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CHRISTIAN HILLER VON GAERTRINGEN
DER SCHÖNE SCHEIN
Warum Geld doch nicht schmutzig ist
INHALT
Einleitung
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Kapitel 1: Geld ist uralt
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Kapitel 2: Geld ist belastend
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Kapitel 3: Geld ist magisch
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Kapitel 4: Geld ist eine Frage der Religion
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Kapitel 5: Geld ist ein Tauschmittel
79
Kapitel 6: Geld ist Energie
113
Kapitel 7: Geld erzeugt Gefühle
135
Kapitel 8: Geld verursacht Schuld und Schulden 163
Kapitel 9: Geld kann Angst machen
185
Kapitel10: Geld ist nicht schmutzig
199
Literatur
226
Der Autor
230
EINLEITUNG
Über Geld spricht man bekanntlich nicht. Oder doch?
Geld ist mit so vielen Tabus, Verboten, moralischen Vorstellungen und Schuldgefühlen belegt, dass es vielen nicht
leichtfällt, über Geld zu reden. Doch es lohnt sich, genau
dies einmal zu tun. Lassen Sie uns über Geld reden.
Die wenigsten von uns haben sich jemals mit Geld auseinandergesetzt, sich gründlich mit ihren privaten Finanzen
beschäftigt, die grundlegenden Zusammenhänge des
Finanzgeschehens studiert oder über ihr Verhältnis zu Geld
nachgedacht. Nicht nur in der Schule, auch im privaten
Leben, in der Familie und erst recht im Beruf wird so wenig
wie möglich darüber gesprochen. Dabei würde es uns mit
Sicherheit besser gehen, wenn wir unbefangener mit Geld
umgehen könnten.
Schluss mit lustig
Bei Geld hört, wie wir alle gelernt haben, die Freundschaft
auf – und daran halten sich viele. Einem Freund oder
Arbeitskollegen beim Umzug zu helfen, die Wohnung zu
streichen, auf dessen Kinder ein Wochenende lang aufzupassen, all diese kleinen Hilfeleistungen sind unter Freunden oder Nachbarn selbstverständlich. Doch dem Arbeitskollegen oder dem Kumpel aus dem Verein 100 Euro zu
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leihen? An diesem Punkt hört die Freundschaft in der
Regel auf.
Ist es nicht seltsam, dass wir zwar bereit sind, anderen Menschen unsere Zeit, unsere Kraft und unsere Aufmerksamkeit zu schenken, es uns jedoch zugleich widerstrebt, anderen unser Geld zu überlassen? Warum leihen wir dem
Nachbarn lieber unsere Bohrmaschine als einen Fünfziger?
Geld ist nicht neutral für uns. Seltsamerweise ist es für die
meisten stark emotional besetzt, ohne dass uns dies jemals
bewusst geworden wäre.
Tiefsitzende Blockaden
Die Menschen beschweren sich selten, wenn ihr Konto am
Monatsende noch im Plus ist. Geld wohnt eben eine andere, unangenehme Eigenschaft inne: In der Regel ist es zu
knapp. Doch Geldmangel ist selten der Grund, warum wir
uns sträuben, dem Nachbarn oder Arbeitskollegen Geld zu
leihen. Es ist eine Blockade, die meist tief in uns sitzt.
Zum Beispiel wollen viele Menschen verhindern, dass Geld
Einzug in ihre privaten Kontakte hält. Geld verdirbt
schließlich den Charakter, wie wir gelernt haben. Und wer
weiß schon, welche dunklen, bis dahin wohl verborgenen
Seiten bei einem Menschen durch den Kontakt mit Geld zu
Tage treten? Wir alle haben da schon so allerhand gehört,
von diesem Pop-Star, dem der Erfolg angeblich zu Kopf
gestiegen ist, oder von jenem tollen Hecht, der beruflich
erst senkrecht nach oben startete und dann steil abstürzte.
Gesellschaftliche Tabuzonen
Die meisten Menschen haben einen gedanklichen Schutzzaun um einen Teil ihres Lebens gezogen, aus dessen
Innenbereich Geld wohlweislich ferngehalten werden soll.
Viele finden es selbstverständlich, einer fremden Frau
Geld dafür zu bezahlen, damit diese die Wohnung aufräumt und putzt. Schlägt dagegen ein Mann seiner Freundin vor, gegen Geld seine Wohnung zu putzen, dürfte
diese Idee wahrscheinlich viele Beziehungen auf eine
ernsthafte Belastungsprobe stellen. In unserer Gesellschaft reden die Menschen eher noch über Sex als über ihr
Bankkonto.
Was jedoch in Gelddingen akzeptabel und was ein absolutes Tabu ist, unterscheidet sich von Gesellschaft zu
Gesellschaft. In vielen Gegenden der Welt ist es heute
noch selbstverständlich, dass ein Bräutigam der Familie
seiner Angebeteten ein Brautgeld überreicht, traditionell
in Form von Kühen, Ziegen oder Kamelen oder modern in
Form von Geld. In Europa dagegen gilt es als unhöflich,
jemandem einen Brief auf einem zerknüllten Stück Papier
zu schicken. Dass wir jedoch Geld in Form von benutzten
Scheinen austauschen, stört niemanden.
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Alles fließt, wusste der griechische Philosoph Heraklit –
und vielleicht dachte er insgeheim an das viele Geld, das
den meisten Menschen durch die Finger rinnt. Denn Geld
scheint zu allem Überdruss die unangenehme Eigenschaft
zu besitzen, so flüchtig zu sein, dass es viele Menschen nur
schwer festhalten können.
Nun ist Zeit zwar bekanntlich Geld, und man sollte weder
mit dem einen noch mit dem anderen verschwenderisch
umgehen. Doch es lohnt sich, einen Augenblick innezuhalten und sich mit seinem Verhältnis zu Geld zu befassen.
Dabei will dieses Buch den Leser unterstützen und ihn auf
eine Entdeckungsreise durch die Welt unserer Gefühle, die
unser Verhältnis zu Geld prägen, mitnehmen. Es ist eine
Welt voller dunkler Mächte, Träume, Sagen, Legenden und
Geschichten.
