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Faruk Şen, Martina Sauer, Dirk Halm
Intergeneratives Verhalten und (Selbst-)Ethnisierung
von türkischen Zuwanderern
Gutachten des ZfT für die
Unabhängige Kommission "Zuwanderung"
Essen, im März 2001
Zentrum für Türkeistudien
Inhalt
Zusammenfassung.......................................................................................................................3
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis ...................................................................................... 13
1 Einleitung und Begriffsklärung ......................................................................................... 16
2 Die Situation der türkischen Migranten in Deutschland - Indikatoren sozialer
Teilhabechancen .................................................................................................................. 26
2.1 Schulbildung, Ausbildung, Arbeitsmarkt ........................................................................... 26
2.2 Diskriminierung und ethnische Zuschreibung.................................................................... 36
3 Abschottung oder Integration? - Indikatoren der Handlungsorientierungen von
Zuwanderern........................................................................................................................ 46
3.1 Heiratsverhalten.................................................................................................................. 46
3.2 Interkulturelle Kontakte und Wohnumfeld......................................................................... 50
3.3 Sprache .............................................................................................................................. 59
3.4 Mediennutzung ................................................................................................................... 68
3.5 Religion .............................................................................................................................. 74
3.6 Heimatverbundenheit und Deutschlandbild ....................................................................... 94
3.7 Einbürgerung ...................................................................................................................... 99
4 Motive und Ursachen für (Selbst-)Ethnisierung............................................................. 110
4.1 Zur Bedeutung eigenethnischer Organisation .................................................................. 110
4.2 Theoretische Folgen der Befunde..................................................................................... 116
4.3 Identität der zweiten und dritten Generation - eine Integrations-"Bilanz" ....................... 121
5 Handlungsempfehlungen .................................................................................................. 126
6 Literatur ............................................................................................................................. 131
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Zentrum für Türkeistudien
Zusammenfassung
Einleitung und Begriffsklärung
Der entscheidende Faktor für die Sozialisation von Migranten in Deutschland ist die Tatsache
des Fremd-Seins und das Agieren als Fremder in sozialen Systemen, und weniger die genaue
Beschaffenheit von kulturellen, ethnischen oder religiösen Differenzen zwischen Zuwanderern und Aufnahmegesellschaft.
Für das Thema dieses Gutachtens, Intergenerativität und (Selbst-)ethnisierung, ist damit
das bedeutendste Element die Heterogenität der Lebenslagen der Angehörigen der zweiten
und dritten Zuwanderergeneration. Ihre "objektive" Situation wie auch ihre subjektive
Befindlichkeit unterscheidet sich von der ersten Generation deutlich: Während letztere mit
ihren Werten und Einstellungen, auch hinsichtlich ihrer ursprünglichen Lebensplanung,
Bestandteile des Herkunftslandes und der Herkunftskultur bleiben, lebt die zweite Generation
(unfreiwillig) in der Fremde und hat zugleich keine eigentliche Heimat mehr. Daraus ergibt
sich einerseits ein Identifikationsverlust bezüglich der Werte und Einstellungen des
Herkunftslandes und der Familie, andererseits nichtsdestotrotz die Notwendigkeit zu
Unterordnung unter den Lebensplan der Familie (z. B. Rückkehr) und damit ein oft weit
gehender Verzicht auf individuelle Lebensplanung und -führung. Die Integration bzw.
Desintegration der zweiten und dritten Zuwanderergeneration ist damit eine gänzlich andere
als die der ersten.
Entscheidend für den Integrationsverlauf sind die gesellschaftlichen und sozialen Teilhabechancen, die die Aufnahmegesellschaft bereitstellt und die Handlungsorientierungen auf
Zuwandererseite (Orientierung an den Werten der Herkunftsgesellschaft oder an den Werten
der Aufnahmegesellschaft), wobei beide Dimensionen in einer engen Wechselbeziehung zueinander stehen. So ergeben sich vier idealtypische Formen von Integration: Assimilation
(Teilhabe bei hohem Grad der Aneignung der Werte der Aufnahmegesellschaft), Inklusion
(Teilhabe trotz Beibehaltung der Werte der Herkunftskultur), Exklusion (mangelnde gesellschaftliche Teilhabe trotz Aufgabe der Werte der Herkunftsgesellschaft) und Segregation
(mangelnde Teilhabe bei Konservierung der Herkunftskultur und eventuell Etablierung eigenethnischer Infrastrukturen).
Die Aufnahmegesellschaft ist mit Integration durch Assimilation am ehesten zu leben bereit, während die Möglichkeit zur Realisierung von Integration qua Inklusion von ihrem Pluralitätsgrad
der
Gesellschaft
abhängt.
Ein
3
in
pragmatischer
Hinsicht
sinnvoller
Zentrum für Türkeistudien
Integrationsbegriff sollte jedoch einerseits Assimilation, andererseits aber auch Inklusion
beinhalten, da man nicht ohne weiteres davon ausgehen kann, dass sich ethnische, kulturelle
oder religiöse Differenzen in jedem Fall langfristig nivellieren lassen, seien die
Teilhabechancen auch noch so gut.
So gesehen bedeutet Integration, dass eine andere Herkunft und abweichende Lebensarten
und Traditionen nicht im Widerspruch zur gleichberechtigten Teilhabe an gesellschaftlichen
Ressourcen und Prozessen stehen. Integration ist dabei ein wechselseitiger Vorgang, der Anstrengungen von Deutschen und Zuwanderern gleichermaßen erfordert.
Die Situation der türkischen Migranten in Deutschland - Indikatoren sozialer Teilhabechancen
Schulbildung, Ausbildung, Arbeitsmarkt
Das Bildungsniveau der jungen Türken ist zwar im Vergleich zur ersten Generation deutlich
gestiegen, im Vergleich zu den Jugendlichen der Mehrheitsgesellschaft jedoch noch niedrig.
Zugleich heterogenisiert sich die zweite Zuwanderergeneration in eine Gruppe mit eher hoher
Qualifizierung und eine Gruppe, die über keine qualifizierte Schul- und Berufsbildung
verfügt.
Schul-, Berufsbildung und Arbeitsmarkt greifen eng in einander, wobei die Schulbildung
zwar Voraussetzung für den beruflichen Erfolg ist, jedoch gerade für Migranten keine hinreichende Bedingung für die Integration in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt darstellt.
Ohne Schulabschluss ist es kaum mehr möglich, eine Berufsausbildung zu absolvieren, ohne
berufliche Ausbildung wiederum ist die Gefahr, arbeitslos zu werden, deutlich größer als mit.
Neben den Schwierigkeiten der Erreichung eines höherqualifizierten Abschlusses bestehen
weitere migrationsspezifische Probleme: Der Wert, der gerade im muslimischen Kulturkreis
der Bildung traditionell beigemessen wird, verfällt bei der zweiten und dritten Zuwanderergeneration angesichts der Verlockungen des schnellen Geldes, verdient mittels ungelernter
Tätigkeiten. Werthaltungen der Aufnahmegesellschaft werden übernommen, ohne sich adäquaten Teilhabechancen gegenüber zu sehen. Ausbildung ist aber bei Zuwanderern noch
weniger als bei Deutschen Garantie für eine gelungene Integration in den Arbeitsmarkt.
Die ernormen Schwierigkeiten der türkischen Jugendlichen auch mit höherer schulischer
oder beruflicher Ausbildung auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, forcieren diese Entwicklung zudem. Dabei ist von einer signifikanten Diskriminierung ausländischer Arbeitssuchen4
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der in Deutschland in der Bewerbungsphase durch die Arbeitgeber bei zahlreichen Berufsgruppen auszugehen. Auch auf die Teilnahme an der beruflichen Bildung wirken sich diese
Probleme stark aus. Die Berufswahl selbst konzentriert sich auf wenige Tätigkeiten, die wenig
zukunftsträchtig und mit geringen Aufstiegschancen verbunden sind. Der Anteil der an- und
ungelernten Arbeiter ist bei der zweiten Generation zwar geringer als bei der ersten, doch sind
nach wie vor 41% der unter 30-jährigen Türken an- und ungelernte Arbeiter.
Andererseits studieren inzwischen rund 24.000 türkische Studenten an deutschen Hochschulen. Diese Gruppe indiziert eine integrative, respektive assimilative Entwicklung, die
allerdings noch eine Randerscheinung ist.
Eine bessere Integration von Zuwanderern in den Bildung, Ausbildung und Beschäftigung
setzt voraus, dass der Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt von aufnahmegesellschaftlicher
Seite entschieden und effektiv entgegen getreten wird.
Diskriminierung und ethnische Zuschreibung
Fremdenfeindlichkeit in Deutschland wächst in der Problemwahrnehmung der türkischen
Migranten. Ein Drittel bis ein Viertel hat in Deutschland bereits Diskriminierung erfahren. Je
jünger die Zuwanderer sind, desto häufiger erfahren sie Ungleichbehandlung. Zum einen
treten Jüngere häufiger in Kontakt mit der deutschen Bevölkerung und sind möglicherweise
rein quantitativ stärker mit Vorurteilen und individueller Diskriminierung konfrontiert. Zum
anderen entwickeln die Migranten der zweiten und dritten Generation ein anderes Verständnis
von ihrem Platz in der deutschen Gesellschaft und ein anderes, stärkeres Selbstbewusstsein als
die erste Generation, nehmen also auch Ungleichbehandlung stärker wahr. Besonders virulent
wird Diskriminierung in den von sozio-ökonomischer Konkurrenz geprägten Bereichen.
Der Grad der Ausländerfeindlichkeit bei Deutschen variiert nach Region, nach Geschlecht,
nach Alter und nach Bildungsstand: Ostdeutsche, Jungen, Jüngere und Jugendliche mit geringer Ressourcenausstattung sind in höherem Maße ausländerfeindlich als Westdeutsche, Mädchen, ältere Jugendliche und Befragte mit guter Ressourcenausstattung. Auch bestätigt sich,
dass Jugendliche ohne Kontakte zu Ausländern in höherem Maße ausländerfeindlich sind als
solche mit Kontakten.
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Zentrum für Türkeistudien
Abschottung oder Integration? - Indikatoren der Handlungsorientierungen von
Zuwanderern
Heiratsverhalten
Der auch in der zweiten Generation noch vorhandene Männerüberschuss hat keine erhöhte
Bereitschaft zu Eheschließungen mit Frauen nichttürkischer Herkunft zur Folge, sondern verstärkt die Neigung zu einer innerethnischen Heirat mit einer Partnerin aus der Türkei. Das
Ausmaß der Heiratsmigration ist in den letzten Jahren konstant geblieben. Insgesamt ist der
Trend zur bikulturellen Eheschließung eher gering. Die insgesamt über die Jahrzehnte moderate Zunahme binatonaler bzw. bikultureller Eheschließungen entwickelt sich in Abhängigkeit
des sich leicht verbessernden Bildungsgrades und der verbesserten Sprachkenntnisse der Zuwanderer. Auszugehen ist von einer Wertetransmission innerhalb der Familien hinsichtlich
der Präferenz für ethnisch homogener Ehen.
Interkulturelle Kontakte und Wohnumfeld
Je älter die Migranten sind, desto geringer wird der Anteil derjenigen, die Kontakte zu Deutschen pflegen. Trotz aller Probleme der zweiten Generation sind die Gelegenheitsstrukturen
hier deutlich günstiger und die Kontaktfrequenz höher als bei den Eltern, wobei die Kontakthäufigkeit deutlich mit einem hohen Bildungsstand und guten Sprachkenntnissen korreliert.
Insgesamt kann man den - freiwilligen - Kontakt zwischen Minderheits- und Mehrheitsbevölkerung zumindest aus Sicht der Migranten als stark ausgeprägt bezeichnen. Er beschränkt sich
nicht mehr auf die Lebensbereiche, auf deren ethnische Zusammensetzung sie keinen Einfluss
haben. Dies deutet darauf hin, dass die strikte Trennung der beiden Gesellschaften doch nicht
mehr so stark ist und das Zusammentreffen mit Deutschen nicht mehr nur aufgrund unbeeinflussbarer Rahmenbedingungen erfolgt. Von selbstgewählter Isolation von der deutschen Gesellschaft kann somit in Anbetracht der stattfindenden Kontakte nicht die Rede sein. Dieser
Befund spiegelt sich auch in einer vorsichtigen Entflechtung ethnisch homogener Wohnquartiere. Der Wunsch nach häufigerem und intensiverem Kontakten ist dort am ausgeprägtesten, wo bereits Kontakte und günstige Gelegenheitsstrukturen bestehen. Diese Befunde
sprechen dafür, von einer sich selbst tragenden Tendenz zu Integration durch Assimilation
auszugehen, sobald Gelegenheitsstrukturen und ein zumindest rudimentärer gegenseitiger
Austausch besteht.
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Sprache
Je jünger die türkischen Migranten, um so besser sind die selbst attestierten Noten in Deutsch,
wohl aufgrund der in Deutschland durchlaufenen Schulbildung. Entsprechend spielt auch die
Aufenthaltsdauer eine Rolle für das Niveau der Sprachkenntnisse. Je länger die Befragten in
Deutschland leben, um so besser sind ihre Deutschkenntnisse. Gleichzeitig werden die Kompetenzen im Türkischen schlechter. Die Neigung vieler Migranten, sich ihre Ehepartner in der
Türkei zu suchen, führt jedoch dazu, dass auch einige junge Migranten und Mütter kleiner
Kinder kaum Deutsch sprechen.
Die in Deutschland für Zuwanderer angebotenen Sprachkurse hatten nur geringen Einfluss
auf die Sprachkompetenz der Arbeitsmigranten. Nur 7% von ihnen sahen aber keine Notwendigkeit, Deutsch in einem Sprachkurs zu lernen.
Mediennutzung
Die Nutzung deutscher und muttersprachlicher Medien erfolgt durch die türkischen Migranten
komplementär - eine Aussage, die für die Jüngeren in besonderem Maße gilt. Diese Schlussfolgerung stützt die Einschätzung, dass die Nutzung türkischsprachiger Medien eher die
Funktion der Beschaffung derjenigen Informationen dient, die deutschsprachige Medien nicht
bieten. Mithin legt dieses Ergebnis nicht die Interpretation nahe, die Etablierung der türkischen Medien in Deutschland sei Ursache oder Folge von Abschottung. Vielmehr kann Integrationspolitik im Prinzip guten Gewissens auf die Kooperation mit den türkischsprachigen
Medien setzen, freilich unter der Voraussetzung inhaltlich-politischer Zielidentität, die allerdings nicht in allen Fällen gegeben sein dürfte.
Religion
Religiöse Riten und Gebräuche bei muslimischen Zuwanderern berühren auch eine kulturellgesellschaftliche und nicht nur eine religiöse Ebene. Auch die junge Generation wird, obwohl
sie sich weniger religiös definiert, sich eng mit Deutschland verbunden fühlt und kaum mehr
an eine Rückkehr denkt, an bestimmten Riten und Handlungen als Teil der kulturellen Identität fest halten. Das Religionsverständnis ist bei der zweiten Generation ein eher aufgeklärtes.
Dennoch bleibt die türkisch-islamische Kultur ein zentraler Bezugsrahmen auch der Jüngeren.
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Zentrum für Türkeistudien
Die Orientierung türkischer Jugendlicher an religiösen Organisationen belegt keineswegs
eine massenhafte Fundamentalisierung der zweiten Generation. Ihr Organisationsgrad ist geringer als der der älteren Generation, fundamentalistische Verbände haben für die jugendlichen Türken keine stärkere Attraktivität als für Ältere.
Heimatverbundenheit und Deutschlandbild
Ehemalige Gastarbeiter und Migranten, die zum Studium oder zur Ausbildung und somit erst
im Erwachsenenalter nach Deutschland kamen, wollen sehr viel häufiger zurückkehren als
diejenigen, die im Zuge der Familienzusammenführung nachreisten, und vor allem als die hier
Geborenen, von denen sich nur noch 18% eine Remigrationsoption offen halten. Die große
Zahl der jungen Migranten, die inzwischen auch in der Bundesrepublik heimisch geworden
sind und ihren Lebensmittelpunkt bewusst und zukünftig hier sehen, zeigt eine stark bikulturelle Identität. Denn die zunehmende Heimatverbundenheit mit Deutschland geht nicht einher
mit einer emotionalen Loslösung von der Türkei, so dass auch in Zukunft von einer Doppelidentität ausgegangen werden muss. Das Verständnis von Integration in der Aufnahmegesellschaft sollte diesem Umstand Rechnung tragen.
Einbürgerung
Für die Entscheidung zur Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft sind vor allem rechtliche, politische und pragmatische Aspekte ausschlaggebend, emotionale Gründe sind untergeordnet. Nach eigenen Angaben erfüllen drei Viertel der bisher noch nicht eingebürgerten
türkischen Migranten die Voraussetzungen für die deutsche Staatsangehörigkeit. Das Fehlen
der ausreichenden Sprachkenntnisse ist das größte Einbürgerungshindernis. Trotz massiver
Kritik an der Sprachregelung im neuen Gesetz ist die Tendenz zur Einbürgerung jedoch weiterhin vorhanden, insbesondere unter den Angehörigen der zweiten Generation, die mehrheitlich eine Einbürgerung beabsichtigt. Für diese Gruppe stellt jedoch vor allem die Aufgabe der
türkischen Staatsangehörigkeit ein Hindernis für die Einbürgerung dar.
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Motive und Ursachen für (Selbst-)Ethnisierung
Zur Bedeutung eigenethnischer Organisation
Zwei Motive für den Zusammenschluss in ethnischen Gruppen können unterschieden werden:
Erstens die Unmöglichkeit der Verfolgung der eigenen Interessen und Bedürfnisse aufgrund
mangelnden Zugangs zu den von der Mehrheitsgesellschaft verwalteten Ressourcen. Der
wichtigste Hinderungsgrund sind hier mangelnde Sprachkenntnisse. Aber auch offene und
versteckte Diskriminierung, mangelnde Bildungschancen und fehlende Aneignung von
Kulturtechniken jenseits der Sprache spielen hierbei eine Rolle.
Zweitens bleiben auch bei fortschreitender Chancengleichheit kulturelle Spezifika erhalten. Starke Hinweise darauf sind insbesondere die Doppelidentifikation der zweiten Migrantengeneration mit Deutschland und der Türkei, die Bedeutung des Islam als identitätsstiftende
Orientierung auch bei den Jüngeren in einer modifizierten, liberalen Form, die Nutzung türkischer Medienangebote bei zugleich steigender Rezeption auch deutscher Medien sowie die
Präferenz für intraethnische Eheschließungen. Alle diese Merkmale sind zwar nicht gänzlich,
aber zum Teil von der Teilhabe an den Ressourcen und Prozessen der Aufnahmegesellschaft
unabhängig.
Theoretische Folgen der Befunde
Die Handlungsorientierung der zweiten Migrantengeneration ergibt sich nicht aus der Summe
der beibehaltenen traditionellen und übernommenen aufnahmegesellschaftlichen Werte, sondern es hat sich eine spezifische eigene Kultur mit Elementen beider Gesellschaften konstituiert. Somit entspricht die Theorie eines linearen und wechselseitigen Prozesses von Aufgabe
und Aneignung authentischer Werte nicht der Realität. Inzwischen wurden in der Migrationsforschung zur Möglichkeit der Assimilation alternative Integrations- und Desintegrationsformen entwickelt, die auch tatsächlich empirische Relevanz besitzen - Inklusion, Exklusion,
Segregation.
Aus den empirischen Befunden ergibt sich die Notwendigkeit, theoretisch das rein assimilative Verständnis von erfolgreicher Integration aufzugeben und um die Inklusion zu erweitern. Entsprechend dem eingangs dargestellten Modell sollte dann Integrationspolitik vor
allem die Verbesserung der Teilhabechancen - einschließlich eines intensiven und gleichberechtigten Miteinanders - zum Ziel haben.
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Zentrum für Türkeistudien
Daraus ergibt sich ein "Magisches Dreieck" der Integrationspolitik: hohe Kontakthäufigkeit und -intensität durch gleichberechtigte Teilhabechancen, Verzicht auf ein rein assimilatives Verständnis von Integration und Konfliktfreiheit sind Ziele, die nicht zur gleichen
Zeit in vollem Umfang verwirklicht werden können. Integrationspolitik hat also eine sehr
genaue Abwägung zwischen diesen Zielen zu treffen. Entscheidet man sich für ein weiter
gefasstes Verständnis von Integration und fördert die gleichberechtigte Teilhabe und das Miteinander, muss man zumindest zunächst mit einer Erhöhung des Konfliktpotentials zwischen
Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft rechnen, das es zu minimieren gilt. Dies kann durch
Maßnahmen zur Aufwertung des sozialen Status der Zuwanderer, durch Förderung des Sozialklimas und durch Verbesserung von Gelegenheitsstrukturen zum gleichberechtigten Kontakt
erreicht werden.
Identität der zweiten und dritten Generation - eine Integrations-"Bilanz"
Das Integrationsmodell, das die Befunde dieses Gutachtens für die zweite Zuwanderergeneration impliziert, ist das der Inklusion: gleiche gesellschaftliche Teilhabechancen junger Menschen aus Zuwandererfamilien bei Hinnahme und Akzeptanz eventuell abweichender kultureller Identität(en). Einem langfristigen Ziel der Assimilation steht das nicht entgegen: Die
Akzeptanz der Identität(en) von Zuwanderern ist Voraussetzung für Inklusion wie Assimilation gleichermaßen. Zu berücksichtigen ist jedoch die Heterogenisierung der zweiten Generation, in der - wenn auch in geringerem Ausmaß - sowohl Assimilierungs- als auch
Segregationstendenzen sichtbar sind.
Empfehlungen
Anti-Diskriminierungsgesetz: Das explizite Bekenntnis der deutschen Gesellschaft zur Chancengleichheit für Migranten hätte zum einen eine wesentliche Symbolwirkung, eröffnet zum
anderen den Zuwanderern auch tatsächlich Handlungsalternativen jenseits des Rückzugs und
der (Selbst-)Ethnisierung.
Islamischer Religionsunterricht: Gerade unter den jungen Türken entwickelt sich ein Verständnis des Islam, das immer weniger im Widerspruch steht zu individualistischen und liberalen Einstellungen. Dieser Entwicklung soll durch die Einführung von Islamunterricht an
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staatlichen Regelschulen Rechnung getragen werden, um nicht ohne Not Segregation bei der
religiösen Unterweisung in den islamischen Selbstorganisationen zu befördern.
Sprachförderung: Plausibelerweise ist davon auszugehen, dass sich die häufig anzutreffende
"kulturelle Zerrissenheit" der jungen Zuwanderer auch in ihren Sprachkenntnissen spiegelt oft wird sowohl das Deutsch als auch die Herkunftssprache dann nur unzureichend beherrscht.
Es wäre zu überlegen, ob nicht durch innovative Unterrichtskonzepte (interkulturelle Erziehungskonzepte und weiterhin muttersprachlicher Unterricht) dieser Mangel in einen Vorteil
umzumünzen wäre, der das Konkurrenzverhältnis der Sprachen von Herkunfts- und Zuwanderungsland aufhebt, indem die Sprachkompetenz generell erhöht und auf die Beherrschung
beider Sprachen gesetzt wird.
Darüber hinaus ist für neue Zuwanderer ein umfassendes Angebot an Sprach- und anderen
Eingliederungskursen - ähnlich wie für Aussiedler - empfehlenswert, wobei Zwangsmassnahmen aller pädagogischen Erfahrung nach wenig Erfolg versprechen. Besonderes
Augenmerk sollte auf die sprachliche Qualifizierung in betrieblichen Zusammenhängen gelegt
werden.
Förderung und Evaluierung von ethnischen Selbstorganisationen: Ethnische Selbstorganisationen sollten als selbstverständlicher Bestandteil der deutschen Gesellschaft betrachtet werden. Gleichwohl sind ihre desintegrativen Wirkungen nicht zu unterschätzen. Für eine pragmatische Integrationspolitik, die beständig bemüht ist, ein Mehr an Gemeinsamkeit zwischen
Deutschen und Zuwanderern herzustellen, ist der Ausbau des Wissenstandes über die Motive
für ethnische Selbstorganisation unerlässlich. Nur so kann eine Unterscheidung des Rückzug
in ethnische Nischen als Folge nachlassender Kontakte, Diskriminierung und fehlender Teilhabechancen von im Kern kulturbedingten, durch Integrationspolitik nicht zu beeinflussenden
Neigungen zur Etablierung eigenethnischer Netzwerke, die für die Identitätsbildung und -stabilisierung unerlässlich sein können, getroffen werden. Dies ist für pragmatische
Integrationspolitik unerlässlich.
