringe, die alte gute Ordnung wieder herstelle und in die Rolle des Messias hineinschlüpfe – oder was auch immer im Wissens- und Gefühlshaushalt der Spieldesigner an Resten mythologischer und religiöser Bildwelten lebendig gewesen ist. Sind die bisher vorgetragenen Überlegungen auch nur halbwegs zutreffend, so ist zu fragen: welche Konsequenzen sind zu ziehen für die pädagogische Begleitung von Heranwachsenden in diesem Feld? Keine Lösung wäre, Kinder und Jugendlichen vor der Konfrontation mit virtuellen Welten dieses Typs zu bewahren. Sie haben die alltäglichen Lebenswelten so weitgehend durchdrungen, dass sich die Frage angemessen nur stellen lässt als die nach dem angemessenen Umgang mit diesen Dingen, nicht nach pädagogisch inszenierter Abschottung. Anders liegt der Fall allerdings bei indizierten Spielen besonders gewalttätiger, z.T. politisch faschistoider Tendenz. Um hier aber überhaupt unterscheidungs- und entscheidungsfähig zu werden, scheint mir als erste Maxime unausweichlich: Erwachsene müssen sich, ob als Eltern, als LehrerInnen oder anders in die pädagogische Begleitung Heranwachsender verwickelte Erwachsene, zumindest exemplarisch kundig machen, was ihre „Zöglinge“ da so fasziniert. Lassen Sie sich von ihren Kindern in die Welt der Spiele einführen! Spielen Sie selbst, zumindest einige ausgewählte Spiele! Erleben Sie am eigenen Leibe, 44 wie sich die Wirklichkeitswahrnehmung verändert: wie Zeitstrukturen verschwimmen (wo sind die letzten vier Stunden eigentlich geblieben?), wie Sie all das für die Dauer des Spieles vergessen müssen, was sie an Mustern von Realitätseinschätzung und moralischer Orientierung verinnerlicht haben, um der Geschwindigkeit der geforderten Reaktionen auch nur einigermaßen standhalten zu können. Dies ist die Voraussetzung für die zweite, eigentlich entscheidende Maxime, die ich für dieses Feld vorschlagen möchte: Zentrales Ziel im Umgang mit virtuellen Welten ist, die Grenze zwischen virtueller Welt und realer Alltagswelt thematisierbar zu halten und/oder erst thematisierbar zu machen, und zwar in allen Dimensionen sprechakttheoretischer Kompetenzen (Wahrheit/Wahrhaftigkeit/Richtigkeit/Wirklichkeitssetzung). Der Weg dahin wird m.E. begehbar, wenn in der Familie, in der Freundesgruppe und in der Schule immer wieder Situationen genutzt und ein Setting hergestellt wird, in dem über die Spiele, über die mit ihnen gemachten Erfahrungen und Erlebnisse, über die hier vorausgesetzten Kompetenzen und errungenen Erfolge „gequatscht“ werden, d.h. ohne ausdrücklichen moralischen Zeigefinger ein entspanntes Gespräch geführt werden kann. Es macht schlicht einen Unterschied, ob die Kids Tag für Tag für Stunden in diesen virtuellen Welten versinken, oder ob sie sich beim Frühstück, beim Gespräch nebenbei oder auch in konzentrierteren Situationen darüber austauschen. Aus diesem Grunde halte ich es auch für pädagogisch unterstützenswert, wenn sich Jugendliche zu gemeinsamen Spielen, teilweise mit untereinander vernetzten Computern, verabreden. Im schulischen Religionsunterricht oder auch im Konfirmandenunterricht schließlich ist es eine lohnende Aufgabe eines symboldidaktischen Unterrichts, die in den Spielen zitierten mythologischen und religiösen Figuren zu entziffern; in Verbindung mit anderen Fächern könnte im Projektunterricht in verschiedenen Perspektiven darüber hinaus untersucht werden, wie diese Spiele „gemacht“ sind: technisch, als Erzählzusammenhang, auch als Verheißungsstruktur. Der Verheißungscharakter massenwirksamer populärkultureller Inszenierungen könnte im Konfirmanden- und Religionsunterricht z.B. an aktuellen Fernsehproduktionen entschlüsselt werden. Gab die im Jahr 2000 in der ersten Staffel höchst erfolgreiche Reality-Show „Big Brother“ noch die Verheißung: Man muss schlechterdings nichts drauf haben, um Star in einem populärkulturellen Drama zu werden16, so lebt Günter Jauchs RTL-Dauerbrenner „Wer wird Millionär“, der nach meiner Anschauung auch von vielen Jugendlichen regelmässig gesehen wird, von der Verheißung: wenn du in wie auch immer abseitigen Wissensgebieten (zwischen Königshäusern und Sport-Events, mittelalterlicher Geschichte und Musikszene) gedächtnisstark Wissen präsentieren kannst, schaffst du (zumindest finanziell) den gesellschaftlichen Aufstieg oder kannst dir wenigstens ohne weitere Mühe einen Kleinwagen leisten. Angesichts der realen Situation und der absehbaren Lebensperspektiven zumindest von Haupt- und BerufsschülerInnen heute sind aber beide Versprechen eine Lüge. Ohne erfolgreich abgeschlossenen 'bb' 106-4/2003 Schulbesuch und Lehre können junge Menschen heute mit noch so viel Charme und Lebenslust dennoch keine gesellschaftliche Anerkennung und Lebenssicherung gewinnen (gegen die Zlatko-Lüge von „Big Brother“), aber leider allzu oft auch mit schulischen und beruflichen Kenntnissen nicht oder zumindest nicht sicher (gegen die Jauch-Lüge in „Wer wird Millionär“). Ob jemand einen Arbeitsplatz erhält und – in diesem Zusammenhang noch unsicherer – ihn auch behält, hängt immer stärker von den (Fehl-) Leistungen des Managements (Holzmann lässt grüßen) und der gesamtwirtschaftlichen Lage ab als von den individuellen Kompetenzen der abhängig Arbeitenden. Ich denke allerdings auch, dass medial verbreitete populärkulturelle Verheißungen gerade deshalb „funktionieren“, massenhaft begeistern oder zumindest zerstreuen können, weil sie ein Versprechen abgeben, das in der Realität der Arbeits- und Lebensverhältnisse der Leute keine Realisierungschance hätte17. Im alltäglichen Zusammenleben von Erwachsenen und Kindern/Jugendlichen, aber auch in der unterrichtlichen Wahrnehmung solcher medialen Inszenierungen soll eine „ästhetische“ Haltung gegenüber virtuellen Welten unterstützt werden, indem die Grenze zwischen Alltagswelt und virtueller Welt bearbeitet wird, indem in verschiedenen Perspektiven gefragt wird, wie es gemacht ist, und so zumindest punktuell und exemplarisch eine Haltung distanzierter Re-Konstruktion eingenommen werden kann. Kompetenzen, die dabei exemplarisch an der Entschlüsselung von Fernsehserien, Hollywood-Filmen oder Computerspielen erworben werden („Wie ist es gemacht“?), können, dies ist die implizite Hoffnung, auf andere Felder übertragen werden – einschließlich der Frage nach politisch und ökonomisch interessierten Realitätsverdrehungen. 10 11 12 13 14 Bemerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 Zit. nach: Hamburger Abendblatt, 20.August 2003, S.1; 19 H.-H.Muchow, Jugend und Zeitgeist. Morphologie der Kulturpubertät. Reinbek 1962 Dies gilt – zunächst sind die Jugendlichen aus dem christlich geprägten Milieu im Blick – für den Glauben an ein Weiterleben nach dem Tod (von 56% 1991 auf 32% 1999 bei den Jugendlichen West, von 39% auf 28% bei den Jugendlichen Ost), für die Gebetspraxis (manchmal oder regelmäßig: von 39% auf 28% bei den Jugendlichen West, von 21% auf 11% bei den Jugendlichen Ost), erst recht für den Gottesdienstbesuch (mindestens einmal in den letzten vier Wochen: von 21% auf 16% bei den Jugendlichen West, von 10% auf 7% bei den Jugendlichen Ost). Bei den muslimischen Jugendlichen, die in dieser Studie zum ersten Mal mit befragt wurden, sind die Ergebnisse in allen Punkten etwa doppelt so hoch, die Verbindlichkeit religiöser lebenspraktiken entsprechend höher. Jugend 2000. 13. Shell-Jugendstudie, Opladen 2000, S.162.166 D. Baacke, Individualisierung und Privatisierung von Religion. In: I. Lohmann und andere, Dialog zwischen den Kulturen..., Mün ster/New York 1994, S. 187ff. Vgl. H. Mogge/Grotjahn, Von der Möglichen Wirklichkeit und der wirklichen Möglichkeit ..., a.a.O. 1995. Jugend 2000. 