KAPITEL 7
GELD ERZEUGT GEFÜHLE
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Wir stehen uns selbst im Weg
Unser größtes Hindernis auf dem Weg, ein entspanntes
Verhältnis zu Geld zu finden, liegt in uns selbst. Es sind
unsere Gefühle oder besser gesagt die verborgenen Grundüberzeugungen, die uns in der Regel im Weg stehen. Und
da kaum ein Wirtschaftsgut emotional so aufgeladen ist
wie Geld, spielen unsere Emotionen in den finanziellen
Aspekten unseres Lebens eine besonders große Rolle.
Auf der Rangliste der am meisten verbreiteten Gefühle in
puncto Geld dürfte die Gier weit oben stehen. Allerdings
zählt sie auch zu den unpopulärsten Gefühlen, die Geld
auslöst. Im Zuge der Finanzkrise stand der Typus des GierBankers im Mittelpunkt, jene Investmentbanker, die
angeblich den Hals nicht voll bekommen konnten und ihre
krankhafte Gier auf den Weltfinanzmärkten hemmungslos
bis zum Exzess auslebten.
So berechtigt die Kritik an überhöhten Boni auch sein
mochte, eine andere Frage ist viel interessanter, wenn wir
unser persönliches Verhältnis zu Geld klären wollen:
Warum haben so viele Menschen bereitwillig den GierBanker als Schuldigen dieser Finanzkrise ausgemacht?
Weshalb sahen sich selbst die vielen Tausend Käufer von
Lehman-Zertifikaten als Opfer dieser Investmentbanker
und nicht als Komplizen einer globalen, ungezügelten
Gier?
Bequeme Opferrolle
Es geht nicht darum, die Schuld derjenigen zu relativieren,
die dieses Desaster verursacht haben. Doch wollen wir mal
in uns hineinschauen und besser verstehen, welche Emotionen Geld und bestimmte Geldsituationen in uns auslösen.
Vieles war in den Jahren vor der Finanzkrise in der Weltwirtschaft aus dem Ruder gelaufen. Und es ist mit Sicherheit richtig, gegen moralisch zweifelhafte Geschäftspraktiken vorzugehen, wie sie die Investmentbanken angewandt
hatten. Bei vielen galt es geradezu als Ausweis von Cleverness, einen Geschäftspartner möglichst geschickt übers Ohr
zu hauen.
Doch solange wir uns als Opfer dieser Machenschaften
sehen, bleiben wir in unserer persönlichen Entwicklung
stecken. Interessanter ist deshalb die Frage: Wie kam es,
dass gestandene Menschen, die ihr Leben lang darauf
bedacht waren, vorsichtig und besonnen mit ihrem Geld
umzugehen, plötzlich auf die Renditeversprechen von
Finanzkonstruktionen hereinfielen, deren Funktionsweise
selbst gestandene Wirtschaftsmathematiker nicht ohne
weiteres nachvollziehen konnten?
Die Gier in uns
Es ist die Gier. Die Gierschlünde, das sind nicht die anderen.
Die Gier sitzt in uns selbst. Sie kann selbst jene Menschen
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befallen, die ansonsten ein anständiges und bescheidenes
Leben führen und die deshalb gut zurechtkommen, weil sie
nie über die Stränge schlagen und nicht mehr anstreben, als
sie sich mit ihrem Einkommen leisten können.
Doch nachdem diese Spekulationswelle auf den Weltfinanzmärkten über Jahre hinweg anhielt, haben sich offenbar immer mehr Menschen gefragt, warum denn immer
nur die anderen den großen Schnitt machen sollen. Außerdem erzählen in solchen Euphoriephasen immer mehr Menschen, wie risikolos sie ihr Geld vermehrt haben. All dies
senkt die Hemmschwelle – bis man selbst bereit ist,
Geschäfte abzuschließen, bei denen man sich im Nachhinein fragt, wie man sich nur dazu hinreißen lassen konnte.
Blitzableiter für eigene Gefühle
Wir neigen dazu, unangenehme Gefühle und Verluste
nicht wahrhaben zu wollen. Wer nun nach dieser gigantischen Spekulation als Verlierer hervorgeht und vielleicht
einen Großteil seines mühevoll angesparten Vermögens
verloren hat, empfindet im Nachhinein Scham wegen seiner Naivität – oder Wut.
Der Gier-Banker eignete sich hervorragend als Sündenbock, auf den sich die Wut der Menschen richten konnte.
Dabei war es gar nicht so wichtig, ob es solche Raffzähne in
der Realität tatsächlich gibt. Wichtiger war, dass sich auf
sie die Wut darüber projizieren ließ, dass viele Menschen
ihre Ersparnisse, die Früchte ihrer Arbeit, verloren hatten.
Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, erklärte
die Funktion des Sündenbocks damit, dass eine Gruppe die
Aggressionen, die in ihr durch Frustration entstehen, auf
eine Außengruppe verschiebt und so zugleich ihren eigenen
Zusammenhalt bewahrt.
Die Gier ist an der Börse gut bekannt. Schließlich kann der
ungezügelte Drang nach Geld jeden befallen. Und die
Finanzmärkte sind wie geschaffen, um diesen Trieb ohne
Hemmungen auszuleben. So wird an der Börse die Endphase einer kraftvollen Aufschwungphase als „Dienstmädchenhausse“ bezeichnet. Das ist jener Augenblick, in dem die
phänomenalen Gewinne, die manche Anleger an der Börse
einheimsen, völlig unkundige Sparer anziehen. Diese werfen
dann unverhältnismäßig hohe Beträge ohne jedes Gefühl für
Risiko auf die Finanzmärkte. Durch sie können gewieftere
Investoren ihre Gewinne bequem nach Hause bringen, weil
die unbedarften Neulinge ihnen die völlig überbewerteten
Titel zu diesen hohen Kursen bedenkenlos abkaufen.