Förderung von internationalem und interkulturellem Jugendaustausch: Insbesondere das
Kennenlernen von Deutschen und Zuwanderern im Jugendalter, noch weitgehend jenseits von
Wettbewerb und sozio-ökonomischer Konkurrenz, birgt ein nachhaltiges Verständigungspotential. Entsprechend bietet sich eine Intensivierung derartiger Bemühungen (Förderung von internationalem Jugendaustausch etc.) gerade auch mit Blick auf benachteiligte
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Zentrum für Türkeistudien
deutsche Jugendliche an. Diese Aufgaben könnte ein deutsch-türkisches Jugendwerk
wahrnehmen.
Lehren des Integrationsverlaufs der Arbeitsmigranten für ein Zuwanderungsgesetz:
Die Befunde machen deutlich, dass zahlreiche Probleme im Zusammenleben der Minderheitsund der Mehrheitsgesellschaft aus der vermeintlichen Befristung des Aufenthaltes resultieren
- eine falsche Einschätzung, die auf beiden Seiten Maßnahmen zur Integration überflüssig
erscheinen ließ. Mit einer Befristung des Aufenthalts von Migranten in einem Zuwanderungsgesetz darf nicht mittelbar ein Argument für die Unterlassung von Integrationsanstrengungen
und notwendige gesellschaftliche Anpassungsprozesse geliefert werden.
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Zentrum für Türkeistudien
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
Tabellen
Tabelle 1:
Soziostrukturelle Merkmale der türkischen Migranten in Deutschland ........... 20
Tabelle 2:
Idealtypisches Modell der Integrationsverläufe nach Teilhabechancen und
Handlungsorientierungen .................................................................................. 23
Tabelle 3:
Türkische und ausländische Schüler an allgemeinbildenden Schulen in
Deutschland....................................................................................................... 27
Tabelle 4:
Ausbildungsbeteiligung ausländischer Jugendlicher in den alten Ländern nach
Geschlecht und Staatsangehörigkeit 1995 und 1998 ........................................ 30
Tabelle 5:
Berufliche Stellung nach Alter.......................................................................... 33
Tabelle 6:
Bekämpfung der Ausländerfeindlichkeit als wichtiges gesellschaftlichpolitisches Problemfeld..................................................................................... 37
Tabelle 7:
Selbstbild in Abgrenzung zu der anderen Gruppe von deutschen und türkischen
Jugendlichen nach verschiedenen Lebensbereichen ......................................... 44
Tabelle 8:
Einstellung türkischer Migranten zur Heirat mit deutschen Ehepartnern 1985,
1995 und 2000................................................................................................... 47
Tabelle 9:
Bereitschaft zur Ehe (Unverheiratete) und Ehe (Verheiratete) junger Türken
zwischen 16 und 29 Jahren mit einem deutschen Partner................................. 48
Tabelle 10:
Kontakte zu Deutschen in verschiedenen Lebensbereichen nach
soziodemographischen Merkmalen................................................................... 52
Tabelle 11:
Kontakt zu Deutschen nach Wunsch nach mehr Kontakten ............................. 57
Tabelle 12:
Wunsch nach mehr Kontakt zu Deutschen nach soziodemographischen
Merkmalen ........................................................................................................ 59
Tabelle 13:
Subjektive Sprachkompetenz............................................................................ 61
Tabelle 14:
Subjektive Sprachkompetenz (Verstehen) in Deutsch und Türkisch nach
soziodemographischen Merkmalen................................................................... 62
Tabelle 15:
Gesprochene Sprache innerhalb der Familie .................................................... 64
Tabelle 16:
Erwerb der Deutschkenntnisse nach soziodemographischen Merkmalen ........ 65
Tabelle 17:
Türkische Zeitungen in Deutschland ................................................................ 71
Tabelle 18:
Nutzung deutscher Medien durch türkische Migranten nach Altersgruppen ... 73
Tabelle 19:
Türkisch-islamische Dachverbände in der Bundesrepublik.............................. 78
Tabelle 20:
Religiosität nach soziodemographischen Merkmalen....................................... 80
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Tabelle 21:
Religiosität nach Aufenthaltsdauer der 18- bis 29-Jährigen ............................. 80
Tabelle 22:
Häufig ausgeführte religiöse Handlungen nach soziodemographischen
Merkmalen ........................................................................................................ 81
Tabelle 23:
Bewertung religiöser Items nach soziodemographischen Merkmalen ............. 84
Tabelle 24:
Modern-liberale Orientierung junge Migranten nach Schulbildung und
beruflicher Ausbildung ..................................................................................... 85
Tabelle 25:
Mitglieder von Moscheevereinen nach soziodemographischen Merkmalen.... 87
Tabelle 26:
Mitglieder ausgewählter Dachverbände und Mitglieder gesamt nach
soziodemographischen Merkmalen................................................................... 89
Tabelle 27:
Rückkehrabsicht und Heimatverbundenheit nach soziodemographischen
Merkmalen ........................................................................................................ 96
Tabelle 28:
Zufriedenheit mit verschiedenen Lebensbereichen nach Rückkehrabsicht ...... 97
Tabelle 29:
Einbürgerung türkischer Migranten 1982-1999................................................ 99
Tabelle 30:
Staatsbürgerschaft nach sozidemographischen Merkmalen ........................... 101
Tabelle 31:
Gründe für die vollzogene Einbürgerung........................................................ 102
Tabelle 32:
Nicht erfüllte Einbürgerungsvoraussetzungen ................................................ 104
Tabelle 33:
Zustimmung der türkischstämmigen Migranten zu Aussagen über die
Sprachkenntnisse als Einbürgerungskriterium ............................................... 104
Tabelle 34:
Absicht zur Einbürgerung nach sozidemographischen Merkmalen ............... 106
Tabelle 35:
Gründe, sich nicht einbürgern zu lassen ......................................................... 108
Tabelle 36:
Gründe für die Einbürgerung ......................................................................... 108
Tabelle 37:
Mitgliedschaft in Vereinen/Organisationen türkischer Jugendlicher nach
Geschlecht....................................................................................................... 110
Abbildungen
Abbildung 1: Ausländische und deutsche Schulabgänger 1999 nach Schulabschluss ........... 29
Abbildung 2: Verteilung der türkischen Auszubildenden nach Ausbildungsbereichen
1999................................................................................................................... 31
Abbildung 3: Verteilung junger türkischer Migranten (18 bis 29 Jahre) nach
Berufsabschlüssen............................................................................................. 32
Abbildung 4: Berufliche Stellung der türkischen Jugendlichen bis 24 Jahre ......................... 33
Abbildung 5: Erfahrung von Diskriminierung nach Altersgruppen........................................ 38
Abbildung 6: Häufigkeit der wahrgenommene Ungleichbehandlung auf unterschiedlichen
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Kontaktfeldern nach Alter................................................................................. 39
Abbildung 7: Kontakt zu Personen deutscher Herkunft in verschiedenen Lebensbereichen . 51
Abbildung 8: Ethnische Zusammensetzung der Wohnumgebung nach Altersgruppen.......... 55
Abbildung 9: Wunsch nach mehr Kontakt nach Wohnumfeld ............................................... 58
Abbildung 10: Deutschkenntnisse nach Sprachkursbesuch ..................................................... 66
Abbildung 11: Ursachen, keinen Sprachkurs besucht zu haben............................................... 67
Abbildung 12: Interesse an einem Sprachkurs ......................................................................... 68
Abbildung 13: Genutzte deutsche und türkische Medien......................................................... 73
Abbildung 14: Grad der Religiosität ........................................................................................ 79
Abbildung 15: Beurteilung religiös-konservativer und moderner Aussagen ........................... 83
Abbildung 16: Mitgliedschaft in einem Moscheeverein .......................................................... 86
Abbildung 17: Zugehörigkeit zu Dachverbänden der Moscheevereine ................................... 88
Abbildung 18: Verantwortung für den Inhalt des Islamunterrichts.......................................... 92
Abbildung 19: Angebot von konfessionellem islamischen Religionsunterricht für
muslimische Kinder an deutschen Schulen....................................................... 93
Abbildung 20: Gewünschte Sprache des konfessionellen Islamunterrichts ............................. 94
Abbildung 21: Rückkehrabsicht ............................................................................................... 95
Abbildung 22: Heimatverbundenheit ....................................................................................... 95
Abbildung 23: Erfüllung der Voraussetzungen für die Einbürgerung nach dem neuen
Staatsangehörigkeitsrecht................................................................................ 103
Abbildung 24: Absicht zur Einbürgerung............................................................................... 105
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1 Einleitung und Begriffsklärung
Für die Diskussion über die politische Gestaltung der Zuwanderungsrealität in der Bundesrepublik ist die Auseinandersetzung mit der Lebenswirklichkeit und den Einstellungen der
bereits in Deutschland lebenden Zuwanderer von herausragender Bedeutung. Mittels einer
Analyse der Situation von in Deutschland lebenden Arbeitsmigranten und der Untersuchung
der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, innerhalb derer sie agieren, lassen sich Defizite
und deren Ursachen im Zusammenleben identifizieren. Für die Gestaltung der zukünftigen
Zuwanderungs- und Integrationspolitik werden aus einer solchen Analyse Optionen für die
Ausformung des interethnischen Zusammenlebens in Deutschland sowie Handlungsempfehlungen ableitbar, wie entsprechende Zielvorstellungen realisiert werden können.
Begriff des "Zuwanderers"
Der Begriff des "Migranten" oder "Zuwanderers" bedarf bei einem derartigen Unterfangen
von Beginn an der Problematisierung. Immer weniger dieser Menschen können tatsächlich
eigene Migrationserfahrung vorweisen. Und selbst, wenn Angehörige der zweiten Generation
tatsächlich noch nach Deutschland eingewandert sind, so unterscheiden sich ihre Motive doch
grundlegend von denen ihrer Eltern - zugrunde liegt bei der zweiten und umso mehr bei der
dritten Generation nicht die bewusste Entscheidung für den Aufenthalt in Deutschland, etwa
zum Zweck der Erwerbstätigkeit. Für die Identität und Befindlichkeit dieser jüngeren "Zuwanderer" hat das weit reichende Folgen, und damit auch für ihr Verhalten in der Aufnahmegesellschaft.1 Insbesondere die in immer weniger Lebensplanungen vorkommende Absicht
zur Remigration veranlasst die Zuwanderer der zweiten Generation, sich stärker in gesellschaftliche Strukturen in Deutschland einzubinden. Zum Teil geschieht dies durch Zugehörigkeit zu sozialen Systemen der Mehrheitsgesellschaft, zum Teil durch die Etablierung ethnischer Infrastrukturen. Gerade letztere Form der Einbindung in die Aufnahmegesellschaft wird
von deutscher Seite in aller Regel mit einem gewissen Misstrauen registriert, weckt sie doch
Ängste vor einer Fragmentierung der Gesellschaft und vor der Bedrohung, wenn nicht dem
Verlust der eigenen kulturellen Identität, genauer: des Bildes, das man sich von dieser eigenen
kulturellen Identität macht. Welche Vorstellungen, besser: Interessen - denn dies ist letztlich
1
Mit dieser Einschränkung werden die Begriffe "Migranten" und "Zuwanderer" aus pragmatischen Überlegungen im Text weiter verwendet. Die Sozialwissenschaft hat das begriffliche Dilemma bisher nicht aufzulösen vermocht - "Menschen mit Migrationshintergrund" oder "aus Zuwandererfamilien", "Fremde", "ethnische Minderheiten", "Allochthone" und erst recht "Ausländer" bergen allesamt Abgrenzungsprobleme
oder problematische Implikationen.
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Zentrum für Türkeistudien
eine originär politische Frage - man bei der Gestaltung der Zuwanderungsrealität in Deutschland verfolgt, ist zunächst eine sekundäre Frage. Vorrangig ist ein pragmatischer Blick auf die
Art und Weise, wie die Mehrheitsgesellschaft das Zusammenleben mit den Zuwandern
gestaltet, bzw. welche Handlungsstrategien die Zuwanderer aus welchen Motiven verfolgen.
Das heißt z. B. konkret: Würde sich die verstärkte Etablierung ethnischer Freizeiteinrichtungen - von der Diskothek bis zum Fußballverein - als Reaktion auf Diskriminierung
in deutschen Diskotheken und Fußballvereinen erweisen, implizierte dieser Befund andere
gesellschaftliche Gestaltungsmöglichkeiten, als wenn sich die Entwicklung ethnischer
Infrastrukturen als in fundamentalen kulturellen Unterschieden oder innerfamiliären
Mechanismen begründet entpuppte. Im ersten Fall ließe die Bekämpfung von Rassismus und
Fremdenfeindlichkeit die eigenethnische Organisation redundant werden, im zweiten Fall
hingegen nicht. Das vorliegende Gutachten versteht sich als pragmatischer Beitrag zu dieser
Diskussion. Selbstverständlich werden die analysierten Alternativen dabei nicht so deutlich
wie in diesem plakativen Beispiel von einander abzugrenzen sein; vielmehr ist zu
berücksichtigen, dass komplexe Interaktionen zwischen Mehrheitsgesellschaft und Migranten
zum Tragen kommen, die sich nicht allein mit Diskriminierung und kultureller Differenz
erklären lassen.
Etablierung einer pragmatischen Debatte
Mit der Prämisse des Pragmatismus ist die Debatte um die Gestaltung der Zuwanderungsrealität in Deutschland fruchtbar. Sinnvoll und möglich wird sie bei Zugrundelegung eines
Kulturbegriffs, der weniger Individuen, sondern vielmehr die Gesamtgesellschaft als Kulturträger versteht.2 Nicht Träger miteinander vereinbarer oder unvereinbarer kultureller oder
religiöser Orientierungen treffen in Deutschland aufeinander: Die Gesellschaft kann gemeinsam einen kulturellen Konsens aushandeln. Kultur ist damit nicht homogen und statisch, sondern dynamisch und gestaltungsoffen. "Kulturelle Differenz" von Individuen kann auf dieser
Grundlage zudem permanent hinterfragt und hinter dieser Differenz eventuell liegende soziale
Einflussfaktoren - mangelnde soziale Anerkennung, Diskriminierung, aber auch Missverständnisse oder mangelnde Information über einander - können aufgedeckt werden. Dies ist
die Grundlage dafür, so viele gesellschaftliche Konflikte wie möglich nicht in einem stati-
2
Siehe zur ausführlichen Diskussion dieser konkurrierenden Kulturverständnisse Hämmig, Oliver: Zwischen
zwei Kulturen. Spannungen, Konflikte und ihre Bewältigung bei der zweiten Ausländergeneration. Opladen
2000, S. 67-74.
17
Zentrum für Türkeistudien
schen Kulturkonflikt verharren zu lassen, sondern als soziale Tatbestände aushandelbar zu
machen.
Das vorliegende Gutachten hat exemplarisch die sicherlich "fremdeste" der großen Arbeitsmigranten-Gruppen zum Thema, die der Türkinnen und Türken. Insbesondere das Bekenntnis zum Islam unterscheidet sie von den anderen südeuropäischen Zuwanderern, wobei
die andere Religionszugehörigkeit mittelbar auch andere, als fremd empfundene Habitusformen nach sich zieht. Die Erkenntnisse und Einschätzungen, die hier folgend für diese
Gruppe formuliert werden, sind bei Zuwanderern anderer Herkunft teils in geringerem Umfang virulent, trotzdem aber in ihren Grundzügen übertragbar. Dies folgt aus der Annahme,
dass der entscheidende Faktor für die Sozialisation von Migranten in Deutschland die Tatsache des Fremd-Seins an sich ist, also das Agieren als Fremder in sozialen Systemen, und
weniger die genaue Beschaffenheit von kulturellen, ethnischen, oder religiösen Differenzen.
Dieser Tatsache illustriert etwa die Beobachtung, dass der große Anteil der Aleviten an den
türkischen Zuwanderern in Deutschland der deutschen Mehrheitsbevölkerung bis heute nicht
bewusst ist - obwohl diese weit gehend unterschiedliche Lebensweisen, eine vollkommen
eigene Art der (undogmatischen) Religionsausübung etc. aufweisen, tut dies der generalisierenden Wahrnehmung der "Türken" oder der "Muslime" keinen Abbruch.3
Türkische Migration nach Deutschland
Zur Zeit leben in der Bundesrepublik Deutschland rund 2,4 Mio. Bürger türkischer Herkunft,
mit leicht steigender Tendenz durch Geburten und Familiennachzug. Sie haben sich vor allem
in den großstädtischen Ballungszentren der Bundesrepublik angesiedelt. Neben Berlin,
Frankfurt, München und Stuttgart bilden die Städte des Ruhrgebiets einen regionalen
Schwerpunkt.4 Im Zuge der nunmehr rund 40-jährigen Geschichte der türkischen Migration in
die Bundesrepublik entwickelte und veränderte sich die türkische Community. Zu Beginn der
Arbeitsmigration Anfang der 60er Jahre beabsichtigten die türkischen Vertragsarbeiter in der
Regel, drei bis fünf Jahre in Deutschland zu bleiben und so viel Geld wie möglich anzusparen,
um sich anschließend eine Existenz in ihrem Herkunftsland aufzubauen. Sie waren, meist im
Alter zwischen 20 und 30 Jahren, aus den ländlichen, noch semi-feudalistisch geprägten
Regionen zunächst in die industrialisierten Zentren der Türkei gewandert und von dort aus
weiter in die Industrieländer Westeuropas. Ihre ethnisch-kulturelle Identität wurde aufgrund
3
4
Siehe auch Zentrum für Türkeistudien (Hg.): Das Bild der Ausländer in der Öffentlichkeit. Eine theoretische
und empirische Analyse zur Fremdenfeindlichkeit. Opladen 1995, insbesondere S. 95-138.
Statistisches Bundesamt, Fax auf Anfrage, Daten für 1999.
18
Zentrum für Türkeistudien
der mittelfristigen Rückkehrabsicht nicht mit Blick auf eine mögliche nachhaltige
Eingliederung in die deutsche Gesellschaft thematisiert - weder unter den Migranten selbst,
noch durch die Deutschen. Dieser Umstand resultierte in einer Großzahl sehr konkreter
Manifestationen von Fremdheit zwischen Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft. Am weit
reichendsten darunter sicherlich, dass weder der Wille zum Erlernen der deutschen Sprache
bestand, noch die Aneignung von Kenntnissen des Deutschen von der Aufnahmegesellschaft
eingefordert und durch entsprechende Angebote abgesichert wurde. Die Migranten der ersten
Generation bildeten somit eine homogene soziale und kulturelle Subgesellschaft in der
Bundesrepublik.5
Im Laufe der Zeit stellte sich heraus, dass die geplanten drei bis fünf Jahre im Ausland
nicht ausreichten, um zur Existenzsicherung in der Türkei hinreichende Mittel anzusparen.
Zudem erschwerte die angespannte wirtschaftliche Situation in der Türkei der 70er Jahre die
dortige ökonomische Etablierung von Rückkehrern. Also blieben die Vertragsarbeiter länger
und holten sukzessive ihre Frauen und Kinder nach Deutschland, insbesondere nach dem Anwerbestopp und dem Gesetz über die Familienzusammenführung 1973. Damit veränderte sich
die Sozialstruktur der türkischen Migranten gravierend. Lebten zu Beginn der türkischen Zuwanderung fast ausschließlich männliche erwerbstätige Migranten in der Bundesrepublik,
sind inzwischen nur noch ein Viertel der türkischstämmigen Menschen in Deutschland als
"Gastarbeiter" gekommen: 53% wanderten im Zuge der Familienzusammenführung ein und
17% der erwachsenen Türken sind bereits hier geboren. Der Anteil der Frauen hat sich fast an
den der Männer angeglichen, obwohl nach wie vor ein Männerüberschuss zu verzeichnen ist.
Mehr als die Hälfte der Erwachsenen ist bereits länger als 20 Jahre hier.6 Von den rund 2,1
Millionen türkischen Staatsbürgern sind rund 800.000 jünger als 21 Jahre, weitere 445.000
zwischen 21 und 30 Jahre alt. Damit bilden die jungen Migranten 60% der türkischen Gesellschaft in der Bundesrepublik.7 Der Bevölkerungsanteil der ausländischen Jugendlichen beträgt
in der Altersgruppe zwischen 15 und 18 Jahren 10%. Die Hälfte der jungen türkischen
Migranten sind in Deutschland geboren oder hier aufgewachsen. Knapp drei Viertel der 1825-jährigen sind Bildungsinländer, haben also mindestens die weiterführende Schule in
Deutschland besucht.8
5
6
7
8
Siehe ausführlich zur türkischen Arbeitsmigration nach Deutschland: Şen, Faruk/Andreas Goldberg: Türken
in Deutschland. Leben zwischen zwei Kulturen. München 1994, S. 9-26.
Vgl. Zentrum für Türkeistudien: Die Einbürgerung türkischstämmiger Migranten in Deutschland. Münster
2001 (im Erscheinen), S. 31.
Statistisches Bundesamt, Fax auf Anfrage, 2000, Daten für 1999.
Zentrum für Türkeistudien: Die Einbürgerung türkischstämmiger Migranten in Deutschland. Münster 2001
(im Erscheinen), S. 35. Eine Quantifizierung der Angehörigen der zweiten und dritten Generation erweist
sich als schwierig. Minimalkonsens ist, dass alle in Deutschland geborenen Kinder von Zuwandern zur
19
Zentrum für Türkeistudien
Drei Viertel der erwachsenen Migranten sind verheiratet, die Haushalte umfassen im
Durchschnitt 2,08 Kinder9.
Tabelle 1: Soziostrukturelle Merkmale der türkischen Migranten in Deutschland10
Prozent
Geschlecht
männlich
weiblich
55,1
44,9
Bis unter 18 Jahren
18 bis 20 Jahre
21 bis 34 Jahre
35 bis 44 Jahre
45 bis 54 Jahre
55 bis 64 Jahre
65 Jahre und älter
32,4
5,7
30,1
11,6
8,9
8,7
2,5
ledig
verheiratet
verwitwet/geschieden
Kinder pro Haushalt (Mittelwert)*
Aufenthaltsdauer12
Bis 20 Jahre
21 bis 30 Jahre
Mehr als 30 Jahre
Zuwanderungsgrund*
Gastarbeiter
Familienzusammenführung
In Deutschland geboren
Studium oder Ausbildung
Flüchtling/Asylbewerber
21,2
75,2
3,8
2,08
Alter
Familienstand11
9
10
11
12
41,8
48,9
9,3
24,1
53,1
16,7
1,9
1,8
zweiten bzw. dritten Generation gehören. Zudem sind aber sicherlich auch diejenigen, die nach der Geburt
nach Deutschland nachgeholt wurden und ihre Sozialisation, insbesondere die schulische, in Deutschland
durchlaufen haben oder durchlaufen, zu dieser Gruppe zu zählen. Die Alterstruktur der Türken in Deutschland lässt aber nicht unmittelbar auf die genaue Größe der Gruppe der Zweit- und Drittgenerationsangehörigen schließen, da sie als junge Erwachsene Zugewanderte nicht gesondert aufführt. Zur Diskussion um den
Begriff der zweiten Zuwanderergeneration siehe Hämmig, Oliver: Zwischen zwei Kulturen. Spannungen,
Konflikte und ihre Bewältigung bei der zweiten Ausländergeneration. Opladen 2000, S. 27-33.
Diese Zahl ist mit der Fertalitätsquote, die in der deutschen Bevölkerung 1,6 beträgt, nicht zu vergleichen, da
sich die Angaben auf alle Haushalte mit türkischstämmigen Personen beziehen und nicht auf die Anzahl der
Kinder pro Frau im gebährfähigen Alter.
Statistisches Bundesamt, Angaben für 1999, Fax auf Anfrage, September 2000; * = Daten: Zentrum für
Türkeistudien: Die Einbürgerung türkischstämmiger Migranten in Deutschland. Münster 2001 (im Erscheinen), S. 31. Angaben für erwachsene türkischstämmige Migranten.
Verwendet wurden hier die Zahlen von 1998, da 1999 vom Statistischen Bundesamt in die Kategorie "verwitwet/geschieden" auch die Personen mit unbekanntem Familienstand fallen, die zwei Drittel dieser Gruppe
ausmachen.
