Tschechow Onkel Wanja

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Tschechow Onkel Wanja
Tschechows Onkel Wanja in den Kammerspielen München
Regie: Johan Simons
Onkel Wanja habe ich schon gesehen, vor sehr langer Zeit allerdings,
ich erwarte keine großen Überraschungen, freue mich einfach auf
das Spiel der Akteure, freue mich, dass sie für mich arbeiten
werden.
Doch dann ist die Überraschung groß. Ein winziger Bühnenraum, ein
Guckkasten, so schmal, dass gerade alle Schauspieler nebeneinander
Platz haben, so tief, dass sie eben aneinander vorbeikommen, das
Ganze einen guten Meter über dem normalen Bühnenboden, von dem
nur ein schmaler Streifen übrig bleibt. Dort spielt und singt die
Musikantin, russisch, mit viel Gefühl. Sie wiederholt in größeren
Abständen Texte und Melodien, so dass man am Ende (aber erst am
Ende) sicher ist – auch ohne ein Wort verstanden zu haben – dass
diese Untermalung des Bühnengeschehens der reinste Kitsch
gewesen sein muss.
Wanja ist extrem korpulent, die Bewegungen sind zäh und träge, die
Stimme hat eine weinerliche Färbung. Anfangs erträgt er die
Unverschämtheiten seines wesentlich älteren Schwagers, des auf das
Gut zurückgekehrten Besitzers. Er und Sonja, dessen Tochter aus
erster Ehe, haben das Gut in Schuss gehalten, nun klagt der
Schwager, der das Pech hat, an Gicht zu leiden und Beine und Arme
stets ruckartig bewegt, über alles und jedes. Wanja fühlt sich
missachtet, ausgebeutet, ja ignoriert. Sonja wird etwas abgelenkt
von diesem Hauptproblem der Familie, denn sie ist in den Arzt
verliebt, der fast ein Dauergast auf dem Gut geworden ist, auch
wenn er stets behauptet, nun aber unbedingt sofort abfahren zu
müssen. Doch der Arzt interessiert sich nicht für sie, hat sie als
hässlich abgestempelt, berührt sie nur versehentlich, knuffend oder
sie auf die Schulter klopfend (worüber sie momentan unsäglich selig
ist, sie stellt jede Berührung nach). Er vollführt eine Art Bauchtanz,
eine Ganzkörperbewegung, die seine Betrunkenheit und seine
Verwirrtheit angesichts der jungen zweiten Frau, des greisen
Gutsherrn widerspiegelt. Diese flirtet mit atemberaubend winzigen
Gesten und Blicken vor allem mit ihm und macht auch Wanja unruhig,
falls unbedingt nötig, wendet sie sich ihrem Gatten zu. Sie
durchstreift ihr Jagdrevier, umgarnt den Arzt mit einer Art
Ringelreigentanz, in den sie ihn mit hineinnimmt. Der Nachbar mit
dem Spitznamen Streuselkuchen – wegen seiner Pockennarben steht einfach nur in der Gegend herum (oder im Weg), er ist eine Art
Katalysator, aber auch ein Pol der gerade noch gewahrten Normalität
in dieser verrückten Familie. Die Oma (von einem Mann sehr
überzeugend gespielt) versucht vergeblich, sich einzumischen, sie will
die Streitenden beschwichtigen, aber ihr gelingt es nicht einmal, sie
am Ärmel zu zupfen, ständig tritt sie auf ihre viel zu lange Schleppe.
Hier kann sich nichts entwickeln, die Familie verharrt in
Grabenkämpfen, keine Liebschaft mag entstehen, die Komplexe
vertiefen sich, nicht einmal das Streiten funktioniert (zwei Schüsse
lösen sich auf dem Höhepunkt des Zorns, doch ohne irgendwen zu
treffen). Eine zähe Langeweile breitet sich aus, eine Verzweiflung,
eine tödliche Erschlaffung. Am Ende könnte alles von vorne beginnen
wie die Lieder der Sängerin.
Auf engstem Raum entfalten die Schauspieler minimalistisch ihr
Körperspiel (der Arzt stürzt sogar einmal aus dem Guckkasten
heraus auf die Vorbühne), das den Zuschauer in Atem hält und in den
wechselnden Konstellationen zwischen den Figuren immer wieder neu
verblüfft.
Es gibt keinen Dekor, keine Requisiten (es wäre ja auch kein Platz
dafür vorhanden): die Körper stehen sich stets direkt gegenüber,
kein Abstand kann ihnen Sicherheit geben, kein Rückzug ist möglich.
Die Kostüme sind so, als gäbe es den Feudalismus und die Isolation
solch beschränkten Lebensraums auch heute noch: schäbige,
einfallslose Gegenwartskleidung. Nur die Verführerin darf ein
hinreißendes rotes Ballkleid tragen.

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