Der Gier auf der Spur
Neurowissenschaftler der Universität Stanford in den USA
haben versucht, die Ursachen der Gier zu ergründen. Sie
kamen zu dem Ergebnis, dass die Aussicht auf einen möglichen Geldsegen trotz der einhergehenden Risiken ein
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deutlich größeres neuronales Feuerwerk hervorruft als vorhandenes Eigentum. In den Versuchen dieser Wissenschaftler reagierten die Teilnehmer an den Tests besonders stark
auf einen erwarteten finanziellen Gewinn. Geldbeträge, die
sie tatsächlich besaßen, hatten dagegen einen wesentlich
geringeren Effekt auf das Belohnungssystem im Gehirn,
das für Glücksgefühle zuständig ist.
Die Kirche zählte den Geiz oder die avaritia, wie die Kirchenvertreter die Habsucht nannten, zu den sieben Todsünden. Ihr ordnete Peter Binsfeld (circa 1545 bis 1598),
Weihbischof von Trier und Hexentheoretiker, den Dämon
Mammon zu. Im Strafrecht gilt Habgier als eines der Motive, die eine Tötung als Mord qualifizieren. Die anderen
Todsünden sind der Hochmut, die Wolllust, der Zorn, die
Völlerei, der Neid und die Trägheit des Herzens, die man
heute eher als Faulheit, Ignoranz oder auch als Feigheit
bezeichnen würde.
Der Geizkragen
Der Geizkragen gilt im Volksmund als ein Mensch, der
unabhängig davon, ob er reich oder arm ist, an seinem Geld
festhält und seinen gesamten Lebensstil darauf ausrichtet,
möglichst wenig Geld auszugeben. Es bereitet ihm körperliches Unbehagen, sich von Geld trennen zu müssen. Dagobert Duck beispielsweise wird oft als Geizkragen dargestellt, doch tatsächlich entwickelt dieser eine größere
Lebensfreude als der typische Geizhals. Es ist schließlich
die Freude am Goldbad, die ihn antreibt, und nicht das verkniffene Festhalten am Besitz.
Gier ist bei weitem nicht auf Geld beschränkt. Wir alle
kennen den Gierschlund, jenen Menschenschlag, der so
viele Lebensmittel – am liebsten Kuchen, Süßigkeiten und
fettige Pommes frites – in sich hineinstopft, wie er nur
kann. Diese Form der Essstörung führt häufig zwar zu
extremem Übergewicht (Adipositas). Doch der Gier des
Vielfraßes sind Grenzen gesetzt. Irgendwann sind Magen
und Darm so überfüllt, dass er nicht weiter essen kann und
eine Pause machen muss. In Gelddingen dagegen können
die Menschen ihre Gier grenzenlos ausleben. Ein Bankkonto kann nie zu voll sein.
Ein Gefühl der Leere
Auch wenn die Gier jeden befallen kann, ist sie bei weitem
kein Naturtrieb, der jedem Einzelnen von uns innewohnt.
Dies ist eine Mär, die die Gierigen gerne in die Welt setzen
und in der modernen Figur des Gier-Bankers zum Menschentypus schlechthin erheben. Auch sind die Menschen
der Gier nicht hilflos ausgesetzt. Viele Menschen führen ein
glückliches, entspanntes Leben, ohne zwanghaft Besitz und
Geld anhäufen zu müssen. Gier und Habgier haben vielmehr konkrete Ursachen, die in der Psyche der betroffenen
Menschen liegen.
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„Die Gier ist immer das Ergebnis einer inneren Leere“,
schrieb Erich Fromm. Sie betrifft vor allem Menschen, die
ihre Lebenskraft nicht aus sich selbst heraus ziehen können
und sich in ihrem tiefen Inneren als wertlos empfinden. Sie
brauchen Besitz und Geld, um sich überhaupt fühlen zu
können. Häufig leiden diese Menschen an einer großen
Angst vor dem Leben und seinen Herausforderungen insgesamt. Es ist somit eine sehr ursprüngliche, diffuse Form
von Angst. Die Gier nach Geld ist nur ein Ersatz für ein
anderes Verlangen. Geld ist kein Lebensziel, sondern ein
Mittel, um ein größeres Ziel im Leben zu erreichen: Liebe,
Anerkennung, Macht, Ruhm, Triumph, Geborgenheit,
Sicherheit.
Drang in die Außenwelt
Gierige können ihre innere Leere nur schwer als solche
wahrnehmen oder gar ertragen. Sie erscheint ihnen übermächtig. Dieses Gefühl von Leere drängt mit Macht nach
außen und muss sich in der Außenwelt abreagieren. Deshalb
greifen sie nach allem, was sie bekommen können, und
schlingen es in sich hinein. Ihre Befriedigung schafft nur
kurzfristig Erleichterung und hinterlässt rasch ein noch größeres Gefühl von Leere – wie bei jeder Sucht, deren Befriedigung nur vorübergehend Linderung verschaffen kann.
Wohin grenzenlose Gier führen kann, zeigen die Gebrüder
Grimm in ihrem berühmten Märchen vom „Wolf und den
sieben Geißlein“. Darin gelingt es dem maßlos gierigen
Wolf mit viel List, sich Zutritt zu dem Haus, in dem die
sieben jungen Ziegen leben, zu verschaffen, solange ihre
Mutter aus dem Haus ist.
In seiner Maßlosigkeit verschlingt er alle sechs Geißlein,
die er erwischen kann, und legt sich vollgefressen vor das
Haus, während das siebte Geißlein, das sich rechtzeitig retten konnte, die Mutter herbeiholt. Diese schneidet dem
Wolf den Bauch auf, so dass die gefressenen Ziegen herausspringen können. An deren Stelle näht die Mutter dem
Wolf schwere Steine in den Bauch.