Das Statistische Bundesamt weist die Aufenthaltsdauer nur für die gesamte türkische Bevölkerung aus, nicht
getrennt nach Altersgruppen, so dass Angaben unterhalb von 18 Jahren Aufenthalt nicht zu berechnen sind.
20
Zentrum für Türkeistudien
Diese Entwicklung wirkte sich auch in der demographischen Verteilung der Migranten in den
Städten aus: In der Folge der veränderten Lebenssituation verließen die türkischstämmigen
Zuwanderer mit ihren nachgezogenen Familien schließlich nach und nach die meist werkseigenen (Sammel-)Wohnunterkünfte, in denen sie anfangs untergebracht worden waren und
mieteten sich größere Wohnungen. Da die meisten "Gastarbeiter" sich immer noch die Option
offen hielten, in die Heimat zurückzukehren, bestand weiter eine starke Sparneigung, weshalb
preiswerte Wohnungen bevorzugt wurden. In den westdeutschen Großstädten entstanden aufgrund dieses spezifischen Nachfrageverhaltens Straßenzüge und Stadtviertel mit einem hohen
Anteil ausländischer Bevölkerung. Zudem trug zur Bildung dieser oft als "Ghettos" empfundenen Quartiere die Schwierigkeit bei, als Ausländer preiswerte Wohnungen außerhalb der
von der deutschen Bevölkerung aufgrund schlechter Bausubstanz verlassenen Bezirke zu finden. Darüber hinaus überließen deutsche Vermieter Wohnungen generell ungern ausländischen Mietern, wobei sie, abgesehen von möglichen eigenen Vorurteilen, oft mit den Vorurteilen der deutschen Mieter argumentierten.13
Viele Migranten überwanden mit der Zeit ihre anfänglichen Anpassungsschwierigkeiten,
bemühten sich um Kontakte zur deutschen Gesellschaft und übernahmen bewusst oder unbewusst deutsche Lebensgewohnheiten.14 Mit Verlängerung der Aufenthaltsdauer und dem Heranwachsen der zweiten Zuwanderergeneration wurde die Rückkehr immer weiter in die Zukunft verschoben und in den letzten Jahren zunehmend ganz aufgegeben. Aus dem anfänglichen Provisorium der vorübergehenden Erwerbsmigration war ein Dauer-Provisorium geworden.
Durch die Vergrößerung der Gruppe der Zuwanderer, ihre zunehmende Verweildauer und
das Heranwachsen der zweiten und dritten Generation differenzieren sich inzwischen die Lebenskonzepte der türkischen Bevölkerung mehr und mehr.15 Infolge dessen entstand seit den
90er Jahren ein breiter werdender türkischer Mittelstand in Deutschland, der höhere Ansprüche an Ausbildung, Arbeitsplatz, Wohnsituation und Lebensqualität sowie an politische Parti-
13
14
15
Vgl. dazu Zentrum für Türkeistudien: Wohnsituation der türkischen Bevölkerung Nordrhein-Westfalens,
ZfT-aktuell Nr. 54. Essen 1997; vgl. auch Motte, Jan/Rainer Ohliger/Anne von Oswald (Hg.): 50 Jahre Bundesrepublik - 50 Jahre Einwanderung: Nachkriegsgeschichte als Migrationsgeschichte. Frankfurt/Main 1999,
S. 45.
Şen, Faruk/Andreas Goldberg: Türken in Deutschland. Leben zwischen zwei Kulturen. München 1994, S.
31.
Vgl. dazu Seifert, Wolfgang (Hg.): Wie Migranten leben. Lebensbedingungen und soziale Lage der ausländischen Bevölkerung in der Bundesrepublik. Dokumentation des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, Berlin 1995.
21
Zentrum für Türkeistudien
zipation stellt. Die Homogenität, die noch die erste Generation der "Gastarbeiter" kennzeichnete, trifft für die türkische Community heute nicht mehr zu.16
Für das Thema dieses Gutachtens, Intergenerativität und (Selbst-)ethnisierung, ist aber das
bedeutendste Element die Heterogenität der Lebenslage der Angehörigen der zweiten und
dritten Zuwanderergeneration. Ihre "objektive" Situation wie auch ihre subjektive Befindlichkeit unterscheidet sich von der ersten Generation deutlich: Während letztere mit ihren Werten
und Einstellungen, auch hinsichtlich ihrer ursprünglichen Lebensplanung, Bestandteile des
Herkunftslandesund der Herkunftskultur bleiben, lebt die zweite Generation (unfreiwillig) in
der Fremde und hat zugleich keinen eigentliche Heimat mehr.17 Daraus ergibt sich einerseits
ein Identifikationsverlust bezüglich der Werte und Einstellungen des Herkunftslandes und der
Familie, andererseits nichtsdestotrotz die Notwendigkeit zu Unterordnung unter den Lebensplan der Familie (z. B. Rückkehr) und damit ein oft weitgehender Verzicht auf individuelle
Lebensplanung und -führung.18 Die Lebenssituation und damit die Integration oder Desintegration der zweiten und dritten Zuwanderergeneration ist damit eine gänzlich andere als die der
ersten.19
Was heißt Integration?
Was bedeutet vor dem Hintergrund dieser Voraussetzungen gelungene Integration? In der
Migrationsforschung herrschen zwei zentrale Paradigmen des Integrationsverlaufs vor, die
sich auf die Nenner "Handlungsorientierung" für die Zuwandererseite und "Chancen sozialer
Teilhabe", die die Aufnahmegesellschaft bereit hält, bringen lassen. Für die Handlungsorientierung ist etwa eine Alternative, sich die auf Individualität abstellenden Werten und Einstellungen der Aufnahmegesellschaft zu eigen zu machen oder auf eher traditionelle Lebenskonzepte der Herkunftsgesellschaft zurück zu greifen. Die Chancen zur sozialen Teilhabe, auf
die diese Orientierung trifft, können - davon unabhängig - unterschiedlich groß sein. Innerhalb der so skizzierten Matrix ergeben sich vier idealtypische Formen von Integration: Assimilation (Teilhabe bei hohem Grad der Aneignung der Werte der Aufnahmegesellschaft),
16
17
18
Vgl. dazu Gogolin, Ingrid/Bernhard Nauck (Hg.): Migration, gesellschaftliche Differenzierung und Bildung.
Opladen 2000.
Ein Phänomen, das gern und oft als "Entwurzelung" beschrieben wird, so etwa durch Lajios, Konstantin:
Familiäre Sozialisations-, soziale Integrations- und Identitätsprobleme ausländischer Kinder und Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland. In: ders. (Hg.): Die zweite und dritte Ausländergeneration. Ihre
Situation und Zukunft in der Bundesrepublik Deutschland. Opladen 1991, S. 52.
Vgl. Auernheimer, Georg: Struktur und Kultur. Über verschiedene Zugänge zu Orientierungsproblemen und
-strategien von Migranten. In: Zeitschrift für Pädagogik No. 1/1994, S. 29-42.
22
Zentrum für Türkeistudien
Inklusion (Teilhabe trotz Beibehaltung der Werte der Herkunftskultur), Exklusion (mangelnde
gesellschaftliche Teilhabe trotz Aufgabe der Werte der Herkunftsgesellschaft) und Segregation (mangelnde Teilhabe bei Konservierung der Herkunftskultur und eventuell Etablierung
eigenethnischer Infrastrukturen).20
Tabelle 2: Idealtypisches Modell der Integrationsverläufe nach Teilhabechancen und
Handlungsorientierungen
Aneignung der Werte der Aufnahmekultur
Beibehaltung der Werte der Herkunftskultur
Teilhabechancen
hoch
Teilhabechancen
niedrig
Assimilation
Exklusion
Inklusion
Segregation
Wichtig ist, dieses idealtypische Modell dynamisch und interaktiv zu verstehen.
Die unterschiedlichen Formen der Integration sind der Aufnahmegesellschaft nicht in gleichem Maße willkommen. Diese Vorbehalte wirken zurück auf die Teilhabechancen wie die
Handlungsrepertoires der Migranten. Allgemein lässt sich sagen, dass die Aufnahmegesellschaft mit Integration durch Assimilation am ehesten zu leben bereit ist, während die
Möglichkeit zur Realisierung von Integration qua Inklusion vom Pluralitätsgrad der Auf19
20
Vgl. Hilpert, Kornelia: Ausländer zwischen Integration und Marginalisierung. Zur Bedeutung kommunaler
Quartierbildung und Traditionalisierung von Integrationsdefiziten beim Wechsel der Generationen. Frankfurt/Main 1997.
Das hier zugrunde gelegte Schema entspricht weitestgehend Strobel, Rainer/Wolfgang Kühnel/Wilhelm
Heitmeyer: Junge Aussiedler zwischen Assimilation und Marginalität. Abschlussbericht (Kurzfassung). Bericht des Ministeriums für Arbeit, Soziales und Stadtentwicklung, Kultur und Sport NRW. Düsseldorf 2000,
S. 5. Andere Autoren haben ganz ähnliche Konzepte entwickelt, so im deutschen Sprachraum Kaufmann,
Franz-Xaver: Elemente einer soziologischen Theorie sozialpolitischer Intervention. In: ders.: Staatliche Sozialpolitik und Familie. München/Wien 1982, S. 49-86; Auernheimer, Georg: Der sogenannte Kulturkonflikt. Orientierungsprobleme ausländischer Jugendlicher. Frankfurt/Main 1988; Esser, Hartmut/Jürgen
Friedrichs (Hg.): Generation und Identität. Theoretische und empirische Beiträge zur Migrationssoziologie.
Opladen 1990; Hoffmann-Nowotny, Hans-Joachim: Integration, Assimilation und "plurale Gesellschaft".
Konzeptuelle, theoretische und praktische Überlegungen. In: Höhn, Charlotte/Detlev B. Rein (Hg.): Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland. Boppart am Rhein 1990, S. 15-31; Heckmann, Friedrich: Ethnische
Minderheiten, Volk und Nation: Soziologie interethnischer Beziehungen. Stuttgart 1992; Nauck, Bernhard/Annette Kohlmann/Heike Diefenbach: Familiäre Netzwerke, intergenerative Transmission und Assimilationsprozesse bei türkischen Migrantenfamilien. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1997, S. 477-499. Obwohl die von diesen Autoren entworfenen Kategorien von Integrationsund Desintegrationsformen sich im Kern und in den Grundaussagen nicht wesentlich unterscheiden, kann
die spezifische Prägung einzelner Begriffe von Fall zu Fall sehr unterschiedlich sein. Während etwa bei
Heitmeyer Integration und Desintegration entsprechend der oben erläuterten Typisierung verläuft - Integration selbst birgt damit keine Aussage über die Art und Voraussetzungen des Zusammenlebens von
Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft - ist bei Nauck Integration, neben Assimilation, Segregation und
Marginalisierung, ein möglicher Ausgang dessen, was er als Akkulturationsprozess bezeichnet. Eine konsistente Begriffsverwendung ist also hier unerlässlich. Wir haben uns für die Orientierung an Heitmeyer entschieden, da er für politische Handlungsoptionen die klarste Trennung individueller und gesellschaftlicher
Faktoren des Integrationsprozesses bietet.
23
Zentrum für Türkeistudien
nahmegesellschaft abhängt, also in wie weit sie bereit ist, alternative Lebensarten, Werte und
Einstellungen zu tolerieren. Noch problematischer sind indessen die Alternativen Exklusion
und Segregation, da diese als Integrationsformen einer Reihe höchst schwer herzustellender
Voraussetzungen bedürfen: Die Möglichkeit zur Erfüllung der eigenen Bedürfnisse innerhalb
eigener sozialer Systeme, die von der Aufnahmegesellschaft toleriert werden müssen und im
Falle der Exklusion nicht einmal mehr auf tradierte Organisationsformen und Verhaltensmuster rekurrieren können. Es ist somit zu vermuten, dass derartige Integrationsmodelle einen
hohe Gefahr des Scheiterns bergen. Zugleich haben sie, wie die Bemerkungen zur zweiten
Zuwanderergeneration in dieser Einleitung schon andeuten, beträchtliche empirische Relevanz, da viele Zuwanderer die Werte und Einstellungen der Herkunftsgesellschaft zumindest
nicht mehr unmittelbar und in authentischer Weise teilen und zugleich, wie die Ausführungen
im folgenden Kapitel zur Bildungs- und Arbeitsmarktbeteiligung zeigen werden, zugleich
mangelhafte Teilhabechancen in der bundesdeutschen Gesellschaft haben.
Ein in pragmatischer Hinsicht sinnvoller Integrationsbegriff sollte somit einerseits Assimilation, andererseits aber auch Inklusion beinhalten. Denn man kann nicht ohne weiteres
davon ausgehen, dass sich ethnische, kulturelle oder religiöse Differenzen in jedem Fall langfristig nivellieren lassen, seien die Teilhabechancen auch noch so gut. So gesehen bedeutet
Integration, dass eine andere Herkunft und abweichende Lebensarten und Traditionen nicht
im Widerspruch zur gleichberechtigten Teilhabe an gesellschaftlichen Ressourcen und Prozessen stehen.
Integration ist dabei ein wechselseitiger Vorgang, der Anstrengungen von Deutschen und
Zuwanderern gleichermaßen erfordert. Die Betonung der Wechselseitigkeit bedeutet auch,
den Begriff der "Selbstethnisierung" kritisch zu hinterfragen. Ethnizität ist keine naturgegebene Tatsache, sondern ein gesellschaftliches Konstrukt. Ethnie definiert sich in Abgrenzung
von anderen Ethnien und wird ohne diese Abgrenzung nicht sinnhaft. Zudem ist die Entwicklung ethnischer, kultureller oder religiöser Identität kein singulärer, sondern ein sozialer
Vorgang. Durch die Entwicklung von Identität antizipieren wir Erwartungshaltungen und
Deutungsangebote unseres sozialen Systems bzw. widersetzen uns diesen.21 Somit steht das
"Sich-Ethnisieren" und das "Ethnisiert-Werden" in engem, wechselseitigen Zusammenhang.
Beides sind sozial bedingte, nicht in der "Natur" liegende Prozesse.
Die Aufnahmegesellschaft muss Teilhabechancen anbieten, die Zuwanderer müssen sie
ergreifen. Gleichzeitig müssen beide Seiten in die Lage versetzt werden, die Art und Weise,
wie man zusammenlebt, offen miteinander auszuhandeln. Dieses Gutachten versteht sich als
24
Zentrum für Türkeistudien
Beitrag zu einer solchen notwendigen Debatte. Es trifft dabei keine normativen Aussagen
über gewünschte Formen des Zusammenlebens, die ja der Sphäre des Politischen angehören,
sondern soll durch die Aufarbeitung der Situation der ersten und zweiten Migrantengeneration
aufzeigen, welche Möglichkeiten und Alternativen sich bieten.
In Kapitel 2 wird die Situation der Ausländer (ihre Teilhabe an gesellschaftlichen Ressourcen), und darunter insbesondere die Lage der größten Gruppe der türkischen Migranten,
in der interaktiven Wechselwirkung mit der Aufnahmegesellschaft analysiert. Besonderes
Augenmerk liegt dabei auf dem intergenerativen Wandel von der ersten zur zweiten und dritten Zuwanderergeneration. In Kapitel 3 wechselt die Perspektive: Es werden wichtige Indikatoren für den Integrationsgrad der Türken in die deutsche Gesellschaft beschrieben, wiederum mit dem Focus auf den unterschiedlichen Zuwanderergenerationen. Kapitel 4 leistet
auf dieser Grundlage die Bewertung des erreichten Integrationstandes und identifiziert Felder
der Desintegration. Unter Hinzuziehung einer Ursachenermittlung für die Befunde aus Kapitel
3 werden, unter Berücksichtigung der aktuellen sozialwissenschaftlichen Theoriebildung,
mögliche Integrationsalternativen ermittelt, die in Kapitel 5 in politische Handlungsempfehlungen münden.
21
Diese Sichtweise entspricht dem Symbolischen Interaktionismus von Mead, George H.: Geist, Identität und
Gesellschaft. Frankfurt/Main 1973.
25
Zentrum für Türkeistudien
2 Die Situation der türkischen Migranten in Deutschland
2.1 Schulbildung, Ausbildung, Arbeitsmarkt
Schulbildung
Die Teilhabechancen an Schulbildung, beruflicher Ausbildung und Arbeitsmarkt sind für
Migranten noch immer deutlich schlechter als für die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft.
Ungeachtet dieses generellen Befundes hat sich das Schul- und Ausbildungsniveau der jungen
Migranten im Vergleich zur ersten Generation dennoch deutlich erhöht. Selbst diese auf den
ersten Blick günstige Entwicklung birgt aber ein gravierendes Problem: Die zweite und dritte
Generation heterogenisiert sich mehr und mehr - Migranten mit höherer Schul- und qualifizierter Berufsausbildung steht eine beträchtliche Zahl an Jugendlichen ohne Schulabschluss
oder Berufsausbildung gegenüber. Schul-, Berufsbildung und Arbeitsmarkt greifen dabei eng
in einander, wobei die Schulbildung zwar Voraussetzung für den beruflichen Erfolg ist, jedoch gerade für Migranten keine hinreichende Bedingung für die Integration in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Ohne Schulabschluss ist es andererseits kaum mehr möglich,
eine Berufsausbildung zu absolvieren: 89% der ausländischen Jugendlichen ohne Berufsausbildung verfügen über keinen qualifizierten Schulabschluss. Ohne berufliche Ausbildung
wiederum ist die Gefahr, arbeitslos zu werden, deutlich größer als mit.22
Grundsätzlich trägt ein hohes Bildungsniveau zum positiven Selbstkonzept der Migrantenkinder und nicht nur zur Verbesserung der Teilhabechancen, sondern ebenso zur Erhöhung
der Kompetenzen im Umgang mit kultureller Differenz bei.23 Damit unterstützt Bildung den
Zugang zur Aufnahmegesellschaft. Der Erwerb von für das Leben in der Aufnahmegesellschaft grundlegend wichtigen Informationen und Fertigkeiten, zuvorderst das Erlernen der
Sprache, aber auch das Zurechtfinden unter unterschiedlichen institutionellen Rahmenbedingungen, wird durch Bildung wesentlich erleichtert.24
Im Schuljahr 1998/1999 besuchten rund 936.700 ausländische Schüler deutsche Schulen,
408.712 von ihnen waren türkischstämmige Kinder und Jugendliche. Im Jahre 1999 waren
damit 49% der Türken unter 21 Jahren Schüler. 1995 Betrug dieser Anteil noch 63%, zehn
22
23
24
Vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hg.): Berufsbildungsbericht 2000. Berlin 2000, S. 61.
Vgl. dazu: Zentrum für Türkeistudien: Schulische Integration ausländischer Kinder. Stand und Entwicklungen, ZfT-aktuell, Nr. 80. Essen 2001.
Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.): Sechster Familienbericht der Bundesregierung: Familien ausländischer Herkunft in Deutschland. Leistungen, Belastungen, Herausforderungen. Berlin 2000, S. 8.
26
Zentrum für Türkeistudien
Jahre zuvor 86%,25 wobei die absoluten Schülerzahlen zwischen 1980 und 1999 leicht zugenommen haben, zugleich jedoch die Anzahl türkischer Jugendlicher in Deutschland enorm
gestiegen ist.
Tabelle 3: Türkische und ausländische Schüler an allgemeinbildenden Schulen in
Deutschland26
Jahr
1980
1985
1990
1995
1999
Türkische
Schüler
Anzahl
317.509
331.592
363.206
378.962
408.712
Ausländische
Schüler
Anzahl
638.301
667.200
779.662
913.238
936.700
Der verhältnismäßige Rückgang der Schülerzahlen dürfte darauf zurückzuführen sein, dass
heute weniger ausländische Jugendliche bzw. ihre Familien den Wert höherer Schulbildung
erkennen, obwohl diese noch in den 80er Jahren als wichtiges Erziehungsziel und einzige
Möglichkeit galt, als Angehörige(r) der zweiten Migrantengeneration in der Aufnahmegesellschaft sozial aufzusteigen.27 In modernen Gesellschaften wird ein großer Teil der erzieherischen Beeinflussung der Kinder von den Bildungsinstitutionen übernommen, die sozialintegrativ wirken und neben kulturtechnischen Kenntnissen und Wissen auch die herrschenden gesellschaftlichen Normen und Werte vermitteln. Ein Teil des erzieherischen Einflusses
geht in der Wahrnehmung der türkischen Familien ihnen verlustig, was zu Widerständen führen kann. Eltern können vor diesem Hintergrund ein ambivalentes Verhältnis zum deutschen
Bildungssystem und zur Höherqualifizierung ihrer Kinder entwickeln. Hiermit ist eine aus der
Migrationssituation entstehende Konfliktlinie zwischen erster und zweiter Generation umrissen.
Zudem bestehen noch weitere migrationsspezifische Probleme: Der Wert, der gerade im
muslimischen Kulturkreis der Bildung traditionell beigemessen wird, verfällt bei der zweiten
und dritten Zuwanderergeneration angesichts der Verlockungen des schnellen Geldes, verdient mittels ungelernter Tätigkeiten - ein Phänomen der Exklusion: Werthaltungen der Auf25
26
Daten für 1995 und 1985: Institut der deutschen Wirtschaft: Mitteilungen, November 1999. Daten für 1999:
Statistisches Bundesamt, 2001: www.statistik-bund.de. Vgl. auch Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hg.): Grund- und Strukturdaten 1999/2000. Berlin 2000, S. 70.
Statistische Veröffentlichungen der Kultusministerkonferenz, Nr. 143/1997; Angaben für 1999: Statistisches
Bundesamt, 2001, www.statistik-bund.de.
27
Zentrum für Türkeistudien
nahmegesellschaft werden übernommen, ohne dass man sich adäquaten Teilhabechancen
gegenüber sieht. Die ernormen Schwierigkeiten der türkischen Jugendlichen, auch mit
höherer schulischer oder beruflicher Ausbildung auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen,
forcieren diese Entwicklung zudem. Eine Untersuchung des Zentrums für Türkeistudien im
Auftrag des International Labour Office aus dem Jahr 1995 belegt eine signifikante
Diskriminierung ausländischer Arbeitssuchender in Deutschland in der Bewerbungsphase
durch die Arbeitgeber für zahlreiche Berufsgruppen.28
Zwar hat sich die Qualität der Schulabschlüsse der ausländischen Jugendlichen bis 1993
leicht verbessert, doch hat sich der Trend zu qualifizierten Abschlüssen seit 1993 merklich
verlangsamt und im Falle der Erlangung der Hochschulreife sogar umgekehrt. Die Diskrepanz
zwischen den deutschen und den ausländischen Schülern ist zudem nicht geringer geworden,
da auch bei Deutschen ein Trend zu höheren Abschlüssen besteht.
1999 waren 9% aller Schüler an allgemeinbildenden Schulen Ausländer:29 an Grundschulen 12%, an Hauptschulen 17%, an Realschulen 6% und an Gymnasien nur 4%. Die
Verteilung der ausländischen Schulabgänger belegt im Vergleich zu den deutschen deutlich
schlechtere Voraussetzungen für den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt: Rund 19% der ausländischen Jugendlichen verlassen die Schule ohne Abschluss. 42% erreichen den Hauptschulabschluss, 29% einen Realschulabschluss und nur 7% erlangen die Hochschulreife. Von den
27
28
29
Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.): Sechster Familienbericht der Bundesregierung: Familien ausländischer Herkunft in Deutschland. Leistungen, Belastungen, Herausforderungen. Berlin 2000, S. 169.