13. Shell-Jugendstudie, a.a.O., S.110f Ebd., S.137 Vgl. zur Ambivalenz der Rede von „Gemeinschaft“: R.Sistermann, Gemeinschaft ohne Konsens? ... In: Ders., 15 16 17 B.Beuscher, H.Schroeter Hg., Prozesse postmoderner Wahrnehmung. Kunst-Pädagogik-Religion. Wien 1996, S.49-60. Vgl. z.B.F.-J.Krafeld, Jugendarbeit mit rechten Jugendszenen ..., In: H.-U.Otto, R.Merten Hg., Rechtsradikale Gewalt im vereinigten Deutschland ... (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1993, S.310-318; H.Castner, Th.Castner, Rechtsextremistische Strömungen in der Schule und pädagogische Gegenmaßnahmen. In: ebd., S.382-391; F.-J.Krafeld, K.Möller, A.Müller, Jugendarbeit in rechten Szenen ..., Bremen (Schriftenreihe der Landeszentrale für politische Bildung) 1993, S.11-91; H.Heitmann, Jugendarbeit im Umgang mit Gewalt..., in: S.Behn, H.Heitmann Hg., Jugendarbeit und Rechtsextremismus..., Berlin (Informations-, Forschungs-, Fortbildungsdienst Jugendgewaltprävention IFFJ-Schriften Nr.6), o.J., S.135-151; Th.Mücke, J.Korn, Neue Wege der Jugendarbeit, ‚Miteinander statt gegeneinander‘ – ein Versuch des Dialogs mit rechtsextrem orientierten Jugendlichen. In: ebd., S.81-109; A.Klose, Th.Schneider, Fan-Projekte – Grundlagen und Möglichkeiten von sozialraumbezogenen Drehpunkteinrichtungen. In: ebd., S.123133; R.Degen, ‚Deutschland den Deutschen!‘ Nationalismus und Rechtsextremismus in theologisch-pädagogischer Sicht. In: JRP 10, 1993 (erschienen 1995, S.173-188); W.Heigl, Arbeitsbuch gegen Ausländerfeindlichkeit. Unterrichtsvorschläge für Schule und Jugendarbeit. Weinheim und Basel 1996, S.150-154. Die Tradition einer geisteswissenschaftlichen Pädagogik ist mit Namen wie Wilhelm von Humboldt, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Herman Nohl und Wilhelm Flitner, aber auch Wolfgang Klafki und Klaus Mollenhauer verbunden. ebd. Vor fast zwei Jahrhunderten, als der Theologe und Pädagoge Daniel Schleiermacher diese beiden Basisaufgaben der Bildung Heranwachsender formuliert hatte, hatte er im Blick auf die universelle Perspektive der Bildung vor allem die Lebensbereiche von Staat und Wissenschaft, Kunst, Religion und geselligem Verkehr im Blick, heute müssen mindestens die Lebensbereiche von Wirtschaft und Beruf hinzugerechnet werden. Alle besonderen pädagogischen Perspektiven sind als Teilelemente des umfassenden Beziehungsgeschehens zwischen erwachsener und heranwachsender Generation zu verstehen. F.D.E.Schleiermacher, Theorie der Erziehung ... in: E.Lichtenstein Hg., F.D.E.Schleiermacher. Ausgewählte pädagogische Schriften. Paderborn, 2.Aufl. 1964 Den Vorschlag, die interaktionsanalytische Frage nach den in Interaktionen mitgeteilten unbewussten Botschaften nicht nur auf die Interaktionen zwischen Individuen zu beziehen („Ich bin okay – du bist nicht okay“), sondern auch Botschaften wahrzunehmen, die von zerstörten Wohnquartieren, unzureichenden Bildungsinstitutionen, gesellschaftspolitischen Grundorientierungen auf die jeweils Betroffenen zielen, verdanke ich U.Pfäfflin, Sind unsere Städte heilbar? In: WzM 33/1981, S.484ff. W.Bergmann, Abschied vom Gewissen. Die Seele in der digitalen Welt. Stuttgart 2000 Big-Brother-Container-Mitbewohner Zlatko beispielsweise hatte sein Coming out als Popstar mit seiner Unfähigkeit zu entscheiden, ob Shakespeare nun ein Schauspieler oder Regisseur sei. Vgl. zum Verheißungs-Charakter dieser Serie ausführlich: H.M.Gutmann, Populäre Kultur im Religionsunterricht. In: P.Biehl u.a. Hg., Religionspädagogik und Kultur. Neukirchen 2000, S.188ff. Die genannten Fernsehshows sollen hier als ein Beispiel für viele genannt werden. Verheißungs-Muster können sehr gut auch an massenwirksamen Hollywood-Filmen entschlüsselt werden, nach deren immer wiederkehrendem Erzählmuster durch das Selbstopfer des Helden das Böse gebannt und die Rettung der menschlichen Sozialität bewirkt wird. Vgl. ausführlich: H.M.Gutmann, Der Herr der Heerscharen, die Prinzessin der Herzen und der König der Löwen. Gütersloh 3.Aufl. 2002, passim; am Beispiel von Apokalypse-Filmen z.B. S. 123ff. 45 'bb' 106-4/2003 buchtipps Beate LeSSmann (Hg.) Mein Gott, mein Gott..., Mit Psalmworten biblische Themen erschließen, Ein Praxisbuch für Schule und Gemeinde, Mit Beiträgen von Birgit Brandt, Daniela Kuschmierz, Beate Leßmann, Annegret Middel-Peters und Berthold Schwab, VIII/198 Seiten, Anlagen (Bunte Bilder mit Interpretationsansätzen aus dem Unterricht), CD-ROM mit Lied- und Musikbeispielen, Neukirchener Verlag, 2002 Die im folgenden besprochene Veröffentlichung schlägt so manche wirklich gute Publikation zum Jahr der Bibel um Längen. Wenn den darin zusammengefassten Arbeiten geschieht, was sie verdienen, dann werden sie für noch lange Zeit gekauft, verwendet, weitergegeben, verschenkt. Es wird ihnen eben das geschehen, was guten Büchern zuteil wird. Sie werden immer wieder zur Hand genommen. Unterstüzt wird dies durch die Tatsache, dass es sich um ein in sich multimediales Werk handelt. Zeichungen und Bilder sind gestaltete Fragen und Antworten, in spannenden Fällen beides miteinander. Noch vielschichtiger wird die Angelegenheit, kommt Musik dazu. Daniela Kuschmierz unternimmt es, die uns nicht überlieferten Kompositionen zu den Psalmtexten neu zu erfinden. (S. 149ff; besonders 158ff). Hinsichtlich der Frage, ob unter dem Motto „im Meer der Angst“ auch noch die Geschichte von der Stillung des Sturms nach Markus 4, 35-41 unterrichtlich entfaltet und existenziell gedeutet werden sollte, mag es verschiedene Meinungen geben. Doch gewiss gehört es zu den Vorzügen des vorliegenden Buches, dass in ihm so viel Verschiedenes gewagt wird. Ein so breites Angebot kommt den eigenen didaktischen Entscheidungen der Leserinnen und Leser zugute. Es ist nicht der Sinn einer Buchbesprechung, deren Gegenstand noch einmal zu wiederholen. Also sei empfohlen: Selber lesen! Keine Seite, keine Zeile, keine der erstaunlich einfallsreichen Abbildungen aus der Praxis verpassen! Damit wollen wir zu einigen Hinweisen zum Umgang mit dem Buch kommen. Das Buch ist schön, seinem Inhalt und seinen Methoden voll entsprechend, gestaltet. Das Schöne brauchte kein Graphiker den vorliegenden Texten hinzuzufügen. Es ist alles bereits in dem enthalten, was Autorinnen und Autoren vorlegen. Für jede Lehrerin und jeden Lehrer praktisch und theoretisch anregend nehmen sie die reiche Ernte bibeldidaktischer Erfahrungen und Einsichten auf und führen sie weiter. Entdeckungen von Ingo Baldermann, Rainer Oberthür, Alois Mayer und anderen im unterrichtlichen Umgang mit Psalmen werden bei diesem Erntezug bevorzugt eingefahren. Meistens nahtlos schließen die Beobachtungen und Ideen der Autorinnnen und des Autors, ihrer Schülerinnen und Schüler an das Geerntete an. Der Gefahr einer Bibelromantik erliegt erfreulicherweise niemand von denen, die hier schreiben. Ihnen allen dient die Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen zur Sonde auf der Suche nach stimmigen existenziellen Deutungen von Psalmenworten. Die Beiträge des Buches sind 46 einfach spannend zu lesen. So nah verwandt sie unter einander sind, jeder einzelne ist von unverwechselbar individueller Feder geführt. Annegret Middel-Peters‘ Seelenvogel (S. 77 ff) z.B. in seinen gezeichneten und gedichteten Erscheinungsformen kann nicht mit Beate Leßmanns Angebot zur Komposition von Bildvorgaben (Edward Munchs Schrei) und vorbereitetend aufgeschriebenen Psalmworten (S. 57 ff) verwechselt werden. Doch sind diese Erfahrungen und Vorschläge einander nahe – kongenial mag das richtige Wort sein. Zwischen anderen Beiträgen können ähnliche Beziehungen beobachtet werden. Sie verlangen geradezu nach praktischer Erprobung. Ingo Baldermann nennt in seinem Geleitwort dies „Buch eine neue Einladung zu einer reizvollen Phantasie- und Entdeckungsreise, die ungewohnte Ausblicke verspricht:“ (S. VI) Die Schülerinnen und Schüler sowie Lernende außerhalb der Schule werden realistisch gesehen. Fragen der eigenen Lebenswirklichkeit, Gelingen und Scheitern, Angst und Hoffnung beherrschen die Gedanken und Gefühle der meisten Menschen. Die Herausgeberin bemerkt einleitend „die beeindruckende[n] Erfahrung [...], dass Worte der Psalmen Kinder, Jugendliche und Erwachsene in Schule und Gemeinde so elementar in ihrem Menschsein ansprechen, dass sie sich ganz spontan und unmittelbar auf die Sprache und die Erfahrungen der Psalmen einlassen.