Als der Wolf aufwacht und zum Brunnen geht, um Wasser
zu trinken, fällt er wegen seines schweren Gewichts kopfüber in den Brunnen und ertrinkt. Hätte er sich gezügelt
und seine innere Leere, die sich in diesem Fall körperlich in
Form eines leeren Magens zeigt, anders füllen können, dann
hätte sich der Wolf nicht derart vollgefressen und wäre
wohl lebend davongekommen. Doch das wäre vielleicht zu
viel verlangt von einem Märchenwolf, sich derart zu
bescheiden …
Dauerhaftes Unglück
Insofern ist es richtig, dass sich in einer Welt, in der das
Streben nach materiellem Besitz ganz oben auf der Werteskala steht, auch die Gier leicht verbreiten und zu einer
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wahrhaften Volkskrankheit werden kann. Doch jeder kann
sich diesem Trieb entziehen.
Allerdings kann nur jeder Betroffene selbst die Ursachen
der Gier angehen. Er kann sich diesem Gefühl der inneren
Leere stellen, die in ihm selbst herrscht und die er als derart bedrohlich und übermächtig empfindet. Viele Menschen flüchten vor diesem inneren Prozess, der häufig so
qualvoll sein kann wie bei einem Drogenentzug. Deshalb
ziehen es auch so viele vor, diesen Prozess der inneren Reifung zu umgehen und lieber ihr Leben so einzurichten, dass
sie sich den Ursachen ihrer Gier nicht stellen müssen.
Das Schädliche an dem Wirtschaftssystem, das zu der
Finanzkrise geführt hat, ist, dass sie diesen psychischen
Ungleichgewichten bei den Handelnden nicht Grenzen
gesetzt, sondern auch noch als erstrebenswerte Ziele vorgegeben hat.
Der Fall des Ivan Boesky
In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts füllte der
amerikanische Spekulant Ivan Boesky die Zeitungen als
„Corporate Raider“, als Unternehmensplünderer. Zu
Beginn des 21. Jahrhunderts wurde dieser Typus Spekulant
nochmals als „Heuschrecke“ bekannt. Boesky kaufte Unternehmen an der Börse gegen den Willen des Managements
auf, zerschlug diese in ihre Einzelteile und verkaufte sie
weiter, oft mit einem exorbitanten Gewinn. Das brachte
ihm an der Wall Street den Spitznamen „Ivan der Schreckliche“ ein. Er häufte ein Vermögen von 200 Millionen Dollar an.
Seine Transaktionen finanzierte Boesky zum Großteil über
sogenannte Junk Bonds, hoch verzinste Ramschanleihen,
die er an der Börse platzierte. Als Emittent nutzte er gern
die Unternehmen, die er aufkaufte und die anschließend
mit horrenden Schulden belastet waren. Oft erwarb Boesky
nicht einmal die Mehrheit an dem Unternehmen, sondern
begnügte sich mit einer Minderheitsbeteiligung und setzte
dann das Management so lange unter Druck, bis dieses sich
seinem Willen beugte. Er investierte ausschließlich in
Unternehmen, die am Rande des Zusammenbruchs standen: überschuldete Banken, insolvente Versicherungskonzerne, bankrotte Autohersteller und in ihre vergifteten
Wertpapiere.
Boesky war ein Sohn russischer Einwanderer, arbeitete
zunächst als Buchhalter in einer Anwaltskanzlei und fing
im Alter von 29 Jahren an, als Arbitragehändler an der
Wall Street zu arbeiten. Arbitragehändler nutzen kleinste
Preisunterschiede an den Finanzmärkten aus, um damit
Geld zu verdienen. Wird in einem Augenblick eine Aktie
an einer Börse höher notiert als an einer anderen, so kaufen
sie die billiger gehandelte Aktie an der einen Börse, um sie
an einer anderen Börse zu verkaufen, wo sie gerade mehr
wert ist. Boesky dürfte damit nicht übermäßig reich gewor-
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den sein. Sein vermögender Schwiegervater musste damals
noch die Miete für ihn aufbringen und nannte ihn nur „Ivan
der Schnorrer“. Geltungssucht dürfte für Boesky ein wichtiger Antrieb gewesen sein.
Boesky gab nicht nur enorme Beträge für die teuersten
Restaurants der Welt aus – das gehört zum Lebensstil, der
in diesen Kreisen zur fast notwendigen Selbstdarstellung
zählt. Boesky steigerte dies noch dadurch, dass er stets
mehrere Hauptspeisen bestellte. Er probierte sie alle durch
und entschied sich dann für eine einzige. Die übrigen
Gerichte ließ er kaum berührt in die Küche zurückgehen.
„Gier ist gut“
Im Mai 1986 wurde Boesky wegen verbotener BörsenInsidergeschäfte verhaftet und kam für drei Jahre ins
Gefängnis. Er lieferte Oliver Stone die Vorlage für den Film
„Wall Street“ und ging darin in der Hauptperson des Gordon Gekko in die Filmgeschichte ein.
Auch heute noch, gut 20 Jahre nach dem Start des Films,
belegt Gordon Gekko den vierten Rang auf der jährlichen
Liste des amerikanischen Wirtschaftsmagazins „Forbes“ der
reichsten fiktiven Personen der Welt. Übertroffen wird er
nur vom Comic-Millionärssöhnchen Ritchie Rich und
selbstverständlich von Dagobert Duck. Doch selbst dieser
belegt auf der „Forbes“-Liste nur den zweiten Rang. An der
Spitze steht Uncle Sam, das Symbol des amerikanischen
Staates, was besonders bemerkenswert ist. Denn Uncle Sam
ist in Wahrheit mit etwa 14 Billionen Dollar eine der ärmsten Personen der Welt. Nur fällt das nicht so leicht auf.
Berühmt wurde Boesky durch seine berühmte „Gier-istgut“-Rede, die Oliver Stone ebenfalls in seinem Film aufgriff. Boesky hielt sie wenige Tage vor seinem Fall im Mai
1986. Da trat der damals noch gefeierte Börsenstar vor
Absolventen der University of California in Berkeley bei
der Verleihung ihrer Abschlussdiplome auf und rief ihnen
zu: „Es ist gut, wenn man habgierig ist. Ich möchte sogar
behaupten, dass es gesund ist, habgierig zu sein. Du kannst
gierig sein und dich dabei gut fühlen.“
Interessant war die Reaktion der Studenten auf dieses Plädoyer für die von der Kirche und auch sonst verteufelte
Habgier. Sie war so bemerkenswert, dass ein Reporter des
Nachrichtenmagazins „Newsweek“ völlig verwundert über
sie berichtete. Denn die Studenten zeigten sich keineswegs
entsetzt oder irritiert. Keiner von ihnen widersprach Boesky.