Vgl. Goldberg, Andreas/Dora Mourinho/Ursula Kulke: Arbeitsmarkt-Diskriminierung gegenüber ausländischen Arbeitnehmern in Deutschland. International Migration Papers 7. Genf 1995, S. 46-52. Die Autoren
haben fingierte Bewerbungen mit Blick auf den Zusammenhang von positivem Rücklauf und Nationalität
des Bewerbers untersucht. Nicht überraschender Weise war insbesondere bei Bewerbungen auf gefragte Berufe die Diskriminierung der Ausländer signifikant. In zwei Untersuchungsreihen im Bereich der "semi
skilled jobs" und der "higher qualified jobs" bewarben sich je ein Deutscher und ein Türke der zweiten Generation um ein Bewerbungsgespräch auf dasselbe Stellenangebot. Die Testpersonen waren nach ihren Eigenschaften und fachlichen Qualifikationen austauschbar, die Deutschkenntnisse der türkischen Bewerber
waren fehler- und akzentfrei, ihre Lebensläufe wurden so formuliert, dass sie gleichermaßen auf die ausgeschriebenen Stellen passten. Die mögliche ethnische Diskriminierung wurde anhand von Kontrollbewerbungen überprüft. Bei den "semi-skilled jobs" ergaben sich auf der Grundlage von 175 auswertbaren Bewerbungen trotz "idealer" Bewerber eine Diskriminierungsrate von 19% zu ungunsten der türkischen Bewerber. Auf
der Ebene der "higher qualified jobs" wurden bei 229 Fällen knapp 10% Diskriminierungsfälle festgestellt.
Allerdings lag in einzelnen Branchen, allen voran der Dienstleistungssektor bei Banken und Versicherungen,
die Diskriminierungsrate bei 50%, obwohl sich das persönliche und fachliche Profil der Bewerber nicht unterschied. Interessant war, dass Türken einerseits insbesondere dort diskriminiert wurden, wo der Arbeitsplatz Kundenkontakt mit sich bringt bzw. sich ein Unternehmen durch den Mitarbeiter nach außen repräsentiert sieht, andererseits aber die geringste Diskriminierung bei der Krankenpflege, also in einem Beruf
mit intensivem menschlichen Kontakt, festzustellen war. Letzterer ist jedoch ein Bereich, in dem aufgrund
schlechter Arbeitsbedingungen die Fluktuation hoch ist und ein Arbeitsplatzüberangebot besteht.
Die Daten waren nur für Ausländer insgesamt, nicht jedoch für die verschiedenen Nationalitäten, verfügbar.
In der Tendenz dürften sich jedoch die Türken nicht wesentlich von anderen Ausländern unterscheiden wie
die Daten zur Ausbildung (siehe unten) zeigen.
28
Zentrum für Türkeistudien
deutschen Schulabgängern erreichen 26% die Hochschulreife, 25% einen Hauptschulabschluss und nur 8% verlassen die Schulen ohne Abschluss.30
Abbildung 1: Ausländische und deutsche Schulabgänger 1999 nach Schulabschluss
(Prozentwerte)
25,9
Hochschulreife
9,7
41,2
Realschulabschluss
28,9
25
Hauptschulabschluss
41,9
7,9
ohne Abschluss
19,5
0
5
10
15
Ausländische Schulabgänger
20
25
30
35
40
45
Deutsche Schulabgänger
Zum Vergleich: 1985 beendeten 26% der Ausländer ihre Schullaufbahn ohne Abschluss, 46%
mit Hauptschulabschluss, 21% mit Realschulabschluss und 7% mit Fachhochschulreife oder
Abitur. 1993 beendeten 19% der Ausländer ihre Schullaufbahn ohne Abschluss, 39% mit
Hauptschulabschluss, 29% mit Realschulabschluss und 13% mit Fachhochschulreife oder
Abitur.31
Berufliche Ausbildung
Auf die berufliche Bildung wirkte sich die Stagnation bei den Schulabschlüssen von Ausländern noch stärker aus, als eigentlich zu erwarten wäre: Von 1995 bis 1998 sank die Ausbildungsquote der Ausländer von 41,1 auf 37,8.32 Bei den deutschen Altergenossen stieg die
Ausbildungsquote im selben Zeitraum hingegen leicht von 63,8 auf 65,9. Mit dem Übergang
von der Schule in den Ausbildungsbereich gehen für Ausländer also tatsächlich noch besondere Probleme einher, die mit den relativ geringwertigen Schulabschlüssen kulminieren.
30
31
32
Vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hg.): Grund- und Strukturdaten 1999/2000. Berlin
2000, S. 77. Eigene %-Berechnungen.
Vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hg.): Grund- und Strukturdaten 1999/2000. Berlin
2000, S. 90-91. Eigene %-Berechnungen. Zahlen 1985 nur für die alten Bundesländer; siehe auch BoosNünning, Ursula: Die schulische Situation der zweiten Generation. In: Şen, Faruk (Hg.): Zukunft in der
Bundesrepublik oder Zukunft in der Türkei? Eine Bilanz der 25jährigen Migration von Türken. Frankfurt/Main 1986; S. 131-155.
Vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hg.): Berufsbildungsbericht 2000. Berlin 2000, S.63.
Die Ausbildungsquote ist der Anteil der ausländischen Auszubildenden bezogen auf die Anzahl der 15- bis
unter 18-jährigen ausländischen Jugendlichen. Quote für die alten Bundesländer.
29
Zentrum für Türkeistudien
Bei der Aufschlüsselung der Ausbildungsbeteiligung nach Nationalitäten lassen sich unter
den jungen Zuwanderern übrigens nur sehr geringe Unterschiede feststellen. Im Gegensatz
zum Schulbesuch, der ja eben verpflichtend ist, wäre es denkbar, dass ethnospezifische Einstellungsunterschiede auf die Beteiligung an der beruflichen Ausbildung durchschlagen. Dies
ist für das Jahr 1995 nicht nachweisbar.
Tabelle 4: Ausbildungsbeteiligung ausländischer Jugendlicher in den alten Ländern nach
Geschlecht und Staatsangehörigkeit 1995 und 1998
1995
Türkei
Italien
Griechenland
Spanien
Portugal
Ausländer
Deutsche
gesamt
44,8
50,3
42,0
63,3
51,8
41,1
63,8
1998
m
53,6
61,6
53,0
76,3
65,3
48,6
74,2
w
33,8
38,6
30,5
48,8
38,3
32,2
53,1
gesamt
42,0
47,7
39,1
73,3
48,4
37,8
65,9
m
50,8
55,4
45,3
82,7
56,9
43,1
76,0
w
31,8
39,6
32,0
62,5
39,4
31,6
54,6
Insbesondere gilt das für das Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Auszubildenden. Defizite finden sich hier bei den Mädchen jedes Herkunftslandes in vergleichbarem
Ausmaß. Insbesondere die Annahme einer besonderen Benachteiligung junger Türkinnen
aufgrund kulturell-religiöser Einstellungen wir durch diese Daten nicht gestützt.
Etwas anders stellt sich die Situation im Jahr 1998 dar. Hier könnte die geringe Ausbildungsquote der türkischen Mädchen von 31,8 - vergleicht man sie mit den anderen Gruppen auf die Entwicklung zu spezifischen, ungleich gravierenden Zugangsschranken zum Ausbildungsmarkt hindeuten, ohne dass eine solche Entwicklung aber schon mit Sicherheit
festgestellt werden könnte. Möglicherweise aber stehen hier die Ansprüche der Eltern an Familienorientierung, Mithilfe im Haushalt und bei der Erziehung kleinerer Geschwister, die
Erwartung einer frühzeitigen eigenen Familiengründung und die langen Ausbildungswege
zueinander im Widerspruch.33
Ein genauerer Blick auf die Gruppe der türkischen Auszubildenden ergibt die folgende
sektorale Verteilung: 48% absolvieren ihre Ausbildung in Industrie und Handel, 39% im
Handwerk. Auf Freie Berufe (Arzthelferin, Rechtsanwaltsgehilfin u. ä.) entfallen 10% der
33
Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.): Sechster Familienbericht der Bundesregierung: Familien ausländischer Herkunft in Deutschland. Leistungen, Belastungen, Herausforderungen. Berlin 2000, S. 8 u. S. 170.
30
Zentrum für Türkeistudien
Ausbildungen, während im Öffentlichen Dienst kaum türkische Auszubildende zu finden sind
(1%).34
Abbildung 2: Verteilung der türkischen Auszubildenden nach Ausbildungsbereichen 1999
Sonstiges
2%
Handwerk
39%
Öffentlicher
Dienst
1%
Freie Berufe
10%
Industrie und
Handel
48%
Die Berufswahl selbst konzentriert sich auf wenige Tätigkeiten. Junge Frauen wählen vor
allem eine Ausbildung als Friseurin, Arzt- bzw. Zahnarzthelferin oder Verkäuferin, junge
Männer Kfz-Mechaniker, Maler und Lackierer oder Elektro- und Gas- und Wasserinstallateur.
Diese Berufe sind wenig zukunftsträchtig und die Aufstiegschancen sind gering.
Andererseits studieren inzwischen rund 24.000 türkische Studenten an deutschen Hochschulen, vor allem Wirtschaft und Recht sowie Ingenieurswesen und Kulturwissenschaften.
Sie stellen 1,4% aller Studierenden und rund 8% der 18-25-jährigen Türken und sind zu
73,4% Bildungsinländer - eine höhere Quote als bei allen anderen ausländischen Studierenden.35 Diese Gruppe indiziert somit tatsächlich eine integrative, respektive assimilative Entwicklung, die in Anbetracht von rund 30% deutschen Studierenden in der Altersgruppe von
18-25 Jahren allerdings noch eine Randerscheinung ist. In Berufsabschlüssen ausgedrückt:
Insgesamt verfügen 33% der jungen Türkischstämmigen zwischen 18 und 30 Jahren über
keine berufliche Ausbildung. Immerhin 52% erreichten einen schulischen oder betrieblichen
Berufsabschluss oder sind gerade dabei, 3% haben eine Meister- oder Technikerausbildung
und 4% erreichten einen Universitätsabschluss.36
34
35
36
Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hg.): Berufsbildungsbericht 2000. Berlin 2000, S. 62. Eigene %-Berechnungen.
Statistisches Bundesamt, Daten für 1998, Fax auf Anfrage; Bundesministerium für Bildung und Forschung
(Hg.): Grund- und Strukturdaten 1999/2000. Berlin 2000, S. 87. Vgl. dazu Zentrum für Türkeistudien: Türkische Studenten und Hochschulabsolventen in der Bundesrepublik Deutschland - unter Berücksichtigung
der Bildungsinländer, ZfT-aktuell Nr. 28. Essen 1997.
Zentrum für Türkeistudien: Die Einbürgerung türkischer Migranten in Deutschland. Münster 2001 (im Erscheinen), S. 38. Die positive Abweichung der erlangten Abschlüsse von der hier dargestellten Ausbildungsbeteiligung um rund 10% resultiert daraus, dass die ZfT-Umfrage zu den Ausbildungsabschlüssen eingebürgerte türkischstämmige Migranten mit einschließt, die offenbar eine größere Ausbildungsneigung aufweisen.
31
Zentrum für Türkeistudien
Abbildung 3: Verteilung junger türkischer Migranten (18 bis 29 Jahre) nach
Berufsabschlüssen
keine
Ausbildung
34%
Sonstige
Abschlüsse
5%
Universitätsabschluss
4%
Meister- oder
Techniker
3%
schulische
oder
betriebliche
Ausbildung
54%
Eine plausible Erklärung für die recht gleichförmige Wahl von wenig weiter qualifizierenden
Ausbildungsplätzen bzw. den vollständigen Verzicht auf Ausbildung der Mehrheit der gering
qualifizierten jungen Türken liegt in der Bedeutung ethnischer Communities: Sozialisationsbedingungen in segregierten Stadtteilen niedriger Wohnqualität sind mit spezifischen, zumeist
geringen Bildungschancen verbunden. Wenn bereits die Elterngeneration über innerethnische
Netzwerke verfügt, ist es auch für die zweite Generation wahrscheinlich, dass sie entsprechende Beziehungen aufbaut. Diese stellen durchaus einen Sozialisationsgewinn dar, der für
den Zugang zu den Arbeitsmärkten der ethnischen Community von Bedeutung,37 für die
formalisierte Stellenvergabe in der Aufnahmegesellschaft aber hinderlich sein kann.38 Damit
ist ein wichtiger Erklärungsgrund für die Handlungsorientierung junger türkischer Migranten
bei der Ausbildungsplatzwahl genannt. Wie schon im Fall der Schulabschlüsse muss jedoch
auch wieder die tatsächlich gebotenen Teilhabechance in Betracht gezogen werden. Einerseits
führen sicherlich auch mangelnde Informationen über die Vielfalt an Ausbildungsberufen und
über das Ausbildungssystem zu einer eingeschränkten Berufswahl. Wie oben mit Blick auf
die
angestrebten
Schulabschlüsse
schon
kurz
angesprochen,
spielt
aber
zudem
Arbeitsmarktdiskriminierung eine entscheidende Rolle. Rund 58% der türkischen Jugendlichen möchten gern eine Ausbildung machen, knapp 40% haben sich nach einer Umfrage des
Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung 1996 um einen Ausbildungsplatz bemüht.
Von diesen waren jedoch 15% bei der Suche erfolglos.39
37
38
39
Zentrum für Türkeistudien (Hg.): Türkische Unternehmer und das duale Ausbildungssystem. Empirische
Untersuchung von Möglichkeiten der beruflichen Ausbildung in türkischen Betriebsstätten in Deutschland.
Münster 1999.
Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.): Sechster Familienbericht der Bundesregierung: Familien ausländischer Herkunft in Deutschland. Leistungen, Belastungen, Herausforderungen. Berlin 2000, S. 8 u. S. 170.
Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hg.): Situation der ausländischen Arbeitnehmer und
ihrer Familien. Bonn 1996, S. 32.
32
Zentrum für Türkeistudien
Beschäftigungsstruktur
Zum Abschluss dieses Kapitels noch ein Blick auf die Beschäftigungsstruktur der jungen
Türken:
Abbildung 4: Berufliche Stellung der türkischen Jugendlichen bis 24 Jahre
11%
ungelernte Arbeiter
22%
angelernte Arbeiter
25%
Facharbeiter
21%
ausführender (unterer) Angestellter
9%
Qualifizierter (mittlerer) Angestellter
2%
Sonstiges
0%
5%
10%
15%
20%
25%
Von denjenigen Jugendlichen bis einschließlich 24 Jahre, die einer Beschäftigung (inklusive
Ausbildung) nachgehen, sind 11% als ungelernte Arbeiter tätig, knapp ein Viertel ist angelernt und ein weiteres Viertel sind Facharbeiter. Jeder Fünfte ist Angestellter auf der unteren,
ungefähr jeder Zehnte auf der mittleren Ebene.40
Tabelle 5: Berufliche Stellung nach Alter (Zeilenprozent)
18 bis 29 Jahre
30 bis 45 Jahre
46 bis 60 Jahre
älter als 60 Jahre
Gesamt
Arbeiter (an/ungelernt)
Facharbeiter
Angestellte
Beamter
41,1
66,3
70,9
66,7
60,1
23,0
12,4
11,6
22,2
15,2
22,6
5,4
1,7
9,5
2,4
2,0
1,2
2,0
Selbständig in Selbständig in
freien Berufen Handel usw.
1,6
2,5
3,5
11,1
2,5
4,4
9,7
9,9
8,2
Der Anteil der an- und ungelernten Arbeiter nimmt mit steigendem Alter noch zu: Sind zwei
Drittel der über 60-jährigen und 71% der 45 bis 59-jährigen Türkischstämmigen Arbeiter,
sind es unter den 18 bis 29-jährigen "nur" noch 41%. Entsprechend steigt bei den Jüngeren
40
Vgl. Zentrum für Türkeistudien: Die Einbürgerung türkischer Migranten in Deutschland. Münster 2001 (im
Erscheinen), S. 43. Vgl. auch Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hg.): Situation der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien. Bonn 1996, S. 42.
33
Zentrum für Türkeistudien
der Facharbeiter-, vor allem aber der Angestelltenanteil gegenüber den Älteren deutlich an.
Knapp ein Viertel der 18- bis 29-jährigen Erwerbstätigen sind Angestellte.41 Die zweite Generation der Türken in Deutschland ist damit im Vergleich mit der ersten Generation bereits
differenziert und heterogen, weist im Vergleich mit der Mehrheitsgesellschaft aber noch immer einen deutlichen Qualifizierungsrückstand auf, mit Anzeichen dafür, dass sich dieser
Rückstand verfestigt, und zwar aufgrund von Lebensbedingungen, die spezifisch die zweite
Generation in Deutschland betreffen.
Eine Perspektive für türkische Jugendliche, auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt Fuß
zu fassen, bieten zunehmend die türkischen Unternehmen in der Bundesrepublik. Seit den
80er Jahren machten sich immer mehr Arbeitsmigranten selbständig, zunächst vorwiegend in
der "Nischenökonomie".42 Im Laufe der Zeit erweiterten sich jedoch die Branchen, in denen
ausländische Unternehmen tätig sind. Nicht nur wie traditionell in der Lebensmittelbranche
und der Gastronomie, sondern auch in den Bereichen Dienstleistungen, Handwerk, Bau, produzierendes Gewerbe und Technologie bereichern türkische und ausländische Anbieter die
Angebotsstruktur. Nach einer Untersuchung des Zentrums für Türkeistudien beläuft sich die
Zahl der türkischen Selbständigen in Deutschland inzwischen auf rund 55.000.43 Rund 80%
der türkischen Betriebsstätten könnten theoretisch ausbilden und decken dabei ein breites
Spektrum an Berufen ab.44 Tatsächlich verfügen jedoch nur 10% dieser Betriebe über Auszubildende, in der Regel ein oder zwei, wobei 40% der Betriebe die betrieblichen Voraussetzungen zur Ausbildung bereits ohne Weiteres erfüllen. Daraus ergibt sich ein bisher noch ungenutztes Potential von 20.000 Ausbildungsplätzen. Ein Modellprojekt zur Förderung der betrieblichen Ausbildung in türkischen Unternehmen in NRW, dass das Zentrum für Türkeistudien im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales durchführt, zeigte, dass
75% der türkischen Betriebe die Bereitschaft zur Ausbildung besitzen.45 Hemmnisse für die
Ausschöpfung dieses Potentials liegen vor allem in der mangelnden eigenen Erfahrung der
Betriebsinhaber, die mehrheitlich keine Ausbildung in Deutschland absolviert haben, sowie in
zu geringer Information über das duale Ausbildungssystem. Die Inhaber beklagen vor allem
41
42
43
44
45
Vgl. Zentrum für Türkeistudien: Die Einbürgerung türkischer Migranten in Deutschland. Münster 2001 (im
Erscheinen), S. 43.
Vgl. Şen, Faruk /Andreas Goldberg (Hg.): Türken als Unternehmer. Opladen 1996.
Zentrum für Türkeistudien: Avrupa Birligi´ndeki Türk Ekonomisi (Türkische Wirtschaftsleistung in
Deutschland und der EU). Broschüre. Essen 2000.
Vgl. Zentrum für Türkeistudien (Hg.): Türkische Unternehmer und das duale Ausbildungssystem. Münster
1999.
Vgl. Martinek, Manuela/Nilgün Öksüz: Ausbildungsplätze in türkischen Klein- und Mittelbetrieben. In: Die
Brücke - Forum für antirassistische Politik und Kultur, No. 5/2000, S. 17-21; Vgl. auch Zentrum für Türkeistudien: Modellprojekt zur beruflichen Ausbildung in türkischen Unternehmen in Nordrhein-Westfalen im
Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Vorläufiger Endbericht. Unveröffentlichtes Manuskript. Essen 2001.
34
Zentrum für Türkeistudien
bürokratische Hürden, mit denen sich viele nicht auseinander setzen wollen. Auch die
Ausbildereignungsprüfung ist für viele Unternehmer ein Problem.46 Durch gezielte
Informationskampagnen und Förderung in diesem Bereich könnte sich hier eine alternative
Option für türkische Jugendliche ergeben, wobei sie zudem ihre bilingualen und interkulturellen Kompetenzen, die anderswo kaum geschätzt und genutzt werden, einsetzten könnten.
Integrationstheoretisch formuliert bietet sich damit für die deutsche Gesellschaft in immer
stärkerem Maße die Option der Integration der zweiten und dritten Generation von Türken
(aber auch anderer Zuwanderergruppen, unter denen die Neigung zur Unternehmensgründung
ebenfalls sehr ausgeprägt ist) qua Segregation. Sind eigenethnische Strukturen für den Zugang
zu deutschen Arbeitsmarkt hinderlich, könnten sie sich bei dieser Option zum Vorteil wenden
und mittel- bis langfristig sogar zu einer weiteren Differenzierung des Qualifikationsprofils
beitragen.47 Strategien der Assimilation oder Inklusion setzen indessen voraus, dass der Diskriminierung von Zuwanderern auf dem deutschen Arbeitsmarkt von aufnahmegesellschaftlicher Seite entschieden und effektiv entgegen getreten wird. Konkret sind hier die Arbeitsämter und die Wirtschaftsverbände gefordert. Denkbar wäre auch, ein Anti-Diskriminierungsgesetzt mit Anreizmaßnahmen zur Ausbildung und Beschäftigung ausländischer Jugendlicher
einzuführen.
46
47
Zentrum für Türkeistudien: Modellprojekt zur beruflichen Ausbildung in türkischen Unternehmen in Nordrhein-Westfalen im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Vorläufiger Endbericht, Manuskript. Essen 2001.
Zentrum für Türkeistudien (Hg.): Türkische Unternehmer und das duale Ausbildungssystem. Empirische
Untersuchung von Möglichkeiten der beruflichen Ausbildung in türkischen Betriebsstätten in Deutschland.
Münster 1999.
35
Zentrum für Türkeistudien
2.2 Diskriminierung und ethnische Zuschreibung
Diskriminierungserfahrungen
Die Bedingungen, auf die Zuwanderer in der Aufnahmegesellschaft stoßen, beeinflussen in
hohem Maße den Integrationsprozess und die Eingliederungsbereitschaft. Diskriminierung ist
nicht nur ein Ausdruck nicht gewährter Teilhabechancen, sondern beeinflusst darüber hinaus
auch den Integrationswillen der Zuwanderer. 48 Diskriminierung ethnisiert, motiviert aber auch
zur Selbstethnisierung. Die in diesem Kapitel dargelegten Befunde bergen somit bereits einen
Teil der Motive für die in Kapitel 3 analysierten Identitäten und Handlungsorientierungen
türkischer Zuwanderer.
Diskriminierung von Zuwanderern durch die Mehrheitsgesellschaft kann sowohl auf
strukturell-gesellschaftlicher, als auch auf individueller Ebene erfolgen. Diese Ablehnung und
Ungleichbehandlung kann entsprechend unterschiedliche Formen annehmen: auf der individuellen Ebene subtil, als unbewusste oder bewusste Ungleichbehandlung und Vorurteil, oder
offensiv als verbale oder physische Übergriffe. Auf der strukturellen Ebene äußert sich Diskriminierung in der Vorenthaltung von Zugängen zu sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen
Ressourcen.
Gesellschaftliche und individuelle Ungleichbehandlung und Diskriminierung beeinflussen
nicht nur die Haltung derjenigen, die direkt davon betroffen sind, sondern verunsichern und
beeinflussen alle, die potentiell betroffen sein könnten. Diskriminierung von Zuwanderern ist
dabei nicht deckungsgleich mit dem Begriff Fremdenfeindlichkeit, denn auch in jüngster Zeit,
wo ein Anwachsen rechter Gewalt vermehrt berichtet wird, gibt es praktisch keine Aggressionen gegenüber (weißen) Amerikanern, Franzosen oder Dänen. Ein weißer Franzose wird
kaum Probleme bei der Wohnungs- oder Arbeitsplatzsuche haben - ganz anders kann es jedoch einem farbigen Franzosen ergehen. Fremdenfeindlichkeit richtet sich vor allem gegen
Menschen, die aufgrund ihrer Haut- oder Haarfarbe oder abweichender kultureller Habitusformen auffallen. Es scheint daher angemessen, als Motiv für individuelle Diskriminierung
Rassismus anzunehmen.
48
Vgl. etwa Esser, Hartmut/Jürgen Friedrichs (Hg.): Generation und Identität. Theoretische und empirische
Beiträge zur Migrationssoziologie. Opladen 1990.