“ (S. 1) Am Anfang stehen zwei grundlegende Kapitel. Das erste handelt von den alten Psalmen in heutigem religionspädagogischen Kontext (S. 3ff), während das zweite erfahrungsorientierte Zugänge zu Psalmworten aufzeigt, zugleich einen Methodenüberblick liefert (S. 21 ff). Es ist im Sinne eines korrekten Umgangs mit Bibeltexten erfreulich und für die solide Arbeit von Benutzerinnen und Benutzern hilfreich, dass exegetische, z.B. auf die hebräische Ursprache bezogene Einsichten auf unaufdringliche Weise anklingen. Das bewahrt davor, mit dem einen oder anderen ‚Lieblingswort‘ beliebig umzugehen. Die Herausgeberin behandelt in dem ersten der grundlegenden Kapitel die gewandelte Situation von Kindern und Jugendlichen – nun unter dem Horizont von Psalmentexten. Die Berührung von existenziellen Erfahrungen moderner junger Menschen durch Klageworte in den Psalmen kommt hier zur Sprache, die Abwesenheit des Gegenübers Gott bei säkular aufwachsenden Kindern und die unbefangene Rede von diesem Gegenüber bei anderen. Zu dieser Offenheit für absolut unterschiedliches Schülerverhalten kann nicht deutlich genug aufgerufen werden. An dieser Stelle wird bereits klar, dass die Grundlegungen in jeder Zeile von der Praxis mit Kindern handeln wie umgekehrt der bunte Reigen der gebotenen Praxisbeispiele (S. 55 ff) immer wieder auf Grundlegendes verweist. Es ist eine der Stärken des Buches, dass darin der schematischen, für Schülerinnen und Schüler übrigens langweiligen Trennung von Grundlegung und Praxis der Abschied gegeben wurde. Eine andere delikate Frage berührt Leßmann, nämlich wieweit der Unterricht theologisch orientieren soll, genauer ob Gott als Adressat der Klagen in den Psalmen genannt werden soll. Für sie steht fest: Das halte ich für notwendig, 'bb' 106-1/2004 um den Psalmen ihre Authentizität zuzugestehen. Aber auch, um die Kinder und Jugendlichen heute ernst zu nehmen, die spüren, dass sich solche Worte nicht an irgendjemanden richten, sondern einen adäquaten Adressaten suchen. (S. 13) Zum Beleg führt die Autorin Psalm 22,2 an, den Klageruf, den christliche Tradition dem sterbenden Jesus zugeschrieben hat. In diesem Kontext besagt das Zitat, dass Jesus mit seinem Gebetbuch gelebt hat – ein starkes Argument, aber für Schülerinnen und Schüler – jedenfalls in der Grundschule – etwas subtil. Wer sich mit Texten der Bibel – Alten und Neuen Testaments – beschäftigt, kommt um eine Auseinandersetzung mit jener von Dietrich Bonhoeffer für christliches Reden in der säkularen, mündigen Welt erhobenen Forderung nicht herum. Sollen und können wir weiterhin religiös von Gott reden, wie es eine lange Tradition uns lehrt? Oder sollen wir von Gott reden, als ob es ihn nicht gäbe, etsi Deus non daretur? Kein Beitrag in diesem Buch ist ohne eine von Erfahrung getragene Liste von Psalmworten. Sie stellen uns vor die Frage: Wie sieht das alles aus für ein Mädchen oder einen Jungen, für die die gesamte Welt der Religion aus ‚Fremdwörtern‘ besteht? Wichtiger erscheint die im Buch durchgängig berücksichtigte Praxis des jüdischen Gebets, dass die Worte der Klage eng mit Elementen der Hoffnung und Zuversicht sowie erfahrenener Hilfe verbunden sind. Anthropologisches und Theologisches berühren sich hier wieder auf das engste – wiederum sowohl in den Texten aus dem Psalter als auch in den Lebenserfahrungen und ihrer Artikulation aus dem Mund von Kindern und Jugendlichen. Im Kapitel V, den Anlagen, sind drei unterschiedliche Kompositionen innerhalb des Rahmens „Ich bin bei dir. Ich bin für dich da“ abgebildet. Dreimal wird Edward Munchs „Der Schrei“ verwendet. Vom Kontext her fast unterschiedliche Bilder! Die Geschichten eines Mädchens und von zwei Jungen über ihre Angst und die Suche, da heraus zu finden, erklären den Unterschied. Die Sehnsuchtsworte und die Fragen, „„Bist du wie ein Arzt?“ (S. 212), „Bist du wie ein guter Freund, dem ich vertrauen kann?“ (S. 213), und „Bist du vielleicht mein Zuhause?“ (S. 214) eröffnen einen Blick in den Reichtum des Lernprozesses, der hier abläuft. Alle Anlagen mit Bildern in den originalen Farben und authentischen Äußerungen der Lernenden sind beides zugleich: ein Schatz, sich daran zu freuen, und reichhaltige Anregung für die eigene Praxis und das eigene Nachdenken. Die Kapitel III (Praxisbeispiele) und IV (Beobachtung eines 9-jährigen Jungen) des Buches entfalten zahlreiche Beispiele für die erwähnten Erfahrungen. Jedes einzelne davon hat für sich genug Überzeugungskraft, sodass es die Autorinnen und Autoren den Leserinnen und Lesern als Vorschlag anbieten können. Wir erläutern dies anhand der auch in diesem Buch dominierenden Beispiele aus der Grundschule.1 Die Tatsache, dass sich bereits jüngere Kinder ebenso ernsthaft wie einfallsreich mit existenziellen Fragen beschäftigen, ist für didaktische Ansätze grundlegend, die unter den Chiffren „Philosophieren mit Kindern“ und „Theologisieren mit Kindern“ beliebt geworden sind. Das Vertrauen auf die Sprachkraft von (nicht nur biblischen) Texten als Hilfe zu ihrer Erschließung im Unterricht wurde im Anschluss an Ingo Baldermann für längere Zeit als vorbildlich angesehen. Gerade im Interesse eines bedachten Umgangs mit Sprache verdient es auch unsere Aufmerksamkeit, dass kritische Rückfragen an diese in Leßmanns Buch so erfreulich dargestellte Vorgehensweise geäußert werden. Die knappen, gefüllten und bildmächtigen Wendungen in den Psalmen werden in den berichteten Beispielen aus den sie ursprünglich umgebenden Kontexten herausgenommen. Wenn Unterrichtende so vorgehen, bedienen sie sich der assoziativen Denkfigur, die für kindliches Denken charakteristisch ist. Der dem Unterricht zugrunde liegende sprachliche Ansatz ist demjenigen der Adressaten des Unterrichts ganz nahe. Das ist aus inhaltlichen wie didaktischen Gründen zu begrüßen. Inhaltlich ist festzuhalten, dass die Autoren von Psalmen – zum Teil aus Gründen der Poesie – gern mit assoziativen Verknüpfungen arbeiten. Didaktisch ist es immer hilfreich, wenn Denkstrukturen eines Textes und jene von Leserin bzw. Leser sich im Bereich der Assoziation treffen. Allerdings fordert ein bewährter Grundsatz jeder philologischen Arbeit, die Texte in ihrer je eigenen Struktur zu belassen. Die Verfasser der Psalmen verwenden jene ausdrucksstarken und in der existenziellen Wirklichkeit tief verwurzelten Bilder. Aber diese stehen in den Texten nicht isoliert. Sie sind vielmehr mit anderen, das Sein der Menschen beschreibenden Wendungen verbunden. Das ist zum Beispiel bei der poetischen Parallelstruktur der Psalmen – Parallelismus membrorum – der Fall. Um in diesem Widerspruch nicht in die Situation eines unauflöslichen Dilemmas zu geraten, müssten die beiden Auslegungsformen – ganzer Text und eine einzige, kurze Wendung – wechselseitig für einander offen gehalten werden. Das geschieht in nicht wenigen der hier vorgestellten Fälle. Für Kinder und Jugendliche, denen wir im Unterricht begegnen, existiert diese Frage in entsprechender Weise. Es ist ausgezeichnet, dass in dem von Beate Leßmann herausgegebenen, reichhaltigen und anregenden Buch solche Fragen nicht vorschnell entschieden, sondern der Leserin und dem Leser in großer Offenheit vorgelegt werden. Solche Offenheit ist in sich ein Vorbild für guten Unterricht. In dieser Offenheit werden Schülerinnen und Schüler einen angemessenen Umgang mit Religion lernen. Die Sprache der Religion und ihre Verankerung in der menschlichen Existenz sind wichtige Hilfen bei solcher Erkundung. Dies ist nicht einfach ein weiteres Buch über Psalmworte im Unterricht. Es handelt sich um eine Gemeinschaftsarbeit, die in der Thematik ein großes Stück weiter führt. Denn damit liegt ein Buch vor, dem viele Leserinnen und Leser zu wünschen sind. Es verdient nachhaltige Wirkung auf religionspädagogische Theorie und Praxis. 