Im Gegenteil, sie reagierten mit lautem Gelächter und
Applaus.
Der Geizhals
Der Prototyp des Geizhalses ist die Figur Harpagon aus der
berühmten Komödie „Der Geizige“ des französischen
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Dichters Molière (1622 bis 1673). Tragischerweise starb
Molière an einem Schwächeanfall, als er gerade auf der
Bühne die Hauptrolle in seinem Stück „Der eingebildete
Kranke“ spielte. Im „Geizigen“ leidet die zentrale Figur
Harpagon an einer krankhaften Angst, bestohlen zu werden, nachdem er eine Goldkassette mit 10.000 Goldécu in
seinem Garten vergraben hatte. Sein Geiz geht so weit, dass
er seine Tochter Elise nur deshalb einem alten Mann, Anselme, verspricht, weil dieser bereit ist, sie zu heiraten,
ohne eine Mitgift von Harpagon zu fordern. Harpagons
Sohn Cléante wiederum braucht dringend 15.000 Francs,
um Mariane, ein junges mittelloses Mädchen, zu heiraten.
Von seinem Vater kann Cléante keine Hilfe erwarten. Deshalb wendet er sich über einen Vermittler an einen skrupellosen Wucherer, um das Geld aufzutreiben. Am Ende
erkennt er, dass dieser niemand anders als sein eigener Vater
ist. Nach unzähligen Verwicklungen finden alle Liebenden
zueinander, während Harpagon verlassen mit seiner Geldkassette zurückbleibt.
„Ich liebe das Knistern der Banknoten“
Dagobert Duck wird gerne als der Prototyp des Geizhalses
dargestellt. Doch diese Darstellung ist sehr verkürzt und
trifft nicht den Kern. Was ihn viel stärker antreibt, ist
nicht das Festhalten an Besitz, sondern eine geradezu sinnliche und zärtliche Liebe zu Geld und zu Gold. „Ich liebe
das Knistern der Banknoten, das Klimpern der Goldstücke
und den süßen Duft des Großkapitals“, ließ ihn einmal
seine deutsche Übersetzerin Erika Fuchs sagen. „Wälzen Sie
sich etwa in Gold?“, wird er in der Geschichte „Die Kohldampfinsel“ gefragt, und er antwortet, als handele es sich
um eine sexuelle Perversion: „Darüber möchte ich nicht
sprechen (ahem).“
Für die meisten jedoch ist Geld Mittel zum Zweck. Das
haben Personen wie Boesky oder Harpagon gemein. Für
Boesky dürfte Geld ein Mittel zur Selbstdarstellung und
zur Selbstaufwertung gewesen sein. Bei Harpagon war der
Geiz von Angst getrieben. Die Angst vor Geldverlust
hängt eng mit der Angst vor Armut und sozialem Abstieg
zusammen. Sie ist in manchen Fällen so übermächtig, dass
sie viele zu scheinbar irrationalem Verhalten veranlasst,
dass sie Gold in einer Schatulle zu Hause horten, anstatt ihr
Geld zinsbringend anzulegen.
Wenn wir also unser Verhältnis zum Geld klären wollen,
müssen wir uns mit jenen Urgefühlen auseinandersetzen,
die unser Leben bestimmen. Und genau deshalb wirkt es
sich oft so verheerend aus, dass wir in unserer Gesellschaft
so verzweifelt versuchen, unser Verhältnis zu Geld als etwas
Rationales darzustellen. Geld jedoch rührt an unseren innersten Gefühle, die unseren Verstand in Bezug auf Geld
immer wieder aussetzen lassen.
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Bernard Madoff, der Milliarden-Betrüger
Wie sonst lässt es sich erklären, dass hochgebildete Ärzte,
Rechtsanwälte und selbst Unternehmer immer wieder auf
die primitivsten Fälle von Kapitalanlagebetrug hereinfallen? Kurz vor Weihnachten 2008 flog der Schwindel des
amerikanischen Finanzinvestors Bernard „Bernie“ Madoff
auf, der es an der Wall Street zu höchsten Ehren und sogar
in die Gremien der Börse Nasdaq gebracht hatte.
In Wahrheit jedoch betrieb er ein gigantisches Schneeballsystem, bei dem die Gewinne der Anleger aus den Einzahlungen der neuen Kunden bezahlt wurden. Solche Systeme
gehen so lange gut, wie der Anlagebetrüger Erfolg hat und
mehr Geld entgegennimmt, als er auszahlen muss. Doch
im Zuge der Finanzkrise mussten viele Madoff-Kunden ihr
Vermögen bei ihm abziehen – und das System brach
zusammen.
Ein Schaden von schätzungsweise 50 Milliarden Dollar ist
dabei entstanden. Zu den Geschädigten zählten der Filmregisseur Steven Spielberg, die Schauspielerin Zsa-Zsa Gabor,
der Nobelpreisträger Elie Wiesel und selbst Führungskräfte der amerikanischen Investmentbank Merrill Lynch. Die
ehemaligen Vorstandsvorsitzenden Daniel Tully und David
Komansky waren genauso betroffen wie der ehemalige Leiter des Investmentbanking Barry Friedberg, die doch
eigentlich wissen mussten, ob Madoffs Börsengewinne
nachvollziehbar waren oder nicht.
Diese hochbezahlten Banker störte es offenbar nicht, dass
Madoff trotz der Milliardengeschäfte, die er tätigte, seine
Bilanz von einer kleinen, völlig unbekannten Firma
namens Friehling & Horowitz prüfen ließ, die ein Büro von
gerade einmal 22 Quadratmetern in New York besaß. Die
Firma zählte lediglich drei Angestellte: einen 78 Jahre
alten Mann in Florida, eine Sekretärin und einen Buchhalter.