36
Zentrum für Türkeistudien
Wo Diskriminierung beginnt und wie sie messbar ist, ist in der Sozialwissenschaft strittig.49 Es ist daher sinnvoll, die subjektive Wahrnehmung der Betroffenen selbst zum Untersuchungsgegenstand zu machen - wie ist ihre Wahrnehmung von Diskriminierung?50
Die Einschätzung der Wichtigkeit gesellschaftlicher und politischer Probleme, die durch
eine Befragung des Zentrums für Türkeistudien in NRW51 im Jahr 2000 erhoben wurde, gibt
Hinweise auf eine zunehmende Sensibilisierung gegenüber "Ausländerfeindlichkeit" im Vergleich zu den Ergebnissen der Vorjahresuntersuchung, insbesondere in den jüngeren Altersgruppen, aber nicht nur dort: Im Vergleich zur Wichtigkeitseinschätzung der Problembereiche
von 1999 wurde im Jahr 2000 von 91% und damit von 15% mehr Migranten Ausländerfeindlichkeit als wichtiges, von der Politik zu bearbeitendes Problem genannt. Das in der Befragung 1999 als erfreulich bewertete Ergebnis, dass die Bekämpfung der Ausländerfeindlichkeit
- geht man von der These aus, dass der Grad der Betroffenheit von einer Problematik in engem Zusammenhang mit der Wichtigkeit ihrer Bearbeitung steht - in der Rangfolge der
Wichtigkeit der zu bearbeitenden Probleme (Arbeitslosigkeit, Kriminalität etc.) in der unteren
Hälfte lag, muss für 2000 revidiert werden. Durch das Wiederaufflammen rassistischer Gewalt im letzten Jahr hat auch die Bedeutung der Bearbeitung der Ausländerfeindlichkeit in
den Augen der Betroffenen zugenommen. Jüngere Befragte nannten dabei 1999 zu höheren
Anteilen die Ausländerfeindlichkeit als wichtiges Problem. Im Jahr 2000 unterscheiden sich
die Altersgruppen kaum noch, lediglich die über 60-jährigen nehmen Ausländerfeindlichkeit
als weniger bedeutsam wahr.52
Tabelle 6: Bekämpfung der Ausländerfeindlichkeit als wichtiges gesellschaftlichpolitisches Problemfeld (Zeilenprozent)
Alter
Unter 30 Jahre
30 bis 44 Jahre
45-49 Jahre
60 Jahre und älter
Gesamt
49
50
51
52
Bekämpfung der
Ausländerfeindlichkeit ist
wichtig
1999
2000
78,3
92,3
76,2
89,7
71,7
92,9
73,8
82,9
76,0
91,1
Vgl. Fischer, Arthur/Yvonne Fritsche/Werner Fuchs-Heinritz/Richard Münchmeier: Jugend 2000, 13. ShellJugendstudie. Opladen 2000, 1. Band, S. 255.
Unger, Nicola: Alltagswelten und Alltagsbewältigung türkischer Jugendlicher. Opladen 2000, S. 47.
Leider liegen hierzu keine bundesweiten Daten vor.
Sauer, Martina/Andreas Goldberg: Die Lebenssituation und Partizipation türkischer Migranten in NRW.
Hrsgg. vom Zentrum für Türkeistudien. Münster 2001 (im Erscheinen), S. 110.
37
Zentrum für Türkeistudien
Fragt man türkische Zuwanderer direkt nach selbst erlebter Diskriminierung, so scheint dem
Alter der Betroffenen wiederum eine sichtbare Bedeutung zuzukommen. In einer Umfrage
des Zentrums für Türkeistudien, bei der im Sommer 1999 1.000 türkischstämmige Migranten
in Nordrhein-Westfalen interviewt wurden, gaben ein Viertel aller Befragten an, bereits Ungleichbehandlung zwischen Deutschen und Ausländern erfahren zu haben, 9% einmal und
17% auch schon mehrfach. Drei Viertel der befragten Migranten blieb dies bisher erspart.53
Abbildung 5: Erfahrung von Diskriminierung nach Altersgruppen (Zeilenprozent)
unter 30 Jahren
29,1
70,8
30 bis 44 Jahre
27,1
72,9
19,2
45 bis 59 Jahre
60 Jahre und älter
80,8
13,5
0%
86,5
20%
Diskiminierung erfahren
40%
60%
80%
100%
Diskriminierung nicht erfahren
Je jünger die Befragten sind, um so häufiger erfahren sie Ungleichbehandlung. Dieser Befund
kann unterschiedliche Ursachen haben: Zum einen treten jüngere Befragte häufiger in Kontakt
mit der deutschen Bevölkerung (siehe Kapitel 3) und sind möglicherweise rein quantitativ
stärker mit Vorurteilen und individueller Diskriminierung konfrontiert. Zum anderen entwickeln die Migranten der zweiten und dritten Generation ein anderes Verständnis von ihrem
Platz in der deutschen Gesellschaft und ein anderes, stärkeres Selbstbewusstsein als die erste
Generation. Nicht zuletzt aufgrund der Diskussion um eine multikulturelle Gesellschaft und
der Internalisierung demokratischer und rechtsstaatlicher Grundlagen stellen die jungen
Migranten andere Ansprüche an die Akzeptanz und Toleranz ihrer Kultur in der bundesrepublikanischen Gesellschaft, als deren selbstverständlicher Teil sie akzeptiert werden
möchten.54 Somit nehmen sie möglicherweise individuelle und strukturelle Ungleichbehandlung eher wahr als die Migranten der ersten Generation.
Eine Befragung des Deutschen Jugendinstituts unter ausländischen Jugendlichen kommt
zu einer ähnlichen Einschätzung der Wahrnehmung von Ungleichbehandlung, hier bei 18 bis
25-jährigen Türken. Nach der DJI-Untersuchung sehen sich, bei Möglichkeit der Mehrfach53
Zentrum für Türkeistudien: Standardisierte Mehrthemenbefragung der türkischen Wohnbevölkerung in
NRW. Unveröffentlichtes Manuskript. Essen 1999, S. 62.
38
Zentrum für Türkeistudien
nennung, 49% wegen ihrer Nationalität und 35% wegen ihres Glaubens diskriminiert.55 Diese
Abweichung erklärt sich zu einem Gutteil aus der vom DJI zu Grunde gelegten noch jüngeren
Altersgruppe. Die Differenz spricht also dafür, dass sich die Diskriminierungswahrnehmung
bei den jungen Türken weiter verschärft. Auch eine Untersuchung des BMA von 199656 ergab, dass fast jeder vierte Türke nach eigenen Angaben schon beleidigt oder angepöbelt
wurde. Die meisten Klagen stammten von männlichen Befragten im Alter zwischen 15 und 24
Jahren.
Abbildung 6: Häufigkeit der wahrgenommene Ungleichbehandlung auf unterschiedlichen
Kontaktfeldern nach Alter (Prozentwerte)
40,5
Wohnungssuche
38,7
Arbeitsplatz
45,3
44,1
37,1
Arbeitssuche
44,7
39,2
39,1
Discos
26,3
Behörden
19,9
Nachbarschaft
19
Einkaufen
38,5
27,8
25,1
17,1
Polizei
22,5
16,9
19,2
14,3
14,2
Gericht
Gastätten
0
10
unter 30 Jahre
20
30
40
50
30 Jahre und älter
Die empfundene Ungleichbehandlung als "Ausländer" variiert zudem nach Kontaktfeldern:
Die Kontaktfelder, auf denen bei der ZfT-Befragung in NRW 1999 die geringste Ungleichbehandlung beobachtet wurde, sind auf der einen Seite der Bereich Gastronomie und auf der
anderen Seite die Justiz und Polizei. Offenbar werden Ausländer als zahlende Kunden und vor
dem Gesetz noch am ehesten wie jeder Deutsche behandelt. Im täglichen Umgang mit der
deutschen Bevölkerung (beim Einkauf und in der Nachbarschaft) liegt der Anteil derer, die
Diskriminierung erfahren, schon bei mehr als 20%. In den von sozio-ökonomischer Konkurrenz geprägten Bereichen sieht dies jedoch ganz anders aus. Bei der Wohnungssuche, am Ar54
55
Vgl. dazu Unger, Nicola: Alltagswelten und Alltagsbewältigung türkischer Jugendlicher. Opladen 2000.
Weidacher, Alois (Hg.): In Deutschland zu Hause. Politische Orientierungen griechischer, italienischer,
türkischer und deutscher junger Erwachsener im Vergleich - DJI-Ausländersurvey. Opladen 2000, S. 109.
39
Zentrum für Türkeistudien
beits- bzw. Ausbildungsplatz und bei der Arbeitsuche, also in Bereichen mit Verteilungskonflikten um knappe Ressourcen, wird Ungleichbehandlung von mehr als einem Drittel beobachtet. Erschreckend hoch ist auch der Anteil derjenigen, die bei Behörden und in Discos
Diskriminierung erfahren haben. Junge Migranten nehmen Diskriminierung in allen Bereichen eher war, ganz besonders betroffen sind sie jedoch offensichtlich im Vergleich zu den
anderen Altersgruppen in den Konkurrenzbereichen (Arbeits- und Wohnungsmarkt) und bei
Behörden.57 In Kapitel 2 wurde bereits auf die nachgewiesene Diskriminierung beim Arbeitsmarktzugang durch eine Studie des Zentrums für Türkeistudien hingewiesen.58
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt der DJI-Ausländersurvey. Auch hier wurde festgestellt,
dass sich junge Türken vor allem in den Bereichen Schule/Arbeitsplatz und im Wohnbereich
benachteiligt fühlen.59 Auch Wilhelm Heitmeyer stellte in seiner Befragung von 1.221 türkischen Jugendlichen im Jahr 1995 die Frage nach der Diskriminierung auf unterschiedlichen
Kontaktfeldern. Das von ihm festgestellte Diskriminierungsniveau deckt sich mit den Befunden der ZfT-Befragung von 1999 in NRW, allerdings ist die Varianz auf den unterschiedlichen Feldern geringer als in der ZfT-Untersuchung.60 Die Tendenz zu stärkerer Diskriminierung bei sich verschärfender Ressourcenkonkurrenz ist nichtsdestoweniger hier festzuhalten,
da sie nicht nur für Nordrhein-Westfalen belegt, sondern auch darüber hinaus plausibel ist.
Auch qualitativ erhobene Daten belegen im Übrigen diese Befunde für das Land NRW. 1997
wurden im Rahmen einer qualitativen Studie des Zentrums für Türkeistudien für das Arbeitsministerium NRW 60 türkische Migranten zu ihrer Wahrnehmung von Diskriminierung und
Ausländerfeindlichkeit im Land ausführlich interviewt.61 Die Aussagen, die von der Großzahl
der Interviewten bestätigt wurden und somit als gesicherte Ergebnisse gelten können, sind:
Die Konkurrenz um knappe Arbeitsplätze und Sozialneid beschwöre bei der deutschen Mehrheitsbevölkerung immer mehr Hassgefühle herauf. Speziell Ostdeutsche glaubten, Ausländer
würden ihnen ihre Position im Erwerbsleben streitig machen. Berichte über Angriffe auf
56
57
58
59
60
61
Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hg.): Situation der ausländischen Arbeitnehmer und
ihrer Familien. Bonn 1996, S. 320-324.
Zentrum für Türkeistudien: Standardisierte Mehrthemenbefragung der türkischen Wohnbevölkerung in
NRW. Unveröffentlichtes Manuskript. Essen 1999, S. 62.
Vgl. Goldberg, Andreas/Dora Mourinho/Ursula Kulke: Arbeitsmarkt-Diskriminierung gegenüber ausländischen Arbeitnehmern in Deutschland. International Migration Papers 7. Genf 1995, S. 46-52.
Weidacher, Alois (Hg.): In Deutschland zu Hause. Politische Orientierungen griechischer, italienischer,
türkischer und deutscher junger Erwachsener im Vergleich - DJI-Ausländersurvey. Opladen 2000, S.110.
Vgl. Heitmeyer, Wilhelm/Helmut Schröder/Joachim Müller: Desintegration und islamischer Fundamentalismus. Über Lebenssituation, Alltagserfahrungen und ihre Verarbeitungsformen bei türkischen Jugendlichen in Deutschland. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, No. 8/1997, S. 17-31.
Vgl. Zentrum für Türkeistudien: Kurzfassung der Studie zu Wahrnehmung von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Diskriminierung in der türkischen Bevölkerung in Nordrhein-Westfalen. Unveröffentlichtes Manuskript. Essen 1998. Die Interviews wurden in Duisburg, Dortmund, Bielefeld, Mühlheim und Essen durchgeführt.
40
Zentrum für Türkeistudien
Ausländer haben bei fast allen Befragten nachhaltige Spuren hinterlassen. Insbesondere nach
den Brandanschlägen von Mölln und Solingen habe sich für die meisten das allgemeine Bild
von den Deutschen sowie das Zugehörigkeitsgefühl zu ihnen verschlechtert. Die Art und
Weise der Debatte um rechtliche Regelung von Zuwanderung wird von der Großzahl der
Befragten als verletzend interpretiert. Die Befragten bemerkten eine generell negative
Darstellung der Türkei sowie der Türken in Deutschland in den deutschen Medien.
Thematisch zentriere sich die Berichterstattung insbesondere auf die Kurdenproblematik. Die
deutschen Medien stellten in der Regel nur die negativen Seiten der Türkei und der Türken in
Deutschland dar. Die Berichterstattung wird als Aberkennung real erzielter Fortschritte
sowohl in der Türkei als auch der Türken in Deutschland empfunden. Die mediale
Repräsentation
der
Bekanntschaftsgefüge.
Türkei
Viele
belaste
auch
Befragte
das
interethnische
beklagten
sich
über
Freundschaftsden
und
zunehmenden
Rechtfertigungsdruck gegenüber deutschen Kollegen und Freunden. Diskriminierung wird
sehr viel weniger beim Kontakt mit öffentlichen Institutionen empfunden, sondern vielmehr
in
der
zivilgesellschaftlichen
Sphäre,
namentlich
auf
dem
freien
Arbeits-
und
Wohnungsmarkt.62
Ethnische Zuschreibung und Vorurteile
Welche Entsprechungen finden diese subjektiven Wahrnehmungen in den Einstellungen der
Deutschen? Die Bevölkerung in Zuwanderungsländern bewertet Zuwanderungs- und Beteiligungsrechte für Migrantengruppen nach Rangordnungen, die sich auf das Aufenthalts- und
Arbeitsrecht, auf die Staatsangehörigkeit, aber auch auf tatsächliche oder vermeintliche kulturelle Nähe bzw. Distanz, die der ethnischen Zuschreibung zugrunde liegt, beziehen können.63
Diese Bewertung evoziert die in die politische Debatte eingehenden Migrantengruppen, wie
Aussiedler, Asylsuchende, EU-Ausländer und Nicht-EU-Ausländer. Ein sehr bedeutender
Faktor für die so konstituierten Zuwanderergruppen sind allgemeine Befürchtungen, die auf
diese Bevölkerungsgruppen projiziert werden, wie Angst um den eigenen Arbeitsplatz, um
Positionen und Privilegien, um Ressourcen der sozialen Sicherung und um kulturelle Orientierung durch Bewahrung von Einheitlichkeit.
62
63
Vgl. Halm, Dirk/Martina Sauer: So leben Türken in Deutschland. Zu ihrer Betroffenheit von Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit. In: Die Brücke - Forum für antirassistische Politik und Kultur, No 1/2001,
S. 15.
Weidacher, Alois (Hg.): In Deutschland zu Hause. Politische Orientierungen griechischer, italienischer,
türkischer und deutscher junger Erwachsener im Vergleich - DJI-Ausländersurvey. Opladen 2000, S.108.
41
Zentrum für Türkeistudien
Die Ergebnisse einer ALLBUS-Umfrage von 1996 zeigen, wie unterschiedlich und wie
wandelbar das Akzeptanzverhalten der Bevölkerung gegenüber bestimmten Migrantengruppen sein kann.64 In der westdeutschen Bevölkerung waren einem großen Teil Ausländer aus
EU-Staaten als Nachbarn oder Familienangehörige willkommen, Türken und Asylbewerber
wurden dagegen von einem großen Teil abgelehnt. Gegenüber Italienern hat sich die Akzeptanz im Vergleich zu den ersten Jahren der Anwerbeabkommen wesentlich erhöht, Türken
und Asylbewerber haben aktuell immer noch einen besonders niedrigen Status in der Bevölkerung (siehe auch Kapitel 3.1). Die Auswertung der ALLBUS-Daten zeigt eine deutliche
Zunahme der Zustimmung zu diskriminierenden Aussagen und Forderungen für 1996 im
Vergleich zu den Vorjahren in Bezug auf die Anpassung an den Lebensstil (44%), Ausweisung von Ausländern bei schwieriger Arbeitsmarktlage (31%), Verbot politischer Betätigung
(30%) und innerethnischer Heirat (22%).65 50% der Deutschen wünschten sich 1996 eine Unterbindung des Zuzugs von Nicht-EU-Ausländern. Rund 44% aller Deutschen und mehr als
die Hälfte der Befragten in Ostdeutschland sind der Meinung, Ausländer belasteten das
soziale Netz, mehr als 40% der Befragten insgesamt sind der Meinung, Ausländer begingen
häufiger Straftaten als Deutsche, fast 40% aller befragten Personen stimmten der Behauptung
zu, Ausländer nähmen den Deutschen Arbeitsplätze weg.66
Der Sechste Familienbericht der Bundesregierung referiert eine Untersuchung des Allensbacher Instituts für Demoskopie zu Verhaltensweisen verschiedener Nationalitäten.67 Es zeigt
sich hier, dass sich die Zuschreibungen zu Türken im Unterschied zu anderen ehemaligen
"Gastarbeiternationalitäten" zwischen 1982 und 1993 nur wenig verändert haben und im Vergleich zu den anderen Nationalitäten am negativsten sind. Mehr als 80% der Deutschen denken, Türken hätten kinderreiche Familien, 70% sind der Meinung, das Verhalten von Türken
sei ganz anders als das von Deutschen (bei Italienern beispielsweise denken dies "nur" 22%),
mehr als zwei Drittel der Deutschen glauben, Türken blieben am liebsten unter sich. 40% sind
der Meinung, Türken würden den Deutschen Arbeitsplätze wegnehmen und fast jeder Fünfte
ist der Ansicht, Türken nutzten die Deutschen aus. Mehr als jeder Zehnte Deutsche denkt,
Türken legten keinen Wert auf Sauberkeit und seien weniger intelligent. Allerdings haben die
64
65
66
67
Vgl. Ganter, Stephan: Ursachen und Formen der Fremdenfeindlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland.
Schriftenreihe der Friedrich-Ebert-Stiftung. Bonn 1998, S. 42; vgl. auch Weidacher, Alois (Hg.): In
Deutschland zu Hause. Politische Orientierungen griechischer, italienischer, türkischer und deutscher junger
Erwachsener im Vergleich - DJI-Ausländersurvey. Opladen 2000, S.107.
Ganter, Stephan: Ursachen und Formen der Fremdenfeindlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland.
Schriftenreihe der Friedrich-Ebert-Stiftung. Bonn 1998, S. 30ff.
Ebd., S. 42.
Zitiert nach: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.): Sechster Familienbericht
der Bundesregierung: Familien ausländischer Herkunft in Deutschland. Leistungen, Belastungen, Herausforderungen. Berlin 2000, S. 86f.
42
Zentrum für Türkeistudien
positiven Urteile zwischen 1982 und 1993 auch mehr Zustimmung erfahren. So erkennen
zwei Drittel der Deutschen 1993 an, dass Türken die Arbeit tun, die Deutsche nicht machen
wollen, 45% halten Türken für fleißig (1982: 30%), ein Drittel ist der Meinung, Türken seien
freundlich und zuvorkommend und jeder Fünfte hält sie inzwischen für gute Nachbarn.68
Auch in der 13. Shell-Jugendstudie wurden unter deutschen und ausländischen Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren eine Reihe von Fragen zu gegenseitigen Meinungen, Urteilen
und Vorurteilen gestellt.69 Fast zwei Drittel der deutschen Jugendlichen empfinden den Anteil
der Ausländer in Deutschland als zu hoch, in Ostdeutschland sind es sogar 71% der Jugendlichen.70 Allerdings variiert der Prozentsatz derer, die den Ausländeranteil zu hoch finden, nach
der Ausstattung mit persönlichen Ressourcen, vor allem Bildung: Je besser die Ressourcenausstattung der Jugendlichen ist, um so geringer wird der Anteil derjenigen, die den Ausländeranteil als zu hoch empfinden. Bestätigt wird die Vermutung, dass das Ausmaß des Kontaktes mit Ausländern die Vorurteile und Akzeptanz von Ausländern beeinflusst: Je häufiger
die Jugendlichen Kontakte mit Ausländern haben, um so geringer wird der Anteil derer, die
den Ausländeranteil als zu hoch einschätzen.71 Rainer Dollase belegt in seiner Untersuchung
aus dem Jahr 1999 zu fremdenfeindlicher Einstellungen in Schulklassen in NRW eine ebenfalls negative Korrelation zwischen der Zahl ausländischer Kinder pro Schulklasse und dem
Grad fremdenfeindlicher Einstellungen bei deutschen Schülern.72 In der Shell-Jugendstudie
wurde der Versuch unternommen, den Grad der Ausländerfeindlichkeit unter deutschen Jugendlichen zu messen. Dazu wurde eine umfangreiche Itemliste verwendet, die zu einer Skala
zusammengefasst wurde und die Ausprägungen hohe, ambivalente und niedrige Ausländerfeindlichkeit ausdrückt.73 Dabei konnte festgestellt werden, dass sich der Grad der Ausländerfeindlichkeit nach Region, nach Geschlecht, nach Alter und nach Bildungsstand unterscheidet: Ostdeutsche, Jungen, Jüngere und Jugendliche mit geringer Ressourcenausstattung
sind in höherem Maße ausländerfeindlich als Westdeutsche, Mädchen, ältere Jugendliche und
68
69
70
71
72
73
Zitiert nach Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.): Sechster Familienbericht
der Bundesregierung: Familien ausländischer Herkunft in Deutschland. Leistungen, Belastungen, Herausforderungen. Berlin 2000, S. 86f. Vgl. auch Weidacher, Alois (Hg.): In Deutschland zu Hause. Politische Orientierungen griechischer, italienischer, türkischer und deutscher junger Erwachsener im Vergleich - DJIAusländersurvey. Opladen 2000, S. 128.
Fischer, Arthur/Yvonne Fritsche/Werner Fuchs-Heinritz/Richard Münchmeier: Jugend 2000, 13. Shell-Jugendstudie. Opladen 2000, 1. Band, S. 240ff.
Nach der Studie von Böhnisch 1997 wird von Jugendlichen der Ausländeranteil in Deutschland um das
Zehnfache überschätzt; vgl. Böhnisch et. al.: Die wissenschaftliche Begleitung. Ergebnisse und Perspektiven. Das Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt. Münster 1997.
Vgl. Fischer, Arthur/Yvonne Fritsche/Werner Fuchs-Heinritz/Richard Münchmeier: Jugend 2000, 13. ShellJugendstudie. Opladen 2000, 1. Band, S. 243-244.
Vgl. Dollase, Rainer: Sind hohe Anteile ausländischer SchülerInnen in Schulklassen problematisch? In:
Journal für Konflikt- und Gewaltforschung, No. 1/1999, S. 56-83.
Fischer, Arthur/Yvonne Fritsche/Werner Fuchs-Heinritz/Richard Münchmeier: Jugend 2000, 13. Shell-Jugendstudie. Opladen 2000, 1. Band, S. 257.
43
Zentrum für Türkeistudien
Befragte mit guter Ressourcenausstattung. Auch bestätigt sich, dass Jugendliche ohne Kontakte zu Ausländern in höherem Maße ausländerfeindlich sind als solche mit Kontakten.74
Ausländerfeindlichkeit ist auf dem Lande und in Kleinstädten verbreiteter als in Großstädten.