1 Der Herausgeberin wird in dem Gedanken zugestimmt, dass Übertragungen der Beispiele auf die kirchliche Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, aber auch mit Gruppen von Erwachsenen ohne weiteres möglich sind. Um der besseren Lesbarkeit dieser Besprechung willen wird dies jedoch weder im einzelnen ausgeführt noch häufiger angemerkt. Herbert Schultze Andreas Heinrich Bühler Der Namaaufstand gegen die deutsche Kolonialherrschaft in Namibia von 1904 bis 1913, IKO-Verlag, Frankfurt/M. – London 2003, 435 S., ISBN 3-88939-676-3, 42,90, vierf. Paperback Der Autor, der als Soziologe längere Zeit in Namibia gelebt hat und dort während der Unabhängigkeitsbewegung mit der SWAPO sympathisierte, legt mit dem Buch seine Dissertation vor. In der mit beinahe 2000 Anmerkungen versehenen Arbeit macht er sich auf die Spurensuche nach den Ursachen und Auswirkungen des Widerstandes der Völker im heutigen unabhängigen Staat Namibia während der deutschen Kolonialzeit. Die Kenntnis- und Begriffsverwirrung 47 'bb' 106-1/2004 über vor und während der Kolonialherrschaft im damaligen Deutsch-Südwestafrika lebenden Völker ist in der heutigen Geschichtsschreibung nach wie vor groß. In Walter Nuhns Buch „Sturm über Südwest“ (2002), in dem er über den Hereroaufstand von 1904 als „düsteres Kapitel der deutschen kolonialen Vergangenheit Namibias“ schreibt, nennt er als „Eingeborenenstämme“ die Ovambo, Herero, Hottentotten, Baster und Buschmänner. Bei der Unterscheidung der einzelnen Völker wird bis heute keine kulturelle und ethnologische Differenzierung vor genommen, wie z. B. der Titel einer Hörfunksendung des DeutschlandRadio Berlin „Hottentotten. Der Herero-Aufstand 1904 in Deutsch-Südwestafrika, von Ursula Trüper (12.1.04) zeigt. Über den so genannten“ Herero-Aufstand, der sich in diesem Jahr zum einhundertsten Mal jährt, gibt es mittlerweile eine Reihe von populärwissenschaftliche Veröffentlichungen; über den so genannten Nama-Aufstand, der von 1904 bis 1913 fast zehn Jahre dauerte, finden sich bisher wenige Forschungsberichte. Die Nama, die eine Untergruppe der Hottentotten bilden, sind, nach Nuhn, „eine separate, schwer einzuordnende Rasse kurzwüchsigen, mongoliden Typs, die sogenannte Khoisan-Rasse, deren sprachliche Eigentümlichkeit die Schnalzlaute sind“. Im Lexikon-Eintrag (Das Bertelsmann-Lexikon in zehn Bänden, Bd. 4, 1973, S. 371) lesen wir: „Hottentotten, ein nomad. Hirtenvolk mit jägerischem Einschlag, das mit den Kap-H., Ost-H., Korana und Nama weite Teile Südafrikas bewohnte, aber durch Verdrängung, Kriege... und Bastardisierung nahezu ausgerottet ist, bis auf rd. 44.000 Nama, meist in Reservaten Südwestafrikas. Kulturelle Ähnlichkeiten, bes. im Religiösen, deuten auf Beziehungen zu den Buschmännern“. Der Begriff „Hottentotten“ geht uns heute allerdings nicht so leicht über die Lippen, weil er im deutschen (kolonialen und nachkolonialen?) rassistischen Sprachgebrauch angewandt wurde. Die wissenschaftliche Spurensuche nach dem deutschen Imperialismus und Kolonialismus ist schwierig, wie in einem Ausstellungskatalog des Afrikahauses Sebnitz zu lesen ist; und sie bedarf eines natürlich objektiven, behutsamen Vorgehens. A. H. Bühler dürfte dies mit seiner Forschungsarbeit gelungen sein. Dem Autor fällt zuerst einmal auf, dass es in der bisherigen Aufarbeitung der Kolonialgeschichte DeutschSüdwestafrikas, im heutigen Namibia, zwar eine Reihe von Arbeiten zum „Herero-Aufstand“ (1904) gebe, aber keine zum langjährigen Aufstand im Nama-Land. Die Aktenlage zur Geschichte des Nama-Aufstands sei schwierig, aber bei entsprechendem Aufwand hervorragend, so Bühler. Es gelang ihm, die o.a. zahlreichen Quellenmaterialien aus staatlichen Archiven in Namibia, Missionsbibliotheken dort, in Südafrika und Deutschland und aus mehreren Privatsammlungen zusammen zu tragen. Der Urenkel des legendären Namaführers, Captain Reverend Dr. Hendrik Witbooi, stellte ihm sogar eine Kopie des Tagebuchs seines Urgroßvaters Hendrik Witbooi zur Verfügung. Bei der Aufspürung nach den Ursachen der Aufstände der einheimischen Bevölkerung, sowohl der Herero, als auch des Nama-Volkes, kristallisiert sich aus der Quellenlage heraus, dass besonders deren völlige Abhängigkeit von den deutschen Kolonialherren sie zum Widerstand trieb: Wegnahme von Land und Weidegebieten, herrenvölkischer und rassistischer Umgang, Ausbeutung durch weiße Händler, Reservatspolitik. Der Umgang der damaligen Reichsregierung mit den Aufständischen, ihre rigorose, kompromisslose und nicht zuletzt herrische und imperiale Machtpolitik, habe entscheidend zur Eskalation beigetragen, wie August Bebel von 48 den Sozialdemokraten im Reichstag am 9.5.1904 zusammen fasst: „...eine ganz und gar skrupellose Gewinnsucht einzelner und ganzer Erwerbsgenossenschaften, insbesondere direkter betrügerischer Kauf und Verkauf, ... rigoroses Schuldeneintreiben, ... Rechtlosigkeit der Hereros (und der anderen Völker, J. S.) in sehr vielen Fällen, wo das Recht klar auf ihrer Seite stand, ... Selbsthilfe der Weißen dort, wo der Herero etwas beging, was sie glaubten sich nicht gefallen lassen zu dürfen, körperliche Mißhandlungen der allerschlimmsten Art, vielfach auch Tötung einzelner Hereros... sittlichen Verfehlungen der Weißen gegen Hererofrauen... in sehr hohem Grade der Schnaps, der in ungeheuren Mengen dort eingeführt wird, an der psychischen und moralischen Degeneration der Eingeborenen gearbeitet... die Verbitterung der Eingeborenen aufs höchste gefordert worden durch die weitgehende Beschlagnahme ihres Grund und Bodens, die Wegnahme ihrer besten Ländereien“. Die Entsendung von Generalleutnant v. Trotha als militärischer Befehlshaber in der Kolonie, und damit die Entmachtung des damaligen Gouverneurs Leutwein, machte zudem die unterschiedlichen Auffassungen sowohl im Reich als auch in der Kolonie über die Art und Weise deutlich, wie die koloniale Politik geführt werden sollte. Beim langjährigen Nama-Aufstand nahm der Repräsentant des Volkes, Kapitän Hendrik Witbooi, eine Schlüsselposition ein. Er, der anfangs mit den Deutschen kooperierte und dessen Loyalität sich die Kolonialherren sicher glaubte, vor allem auch, weil die Witboois beim Herero-Aufstand auf der Seite der Kolonialherren standen, führte den Widerstand an. Aus den Quellenmaterialien wird deutlich, dass insbesondere die Enttäuschung Witboois über die Kolonialpolitik der Deutschen zu seinem Gesinnungswandel beitrug: „In den letzten Jahren sah Hendrik Witbooi mit Besorgnis, wie sein Land immer kleiner wurde und eine Wasserstelle nach der anderen in die Hände der Weißen überging...