Vom Glanz getäuscht
Es ist erstaunlich, wie penibel Banker bei kleinen Darlehen
die Bonität der Kreditnehmer auf jedes noch so winzige
Detail abklopfen, doch bei großen Geschäften regelmäßig
auf die primitivsten Betrügereien hereinfallen. Immer wieder lassen sich selbst die angeblich von so rationalen Motiven getriebenen Top-Banker vom Glanz und dem Erfolg
blenden, mit dem sich solche Schwindler umgeben. Offenbar spielen in deren Verhältnis zu Geld noch andere, tiefer
liegende Mächte eine Rolle als die reine Vernunft und
Rationalität.
Dies machte sich in den achtziger und neunziger Jahren des
vergangenen Jahrhunderts ja auch der Immobilienschwindler Dr. Jürgen Schneider zunutze, der ungezählte Banken
prellte, darunter selbst Vorstände der Deutschen Bank.
Damals machte auch der damalige Vorstandssprecher der
Deutschen Bank, Hilmar Kopper, den berühmten Aus-
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spruch, die Forderungsausfälle der Handwerker auf Schneiders Baustellen seien im Vergleich zum Gesamtschaden
nicht mehr als „Peanuts“.
Schlampereien der Behörden
Doch zurück zu Madoff: Auch die amerikanische Börsenaufsicht SEC ließ sich von diesem Betrüger täuschen. Ihr
fiel auch nicht auf, dass er das eingesammelte Anlegergeld
überhaupt nicht, wie behauptet, an der Börse investierte.
Der damalige Leiter der SEC Christopher Cox räumte im
Dezember 2008 ein, dass die Behörde jahrelang „glaubhaften und gezielten Anschuldigungen“ und anderen Hinweisen auf das Betrugssystem Madoffs nicht nachgegangen sei.
Dabei hatten immer wieder andere Fondsmanager versucht,
die angeblichen Aktiengeschäfte, die Madoff tätigte, nachzuvollziehen. Und jedes Mal stellte sich bei diesen Versuchen heraus: Mit den Geschäften, die Madoff nach seinen
Angaben tätigte, waren die Renditen, die er auswies, nicht
zu erreichen gewesen. Am 29. Juni 2009 wurde Madoff im
Alter von damals 71 Jahren zu 150 Jahren Haft verurteilt.
Schneeballsysteme
Im Prinzip war es Pech, das Madoff Ende 2008 zu Fall
brachte. Viele Anleger, die an sich hochzufrieden mit
Madoff waren, mussten unter dem Eindruck der Finanzkrise, die im Herbst 2008 mit voller Wucht zuschlug und
die Investmentbank Lehman Brothers zum Einsturz brachte, ihr Geld bei Madoff abziehen. Doch auch ohne diese
Finanzkrise wäre es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis
dieses Schneeballsystem in sich zusammenstürzte, weil
jedes Schneeballsystem darauf beruht, wie ein Geschwür zu
wuchern, bis es seinen Wirtskörper zerfressen hat.
Jahrelang konnte Madoff diese tiefe Sehnsucht von Tausenden Anlegern bedienen, ohne dass ihm irgendjemand wirklich auf die Schliche gekommen wäre. Das Geheimnis für
seinen Aufstieg liegt eher in der Gefühlswelt seiner Anleger als in den traumhaften Renditen, die er versprach.
Diese waren nur das notwendige Beiwerk, damit sein Zauber wirkte.
Der European Kings Club
Ein berühmtes Schneeballsystem zog in Deutschland die
Betrügerin Damara Bertges mit ihrem European Kings Club
auf, das der damalige „Spiegel“-Redakteur Wolfgang Bittner
aufgedeckt hatte. „Geht raus und sammelt die Millionen ein“,
beschwor sie ihre Clubmitglieder, „die vielen, vielen Millionen“. Am Ende, als das Schneeballsystem 1996 aufgeflogen
war, lag der Schaden bei 2 Milliarden Mark, das sind umgerechnet kaum mehr als 1 Milliarde Euro, doch war dies bis
dahin der größte Anlagebetrug aller Zeiten in Deutschland.
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Das Erstaunliche am Fall European Kings Club ist jedoch,
mit welcher Hartnäckigkeit sich viele Betroffene an der
Version festhielten, Bertges sei eine redliche Frau, die von
den Banken und anderen Verschwörungen zu Fall gebracht
wurde. Als Bertges in Frankfurt der Prozess gemacht
wurde, fuhren ihre Opfer in ganzen Omnibussen dorthin,
um sie zu unterstützen.
Verantwortung abgetreten
Ist es nicht erstaunlich, wie leichtfertig Nobelpreisträger,
hochrangige Wissenschaftler, gestandene Finanzexperten
und viele andere mit ansonsten gesundem Menschenverstand auf solche Trickbetrüger hereingefallen sind? Offenbar haben sie in diesem Fall ziemlich rasch jede Vorsicht
fahren lassen. Oder besser gesagt: Sie haben die Verantwortung für ihre Geldgeschäfte Anlagebetrügern übertragen,
um sie nicht selbst tragen zu müssen.
Anstelle von Verantwortung setzten sie das Vertrauen, dass
Madoff es schon richtig machen werde. Nun funktioniert
das gesamte Wirtschaftsleben nur auf der Basis von Vertrauen. Wie bei einem Arztbesuch können wir noch so
skeptisch sein, noch so sehr objektive Kriterien und unseren Verstand zur Entscheidungsfindung heranziehen – an
irgendeinem Punkt bleibt uns keine andere Wahl, als unserem Banker oder unserem Arzt Vertrauen zu schenken oder
nicht.
Diese Entscheidung lässt sich in so komplexen Systemen
wie den Finanzmärkten nicht rational treffen. Doch genauso wie wir in Gesundheitsfragen die Wahl zwischen der
Gerätemedizin und naturheilkundlichen oder ganzheitlichen Verfahren haben, ist ja auch die Komplexität der
Finanzmärkte zwar gewollt, aber der Anleger kann sich ihr
entziehen, indem er einfache Produkte wählt, deren Rendite er ohne tiefe Kenntnisse der Finanzmärkte nachvollziehen kann.