Im Kern der Ausländerfeindlichkeit - so das Resümee der Studie - scheinen sich Konkurrenzgefühle und Furcht vor wachsender Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und um Zukunftschancen zu verstecken.75
Zur Profilierung eines Selbstbildes gehört immer die Abgrenzung zu Anderen. Dies gilt
auch für die wechselseitige Wahrnehmung von Verhalten und die darin implizierte Nähe und
Distanz. Die 13. Shell-Studie hat die Wahrnehmung des Verhaltens in Bezug auf die andere
Nationalität in unterschiedlichen Bereichen (ethnisch spezifisches Verhalten wie Essen und
Trinken, Kleidung, Familienleben, Religion), cliquen- und freizeitorientiertes Verhalten, Erfüllung der Qualifikationsaufgaben (Schule, Ausbildung, Arbeit) Eigenleben (Verhältnis zwischen Jugendlichen und Erwachsenen, Verhältnis zum anderen Geschlecht), Politik und Zukunftsgestaltung abgefragt. Das Ergebnis zeigt, dass türkische Jugendliche am häufigsten betonen, sie würden sich ähnlich wie die Deutschen verhalten, dagegen sind die deutschen Jugendlichen stärker auf die Herausstellung der Unterschiede bedacht. Besonders groß wird
sowohl von Deutschen als auch von Türken die Differenzen in den Bereichen Familienleben,
Religion und Beziehung zwischen Jugendlichen und Eltern eingeschätzt. Beim Sport werden
dagegen auf beiden Seiten kaum Unterschiede gesehen. Auch hier spielt die Ausstattung mit
persönlichen Ressourcen (Elternhaus, soziale Herkunft) eine große Rolle, in diesem Fall jedoch nicht der Bildungsstand:76
Tabelle 7: Selbstbild in Abgrenzung zu der anderen Gruppe von deutschen und türkischen
Jugendlichen nach verschiedenen Lebensbereichen (Spaltenprozent)
Anderes Selbstbild
Deutsche
Türken
Bereiche
Ethnospezifisch-kultureller Bereich
Freizeitbereich
Qualifikationsbereich
Eigenes Leben/Verselbständigung
Politik/Zukunftsgestaltung
60,4
35,4
41,4
48,8
48,2
55,2
27,5
14,4
42,9
26,1
Insgesamt zeigen sich sowohl bei Deutschen als auch bei Türken die größten Differenzen im
74
75
Diese makrosoziologische Erkenntnis wird unter 4.2 noch differenziert und auf Voraussetzungen untersucht,
unter denen Kontakte in besonderem Maße verständigungsfördernd sind.
Fischer, Arthur/Yvonne Fritsche/Werner Fuchs-Heinritz/Richard Münchmeier: Jugend 2000, 13. Shell-Jugendstudie. Opladen 2000, 1. Band, S. 243-244.
44
Zentrum für Türkeistudien
ethnisch-kulturellen Bereich, beide Gruppen sehen sich hier mehrheitlich anders, die Deutschen noch stärker als die Türken. Im Freizeitbereich sehen Deutsche die größten Ähnlichkeiten, die Türken im Qualifikationsbereich, in dem sich auch die größten Differenzen in der
Ähnlichkeitseinschätzung zwischen beiden finden.
Die Forscher kommen zu dem Schluss, dass die viel beklagte und vor allem den Türken
unterstellte Unwilligkeit zur Anpassung an die deutsche Lebensweise für die untersuchte
Gruppe Jugendlicher nicht zutrifft. Vielmehr kommt in manchen Problemen eher das Spannungsverhältnis zwischen Jungsein (Freizeitverhalten ähnlich) und Ausländersein (Religion
und Familienleben unähnlich) zum Tragen.77
76
77
Ebd., S. 250-251.
Ebd., S. 252.
45
Zentrum für Türkeistudien
3 Abschottung oder Integration? - Indikatoren der Handlungsorientierung
von Zuwanderern
3.1 Heiratsverhalten
Die Etablierung von Verwandtschaftsbeziehungen durch Heirat zwischen Zuwanderern und
Einheimischen wird häufig, besonders in klassischen Einwanderungsländern, als Maßstab für
Integration in Form von Assimilation interpretiert.78 Das Ausmaß familiärer Nähe und Distanz
gibt darüber hinaus aber auch Auskunft über das Maß an empfundener kultureller Nähe und
Distanz. Es ist ein Maßstab für die Offenheit einer Gesellschaft und ein Indikator für die Bildung ethnischer Subgruppen. Dabei ist das Ausmaß interethnischer Heiraten von
Gelegenheitsstrukturen anhängig.79
Binationale Eheschließungen
1996 wurden auf den deutschen Standesämtern 7.238 Ehen zwischen türkischen Partnern geschlossen (2% aller Eheschließungen), 52.500 Ehen (14%) wurden zwischen deutschen und
ausländischen Partnern geschlossen, bei jeweils 7% waren Mann und Frau deutsche Staatsangehörige.80 1997 wurden 1.073 Ehen von deutschen Männern mit türkischen Frauen registriert, 3.934 mal heiratete eine deutsche Frau einen türkischen Staatsangehörigen.81 Die Zahl
der Ehen zwischen deutschen Männern und türkischen Frauen steigt seit 1959 langsam, aber
stetig. Die Anzahl der Ehen zwischen deutschen Frauen und türkischen Männern unterlag
stärkeren Schwankungen. So stieg ihre Zahl Anfang der 80er Jahre (möglicherweise in Folge
des Militärputsches in der Türkei, in dessen Zuge viele junge Türken als Studenten nach
78
79
80
81
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.): Sechster Familienbericht der Bundesregierung: Familien ausländischer Herkunft in Deutschland. Leistungen, Belastungen, Herausforderungen.
Berlin 2000, S. 78.
Die Analyse des inter- und innerethnischen Heiratsverhaltens türkischer Migranten in Deutschland fällt in
allerlei Hinsicht nicht leicht, vor allem aber deshalb, weil die Staatsangehörigkeit immer weniger mit der
Herkunft korrespondiert. In den offiziellen Statistiken werden Ehen zwischen Angehörigen unterschiedlicher
Staatsbürgerschaften als binational geführt, und Ehen zwischen Angehörigen einer Staatsangehörigkeit als
nationale Ehe, unabnhängig von der ethnischen Herkunft der Eheleute. Hat ein türkischstämmiger Migrant
die deutsche Staatsangehörigkeit und heiratet eine Deutsche deutscher Herkunft, wird diese Ehe nicht als
binational erfasst. Dagegen wird eine Heirat zwischen einem eingebürgerten Migranten und einer Migrantin
türkischer Staatsbürgerschaft als binational eingestuft. Die Messung der innerethnischen Heiraten wird
zudem dadurch erschwert, dass die überwiegende Mehrheit der türkischstämmigen Migranten in der Türkei
heiraten, und in den deutschen Statistiken dann überhaupt nicht auftauchen. Dies gilt auch für die
sogenannten Konsulatsehen, die in den türkischen Konsulaten in Deutschland geschlossen werden.
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.): Sechster Familienbericht der Bundesregierung: Familien ausländischer Herkunft in Deutschland. Leistungen, Belastungen, Herausforderungen.
Berlin 2000, S. 80.
Ebd.
46
Zentrum für Türkeistudien
Deutschland kamen) sprunghaft von ca. 1.000 auf ca. 4.000, sank aber in den Folgejahren
wieder auf ca. 1.500. Mitte der 80er Jahre nahmen die binationalen Eheschließungen türkischer Männer dann wieder stark zu, um Anfang der 90er Jahre wieder zurückzugehen.82
Einstellungen zu binationalen Ehen
Über die soziale und kulturelle Distanz zwischen Einheimischen und Zuwanderern sagen
Zahlen zur binationalen Eheschließung nur wenig aus, da Gelegenheitsstrukturen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen nicht berücksichtigt werden und die wachsende Quote
der Eingebürgerten die Statistik verfälscht. Das statistische Phänomen der binationalen Ehe
muss also um die diesbezüglichen Einstellungen von Deutschen und Zuwanderern ergänzt
werden, um das Bild zu komplettieren. Bei zwei Untersuchungen, die vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 1985 und 1995 in Auftrag gegeben wurden, wurden türkischstämmige Eltern gefragt, ob sie damit einverstanden wären, wenn ihr Kind einen deutschen Partner heiraten würde. Darüber hinaus wurde die Bereitschaft, einen deutschen Ehepartner zu wählen, unter noch unverheirateten Migranten abgefragt.83 Das Zentrum für Türkeistudien fragte in einer Studie im November 2000 ebenfalls 2.000 türkischstämmige
Migranten, ob sie sich mit einer Ehe ihrer Kinder mit einem deutschen Partner arrangieren
könnten.84
Tabelle 8: Einstellung türkischer Migranten zur Heirat mit deutschen Ehepartnern
1985, 1995 und 2000 (Prozentwerte)
BMA-Untersuchung
Einverstanden mit deutschem
Ehepartner der Kinder
Bereitschaft zur Ehe mit
Deutschen
Unentschlossen
1985
Mütter
Väter
Frauen
Männer
Frauen
Männer
31,2
35,3
13,8
49,1
23,1
15,7
1995 ZfT-Untersuchung
50,0
55,9
44,4
42,8
17,4
22,9
Einverstanden mit
deutschem Schwiegersohn
Einverstanden mit
deutscher Schwiegertochter
2000
Mütter
Väter
Mütter
Väter
34,5
33,7
36,5
37,5
Die Akzeptanz interethnischer Ehen der Kinder durch türkischstämmige Eltern hat im Zeitraum zwischen 1985 und 1995 stark zugenommen. So sind rund die Hälfte der Väter und
Mütter türkischer Herkunft mit einem deutschen Ehepartner für ihre Kinder einverstanden,
82
83
84
Ebd.
Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hg.): Situation der ausländischen Arbeitnehmer und
ihrer Familienangehörigen in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 1996, S. 227ff.
Vgl. Sauer, Martina: Kulturell-religiöse Einstellungen und sozioökonomische Lage junger türkischer
Migranten. In: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik, No. 2/2000, S. 51 - 59.
47
Zentrum für Türkeistudien
zehn Jahre zuvor waren es nur ein Drittel. Im Jahre 2000 scheint die Ehe mit einem deutschen
Partner dagegen wieder auf etwas weniger Zustimmung zu treffen. Nur gut ein Drittel hätten
damit keine Probleme. Auch im DJI-Ausländersurvey, in dem 1997 16-29-jährige Jugendliche
befragt wurden, wurde die Akzeptanz deutscher Ehepartner untersucht.85 Hier gaben 53% der
jungen Türkinnen und 30% der jungen Türken an, sich auf gar keinen Fall einen deutschen
Ehepartner vorstellen zu können, 18% der Frauen und 25% der Männer lehnen eine Partnerschaft mit Deutschen eher ab. Als Möglichkeit halten sich 35% der Männer und 22% der
Frauen einen deutschen Partner offen, und in jedem Falle wollen 10% der Männer und 7% der
Frauen einen deutschen Ehepartner haben. Die Angaben der bereits verheirateten jungen Türken spiegeln diese Bereitschaft wieder: So haben 88% der jungen türkischen Männer, die bereits verheiratet sind, eine türkische Partnerin und 93% der Frauen. In gemischtethnischen
Ehen befinden sich 12% der jungen Männer und 7% der jungen Frauen. Die Bereitschaft zur
Heirat eines deutschen Partners wird in erster Linie durch die Aufenthaltsdauer, einen umfassenden Kontakt zu Deutschen, eine hohe Schulbildung und gute Deutschkenntnisse positiv
beeinflusst.
Tabelle 9: Bereitschaft zur Ehe (Unverheiratete) und Ehe (Verheiratete) junger Türken
zwischen 16 und 29 Jahren mit einem deutschen Partner (Spaltenprozent)
Bereitschaft
Auf jeden Fall
Möglicherweise
Eher nicht
Auf keinen Fall
Ehe
Gleiche Nationalität
Gemischt
Männer
Frauen
10
35
25
30
7
22
18
53
88
12
93
7
Freilich beruht die eher geringe Bereitschaft, eine bikulturelle Ehe zu schließen, auf Gegenseitigkeit. Die Wahrnehmung sozialer und kultureller Distanz durch die Deutschen spiegelt
sich ebenso in der Heiratsfrage. In der ALLBUS-Befragung von 1996 gaben 15% der westdeutschen und 7% der ostdeutschen Befragten an, Türken als Familienmitglied als angenehm
zu empfinden, mehr der Hälfte (54% bzw. 58%) wäre ein Türke oder eine Türkin in der Familie unangenehm. Auch in der Shell-Jugendstudie wurde die interethnische Heiratsneigung
untersucht. Danach lehnen gut ein Viertel der deutschen Jugendlichen zwischen 15 und 24
85
Weidacher, Alois (Hg.): In Deutschland zu Hause. Politische Orientierungen griechischer, italienischer,
türkischer und deutscher junger Erwachsener im Vergleich - DJI-Ausländersurvey. Opladen 2000, S. 112.
48
Zentrum für Türkeistudien
Jahren und ein Fünftel der türkischen Jugendlichen eine Heirat mit einem Partner anderer
Nationalität ab. Auch hier zeigen sich auf beiden Seiten positive Zusammenhänge mit dem
Bildungsstand.86
Heiratsmigration
Männer der zweiten Generation türkischer Herkunft scheinen häufiger als Frauen Ehen mit
Personen einzugehen, die in der Türkei aufgewachsen sind, um diese dann im Zuge des Familiennachzugs nach Deutschland zu holen. Möglicherweise hat der auch in der zweiten Generation noch vorhandene Männerüberschuss nicht etwa eine erhöhte Bereitschaft zu Eheschließungen mit Frauen nichttürkischer Herkunft zur Folge, sondern verstärkt im Gegenteil
die Neigung zu einer innerethnischen Heirat mit einer Partnerin aus der Türkei.87 1996 wurden
von den deutschen Auslandsvertretungen in Ankara, Istanbul und Izmir rund 17.500 Visa für
den Familiennachzug zu türkischen Ehegatten in Deutschland ausgestellt. Dabei wurden
deutlich mehr Visa für Frauen als für Männer ausgestellt, was darauf schließen lässt, dass
mehr in Deutschland lebende türkische Männer als Frauen ihre Partner in der Türkei suchen.
Andererseits gibt es deutlich mehr Männer als Frauen mit einem Ehegattennachzug zu einem
Partner deutscher Staatsangehörigkeit. Dieses Ungleichgewicht fällt allerdings geringer aus,
als bei binationalen Ehen, die in Deutschland geschlossen werden, wobei es sich wiederum zu
einem Teil um Ehen mit eingebürgerten Migranten handeln dürfte. Eine Befragung des Zentrums für Türkeistudien im Januar 2001 von 1.000 Eltern kleiner Kinder in acht großen Städten88 ergab einen Anteil von zwei Dritteln aller Familien, in denen ein Partner aufgrund der
Heirat nach Deutschland migrierte (41% Frauen, 24% Männer).
Das Ausmaß der Heiratsmigration ist in den letzten Jahren konstant geblieben. Ab 1998
sind im Schnitt 16.500 Personen-Visa zum Zweck des Ehegattennachzugs erteilt worden. Der
Anteil des Ehegattennachzugs in Relation zu den erteilten Visa insgesamt ist sogar rückläufig.
So lag der Anteil 1998 bei 10% (16.531 von 164.979 erteilten Visa insgesamt), 2000 nur noch
86
87
88
Vgl. Fischer, Arthur/Yvonne Fritsche/Werner Fuchs-Heinritz/Richard Münchmeier: Jugend 2000. 13. ShellJugendstudie. Opladen 2000, 1. Band, S. 252ff.
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.): Sechster Familienbericht der Bundesregierung: Familien ausländischer Herkunft in Deutschland. Leistungen, Belastungen, Herausforderungen.
Berlin 2000, S. 8 u. S. 87.
Zentrum für Türkeistudien: Evaluation der Intervention des Arbeitskreises "Neue Erziehung". Unveröffentlichtes Manuskript. Essen 2001, S. 25.
49
Zentrum für Türkeistudien
bei 8% (16.680 von 208.254 erteilten Visa insgesamt). Bei einem großen Teil handelt es sich
um junge Frauen im Alter bis 24 Jahre.89
Die konstante Heiratmigration der letzten Jahre ergibt sich nicht nur aus dem Ungleichgewicht auf dem inländischen Heiratsmarkt, sondern auch aus dem Wunsch vieler Migranten
sowohl aus der Zuwanderer- als auch aus der Folgegeneration, einen Heiratspartner im Herkunftsland zu suchen. Ehen, die mit Heiratsmigration verbunden sind, stehen vor besonderen
Belastungen, weil die Ehepartner sehr viel größere Aufgaben der ehelichen Anpassung und
der gemeinsamen Gestaltung der Partnerschaft wegen der häufig sehr unterschiedlichen Herkunfts- und Lebensbedingungen beider Ehepartner zu lösen haben. Erschweren aufenthaltsrechtliche Bestimmungen das Leben dieser Familien, belastet dies zusätzlich die Stabilisierung dieser Familien.90 Um die Situation der Heiratsmigranten zu verbessern, wäre es im
Übrigen sinnvoll, Wege für Vorbereitungsmaßnahmen auf die Migrationssituation, die schon
in den Entsendestaaten ansetzen, auszuloten und eventuell ein entsprechendes Modellprojekt
auf den Weg zu bringen.
Diese Befunde sprechen nicht dafür, einen starken Trend zur bikulturellen Eheschließung
zu konstatieren. Die insgesamt über die Jahrzehnte moderate Zunahme binatonaler bzw. bikultureller Eheschließungen entwickelt sich in Abhängigkeit des sich leicht verbessernden
Bildungsgrades und der verbesserten Sprachkenntnisse der Zuwanderer. Bemerkenswert ist,
dass türkische Zuwanderer und deutsche Aufnahmegesellschaft sich in der Ablehnung bikultureller Ehen durchaus ebenbürtig sind. Mithin spricht nicht viel dafür, dass eventuell zu vermutende, zumindest unmittelbare Restriktionen innerhalb türkischer Familien ausschlaggebend für die nur langsame Zunahme bikultureller Eheschließungen sind. Vielmehr ist von
einer Wertetransmission innerhalb der Familien hinsichtlich der Präferenz für ethnisch homogener Ehen auszugehen.
3.2 Interkulturelle Kontakte und Wohnumfeld
Neben Befindlichkeiten, Einstellungen und individuellen Identitäten und Orientierungen sind,
wie oben für den Bereich des Heiratsverhaltens bereits erwähnt, Gelegenheitsstrukturen für
die Etablierung interethnischer/interkultureller Netzwerke von Bedeutung. In welchem Maß
89
90
Quelle: Deutsche Botschaft, Sozialreferat, Ankara, Februar 2001, erhoben im Zuge eine laufenden Projekts
des Zentrums für Türkeistudien „Heiratsmigration von Türkinnen und Türken in Deutschland“, durch das im
Auftrag des Ministeriums für Arbeit und Soziales, Qualifikation und Technologie des Landes NordrheinWestfalen Handlungsstrategien zur besseren Integration von Heiratsmigranten erarbeitet werden.
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.): Sechster Familienbericht der Bundesregierung: Familien ausländischer Herkunft in Deutschland. Leistungen, Belastungen, Herausforderungen.
Berlin 2000, S. 8 u. S. 88.
50
Zentrum für Türkeistudien
haben die Migranten Kontakte zu Deutschen und in welchen Lebensbereichen? Verspüren sie
den Wunsch nach mehr Kontakt und kann man somit davon ausgehen, dass die Gelegenheiten
zur Etablierung interkultureller Netzwerke in Zukunft zunehmen werden? Inwieweit stehen
diese Perspektiven, abgesehen von der individuellen Ebene, mit der sozialen Lage in Zusammenhang, wirkt also die Gesamtgesellschaft auf sie ein? Von besonderer Bedeutung ist in
diesem Zusammenhang, wie oben bereits belegt wurde, die Struktur des Wohnumfeldes, die
etwa auf die Ausbildungsplatzwahl in der ethnischen Nischenökonomie beträchtlichen Einfluss nimmt.
Interkulturelle Kontakte
Abbildung 7: Kontakt zu Personen deutscher Herkunft in verschiedenen Lebensbereichen
(Mehrfachnennung, Prozentwerte)
80,5
90
73,3
80
70
60
76,9
81,1
77,6
74,6
50
40
29,7
30
20
32,2
10
1999
0
Na
2000
Ar
ch
be
Fr
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Fa
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er
an
wa
nte
nd
tsc
ha
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Mehr als drei Viertel der türkischen Migranten haben nach einer Zeitreihenuntersuchung des
Zentrums für Türkeistudien, die unter 1.000 türkischstämmigen Migranten in NordrheinWestfalen 1999 und 2000 durchgeführt wurde, Kontakte zu Deutschen, die über Grußkontakte
hinausgehen.91 Am häufigsten findet der Kontakt in der Nachbarschaft statt, dort stehen 81%
in regelmäßiger Verbindung mit Deutschen. Auch am Arbeitsplatz haben 78% Kontakte zu
deutschen Kollegen, und im Freundes- und Bekanntenkreis finden sich bei 75% der Befragten
Deutsche. Ein Drittel der Migranten haben sogar familiäre bzw. nähere verwandtschaftliche
Beziehungen zu Deutschen. Somit ist nicht nur der eher erzwungene Kontakt am Arbeitsplatz
stark ausgeprägt, sondern auch der weitgehend freiwillige Kontakt in der Nachbarschaft und
51
Zentrum für Türkeistudien
im Freundeskreis. Die Abbildung zeigt auch, dass sich 2000 im Vergleich zu 1999 praktisch
keine Veränderungen ergeben haben.92 Lediglich bei den Kontakten am Arbeitsplatz ist eine
leichte Zunahme zu erkennen.
Tabelle 10: Kontakte zu Deutschen in verschiedenen Lebensbereichen nach
soziodemographischen Merkmalen (Prozentwerte)
Nachbarschaft
Geschlecht
männlich
weiblich
Cramers V: 93
Alter
18 bis 29 Jahre
30 bis 44 Jahre
45 bis 59 Jahre
60 Jahre und älter
Cramers V:
Aufenthaltsdauer
bis 3 Jahre
4 bis 9 Jahre
10 bis 19 Jahre
20 und mehr Jahre
Cramers V:
berufliche Ausbildung
keine Ausbildung
Berufsausbildung
Meister/Techniker
FH/Uni
Cramers V:
Gesamt
Arbeitsplatz
Freundes- und
Familie oder
Bekanntenkreis Verwandtschaft
81,4
80,7
.08
87,6
67,4
.26
73,0
76,5
.04
32,7
31,8
.05
79,3
82,3
83,6
85,8
.23
85,3
77,7
63,0
43,3
.36
85,3
69,3
61,8
62,2
.29
30,5
34,5
33,1
24,1
.22
64,2
74,7
82,2
82,1
.20
70,7
75,1
75,7
78,2
.30
52,9
71,2
72,5
76,2
.22
25,6
31,5
27,0
34,2
.23
80,9
82,3
81,9
80,9
.16
81,1
64,6
86,7
78,1
84,3
.24
77,6
62,0
82,9
100,0
83,0
.26
74,6
27,6
36,2
30,8
45,8
.11
32,2
Frauen geben kaum weniger Kontakte zu Deutschen an als Männer, was erstaunlich ist - ließe
sich doch vermuten, dass sie aufgrund familiärer Aufgaben stärkere Sprachprobleme haben
und auch wegen kultureller Rollenzuschreibungen stark auf die Familie und einen engen
Kreis an Kontaktpersonen konzentriert sind. Tatsächlich haben drei Viertel der befragten
Frauen in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis Kontakte zu Deutschen. Deutliche Unterschiede zeigen sich am Arbeitsplatz, da ein Großteil der Frauen nicht erwerbstätig sind.
91
92
93
Sauer, Martina/Andreas Goldberg: Die Lebenssituation und Partizipation türkischer Migranten in NordrheinWestfalen. Hrsgg. vom Zentrum für Türkeistudien. Münster 2001 (im Erscheinen), S. 50. Auch hier liegen
keine bundesweiten Daten vor.
Vgl. Zentrum für Türkeistudien: Standardisierte Mehrthemenbefragung der türkischen Wohnbevölkerung in
Nordrhein-Westfalen. Unveröffentlichtes Manuskript. Essen 1999, S. 27-28.
Cramers V ist ein Zusammenhangsmaß für nominal skalierte Variablen und kann Werte zwischen 0 und 1
annehmen. Je höher der Wert, desto stärker der Zusammenhang.
52
Zentrum für Türkeistudien
Ungleich stärkeren Einfluss auf die Kontakthäufigkeit hat indessen das Alter der Befragten: Je älter, um so geringer der Anteil derjenigen, die Kontakte zu Deutschen haben. Dieser
Befund deckt sich mit dem von Esser aus dem Jahr 1990, der eine Zunahme interethnischer
Freundschaftsnetzwerke bei der zweiten Generation von Türken in Deutschland im Vergleich
zu den Eltern feststellte.94 Stark ausgeprägt sind die Differenzen hier am Arbeitsplatz, vermutlich auch deshalb, weil ein Teil der älteren Befragten inzwischen in Rente gegangen ist.