“. Die unterschiedliche Interpretation des Schutzvertrages, den die Kolonisatoren mit dem Nama-Volk 1894 schlossen, war ein weiterer Grund zum Aufstand der Nama. Im Vertrag verpflichteten sich die Weißen, „die Gesetze und Sitten seines Landes zu achten und nichts dagegen zu tun“, während auf der anderen Seite der Kapitän für „Ruhe und Ordnung zu sorgen und (zu) gestatten, dass die Weißen im ... (Land) ungestört Handel (zu) treiben und Aufenthalt (zu) nehmen“ hatte. Die unzähligen Konflikte zwischen den Deutschen und den Nama, die ungerechte, rassistische Rechtssprechung und die Praktiken der Ausbeutung strapazierten schließlich die Geduld der Kolonisierten bis zum Zerreißen! SPD und Zentrum, vom letzteren vor allem der Abgeordnete Matthias Erzberger, griffen in der „Heimat“ immer wieder die verschiedenen Skandale und Fehlentwicklungen in der Kolonialverwaltung in Berlin, als auch in der Kolonie selbst, auf; Erzberger bezeichnete den Besitz der Kolonie in DeutschSüdwestafrika in einer Reichstagsdebatte gar als „nationales Unglück“. Wegen der Bereicherungsversuche, auch der monopolisierten Reederei Woermann aus Hamburg. Bismarck benutzte in diesem Zusammenhang gar den Ausdruck, dass die Kolonialpolitik dazu da sei, um Millionäre zu züchten. Die Einschätzung und die Einflussnahmen auf die verschiedenen militärischen und Verwaltungsaktionen der Deutschen in der Kolonie, vor allem während der Hereround Nama-Aufstände, waren seitens der kolonialen Verwaltungs- und Regierungsstellen und der Missionen kontrovers. So entwickelte sich seitens der Siedler wie des Gouverneurs eine massive Kritik an den Tätigkeiten und Zielen insbesondere der Rheinischen Mission; den evangelischen Missio- 'bb' 106-1/2004 naren wurde, im Gegensatz zum Verhalten der katholischen Mission, unpatriotisches Handelns vorgeworfen. So beklagt sich etwa ein deutscher Farmer 1905, dass gerade bei den kriegerischen Auseinandersetzungen die „christlichen Eingeborenen sich als die arbeitsscheuesten, verlogensten, frechsten und unehrlichsten unter ihren Stammesgenossen erwiesen haben“. Parteinahme für die Rechte der Afrikaner und die Anprangerung der Missstände und rassistischen Verhaltensweisen der Weißen durch die Missionare wurde von den Kolonialherren als verwerflich angesehen. Der Windhoeker Pfarrer Anz stellte 1904 in einem Leserbrief fest: „Wenn Mord und Totschlag, Misshandlungen mit Latten, Stöcken und Rhinozerospeitschen bis zur Bewusstlosigkeit, Schändigung der Frauen und Töchter der Hereros diejenige Kultur und Gesittung darstellen, die wir den Herero aufzudrängen suchen, dann ist es kein Wunder, dass sich das edlere und höhere sittliche Gefühl dieser Volksstämme gegen derartige Schändlichkeiten empört“. Eine besonders gravierende Maßnahme der Kolonialherren war es, die Anführer und Soldaten der Nama, die Hendrik Witbooi den Deutschen zu Beginn des Herero-Aufstandes als Kämpfer zur Verfügung gestellt hatte, mit dem Ausbruch des Nama-Aufstandes zu deportieren; zuerst in Swakopmund, dann in Togo und Kamerun; mit dem Ergebnis, dass durch die klimatischen und unmenschlichen Bedingungen der Haft ein Großteil der Betroffenen starb. In diesem Zusammenhang fällt auch der Begriff „Konzentrationslager“, wie denn auch die Zustände in den Internierungslagern die Bezeichnung „Todeslager“ verdienen. Nach der Niederschlagung des Nama-Aufstandes durch den Einsatz von ca. 14.000 deutschen Soldaten stellte sich für die Kolonialverwaltung wie für die deutschen Farmer die Entschädigungsfrage. Die Schäden, durch Viehraub und Vernichtung von Farmgebäuden wurde durch eine Regierungskommission auf ca. 12,5 Millionen Reichsmark geschätzt. Den afrikanischen Völkern wurden dafür große Stückzahlen des ihnen noch verbliebenen Viehs abgenommen. Dazu wurden große Teile des Stammlandes der namibischen Völker beschlagnahmt und als Farmland an deutsche Siedler verkauft. Von Trothas rigorose Kriegsführung und Rachegelüste obsiegten gegen die Bedenken des Gouverneurs Leutwein und des Ansiedlerkommissars Rohrbach: „Man ist hier, um wegen eines Landes Krieg zu führen, das deutscher Besitz geworden ist; aber wenn dieser Besitz nicht bloß aus totem Sand, Klippen und Dornbusch bestehen, sondern einen lebendigen nationalen Wert darstellen soll, so gehören eben die Ochsen und Kühe wie die Hereros, die sie für uns züchten sollen, zu ihm, und wenn dies lebendige Inventar an Mensch und Vieh einmal vernichtet ist, so nützt alle zivile und militärische Befehlsgewalt nichts mehr dazu, um es wieder ins Dasein zu rufen“. Auch im Reichstag kam seitens der SPD und des Zentrums Widerstand: „... was soll mit den Eingeborenen Südwestafrikas überhaupt werden, wenn ihnen das Land genommen wird? Sie würden gezwungen sein, auf den einzelnen Farmen als Viehhüter und Tagelöhner ihr Brot zu verdienen“. So bezeichnet Bühler denn auch die folgenden weiteren Maßnahmen der Kolonialverwaltung „eine moderne Art von Sklaverei im eigenen Land“. Durch die so genannten „Eingeborenenverordnungen“ wurden bereits 1905 Mischehen verboten, ab 1906 wurde allen Völkern, die nicht zu den Owambos gehörten, das Betreten des Owambolandes verboten; das Vermögen und Land der Aufständischenführer, Hendrik Witbooi, Simon Cooper, Samuel Maharero, Manasse Noroseb, sowie der Witboois, Bethaniers, Fransmanns, Veldschoendragers, Roten Nations und Bondelzwarts enteignet. Der neue Gouverneur von Lindequist führte ab 1907 weitere Maßnahmen durch: die „Maßregeln zur Kontrolle der Eingeborenen“, die „Verordnungen über Dienst- und Arbeitsverhältnisse“ und die „Verordnung über die Passpflicht der Eingeborenen“. Nun endlich, so Bühlers Fazit, konnte die Kolonisierung Namibias beginnen; ganz im Sinne eines zynisch wirkenden, in der Zeit aber als sehr real dargestellten Beitrags in der Deutsch-Südwestafrikanischen Zeitung: „Kolonisieren ist und bleibt eine Härte, eine Vergewaltigung, indem der eingesessenen eingeborenen Bevölkerung ihr Land und Besitz genommen wird; nicht durch Morden und Würgen wie in alten Zeiten, sondern durch zielbewusste kluge Politik. Der Eingeborene, der seinen Besitz verloren hat, der arm geworden ist, tritt in den Dienst des Weißen; dadurch, dass er den Segen der Arbeit kennen lernt, wird auch der Wechsel für ihn zum Segen...“. Wo bleibt das Lektorat, möchte man angesichts der doch zahlreichen Druck- und Setzfehler im Buch fragen. Dieser Mangel allerdings schmälert nicht die qualitativ und inhaltlich gute Arbeit von Andreas Heinrich Bühler. Er liefert damit einen weiteren, notwendigen Baustein in der Erforschung und Aufarbeitung eines der dunklen Kapitel deutscher Kolonialgeschichte. Die deutschen kolonialen Verirrungen, die sich dabei gezeigten Rassismen und Menschenfeindlichkeiten, müssen ans Tageslicht gebracht werden; genau so in den ehemaligen Kolonien Togo, Kamerun, Ostafrika, Neuguinea und Samoa. Obiora F. Ike / Ndidi Nnoli Edozien Afrika in eigener Sache. Weisheit, Kultur und Leben der Igbo, IKO-Verlag, Frankfurt/M – London, 2003, 195 S., 16,20; ISBN 3-88939-691-7 Die in der Reihe „Ezi Muoma – Afrika verstehen“ vom Fachbereich Katholische Theologie der Universität Frankfurt/M. herausgegebene Schrift des Professors für Sozialethik und afrikanische Studien, Leiters des Instituts für Entwicklung, Gerechtigkeit und Frieden und Generalvikars der Diözese Enugu, Obiora Francis Ike und des Managers Ndidi Nnoli Edozien, beide aus Nigeria, ist eine jener erfreulicher Weise in letzter Zeit zunehmenden Bemühungen von Afrikanern, ihre kulturellen Sichtweisen und Reflexionen in den internationalen Diskurs zu bringen. 