Auf Vertrauen angewiesen
Von irgendeinem Punkt an sind wir in allen unseren Geldangelegenheiten auf Vertrauen angewiesen. Wenn wir unserer Bank nicht vertrauen, können wir schauen, ob die Bank
der gesetzlichen Einlagensicherung angehört, die unser
Erspartes bis zu einer gewissen Höhe garantiert, wenn die
Bank zahlungsunfähig werden sollte. Doch diese Einlagensicherung hält nur, wenn die einzelnen Banken zuvor auch
genügend Geld in den Fonds eingezahlt haben. Reicht es
nicht, müssen wir darauf vertrauen, dass der Staat vielleicht
das Ersparte rettet. Genauso ist es, wenn wir Brot kaufen:
Wir sind darauf angewiesen, zu vertrauen, dass der Bäcker
auch tatsächlich Bio-Mehl verwendet, wenn er Bio-Brot
verkauft, und dass die Gewerbeaufsicht, Lebensmittelaufsicht und all die anderen Behörden ihre Kontrollen zuverlässig ausführen.
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Kurz, wir können noch so umsichtig agieren, wir kommen
in unserem Wirtschaftsleben zwangsläufig an einen Punkt,
an dem wir uns entscheiden müssen: Entweder ziehen wir
uns aus dem Wirtschaftsgeschehen zurück, was jedoch
nicht immer möglich ist, oder wir vertrauen unserem
Gegenüber, der Bank, dem Geschäftspartner, dem Arbeitgeber, den Aufsichtsbehörden oder dem Staat.
Anhauen, umhauen, abhauen
Die Finanzbranche hat sich mit solch einer Komplexität
umgeben, dass es dem Einzelnen besonders schwer fällt,
sich darin zurechtzufinden. Heute kann wohl jeder Unkundige ohne weiteres eine Stereoanlage, einen Fernseher oder
selbst ein Auto kaufen. Auch ohne über technisches Detailwissen zu verfügen, kann sich der Käufer einigermaßen darauf verlassen, dass das Produkt im Vergleich zum Preis eine
akzeptable Leistung bringen wird. In der Finanzbranche ist
dies längst nicht der Fall. Alle Versuche, einen Geld-TÜV,
einen Finanz-Check oder wie auch die verschiedenen
Modelle hießen, zu etablieren, sind bisher gescheitert.
Gleichzeitig agieren viele Finanzvertriebe immer noch nach
dem alten Vertreter-Motto: Anhauen, umhauen, abhauen.
In Finanzgeschäften sind die meisten Anleger noch mehr
als anderswo auf Vertrauen angewiesen. Denn oft stellt es
sich erst nach vielen Jahren heraus, ob die Entscheidung
gut oder schlecht war. Somit war die Gier längst nicht das
einzige Motiv, das so viele Menschen dazu trieb, sich auf
Madoff einzulassen.
Magier des Geldes
Vielmehr fühlten sich wohl viele von Madoffs Kunden oder
von Boeskys Bewunderern von der magischen Macht des
Geldes und des darin sich ausdrückenden Erfolges angezogen. Sowohl Madoff wie auch Boesky schienen die großen
Magier zu sein, die den Schlüssel in der Hand hielten, um
diese geheimnisvolle Macht des Geldes zu beherrschen. Im
religiösen Bereich werden solche Menschen gern als „Erlöser“ bezeichnet. Die Macht, die uns tief in unserem Innern
so ängstigt, können diese Zauberer angeblich aufgrund
ihres geheimen Wissens bändigen. Sie kennen die Formeln,
die es ermöglichen, sich die Übermacht des Geldes und der
internationalen Finanzmärkte zunutze zu machen. Ihnen
gelingt offenbar das, was uns versagt ist und wohl immer
versagt bleiben wird.
Menschen wie Madoff wissen um die Magie des Geldes und
den Zauber, den Geld auf Menschen ausübt. Und sie umgeben sich bewusst mit der Aura des Magiers, um ihre Beute
zu beeindrucken. So setzte Madoff beispielsweise die Hürden sehr hoch, um überhaupt bei ihm Geld anlegen zu dürfen. Das machte ihn nur noch umso anziehender für seine
Kunden, die er auszunehmen trachtete. Diese Menschen
wissen, wie sie mit den Geldgefühlen zu spielen haben, die
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bei vielen Menschen im Unterbewussten angesiedelt sind.
Sie wissen, welche Stellen sie aktivieren müssen, damit sich
diese Menschen ihnen anvertrauen.
Überforderte Anleger
Häufig sind die Opfer von Anlagebetrug sehr erfolgreich in
dem, was sie tun. Sie sind angesehene Regisseure, Schriftsteller, Ärzte, Unternehmer oder selbst Banker. Ihr Beruf
nimmt sie so in Anspruch, dass sie sich nicht mit finanziellen Dingen beschäftigen und nicht die Verantwortung für
ihre Geldgeschäfte übernehmen wollen. Die meisten von
ihnen geraten lediglich an Bankberater, die ihnen überhöhte
Gebühren für unnötige Dispositionen abnehmen, ohne sie
jedoch um ihr gesamtes Vermögen zu bringen.
Sie hätten keine Zeit, sich in die Zusammenhänge rund um
Geld einzuarbeiten und sich regelmäßig mit der Entwicklung in der Wirtschaft und an den Finanzmärkten zu
beschäftigen – sagen dann meistens jene Menschen, die
keine Verantwortung für ihr Verhältnis zu Geld übernehmen wollen. Meistens dürfte dieser Einwand nur vorgeschoben sein. Denn oft sind es nur einige, sehr verständliche Grundsätze, die beachtet werden müssen, um eine
angemessene, relativ risikolose Verzinsung für sein Geld zu
erhalten oder um eine übermäßig hohe Verschuldung zu
vermeiden.
Häufig ist es Versagensangst, die diese Menschen daran
hindert, ungezwungen mit ihrem Geld umzugehen. In
anderen Fällen kommt die Überzeugung hinzu, dass Geld
im Grunde abgrundtief schlecht und menschenverderbend
ist. Kapitalbetrüger wie Madoff verstehen es, diese verborgenen Ängste der Menschen zu erkennen und auszunutzen.