Doch darüber hinaus mögen Sprachprobleme der ersten Generation eine Rolle spielen, denn
auch im Freundes- und Bekanntenkreis ist der Alterseffekt zu beobachten. Lediglich in Bezug
auf die Verwandtschaft und die Nachbarschaftskontakte sind die Differenzen zwischen den
Altersgruppen gering ausgeprägt, wenngleich sich auch hier ein linearer Zusammenhang feststellen lässt.
Gleiches lässt sich für die Aufenthaltsdauer konstatieren: Je länger die Befragten in
Deutschland leben, um so größer ist der Anteil der deutschen Kontakte in allen Lebensbereichen, wobei die Unterschiede im Freundes- und Bekanntenkreis am stärksten sind. Die
berufliche Bildung wirkt sich unterschiedlich auf die Kontakte aus: Beim Kontakt in der
Nachbarschaft kennzeichnet die berufliche Bildung kaum Differenzen. Am Arbeitsplatz haben Befragte ohne Ausbildung die mit Abstand geringsten Kontaktanteile, gefolgt von den
Meistern und Technikern. Den größten Anteil an Kontakten am Arbeitsplatz geben die Befragten mit einer schulischen oder betrieblichen Berufsausbildung an, unwesentlich weniger
Kontakte nennen Befragte mit Hochschulausbildung. Gleiches gilt für Kontakte innerhalb der
Verwandtschaft. Im Freundeskreis haben Befragte ohne Ausbildung ebenfalls am seltensten
Kontakte, Meister und Techniker dagegen am häufigsten.
Nach diesen Zahlen kann man den - freiwilligen - Kontakt zwischen Minderheits- und
Mehrheitsbevölkerung zumindest aus Sicht der Befragten als stark ausgeprägt bezeichnen. Er
beschränkt sich nicht mehr auf die Lebensbereiche, auf deren ethnische Zusammensetzung die
Befragten keinen Einfluss haben. Dies deutet darauf hin, dass die strikte Trennung der beiden
Gesellschaften doch nicht mehr so stark ist und das Zusammentreffen mit Deutschen nicht
mehr nur aufgrund unbeeinflussbarer Rahmenbedingungen erfolgt. Von selbstgewählter Isolation von der deutschen Gesellschaft kann somit in Anbetracht der stattfindenden Kontakte
nicht die Rede sein. Dies gilt insbesondere für die zweite Generation, wo der freiwillige und
unfreiwillige Kontakt im Vergleich zu den Eltern zunimmt. Dabei ist der hier geschilderte
Kontakt noch kein hinreichendes Zeichen für die Etablierung gemeinschaftlicher interethnischer Netzwerke und erst recht nicht für Chancengleichheit innerhalb solcher Netzwerke
94
Vgl. Esser, Hartmut: Interethnische Freundschaften. In: ders./Jürgen Friedrichs (Hg.): Generation und Iden53
Zentrum für Türkeistudien
- eine wichtige Voraussetzung mit Blick auf die Gelegenheitsstrukturen ist der häufige Kontakt aber immerhin. Trotz aller Probleme der zweiten Generation sind die Gelegenheitsstrukturen hier deutlich günstiger als bei den Eltern, wobei die Kontakthäufigkeit deutlich mit
einem hohen Bildungsstand und guten Sprachkenntnissen korreliert.
In der Shell-Jugendstudie 2000 wurden deutsche und türkische Jugendliche danach gefragt, ob sie "miteinander oder nebeneinander" ihre Freizeit verbringen.95 Deutsche Jugendliche geben für alle abgefragten Aktivitäten zu mehr als 50% an, sie mit deutschen Freunden zu
unternehmen, zwischen einem Fünftel und einem Drittel geben an, dies in ethnisch gemischten Gruppen zu tun. In den Bereichen Sport, Jugendzentrumsbesuch, Feiern/Partys, Kneipenbesuch und Musik machen liegt der Anteil gemischter Gruppen bei rund 50%. Bei türkischen
Jugendlichen stellt sich die Verteilung von eigenethnischer und gemischter Freizeitaktivität
ganz anders dar: Fast alle Aktivitäten werden zu mehr als 60% in gemischten Gruppen unternommen, vor allem Kneipen- und Discobesuche, Sport und Konzertbesuche. Die Kategorie
"mit eigenen Landsleuten" erreicht Anteile zwischen einem Viertel und 40%, vor allem Musik
machen und "zu Hause quatschen" sind Aktivitäten, die häufig mit intraethnischen
Freundeskreisen unternommen werden. Unterschiede bis zu 10 Prozentpunkten zwischen
gemischtethnischen und eigenethnischen Freundeskreisen ergeben sich allerdings zwischen
türkischen Jungen und Mädchen. Letztere sind stärker auf einen eigenethnischen Freundesund Bekanntenkreis reduziert. Die Shell-Studie kommt dennoch zu dem Schluss, dass die
Mehrheit der türkischen Jugendlichen ihre Freizeit in gemischtethnischen Gruppen gestaltet.
Als Faktor, der die Häufigkeit des gemischtethnischen Kontakts auf beiden Seiten unterstützt,
identifiziert auch die Shell-Studie die Bildung. Studenten beider Nationalitäten pflegen
deutlich
häufigere
Kontakte
als
Erwerbstätige.
Dies
hat
neben
der
besseren
Gelegenheitsstruktur zum Kennen lernen sicher auch seine Ursache in der Informalität des
studentischen Milieus, im Gegensatz zur oft strikten Trennung von Arbeit und Freizeit in der
Berufswelt. Schließlich bestätigt auch Robert Kesces‘ standardisierte Befragung von 614
türkischen Jugendlichen zwischen 15 und 21 Jahren im Jahr 1998 den Befund, dass das
Ausbildungsniveau den stärksten Einfluss auf die Bildung interethnischer Netzwerke birgt.96
Während 38% der türkischen Jugendlichen, die Gesamtschule, Gymnasium oder Universität
besuchen, angaben, Deutsche in ihrem Netzwerk zu haben, weisen nur 11% der Jugendlichen
außerhalb des Schul- und Berufsbildungssystems ein solches Netzwerk auf.
95
96
tität. Theoretische und empirische Beiträge zur Migrationssoziologie. Opladen 1990, S. 185-205.
Vgl. Fischer, Arthur/Yvonne Fritsche/Werner Fuchs-Heinritz/Richard Münchmeier: Jugend 2000. 13. ShellJugendstudie. Opladen 2000, 1. Band, S. 231.
Vgl. Kecskes, Robert: Soziale und identifikative Assimilation türkischer Jugendlicher. In: Berliner Journal
für Soziologie. No. 1/2000, S. 70.
54
Zentrum für Türkeistudien
Wilhelm Heitmeyer stellte in seiner Befragung Jugendlicher zwischen 15 und 21 Jahren
bei der Frage nach der Bedeutung von Cliquen übrigens keinen Unterschied zu deutschen
Jugendlichen fest: Beide Gruppen geben zu zwei Dritteln an, in Cliquen eingebunden zu
sein.97 Bei mehr als die Hälfte der türkischen Jugendlichen besteht dabei der Freundeskreis
sowohl aus türkischen als auch aus deutschen Mitgliedern, knapp ein Drittel hat einen eigenethnischen Freundeskreis. Zwei Drittel der türkischen Befragten gaben darüber hinaus an, sich
intensiveren Kontakt zu deutschen Jugendlichen zu wünschen.98
Wohnumfeld - Ghettoisierung?
Abbildung 8: Ethnische Zusammensetzung der Wohnumgebung nach Altersgruppen
(Prozentwerte)
64,7%
18 bis 29 Jahre
67,3%
30 bis 44 Jahre
11,0%
10%
20%
30%
13,0%
40%
2,3%
23,7%
7,0% 9,3%
66,1%
Gesamt
3,6%
14,5%
83,7%
60 Jahre und älter
3,4%
18,5%
14,5%
62,4%
45 bis 59 Jahre
0%
13,2%
50%
60%
70%
80%
17,6%
90%
3,1%
100%
überwiegend Deutsche
Deutsche und Türken in etwa gleichen Teilen
überwiegend Türken
überwiegend andere Ausländer
Angesichts des ausgeprägten Kontakts zu Deutschen in der Nachbarschaft überrascht es nicht,
dass zwei Drittel der Befragten der Zeitreihenuntersuchung im Jahre 2000 des Zentrums für
Türkeistudien - und damit 6% mehr als in der Befragung 1999 - in einem deutsch geprägten
Wohnumfeld leben.99 13% der Befragten wohnen in gleichmäßig gemischten Quartieren. Obwohl damit 80% mehr oder weniger automatisch mit Deutschen in Kontakt kommen, deutet
der Anteil von 18%, die in rein türkischen Gegenden leben, doch darauf hin, dass sich zumindest in einigen Stadtteilen ethnisch stark geschlossene Wohnquartiere herausgebildet haben,
97
98
99
Heitmeyer, Wilhelm/Helmut Schröder/Joachim Müller: Desintegration und islamischer Fundamentalismus,
in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft B 7-8/1997, S. 17-31.
Vgl. Ebd., S. 21.
Sauer, Martina/Andreas Goldberg: Die Lebenssituation und Partizipation türkischer Migranten in NordrheinWestfalen. Hrsgg. vom Zentrum für Türkeistudien. Münster 2001 (im Erscheinen), S. 52.; vgl. auch Zentrum
für Türkeistudien: Wohnsituation der türkischen Bevölkerung Nordrhein-Westfalens, ZfT-aktuell Nr. 54.
Essen 1997.
55
Zentrum für Türkeistudien
die jedoch - vergleicht man die Zahlen des letzten Jahres (21% in überwiegend von Türken
bewohnten Gegenden und 17% in gleichmäßig gemischten Gegenden) - schrumpfen. Somit
ist eine Tendenz sichtbar, die Ghettos zu verlassen.100
Vergleicht man die Wohnumgebung nach Altergruppen, kann man feststellen, dass die
älteste Gruppe am häufigsten in deutschen Wohngegenden und am seltensten in rein türkischen Gegenden wohnt. Am stärksten ist die kleinräumliche Segregation in der Altersgruppe
zwischen 45 und 49 Jahren. Eine mögliche Erklärung für diesen Befund ist, dass die kleinräumliche Verdichtung erst in einem zweiten Schritt einsetzte: Zunächst zogen die Arbeitsmigranten in Quartiere mit geringen Mieten, innerhalb derer sich erst in der Folge des weiteren Zuzugs aus den Entsendestaaten besondere Verdichtungsräume ergeben haben.
Die Shell-Jugendstudie kommt hinsichtlich des Wohnumfeldes zu etwas anderen Ergebnissen. Die bundesweite Befragung türkischer Jugendlicher ergab hier 40%, die in Wohngegenden mit überwiegend deutschen Familien wohnen, 28%, die in gleichmäßig gemischten
Gegenden wohnen und 26%, die in überwiegend von Ausländern bewohnten Gegenden wohnen. Sie konstatieren somit eine stärkere kleinräumliche Konzentration der türkischen
Migranten als die NRW-Studie ergab.101 Ob es sich bei dem im Sinne der Assimilation positiveren Ergebnis der ZfT-Studie um einen regionenspezifischen Effekt handelt, kann anhand
der vorliegenden Daten nicht geprüft werden. Nicht überraschend weist Kesces in seiner Untersuchung nach, dass bei den Jugendlichen, wie vermutlich auch den anderen Altersgruppen,
das Wohnumfeld einen eindeutigen Effekt auf die Zusammensetzung der sozialen Netzwerke
hat.102
Wunsch nach mehr interkulturellen Kontakten
Die Frage nach dem interethnischen Kontakt birgt indessen nicht nur Hinweise auf die Gelegenheitsstrukturen für die Bildung interethnischer Netzwerke, sondern wirft auch Fragen nach
der Wirkung des Kontakts selbst auf. Inwieweit steht der Wunsch nach Kontakt mit der
Wohngegend in Verbindung? Sind es gute Erfahrungen mit der deutschen Nachbarschaft?
Oder entsteht der Wunsch nach mehr Kontakt aus einem wahrgenommenen Mangel an alltäg100
101
Sauer, Martina/Andreas Goldberg: Die Lebenssituation und Partizipation türkischer Migranten in NordrheinWestfalen. Hrsgg. vom Zentrum für Türkeistudien. Münster 2001 (im Erscheinen), S. 52. Für die Stadt Köln
wies Friedrichs 1998 einen Rückgang der ethnischen Segregation in den achtziger und neunziger Jahren
nach; vgl. Friedrichs, Jürgen: Ethnic Segregation in Cologne, Germany, 1984-1994. In: Urban Studies 1998,
S. 1745-1763.
Vgl. Fischer, Arthur/Yvonne Fritsche/Werner Fuchs-Heinritz/Richard Münchmeier: Jugend 2000. 13. ShellJugendstudie. Opladen 2000, 1. Band, S. 230.
56
Zentrum für Türkeistudien
lichem Kontakt? Sind diejenigen, die in rein türkischen Gegenden wohnen, mit ihrem bisherigen Kontakt zufrieden? Der oben nachgewiesene, häufige freiwillige Kontakt deutet bereits
darauf hin, dass auf Seiten der Türken häufiger Kontakt nicht den Wunsch nach Abgrenzung
nach sich zieht. Die 2000er NRW-Umfrage des ZfT unter Türkischstämmigen beinhaltete
auch den Kontaktwunsch.103 Diejenigen Befragten, die keine Kontakte zu Deutschen haben,
verspüren zu 27% nicht den Wunsch nach mehr Kontakten, diejenigen, die Kontakte haben,
hingegen nur zu 21%. Der Anteil derer mit einer zwiespältigen Meinung steht nicht mit den
tatsächlichen Kontakten im Zusammenhang.
Tabelle 11: Kontakt zu Deutschen (Mehrfachnennungen) nach Wunsch nach mehr
Kontakten (Spaltenprozentwerte)
Kontakt
ja
nein
Wunsch nach mehr Kontakt
Ja
Nein
Weiß nicht
keine Angabe
Gesamt
66,5
20,6
11,6
1,3
100
61,5
26,7
11,3
0,6
100
Gesamt
64,4
23,1
11,5
1,0
100
Offensichtlich führt tatsächlicher Kontakt mit Deutschen zu dem Wunsch, weitere und/oder
enge Kontakte zu haben. Die "Kontakthypothese", die besagt, dass Vorurteile und Abneigung
gegen Fremde in dem Umfang abnehmen, in dem der tatsächliche Kontakt zu diesen Menschen zunimmt, scheint sich hier zu bestätigen.104 Gibt es indessen (auf der Makroebene
nachweisbare) sozialstrukturelle Bedingungen, die die Gültigkeit der Kontakthypothese einschränken?
Die Tendenz beim Kontaktwunsch nach Wohnumfeld ist weniger ausgeprägt als der Zusammenhang mit der tatsächlichen Kontakthäufigkeit, die Tendenz geht aber in die gleiche
Richtung: Der Wunsch nach häufigerem und intensiverem Kontakten ist dort am ausgeprägtesten, wo bereits Kontakte und günstige Gelegenheitsstrukturen bestehen. Diese Befunde
sprechen dafür, von einer sich selbst tragenden Tendenz zu Integration durch Assimilation
auszugehen, sobald Gelegenheitsstrukturen und ein zumindest rudimentärer gegenseitiger
Austausch besteht.
102
103
104
Kecskes, Robert: Soziale und identifikative Assimilation türkischer Jugendlicher. In: Berliner Journal für
Soziologie, No. 1/2000, S. 71.
Sauer, Martina/Andreas Goldberg: Die Lebenssituation und Partizipation türkischer Migranten in NordrheinWestfalen. Hrsgg. vom Zentrum für Türkeistudien. Münster 2001 (im Erscheinen), S. 52.
Eine eingehende Erläuterung der Kontakthypothese und Anmerkungen zu ihrer Gültigkeit werden unter 4.2
gegeben.
57
Zentrum für Türkeistudien
Abbildung 9: Wunsch nach mehr Kontakt nach Wohnumfeld (Zeilenprozent)
überwiegend Deutsche
65,7%
21,6%
11,8%
Gemischt
64,1%
25,2%
9,2%
59,7%
überwiegend Türken
überwiegend andere
Ausländer
0%
27,3%
64,5%
20%
Ja
40%
Nein
22,6%
60%
80%
13,1%
9,7%
100%
Weiss nicht
Es ist nicht ausgeschlossen, dass neben dem Wohnumfeld auch sozio-strukturelle Merkmale
eine Bedeutung für den Kontaktwunsch haben. Unter 2.2 wurde nachgewiesen, dass insbesondere die zweite Generation sich von Diskriminierung durch die Mehrheitsgesellschaft betroffen fühlt. Hat dieser Umstand Folgen für den Kontaktwunsch? Ein solcher Zusammenhang wird durch die Daten des ZfT nicht bestätigt. Vielmehr ergeben sich für eine Reihe von
Sozialmerkmalen keine oder keine einheitlichen Zusammenhänge zu dem Wunsch nach mehr
Kontakt zu Deutschen105: So sind keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu erkennen. Frauen haben den Wunsch nach Kontakt weder stärker noch schwächer als Männer, und
auch für den Faktor Alter ist keine einheitlichen Beziehungen zum Kontaktwunsch festzustellen. Die älteste Gruppe hat am häufigsten den Wunsch nach mehr Kontakten, wobei sie
den geringsten Anteil an vorhandenen Kontakten angibt, gefolgt von den beiden jüngeren
Gruppen, die die häufigsten Kontakte pflegen. Am seltensten möchte die Gruppe zwischen 45
und 59 Jahren mehr Kontakte. Lediglich die Aufenthaltsdauer scheint einen linearer Einfluss
auf den Wunsch nach mehr Kontakten zu haben, denn je kürzer die Befragten in Deutschland
leben, desto größer ist der Anteil derer, die den Wunsch nach mehr Kontakten verspüren. Dies
mag vor allem mit den Sprachproblemen zusammenhängen. Auch die Aufgliederung nach
beruflicher Stellung deutet nicht darauf hin, dass sozial Benachteiligte seltener den Wunsch
nach Kontakt haben. Weder das Einkommen noch die berufliche Stellung stehen in einem
linearen Zusammenhang mit dem Kontaktwunsch.
58
Zentrum für Türkeistudien
Tabelle 12: Wunsch nach mehr Kontakt zu Deutschen nach soziodemographischen
Merkmalen (Zeilenprozent)
Mehr Kontakte zu Deutschen?
Ja
Nein
Weiß nicht
Geschlecht
männlich
weiblich
Cramers V: .05
Alter
18 bis 29 Jahre
30 bis 44 Jahre
45 bis 59 Jahre
60 Jahre und älter
Cramers V: .07
Aufenthaltsdauer
bis 3 Jahre
4 bis 9 Jahre
10 bis 19 Jahre
20 und mehr Jahre
Cramers V: .09
Berufliche Stellung
Arbeiter/in (an-/ungelernt)
Facharbeiter/in
Angestellte/r
Selbständige freien Berufen
Selbständige in Handel usw.
Cramers V: .09
Gesamt
64,7
64,5
21,4
24,5
12,8
10,2
64,1
68,9
56,1
71,4
22,5
22,4
26,6
19,0
12,0
8,1
16,8
9,5
86,2
76,3
67,3
61,4
6,9
14,4
23,5
25,2
6,9
7,2
7,8
12,8
67,3
61,3
54,5
80,0
58,7
21,8
26,7
31,8
20,0
26,1
10,5
10,7
10,6
15,2
64,4
23,1
11,5
3.3 Sprache
Die Beherrschung der deutschen Sprache ist eine wesentliche Voraussetzung für die Integration in Form von Assimilation und Inklusion. Von zentraler Bedeutung ist die Tatsache, dass
mangelnde oder ganz fehlende Sprachkenntnisse die Migranten von der sozialen,
wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Teilhabe ausschließen, ungeachtet der
Frage, wie assimilativ oder inklusiv die Integration konkret ausgestaltet ist.106 Bei schlechten
Deutschkenntnissen ist die Wahrscheinlichkeit, höhere schulische oder berufliche
Ausbildungsabschlüsse zu erwerben oder Weiterqualifizierungsangebote wahrzunehmen,
gering, die Chancen auf höher qualifizierte und zukunftsträchtige Tätigkeiten und bessere
105
Sauer, Martina/Andreas Goldberg: Die Lebenssituation und Partizipation türkischer Migranten in NordrheinWestfalen. Hrsgg. vom Zentrum für Türkeistudien. Münster 2001 (im Erscheinen), S. 54.
59
Zentrum für Türkeistudien
Einkommen sind ebenso schlecht.107 Die Möglichkeiten, Kontakte zu knüpfen, nehmen ab.108
Ohne Deutschkenntnisse sind die Migranten von einem breiten Medienangebot ebenso
ausgeschlossen wie von zahlreichen kulturellen Veranstaltungen. Auch die Teilnahme am
politischen Leben der Bundesrepublik gestaltet sich schwierig.109
Zu Beginn der Arbeitsmigration wurde wegen der vermeintlich kurzen Aufenthaltsdauer
in Deutschland weder von Seiten der Migranten, noch von Seiten der Mehrheitsbevölkerung
auf den Spracherwerb Wert gelegt, so dass keine systematische oder breite Schulung stattfand
und das Niveau der Deutschkenntnisse sehr niedrig blieb. Erschwerend kam hinzu, dass viele
der Gastarbeiter, die aus den ländlichen Gebieten stammten, auch in der Türkei keinerlei
Schulbildung genossen hatten.110 Im Zuge der Verstetigung des Aufenthalts und der Etablierung der zweiten Generation glaubten sowohl die Migranten als auch die Mehrheitsgesellschaft, das Sprachproblem werde sich durch die Einbindung der Kinder in das deutsche
Schulsystem von selbst lösen. Für eine Übergangszeit fungierten die Kinder und Jugendlichen
als Dolmetscher ihrer Eltern. Doch auch hier wurde eine gezielte Sprachschulung nicht für
notwendig gehalten. Inzwischen wird von Pädagogen ein Trend beklagt, der die Möglichkeit
des automatischen Erlernens der deutschen Sprache in Frage stellt: Das Sprachniveau der
Kinder wie der Eltern sinke besonders bei starker Verdichtung der türkischen Communities in
bestimmten Stadtteilen und Regionen wieder ab, der automatische Erwerb der deutschen
Sprache in Kindergarten, Schule, Beruf und Alltag sei auf Grund dessen in einigen Gegenden
offensichtlich nicht mehr gewährleistet.111 Verschärft werden die Probleme beim Deutschlernen zusätzlich dadurch, dass die in Deutschland aufwachsenden Kinder auch Türkisch
nicht mehr vollständig erlernen, wodurch die Sprachkompetenz generell stark eingeschränkt
wird. Darüber hinaus führt die Neigung vieler Migranten, sich ihre Ehepartner in der Türkei
zu suchen, dazu, dass auch viele junge Migranten und Mütter kleiner Kinder kaum Deutsch
sprechen.
Subjektive Sprachkompetenz
106
107
108
109
110
111
Weidacher, Alois (Hg.): In Deutschland zu Hause. Politische Orientierungen griechischer, italienischer,
türkischer und deutscher junger Erwachsener im Vergleich - DJI-Ausländersurvey. Opladen 2000, 85.
Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hg.): Berufsbildungsbericht 2000. Berlin 2000, S. 66.
Sauer, Martina/Andreas Goldberg: Die Lebenssituation und Partizipation türkischer Migranten in NordrheinWestfalen. Hrsgg. vom Zentrum für Türkeistudien. Münster 2001 (im Erscheinen), S. 70; vgl. auch Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hg.): Situation der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer
Familienangehörigen. Bonn 1996, S. 267.
Vgl. Diehl, Claudia/Julia Urban: Die soziale und politische Partizipation von Zuwanderern. Mannheim/Bonn
1999, S. 13.
Vgl. Faruk Şen/Andreas Goldberg: Türken in Deutschland. Leben zwischen zwei Kulturen. München 1994,
S. 12f; vgl. auch Zentrum für Türkeistudien: Soziodemographische und sozioökonomische Situation türkischstämmiger Migranten in Deutschland. Unveröffentlichtes Manuskript. Essen 1999, S. 17 .
Vgl. Gogolin, Ingrid/Bernhard Nauck (Hg.): Migration, gesellschaftliche Differenzierung und Bildung.
Opladen 2000.