1962, in den Zeiten der ersten Unabhängigkeitsjahre der meisten afrikanischen Länder, warnte der madagassische Schriftsteller und Politiker, Jacques Rabemananjara in einem Aufsatz über die „Kolonialzeit als Grundlage unserer Einheit“ die afrikanischen Völker: „Wenn uns der Westen nicht bis ins Mark mit seinen heimlich schwärenden Krankheiten infizieren soll, dürfen wir ... nichts mehr übernehmen und nichts mehr nachleben, was wir nicht selber durchdacht, geprüft und erfahren haben“. In den Zeiten der sich immer interdependenter entwickelnden Welt, den Problemen, die durch die Globalisierung vor allem für die Menschen im Süden der Erde sich aufdrängen, sind kulturelle Bestandsaufnahmen und Analysen, gewissermaßen als Folien für den interkulturellen Dialog, unverzichtbar. Die Autoren beginnen ihr Buch mit einer Massai-Erzählung, im Stil einer Fabel. Das ist nicht ungewöhnlich, um den afrikanischen Dialog zu beginnen; bildet doch die mündliche Überlieferung, in der Märchen, Sprichwörter, Gesänge und Geschichten ein über Jahrhunderte lebendiges Kommunikationsmittel sind (oder waren?), die Grundlage eines gemeinschaftsorientierten Zusammenlebens. Das Volk der Igbo besiedelt überwiegend die Küstenregionen des heutigen Nigeria, in Westafrika. Die menschheits- und sprachge- 49 'bb' 106-1/2004 schichtliche Herkunft des Igbo-Volkes lässt sich den BantuGruppen zuordnen, die ihren Ursprung im Großraum Sudan haben. Die kulturelle Entwicklung der Igbo unterscheidet sich von anderen Völkern der Region, so dass die Autoren von „Igbo-Konzeptionen“ sprechen, die sich in der Kunst, Religion und Religiosität, Ehe und Familie, Ahnenkult, Land, Besitz und Eigentum und in egalitären gesellschaftlichen Wertvorstellungen ausdrücken. In Anlehnung an die in der „Bantu-Philosophie“ des flämischen Paters Pacide Tempels formulierte „Lebenskraft“ (Energie) und an die Negritude Léopold Sédar Senghors erinnernde, gemeinschaftsstiftende Auffassung – „Ich bin, weil wir sind, und weil wir sind, bin ich“ – formulieren Ike und Edozien Werte, die sie als die „Spiritualität Afrikas“ bezeichnen: „Chi, einer Identität, an jedes Geschöpf – eine Seele, eine einmalige Bestimmung, die es frei und einmalig machte und durch die es Achtung verdient“. Das Geschenk Afrikas zum universellen, menschlichen und spirituellen Dialog seien Werte wie: Feiern, Lebensfreude, Lachen, Achtung der Frau, Vergebung, Versöhnung und Spiritualität. Aber ... die Erosion beginnt! Igbo-Land und das heutige Afrika insgesamt befänden sich am Scheideweg zwischen der Übernahme von (westlich beeinflussten) Modernisierungsentwicklungen und Bewahrung der traditionellen, gesellschaftlichen Strukturen. Das Plädoyer könne jedoch nicht lauten: Alles Moderne negieren, sondern sich „der Herausforderung stellen und die Welt für einen neuen geistigen Rahmen gewinnen, in dem eine rein afrikanische Wirklichkeit verankert ist“. Das Autorenteam unternimmt deshalb den Versuch, ihre Sprache und die kulturellen Ursprünge ihres Rechts zu reflektieren und zu definieren; das, was der Kenianer Henry Odera Oruka als „Sage Philosophy“ bezeichnet, in der ethische Verantwortlichkeit, soziale und historische Relevanz eine unabdingbare Verbindung eingehen. Sie drücken es aus in dem „traditionellen Gebet über die Oji (Kolanuss)“: „Was ein alter Mann im Liegen sieht: / Hat das ein junger Mann je besser gesehen, / Selbst wenn er auf dem höchsten Baum sitzt?..“. Im traditionellen Alltagsrecht nehmen die Igbo Gebetssprüche als Ausdruck ihres Rechtsund Gerechtigkeitsempfindens zu Hilfe, z.B.: Nke onye diri ya = Jede Person erhalte das, was ihr zusteht; Onye iro m diri, ma m diri = Möge mein Feind leben, aber ich auch; Ogburu onye n`onye ga-ala: Möge der, der tötet, dem Toten folgen; Njo na njo zu kwara = Möge Böses mit Bösem vergolten werden; Mma na Mma zu kwara = Möge Gutes mit Gutem vergolten werden; Egbe bere, Ugo bere = Möge der Milan auf der Stange sitzen, und der Adler auch. „Ala“, die Erde, hat im Igbo-Dasein eine besondere Bedeutung und drückt sich in vielen Kulten und Ritualen aus: „Der Glaube der Igbo an die Erdgöttin bestärkt die soziale Gerechtigkeit“; und „Ekwensu“, die Mächte des Bösen, stehen immer als verführerische Alternative zum „guten Leben“. Beschworen wird auch „Igwe Bu Ike“: Solidarität bedeutet Stärke. Sie setzen damit dezidiert einen Kontrapunkt zu den individualistischen und egoistischen Entwicklung, sowohl in der Igbo-, wie der WeltGesellschaft. Es gilt, das könnte die Botschaft des Buches sein, sich mit der Geschichte, Kultur, Philosophie und den alltäglichen Lebensweisen der Menschen in Afrika zu beschäftigen und sich auf die Suche nach authentischen und bleibenden Werten zu machen, um der Erosion der afrikanischen Integrität Einhalt zu gebieten. Der Dialog zwischen den Kulturen ist hierbei ein probates Mittel, um Ethno-, Euro- und Germanozentrismen aus unseren Köpfen zu bringen; gleichzeitig es den Afrikanern zu ermöglichen, ihre eigenen kulturellen Identitäten sich und uns bekannt zu machen – damit die 50 Miss-Entwicklungen, die Aimé Césaire in einem Brief an Maurice Thorez 1956 an die Wand malte, nicht eintreten: „Es gibt, für die Afrikaner, zwei Arten sich zu verlieren: durch Einmauerung im Partikularen, oder durch Auflösung im Universellen“. Deshalb: „Chukwo Gozie Afrika – Gott (und die Menschen) mit dir!“ Das Buch „Afrika in eigener Sache“ liefert, so nebenbei, eine Reihe von Texten, die als Unterrichtsmaterial verwendet werden können: Sprichwörter, Märchen, Fabeln, Geschichten. Die Interpretationen, die die Autoren im Sachzusammenhang mitliefern, ermöglichen es, sie didaktisch einzusetzen. Thomas Ducks Von weißen Wilden und wilden Weißen. Facetten der europäisch-überseeischen Begegnung; IKO-Verlag, Frankfurt/M. – London 2003, 103 S., ISBN 3-88939-679-8 Nationale und internationale Konflikte haben ihre Ursachen nicht selten in nationalen und kulturellen Höherwertigkeitsvorstellungen, Ethnozentrismen, Fremdenfeindlichkeit, Rassismen und Fundamentalismen. In der Zeit, in der die Staaten der Erde und die Menschen sich in ihrem kulturellen Denken und Handeln immer interdependenter entwickeln, auf wirtschaftlichen, politischen, humanen und nicht zuletzt kulturellen Gebieten, ist es notwendig, von der Grundlage der eigenen kulturellen Identität aus einen interkulturellen Perspektivenwechsel zu vollziehen und eine Kompetenz für ein globales, gleichwertiges Bewusstsein zu erwerben. Der Ethnologe, Politologe und Journalist Thomas Ducks bietet dazu in dem dünnen Bändchen gewichtige Argumente und gehaltvolle Informationen an. Der Ethno- und Eurozentrismus hat im Laufe der Geschichte in vielfältiger Weise -ismen erzeugt, die sich in der Macht von Menschen über Menschen darstellen. Vermeintlich „höherwertiges“ Denken herrschte über „primitives“ und brachte Sklavenhandel, Kopfjagd (vgl. dazu: Martin Baer / Olaf Schröter, Eine Kopfjagd. Deutsche in Ostafrika, Ch.LinksVerlag, Berlin 2001), Imperialismus und Kolonialismus hervor. Ducks beginnt seine Schrift mit einer Provokation: Was wäre, wenn die „anthropologische Gesellschaft auf Honolulu“ an den deutschen Reichskanzler das Ansinnen gerichtet hätte, eine Anzahl typischer Schädel aus Deutschland, z. B. Keltenschädel, wendische Schädel, bayerische Schädel..., für Forschungszwecke zur Verfügung zu stellen? Und doch waren Schädelmessungen und andere höchst zweifelhafte anthropologische Methoden in der so genannten „KolonialEthnologie“ alltäglich und bestimmten nicht nur den wissenschaftlichen Diskurs, sondern selbstverständlich auch die Einstellungen und Auffassungen des Großteils der Europäer. Der Autor zeigt, wie in einem historischen Defilee mit Aktualitätsbezug, verschiedene Daten auf, die zur „kolonialen Weltordnung“ führten, in Amerika, Afrika und Asien. Neben einer Reihe von rassistischen, imperialistischen und kolonialistischen Anlässen, entdeckt er auch einige positive Bemühungen, wie sie etwa beim First Universal Races Congress im Juli 1911 in London, bei dem sich Wissenschaftler aus allen Erdteilen darum bemühten, den Trend umzukehren und „universale Menschlichkeit“ forderten; die jedoch in den Vorzeichen zum Ersten Weltkrieg keine Chance hatten. In einer kulturgeschichtlichen Erwiderung auf die unsägliche und rassistische Parole „Deutschland den Deutschen“ erinnert er in zahlreichen Beispielen daran, dass wir geworden sind, was wir sind, durch Kulturaustausch – und -einflüssen