Der Aschaffenburger Anlagebetrüger Helmut Kiener, der
mit seinen Hedge-Fonds K1 viele Deutsche um ihr Geld
gebracht hatte, war immerhin Diplom-Psychologe. Die
menschliche Seele hatte er mindestens genauso eingehend
wie die Zusammenhänge auf den Finanzmärkten studiert.
Gestörtes Verhältnis zu Geld
Manche Menschen haben ein derart gestörtes Verhältnis zu
Geld, dass ihnen ein normales Leben kaum möglich ist.
Dies zeigt sich in psychischen Störungen wie der Kaufsucht. Menschen, die an ihr leiden, können Belastungen
nicht selbständig verarbeiten, sondern müssen sie durch
Einkaufen entladen. Sie stehen dann unter einem übermächtigen Drang, einkaufen zu gehen. Dabei geht es gar
nicht um den Erwerb von Dingen, sondern um den Akt des
Shoppens selbst.
Shopaholics heißen im Englischen Menschen, die an dieser
Störung leiden. Lange dachte man, dass vor allem Frauen an
Kaufsucht leiden und dass diese ihre Sucht gern im Kauf
von unmäßigen Mengen Schuhen entladen. Oft packen sie
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die erstandenen Kartons zu Hause nicht einmal aus, sondern werfen sie auf den Stapel all der anderen Schuhe, die
sie zuvor gekauft haben und die ebenfalls noch im Karton
verpackt sind. Heute weiß man, dass Männer genauso
davon betroffen sein können.
Wird diese Sucht nicht behandelt, drohen Überschuldung,
der Verlust des Arbeitsplatzes und sozialer Abstieg.
Die Geschichte einer solchen Suchtkarriere beschreibt die
englische Schriftstellerin Sophie Kinsella auf sehr amüsante
Weise in ihrer Romanreihe über die kaufsüchtige Rebecca
Bloomwood. Diese ist Redakteurin in einem Finanzmagazin und gibt darin in einer regelmäßien Kolumne ihren
Lesern Tipps über den richtigen Umgang mit Geld. Doch
selbst ist sie hochverschuldet, weil sie Frust regelmäßig mit
ausgedehnten Shopping-Touren bekämpft.
Verfilmt wurden die Geschichten 2009 in dem Streifen
„Confessions of a Shopaholic“, der anschließend unter
dem Titel „Shopaholic – Die Schnäppchenjägerin“ auch in
die deutschen Kinos kam. Rebecca Bloomwood kann ihre
Kaufsucht am Ende, nach unzähligen komischen
Verwicklungen und öffentlicher Bloßstellung überwinden. Doch auch sie kommt nicht umhin, eine Therapie zu
beginnen.
Die Geschichten, die Sophie Kinsella über ihre Figur
Rebecca Bloomwood erfunden hat, nehmen eine glückliche
Wendung, weil die Romanheldin rechtzeitig in der Lage
ist, ihre Kaufsucht als Krankheit wahrzunehmen. Das
gelingt vielen anderen Betroffenen nicht. Viele von ihnen
stoßen zudem auf ein Umfeld, das ohne Verständnis und
mit Ablehnung reagiert.
Moderne Formen der Sucht
Dabei ist Kaufsucht eine Sucht wie Alkoholismus, Spielsucht, Esssucht, Drogenabhängigkeit oder viele andere Formen von Sucht. Wird diese Sucht nicht behandelt, führt sie
fast zwangsläufig dazu, dass die Betroffenen ihre Finanzen
nicht mehr im Griff haben. Gleichgültig wie hoch die Einnahmen auch sein mögen, sie reichen selten lange genug,
um dem Zwang, Geld auszugeben, langfristig standzuhalten. Mehr oder weniger rasch tritt jedoch ein finanzieller
Druck auf, der das psychische Leiden meist verstärkt. Oft
kommen Schuldgefühle hinzu, Versagensängste oder Wut
auf sich selbst, weil man sich unfähig fühlt, sein Leben zu
meistern.
Die Kaufsucht kann mehr oder minder schwer auftreten.
Sie gilt als Zwangsstörung oder auch als Impulskontrollstörung. Auf jeden Fall fügt sie, solange sie nicht psychotherapeutisch behandelt wird, den Betroffenen großes Leid
zu. Das Schlimme an dieser Störung ist, dass die Betroffenen meistens wissen, wie unsinnig ihr Verhalten ist, auch
wenn sie es nicht offen zugeben. Doch alleine ist es für die
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Betroffenen sehr schwer, sich von dieser Störung zu
befreien, weil sie meist auf einem zu geringen Selbstwertgefühl beruht. Die sinnlosen Käufe sollen vorübergehend
einen „Kick“ vermitteln, damit die Betroffenen wenigstens
für einen Moment lang nicht mehr ihr Leid spüren.
Übermaß an Anstrengung
Geiz, Gier oder Verschwendungssucht mögen extreme Beispiele für ein gestörtes Verhältnis zu Geld sein. Glücklicherweise treffen diese Störungen nicht alle Menschen.
Doch umgekehrt entwickeln leider nur die wenigsten Menschen ein spannungsfreies Verhältnis zu Geld. Auch wenn
sie ihre Finanzen unter Kontrolle haben, erfordert es häufig
ein Übermaß an Disziplin, Aufmerksamkeit und ständige
Wachsamkeit, Einnahmen und Ausgaben nicht nur in der
Waage zu halten, sondern das Ersparte auch wachsen zu lassen. Auf dem Inselstaat Malta beispielsweise ist das
Erbrecht so gefasst, dass jemand, der wegen Verschwendungssucht verurteilt wurde, kein Testament abfassen darf.
Schulden und Kredite sind emotional derart hoch belastet,
dass nicht nur jene unter ihnen leiden, die kaufsüchtig
sind. Es ist ein derartiges Alltagsthema geworden, dass wir
uns nun gesondert damit befassen wollen.