von anderen Denkweisen auf unsere eigenen Kulturen. Unser 'bb' 106-1/2004 Bild vom Fremden ist geprägt von Stereotypen, an denen wir festhalten, als wolle man uns ein Spielzeug wegnehmen, formuliert Susan Arndt in ihrem Buch „AfrikaBilder. Studien zu Rassismus in Deutschland (2001) das Problem. In zwei Thesen stellt Ducks die aktuelle gesellschaftliche Situation so dar: Europa und Außereuropa seien seit 1492 geteilte Andere, in der Gegenüberstellung von „Primitiv“ und „Zivilisiert“. Diese geteilte Vergangenheit sei bis heute nicht aufgearbeitet; und: Trotz der Aufklärung habe sich in Europa bisher kein nennenswertes Interesse an einem interkulturellen Dialog entwickelt. Über das „Anschauen“ von unserer eigenen hohen Warte der kulturellen Überlegenheit aus, seien wir bisher nicht zu einem ganzheitlichen, globalen Bewusstsein gelangt. Von den „Völkerschauen“ in den Tierparks um die Jahrhundertwende, der Zurschaustellung der „Wilden“, bis hin zur heutigen Unfähigkeit, historische Schuld einzugestehen, etwa während der deutschen Kolonialzeit – in diesem Jahr jährt sich zum einhundertsten Mal der Völkermord an den Hereros und Namas in der damaligen deutschen Kolonie Südwestafrika (Namibia). Durch den Vergleich von ausgewählten Sitten und Gebräuchen aus verschiedenen Kulturen liefert er interessante Aspekte für den notwendigen Diskurs zur Erreichung einer interkulturellen Kompetenz („Fettnäpfchen-Pädagogik“). Sein „Brief an die Heimat“ ist eine köstliche Persiflage und gleichzeitig eine satirische Meisterleistung: Im Stil der bekannten „Blickwechsel-Literatur“, etwa Hans Paasches Briefe des Afrikaners Lukanga Mukara aus Deutschland an seine Landsleute, hält er uns einen wahrhaftigen Spiegel vor über unsere „Wirklichkeiten“ und die Diskrepanzen zu unseren vermeintlichen und normativen Ansprüchen: „Ausländer bereiten vielen Deutschen ein Gefühl des Unbehagens. Am liebsten wären sie nur unter sich. Nicht wenige Bürgerinnen und Bürger in Deutschland sind nämlich der festen Überzeugung, dass Verschiedenheiten die Menschen immer trennen müssen und niemals verbinden können...“. Den Schluss des Bändchens bildet eine kluge Auseinandersetzung um die Tendenzen, kulturelle Werte zu relativieren, besonders im Zusammenhang mit der Durchsetzung der Menschenrechte auf der Erde. Die Schrift ergänzt auf amüsante, kompetente und lehrreiche Weise die zum Glück in den letzten Jahren intensivere Diskussion darüber, wie in den Zeiten der Globalisierung das „Eine-Welt-Bewusstsein“ bei allen Menschen auf der Erde gestärkt werden kann. Wir müssen bei uns damit anfangen! Gregor Lang-Wojtasik / Claudia Lohrenscheit (Hg.) Entwicklungspädagogik – Globales Lernen – Internationale Bildungsforschung; IKO-Verlag, Frankfurt/M. – London 2003, 353 S., 24,80, ISBN 3-88939-675-5 Es gilt, eine gewichtige und innovationsausgreifende Initiative vorzustellen, die 1978 von Alfred K. Treml, heute Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität der Bundeswehr in Hamburg, angeschoben wurde: Es gibt, so schrieb er seinerzeit, kein einziges, regelmäßig erscheinendes Blatt, das sich schwerpunktmäßig mit den Themenbereichen von Entwicklung und Entwicklungsproblemen befasst. Eine Zeitschrift musste also her, um den Diskurs in Gang zu bringen, was Entwicklung in unserer Gesellschaft und in denen der Welt für eine Bedeutung habe(n) solle und wie in der Pädagogik und Bildungsarbeit mit dem „Entwicklungsbegriff im Wandel“ umzugehen sei. Die „Zeitschrift für Entwicklungspädagogik“ (ZfE) war geboren, die heute „Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik“ (ZEP) heißt. Aus Anlass des 25jährigen Bestehens haben Dr. Gregor Lang-Wojtasik, Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik an der Universität Erlangen-Nürnberg, und Dr. Claudia Lohrenscheit, interkulturelle Pädagogin an der Universität Oldenburg und jetzt Mitarbeiterin des Deutschen Instituts für Menschenrechte, Berlin, den o.a. Sammelband herausgegeben. Aus der Vielzahl der im Laufe der 25 Jahre in der ZEP erschienenen Beiträge haben sie 25 Texte ausgewählt. Sie ordnen sie ein in die Bereiche: „Zur Theorie der Entwicklungspädagogik“, „Globales Lernen in konzeptionellen Offerten und pädagogischen Handlungsfeldern“ und „Internationale Bildungsforschung“. Entwicklungspädagogik als Begriff und (Bildungs- und politische) Aufgabe hat besonders in der Zeit, in der die Länder und Regionen der Erde – und damit auch die Menschen – immer interdependenter zusammenwachsen, kollidieren oder ohnmächtig über sich ergehen lassen (müssen), eine neue Bedeutung gewonnen. Widerstand oder Mitspielen der Globalisierungstrends und -tatsachen, die auf allen Lebensgebieten die Menschen dieser tangieren, stehen im Widerstreit des Diskurses. Andreas Novy (Entwicklung gestalten, 2002) gibt dazu seinen Rat: „Wir werden das Spiel spielen müssen und es gleichzeitig nicht akzeptieren – und es nicht akzeptieren, indem man es anders spielt“. Jean Zieglers Kritik am „Dschungelkapitalismus““ (Die neuen Herrscher der Welt und ihre globalen Widersacher, 2002) ist anderer Art: „Die brüderliche und solidarische, freiere und gerechtere Zivilgesellschaft, die auf einem von allen Beutejägern befreiten Planeten entstehen wird – sie ist im Werden begriffen. Wie sie aussehen wird, vermag niemand zu sagen“. Damit diese „Eine Welt“ humaner, gerechter, friedfertiger und demokratischer sich entwickelt, ist Lernen als Möglichkeit zur Verhaltensänderung erforderlich. Im Diskurs der ZEP heißt dieser Bildungsauftrag „Globales Lernen“, was dann bedeutet, „globale Probleme in komplexen Zusammenhängen pädagogisch so zu vermitteln, dass die Lernenden ermutigt werden, Globalisierung kompetent zu gestalten“. Gegen die „Pax americana“ oder die „Pax Nordesia“, als bisheriges Kennzeichen der „geteilten Welt“, in die nördliche Hemisphäre mit Wohlhabenheit und Industrialisierung, und in die südliche der „Habenichtse“, gilt es ein Bewusstsein zu entwickeln für eine „weltbürgerliche Erziehung“ und „Erziehung zur internationalen Verständigung“ (Klaus Seitz). „Allen Kulturen ist die Hoffnung auf (eine gerechtere und friedvollere) Zukunft zu eigen“, dieses Paradigma des leider viel zu früh verstorbenen Gottfried Mergner, eines der wichtigen Motoren der internationalen Bildungsforschung, ist heute aktueller denn je; geht es doch darum, in den Zeiten der Hegemonalmächte das Bewusstsein dafür zu schärfen und mit befördern zu helfen, die Entfremdungen zwischen den Kulturen aufzuheben und die Mentalitäten zu dekolonisieren. Amüsant Barbara Töpfers den in der zeitweisen ZEP-Rubrik ZEPpelin 1996 veröffentlichten Zwischenruf „...der blinde Fleck der eigenen Lehre“ (des eigenen Tuns!) nachzulesen. Solche individuell-hintergründigen Reflexionen finden sich heute leider kaum noch in Fachzeitschriften, auch nicht in der ZEP; genau so wenig wie Alfred Tremls Notizen im entwicklungspolitischen Tagebuch. Die ZEP-Redaktion sollte solche „Zeitzeichen“ wieder in das Heft hinein nehmen. Ein wichtiges Paradigma im interkulturellen, globalen Diskurs ist die kritische Reflexion der eigenen Kultur und des eigenen individuellen und gesellschaftlichen Handelns. Solche „Wege kultureller Selbstreflexion“ (Renate Nestvogel) und der damit als Aufklärungsaufgabe einzufordernder Perspektivenwech- 51 'bb' 106-1/2004 sel als Bestandteil einer interkulturellen Kompetenz benötigen der Beförderung in der pädagogischen, theoretischen und praktischen Diskussion. „Kindheit ist nicht kinderleicht“ (Ulrich Klemm), hier bei uns nicht – und schon gar nicht in den Ländern des Südens der Erde. Das Verdienst der Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik (ZEP), die sicherlich auf den Gebieten des Interkulturellen und Globalen Lernens d a s kompetente Sprachrohr, Anregungs- und Innovationsinstrument in Deutschland darstellt, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die bisherigen 25 Jahre stellen eine solide Grundlage dar für weitere Jahrzehnte des Bestehens. Der von Lang-Wojtasik und Lohrenscheit vorgelegte Sammelband sollte überall da in den Bücherregalen und Handapparaten stehen, wo darüber nachgedacht wird, wie wir gemeinsam das Leben auf unserer Erde, in der Gegenwart und Zukunft humaner, gerechter und demokratischer für alle Menschen unserer EINEN WELT mit gestalten können. Wolfgang Sander Politik in der Schule. Kleine Geschichte der politischen Bildung in Deutschland, Schüren-Verlag, Marburg 2004, 175 S., 16,90 Euro, ISBN 3-89472-271-1 Politik als Fach, als fächerübergreifende Bildungsaufgabe wie auch als Unterrichtsprinzip ist heute nicht mehr umstritten. Auch die politische, gesellschaftliche Erziehung und Bildung von Kindern und Jugendlichen gehört seit der Einführung des neuzeitlichen Schulwesens in Deutschland zu den unverzichtbaren curricularen Bestandteilen des Lehrens und Lernens in der Schule. Wolfgang Sander, Didaktiker für Gesellschaftswissenschaften an der Justus-Liebig-Universität Gießen, Mitbegründer der Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung (GPJE), Chefredakteur der Zeitschrift kursiv - Journal für politische Bildung und Autor verschiedenen Veröffentlichungen zur politischen Bildung, will die Schrift als eine Einführung in die Geschichte der schulischen politischen Bildung in Deutschland verstanden wissen. Dabei beginnt er in seiner Darstellung mit der politischen Situation im 16. und 17. Jahrhundert; wobei er sich in seiner Systematik eng an die Ereignisse der politischen Geschichte, mit dem Blick auf die Entwicklung der schulischen Bildung, anlehnt. Die klug ausgewählten Text- und Illustrationsbeispiele ermöglichen es dem Leser, die notwendigen Parallelen von der institutionalisierten Erziehung zu Aufklärungspädagogik zu ziehen, also von den der Erkenntnis vom „Eigenrecht des Kindes und der Kindheit, die im Kind nicht länger nur einen kleinen Erwachsenen erblickte und die die individuelle Lebensgeschichte des Menschen als durch Erziehung beeinflussbaren Prozess erkannte“, bis hin zur Einrichtung von Volks- und Elementarschulen in jener Zeit. Die eigentliche Geburtsstunde der politischen, schulischen Bildung datiert Sander in die Zeit der Französischen Revolution und die sich daraus entwickelnde Bildungspolitik in Preußen. Von 1871 bis 1918, im deutschen Kaiserreich also, wirkten zwei Entwicklungskräfte auf das Bewusstsein ein, dass zur Allgemeinbildung des Menschen auch die politische Kompetenz gehört: Die mit der Industrialisierung einhergehende Modernisierung des gesellschaftlichen Lebens, und die durch die Bildung des neuen Nationalstaates notwendige soziale Integration der Gesellschaft. Diese im politischen und hierarchischen Kräftespiel nicht unumstrittene Auffassung vom homo politicus wurde in der Weimarer Verfassung, Art. 52 148, fest geschrieben: „In allen Schulen ist sittliche Bildung, staatsbürgerliche Gesinnung, persönliche und berufliche Tüchtigkeit im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung zu erstreben“. Staatsbürgerkunde und Arbeitslehre wurden als ordentliche Lehrfächer in den Schulen eingeführt. Doch bereits hier klafften zwischen dem Verfassungsanspruch und der schulischen Wirklichkeit Lücken; z. B. heißt es in den Bestimmungen für die preußische Mittelschule 1925: „Für die Staatsbürgerkunde sind besondere Stunden im Lehrplan nicht anzusetzen. Sie ist vielmehr mit dem Geschichtsunterricht aufs engste zu verbinden“. Der ideologisierten Politisierung während der Zeit des Nationalsozialismus folgte schließlich die von den Siegermächten veranlasste „Umerziehung“ der Bevölkerung hin zu demokratischem, in den Besatzungszonen des Westens, und sozialistischem Denken und Handeln, in der sowjetisch besetzten Zone. Die Gegenüberstellung der politischen schulischen Konzepte und Curricula in den Schulen in der BRD auf der einen Seite und denen in der DDR auf der anderen, bringt eine Reihe von bedenkens- und aufhebenswerten Aspekten zu Tage; etwa, wie die „Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit“ eingebunden war in eine, die gesamte schulische Erziehung und Bildung umfassende „Weltanschauungsideologie“; und den Schwierigkeiten, fachliche Profilierung und Professionalität in der schulischen politischen Bildung zu etablieren. Erst Anfang der 60er Jahre bildete sich eine eigenständige Fachdidaktik Politik, die sowohl auf die schulische Curriculumentwicklung Einfluss hatte, als auch auf die Hochschule, mit der Politikwissenschaft als wissenschaftliche Disziplin: „Der Mensch ist von Natur aus zoon politikon“ (Kurt Gerhard Fischer). Die „kleine Geschichte der politischen Bildung in Deutschland“ endet heute. In der derzeitigen politikdidaktischen Theorie- und Praxisdiskussion geht es darum, das „genaue Hinsehen und Hinhören“ als politische Kompetenz zu vermitteln, und die Lehrenden instand zu setzen, „Lernumgebungen“ zu planen, die ein Lernen, im Sinne von Verhaltensänderung, ermöglichen. Eine so verstandene „politikdidaktische Diagnostik“ aber bedarf eines Schulsystems und einer Schulorganisation, die nicht (mehr) den „zerstückelten Schüler“ produziert, der in der ersten Stunde Mathe, in der zweiten Religion, in der dritten Deutsch, in der vierten..., fachhäppchenweise vorgesetzt bekommt, sondern der politische, gesellschaftliche und andere Zusammenhänge erkennen kann und sich selbst als Individuum als ein Teil einer Gemeinschaft der Menschheit verstehen lernt. In der Schrift fehlt leider die Auseinandersetzung um die Bedingungen in der heute und morgen sich immer interdependenter sich entwickelnden Welt. Die „Zeit der Globalisierung“ und die auf den Einzelnen wie auf die regionale, nationale und internationale Gemeinschaft einwirkenden Kräfte und Mächte, erfordern auch von der schulischen und außerschulischen politischen Bildung neue Überlegungen, damit die allenthalben zu beobachtende „Politikmüdigkeit und -resignation“ nicht zu einer Demokratie gefährdenden Entwicklung wird. So sollte sich künftig die Politikdidaktik meines Erachtens stärker den Aspekten eines ganzheitlichen, globalen Lernens zuwenden, und - nicht zuletzt - auch für eine (neue) Curriculum- und Schulsystemreform eintreten. Das Buch „Politik in der Schule“ kann als Kompendium Studierenden und LehrerInnen und all denen, die an der Emanzipation der Bildung für die kulturelle und interkulturelle Identitätsentwicklung der Menschen interessiert sind, wertvolle Anregungen bieten. Jos Schnurer 'bb' 106-1/2004 inhalt 'bb' 106-4/2003 liebe leser 1 meditation „weil die welt, umgeben von der weisheit gottes, gott durch ihre weisheit nicht erkannte, gefiel es gott wohl, durch die torheit der predigt selig zu machen, die daran glauben.“ 2 u-entwurf: menschen fragen nach gott 4 christliche orthodoxie im unterricht 10 fachbeitrag: islam im deutschen alltag religiosität im leben türkischstämmiger jugendlicher 16 ein kreuz wird zum lebensbaum hoffnung gestalten im religionsunterricht der grundschule – wie lässt sich das schwierige thema „abschied nehmen“ mit seinen unterschiedlichen aspekten kindgerecht aufbereiten? 21 ironie und humor annäherungen aus linguistischer und kommunikationswissenschaftlicher sicht 25 fachbeitrag: bibel und moderne gesellschaft 33 fachbeitrag: wiederkehr der erziehung? zu lebenswelten jugendlicher und (religions-) pädagogisch notwendigen perspektiven heute 37 buch- und medientipps 46 heiko lamprecht werner thiede bernhard brennecke-betschel hans-georg babke necla kelek u-entwurf: malte stoffel fachbeitrag: jörk kilian friedrich weber hans-martin gutmann