60
Zentrum für Türkeistudien
In seiner Befragung 2000 erhob das ZfT auch die türkische und deutsche Sprachkompetenz
der Türken in NRW.112
Tabelle 13: Subjektive Sprachkompetenz (Spaltenprozentwerte)
Deutsch
Sprachkompetenz
Verstehen Sprechen Schreiben
Sehr gut/gut
51,5
48,3
42,1
Mittel
35,9
29,8
21,5
Schlecht/sehr schlecht
12,2
21,5
36,0
Türkisch
Verstehen Sprechen Schreiben
75,3
72,2
62,7
22,3
24,1
29,1
2,2
3,5
8,0
Gut die Hälfte der befragten Migranten schätzen die Sprachkompetenz in Deutsch beim Verstehen als sehr gut oder gut ein, beim Sprechen sind es 48% und beim Schreiben halten 42%
ihre Deutschkenntnisse für sehr gut oder gut. Sehr schlecht oder schlecht meinen 12%
Deutsch zu verstehen, jeder Fünfte kann nur schlecht Deutsch sprechen und gut ein Drittel
schätzt die Kompetenz beim deutsch Schreiben als schlecht ein. Das Niveau des Türkischen
ist deutlich besser, drei Viertel können Türkisch sehr gut bis gut verstehen und sprechen, beim
Schreiben sind es knapp zwei Drittel, die dies gut bis sehr gut beherrschen. Allerdings gibt
fast ein Viertel der Befragten an, auch Türkisch nur noch mittelmäßig zu verstehen und zu
sprechen.
Die Fähigkeit, Deutsch und/oder Türkisch zu beherrschen, hängt von unterschiedlichen
Merkmalen ab. Um hier Zusammenhänge feststellen zu können, wurde eine Noten-Skala der
subjektiven Kompetenzbeurteilung gebildet, die von 1 (sehr gut) bis 5 (sehr schlecht) reicht.
Die Mittelwerte, die die unterschiedlichen Gruppen auf dieser Skale erreichen, können
verglichen werden.
Die Tabelle beschränkt sich auf die Darstellung des Sprachverständnisses, da die Zusammenhänge Sprechen und Schreiben fast identisch sind, allerdings auf niedrigerem Niveau.113
Die Sprachkompetenz sowohl im Türkischen als auch im Deutschen ist bei Männern etwas
ausgeprägter als bei Frauen, wobei die Unterschiede hinsichtlich des Deutschen etwas stärker
sind als hinsichtlich des Türkischen. Dies hat seine Ursache vermutlich darin, dass Frauen
durchschnittlich ein niedrigeres Bildungsniveau haben, das sich, wie die Tabelle zeigt, stark
auf die Sprachkompetenz generell und überproportional auf die Möglichkeit zum Erlernen
einer Zweitsprache auswirkt.
112
113
Sauer, Martina/Andreas Goldberg: Die Lebenssituation und Partizipation türkischer Migranten in NordrheinWestfalen. Hrsgg. vom Zentrum für Türkeistudien. Münster 2001 (im Erscheinen), S. 70.
Ebd., S. 73
61
Zentrum für Türkeistudien
Tabelle 14: Subjektive Sprachkompetenz (Verstehen) in Deutsch und Türkisch nach
soziodemographischen Merkmalen (Mittelwerte*)
Subjektive Sprachkompetenz
Deutsch
Türkisch
Geschlecht
männlich
weiblich
Cramers V:
Alter
18 bis 29 Jahre
30 bis 44 Jahre
45 bis 59 Jahre
60 Jahre und älter
Cramers V
Aufenthaltsdauer
bis 3 Jahre
4 bis 9 Jahre
10 bis 19 Jahre
20 und mehr Jahre
Cramers V
Zuwanderungsgrund
Gastarbeiter
Flüchtling/Asylbewerber
Familienzusammenführung
Studium/Ausbildung
ich wurde hier geboren
Cramers V
Schulbildung
Kein Abschluss/Grundschule
Hauptschule
Realschule
Fach-/Abitur
Cramers V
Land des Schulabschlusses
Türkei
Deutschland
Cramers V
Gesamt
2,33
2,47
.12
2,00
2,54
2,96
2,99
.31
3,47
3,07
2,58
2,20
.34
2,96
3,03
2,60
2,08
1,47
.28
3,20
2,31
2,02
2,01
.30
3,00
1,69
.68
2,4
2,09
2,13
.05
2,16
2,05
2,08
2,29
.25
1,57
1,86
2,17
1,16
.28
2,07
2,02
2,08
1,87
2,29
.13
2,24
2,16
2,10
1,96
.14
2,00
2,23
.17
2,11
* Skala: 1 = sehr gut; 2 = gut; 3 = mittel; 4 = schlecht; 5 = sehr schlecht
Den stärksten Einfluss auf die Deutschkenntnisse hat, nicht überraschend, das Land, in dem
die Schule besucht wurde (Cramers V: .68!). Diejenigen, die die Schule in der Türkei absolviert haben, geben sich im Durchschnitt eine 3,0, während diejenigen, die in Deutschland
zur Schule gegangen sind, im Durchschnitt eine 1,7 erreichen. Für die Kompetenz im Türkischen gilt der umgekehrte Zusammenhang. Diejenigen, die die Schule in der Türkei besucht
62
Zentrum für Türkeistudien
haben, schätzen ihre Sprachkompetenz im Türkischen höher ein als diejenigen mit deutscher
Schulbildung.
Infolgedessen hat auch das Alter Einfluss vor allem auf die deutschen Sprachkenntnisse.
Je jünger die Befragten sind, um so besser sind die selbst attestierten Noten in Deutsch, aufgrund der in Deutschland durchlaufenen Schulbildung. In der Altersgruppe 18 bis 29 Jahre
geben zwei Drittel der Befragten an, gut oder sehr gut Deutsch zu sprechen. Bei den Türkischkenntnissen ist der Trend uneinheitlich: Die älteste Gruppe attestiert sich schlechtere
Kenntnisse als die mittleren Gruppen und sogar als die jüngste Gruppe. Möglicherweise spielt
hier das Bildungsniveau eine Rolle, das sich auf die generelle Sprachkompetenz auswirkt.
Entsprechend spielt auch die Aufenthaltsdauer eine Rolle für das Niveau der Sprachkenntnisse. Je länger die Befragten in Deutschland leben, um so besser sind ihre Deutschkenntnisse. Gleichzeitig werden die Kompetenzen im Türkischen schlechter. Ein Ausnahme
bildet die Gruppe derer, die länger als 20 Jahre in Deutschland leben und die sich die besten
Kenntnisse im Türkischen bescheinigen. In logischem Zusammenhang hierzu steht auch die
Erkenntnis, dass der "Zuwanderungsgrund" Erklärungskraft für die Sprachkompetenz birgt.
Die in Deutschland Geborenen können erwartungsgemäß am besten Deutsch, und am
schlechtesten Türkisch. Auch diejenigen, die zum Studium oder zur Ausbildung nach
Deutschland gekommen sind, besitzen gute Deutschkenntnisse, die ja auch Voraussetzung für
den Ausbildungserfolg sind. Zudem sind, erwartungsgemäß, ihre Türkischkenntnisse ebenfalls sehr gut. Danach folgt die Gruppe derjenigen, die im Zuge der Familienzusammenführung nach Deutschland nachgereist sind. Abgesehen von Flüchtlingen und Asylbewerbern
haben die ehemaligen Gastarbeiter das niedrigste Deutschniveau, obwohl sie am längsten in
Deutschland leben. Insgesamt sind die Deutschkenntnisse dann am besten, wenn die Migranten in Deutschland die Schule besucht haben, was insbesondere auf die Gruppe der hier Geborenen zutrifft.
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt der DJI-Ausländersurvey für die Gruppe der Türken
zwischen 16 und 29 Jahren.114 78% von ihnen sind der Meinung, sie könnten gut bis sehr gut
Deutsch. Diese Einschätzung deckt sich mit der der Interviewer. Auch das DJI formuliert
starke Zusammenhänge mit der Aufenthaltsdauer, dem Schulbesuch in Deutschland, dem Geburtsort Deutschland und dem Schulbildungs-Niveau. Das DJI hat darüber hinaus erhoben, in
welchen Sprachen sich die jungen Migranten mit ihren Eltern unterhalten: 88% der jungen
Türken sprechen zu Hause türkisch.
114
Weidacher, Alois (Hg.): In Deutschland zu Hause. Politische Orientierungen griechischer, italienischer,
türkischer und deutscher junger Erwachsener im Vergleich - DJI-Ausländersurvey. Opladen 2000, S. 90.
63
Zentrum für Türkeistudien
In Familien mit kleinen Kindern lässt sich eine starke Verschiebung der gesprochenen
Sprachen von Türkisch zu Deutsch feststellen, wie die Befragung von Eltern kleiner Kinder in
acht großen Städten des Zentrums für Türkeistudien zeigte.115 Rund die Hälfte der Eltern, die
mehrheitlich zwischen 25 und 35 Jahren alt sind, sprechen hauptsächlich Türkisch, ein Drittel
benutzt inzwischen jedoch sowohl Deutsch als auch Türkisch. Bei den schulpflichtigen Kindern dieser Familien sind es fast zwei Drittel, die zu Hause beide Sprachen sprechen. Jeweils
rund 20% nutzen entweder nur Türkisch oder Deutsch.
Tabelle 15: Gesprochene Sprache innerhalb der Familie (Spaltenprozentwerte)
Vater
Türkisch
Deutsch und Türkisch
Deutsch
Sonstiges
56,6
34,6
6,3
2,3
Mutter
Kinder unter
7 Jahren
27,9
58,9
9,0
1,4
55,4
34,2
8,3
2,1
Kinder über
7 Jahren
20,8
58,5
18,2
0,9
Gesamt
43,2
45,4
9,6
1,8
Spracherwerb
Diese Befunde legen den Verdacht nahe, dass in Deutschland für Zuwanderer angebotenen
Sprachkurse wenn überhaupt nur geringen Einfluss auf die Sprachkompetenz der Arbeitsmigranten genommen haben. Wie war die Inanspruchnahme der Sprachkurse und wie empfinden diejenigen, die sie durchlaufen haben, die Erfolge? Von den vom ZfT im Jahr 2000 in
NRW Befragten haben 38% nie einen Sprachkurs oder eine deutsche Schule besucht, sondern
ihre Deutschkenntnisse im Alltag - bei der Arbeit oder mit Bekannten - erworben.116 Fast die
Hälfte (46%) der Befragten haben jedoch inzwischen zumindest einen Teil ihrer Schulzeit in
Deutschland verbracht und somit Deutsch in der regulären Schule gelernt.
115
116
Zentrum für Türkeistudien: Evaluation der Intervention des Arbeitskreises "Neue Erziehung". Unveröffentlichtes Manuskript. Essen 2001, S. 28.
Sauer, Martina/Andreas Goldberg: Die Lebenssituation und Partizipation türkischer Migranten in NordrheinWestfalen. Hrsgg. vom Zentrum für Türkeistudien. Münster 2001 (im Erscheinen), S. 74.
64
Zentrum für Türkeistudien
Tabelle 16: Erwerb der Deutschkenntnisse nach soziodemographischen Merkmalen
(Zeilenprozent)
Schule in Sprachkurs Ausbildung- Sprachkurs nie SprachDtschl.
Türkei
Sprachkurs
Dtschl.
kurs
Alter
18 bis 24 Jahre
25 bis34 Jahre
35 bis 44 Jahre
45 bis 54 Jahre
55 bis 64 Jahre
65 Jahre und älter
Cramers V: .40
Aufenthaltsdauer
Bis 3 Jahre
4 bis 9 Jahre
10 bis 19 Jahre
20 und mehr Jahre
Cramers V. 36
Zuwanderungsgrund
Gastarbeiter
Flüchtling/Asylbewerber
Familienzusammenführung
Studium/Ausbildung
hier geboren
Cramers V: 32
Gesamt
86,7
57,3
28,9
7,1
1,1
20,0
2,6
9,3
8,0
5,4
4,4
-
0,5
0,8
3,0
1,8
1,1
-
5,1
7,2
8,5
7,1
4,4
-
3,1
25,5
51,2
78,8
87,9
80,0
12,4
39,2
55,3
20,7
15,5
11,5
3,0
4,1
0,9
1,2
34,5
16,5
8,3
3,7
34,5
49,5
40,1
36,6
3,6
16,7
39,0
35,5
99,5
4,3
5,6
9,2
20,0
-
0,7
1,4
10,0
-
4,3
11,1
9,7
5,0
-
86,3
66,7
39,7
30,0
0,5
45,6
6,8
1,3
6,8
38,4
Lediglich 7% der Migranten haben unabhängig von dem regulären Schulbesuch oder der
Ausbildung in Deutschland einen Sprachkurs absolviert, ebenso viele taten dies vor der Einreise nach Deutschland in der Türkei. Nahezu alle hier Geborenen haben die Schule in
Deutschland besucht, aber auch fast 40% derer, die im Zuge der Familienzusammenführung
sowie 36% derjenigen, die zum Studium oder zur Ausbildung nach Deutschland kamen. 86%
der Gastarbeiter haben dagegen nie einen Sprachkurs besucht, ebenso wie 40% derer, die als
Familienangehörige nachreisten. Überdurchschnittlich viele Frauen, die als Heiratsmigrantinnen nachreisten (9% bzw. 8%) haben Sprachkurse in Deutschland oder in der Türkei absolviert. Überrepräsentiert sind auch Asylbewerber, die zu 11% in Deutschland einen Sprachkurs
machten, sowie diejenigen, die eine Ausbildung oder ein Studium in Deutschland machen
wollten und deshalb einreisten. Gastarbeiter sind in den Gruppen, die Sprachkurse absolvierten, deutlich unterrepräsentiert, wobei das Niveau der Inanspruchnahme von Sprachkursen
insgesamt sehr niedrig ist. Somit bestätigt sich ihr geringer Einfluss auf das Sprachniveau der
in Deutschland lebenden Migranten.
65
Zentrum für Türkeistudien
Für die Einschätzung der durch eine Ausweitung des Sprachkurs-Angebots möglicherweise zu erzielenden Erfolge ist ein Blick auf die Sprachkenntnisse der (wenigen) Kursabsolventen hilfreich. Die subjektive Sprachkompetenz schwankt stark danach, wo bzw. wie die
Befragten ihre Kenntnisse erworben haben. Am höchsten ist die Kompetenz bei denjenigen,
die die Schule in Deutschland besucht haben, erst mit Abstand folgen diejenigen, die im Zuge
ihrer Ausbildung oder ihres Studiums einen Sprachkurs absolviert haben. Diejenigen, die unabhängig von einer Ausbildung einen Sprachkurs besucht haben, stufen ihre Kenntnisse nur
wenig höher ein als diejenigen, die nie einen Kurs besucht und sich ihr Deutsch nur im Alltag,
mit Kollegen oder Bekannten, angeeignet haben. Das Sprachniveau dieser beiden Gruppen
liegt im Bereich eher schlechter Kenntnisse.117
Abbildung 10: Deutschkenntnisse nach Sprachkursbesuch (Mittelwerte)
3,08
nie Sprachkurs
2,91
Sprachkurs Deutschland
2,84
Sprachkurs Türkei
2,39
Ausbildungssprachkurs
1,66
Schule in Deutschland
1
sehr gut
1,5
2
2,5
3
3,5
schlecht
Neben der Notwendigkeit der Erhöhung der Teilnahme an Sprachkursen insbesondere auch
bei Heiratsmigranten, muss also auch die Qualität der Sprachkurse verbessert werden. Insbesondere wäre daran zu denken, stärker nach der Vorbildung der Teilnehmer zu differenzieren
sowie spezielle Paketangebote zu machen, die ganze Familien zu integrieren vermögen.
Was sind indessen die Hinderungsgründe für eine Teilnahme an Sprachkursen?
117
Ebd., S. 75.
66
Zentrum für Türkeistudien
Abbildung 11: Ursachen, keinen Sprachkurs besucht zu haben (Prozentwerte,
Mehrfachnennungen)
77,4
Keine Zeit
23,5
Es gab kein Angebot
Keine Notwendigkeit gesehen
6,5
Keine Informationen über Angebote
6,2
Angebot zu ungünstigen Zeiten
5,5
Zu teuer
3,3
0
10
20
30
40
50
60
70
80
Diejenigen, die nie einen Sprachkurs besuchten, gaben in der 2000er ZfT-Befragung zu mehr
als drei Vierteln an, keine Zeit gefunden zu haben.118 Ein weiterer Grund war für knapp ein
Viertel der Mangel an Angeboten, 5% nannten als Ursache, dass die Kurse zu Uhrzeiten angeboten wurden, zu denen die Befragten nicht abkömmlich waren. Lediglich 7% sahen keine
Notwendigkeit, Deutsch in einem Sprachkurs zu lernen. Ebenso viele gaben an, nicht über das
Angebot informiert zu sein. Für zu teuer erachteten einen Sprachkurs nur 3%.
Wie wirken sich Sprachprobleme für die Betroffenen aus? Die vom ZfT Befragten im Jahr
2000 Befragten wurden gebeten, für verschiedene Lebensbereiche anzugeben, ob und wie
häufig sie dort schon einmal Probleme aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse hatten. Insgesamt gaben 38% der Befragten an, in einem oder in mehreren Bereichen bereits Sprachprobleme gehabt zu haben.
Mehr als die Hälfte der 384 Befragten, die häufig oder gelegentlich Probleme aufgrund der
Sprache haben, haben Interesse an einem Sprachkurs. 28% von ihnen gaben jedoch an, keinerlei Interesse an einem Kurs zu haben, 8% waren sich nicht sicher. Unter den Interessierten
befinden sich vor allem Asylbewerber und nachgezogene Familienangehörige, die unterdurchschnittlich lange in Deutschland leben, aber auch eine Reihe von ehemaligen Gastarbeitern.119
118
119
Ebd., S. 76.
Ebd., S.78.
67
Zentrum für Türkeistudien
Abbildung 12: Interesse an einem Sprachkurs (Prozentwerte)
Weiss nicht
8%
keine Angabe
5%
Nein
28%
Ja
59%
Insgesamt sind mangelnde Sprachkenntnisse nach wie vor ein zentrales Problem der Migranten, mehr als die Hälfte sprechen nur mittelmäßig bis schlecht Deutsch. Betroffen davon sind
in erster Linie die ehemaligen Gastarbeiter, die älteren Befragten und solche mit geringer Bildung. Nur ein sehr kleiner Teil hat Deutsch systematisch in einem Kurs gelernt. Als Grund
wird vor allem Zeitmangel oder fehlende Angebote angegeben. Dabei sind auch die Erfolge
derjenigen, die in Deutschland einen Sprachkurs absolviert haben, nicht befriedigend. Als
Lehre aus den hier dargestellten Befunden wäre für zukünftige Arbeitskräftemigration sicherlich zu ziehen, Sprachkurse in Kooperation mit den Arbeitgebern in größerem Maße zu fördern. Die Erfolge dieser Kurse sind vergleichsweise gut und das Problem des Zeitmangels
beziehungsweise der Überschneidung von Kurs- und Arbeitszeit nicht vorhanden. Positiv ist
zu vermerken, dass das Problem bei den jüngeren Befragten, die in Deutschland geboren sind
und die Schule besucht haben, deutlich abnimmt. Vergessen werden darf jedoch nicht, dass
der Nachzug von erwachsenen Familienangehörigen auch weiterhin das Sprachproblem akut
halten wird. Dabei ist das Interesse an Sprachkursen gerade bei dieser Gruppe vorhanden.
3.4 Mediennutzung
Medien können zum Gelingen der Integration der verschiedenen ethnischen Minderheiten in
Deutschland beitragen. Medien prägen das Bild, dass man vom Herkunftsland wie von der
neuen Gesellschaft, in der man lebt, hat.120 Gerade in "abstrakten" Bereichen, die sich einer
120
Vgl. Zentrum für Türkeistudien (Hg.): Das Bild der Ausländer in der Öffentlichkeit. Opladen 1995; vgl.
auch Zentrum für Türkeistudien: Deutsch-türkische Journalistentagung in Zusammenarbeit mit dem Bundespresseamt "35 Jahre Migration in die Bundesrepublik Deutschland. 1961-1996. Eine Bilanz" ZfT-aktuell
Nr. 51. Essen 1997; Zentrum für Türkeistudien: Medienkonsum der türkischen Wohnbevölkerung in
Deutschland, ZfT-aktuell Nr. 50. Essen 1997; vgl. auch Kaase, Max/Winfried Schulz(Hg.): Massenkommunikation. Theorien, Methoden , Befunde. Opladen 1989.
68
Zentrum für Türkeistudien
"direkten" Beobachtung entziehen - Politik, Kultur etc. -, sind Medien nicht nur Informationssondern auch Bewertungs- und Interpretationslieferant und somit eine zentrale Meinungsbildungsinstanz. Dies gilt für den permanenten Prozess der Identitätsbildung ebenso wie für
das Wissen über und die Einstellung zu politischen und gesellschaftlichen Themen. Darüber
hinaus prägt die Berichterstattung insbesondere im Fernsehen und in den Tageszeitungen die
Wahrnehmung dessen, was wichtig und relevant ist und was nicht.121
Entwicklung der türkischen Medienlandschaft in Deutschland
Die neuen Techniken der Fernsehübertragung und der Einführung des Privatfernsehens, das in
der Türkei zeitgleich zu dem der Bundesrepublik entstand, haben ebenso wie die Differenzierung der türkischen Presselandschaft in Deutschland im letzten Jahrzehnt das Mediennutzungsverhalten der hier lebenden türkischen Migranten verändert. Durch die Möglichkeiten, immer mehr Fernsehprogramme aus dem Herkunftsland zu empfangen und immer
mehr türkische Tageszeitungen zu kaufen, haben sich weite Teile der Migranten von den
deutschen Medien ab- und den heimatsprachlichen Sendern und Zeitungen zugewandt. Nutzten die Migranten bis Ende der 80er Jahre die von den deutschen öffentlich-rechtlichen Fernseh- und Rundfunkanstalten produzierten Zielgruppensendungen für die in Deutschland lebenden Ausländer ebenso wie die regulären Angebote der deutschen Sender, werden nun türkische Sender bevorzugt.122
Diese Entwicklung ist hinsichtlich ihrer Wirkung auf die Integration von Mehrheits- und
Minderheitsgesellschaft ambivalent: Einerseits bietet sich den Migranten inzwischen eine
mediale Vielfalt, die zur Konsolidierung der ethnisch-kulturellen Identität beitragen und das
Defizit, das in den deutschen Medien über die Belange und Interessen der türkischen
Migranten herrscht, ausgleichen kann. Die heimatsprachlichen Medien dienen darüber hinaus
als eine Plattform für die Artikulation und Problematisierung der Situation der Migranten, die
die deutschen Medien ihnen nicht bietet, und für Integration von nicht zu unterschätzender
Bedeutung ist. Berücksichtigt werden muss auch, dass gerade für die erste Generation, die
häufig mit Sprachproblemen zu kämpfen hat, von großer Bedeutung ist, aktuelle gesellschaftspolitische Entwicklungen und politische Diskussionen in Deutschland - beispielsweise
121
122
Göttlich; Udo: Migration, Medien und die Politik der Anerkennung: Aspekte des Zusammenhangs von kultureller Identität und Medien. In: Schatz, Heribert/Christina Holtz-Bacha/Jörg-Uwe Nieland (Hg.): Migranten und Medien. Opladen 2000, S. 38 - 50.
Vgl. Eckhardt, Josef: Mediennutzungsverhalten von Ausländern in Deutschland. In: Schatz, Heribert/Christina Holtz-Bacha/Jörg-Uwe Nieland (Hg.): Migranten und Medien. Opladen 2000, S. 265 - 271.
69
Zentrum für Türkeistudien
über die Renten- oder Steuerreform bis zum Ausländerrecht - mittels der Muttersprache
wahrnehmen zu können.
Andererseits kann diese Entwicklung aber auch eine mediale Ghettoisierung verursachen.123 Besonders bei den türkischstämmigen Migranten besteht aufgrund des großen Angebotes an heimatsprachlichen Medien die Gefahr, dass sie sich durch den fast ausschließlichen
Konsum staatlicher und kommerzieller Fernsehsender aus der Türkei und die Lektüre meist
stark boulevardistisch ausgerichteten Zeitungen in eine massenmediale Isolation begeben. Der
Integration ist diese Entwicklung zweifellos abträglich. Denn die türkische Berichterstattung
bietet ein eingeschränktes Meinungsspektrum und einen einseitigen, nationalistisch geprägten
Informationsfluss, wodurch bestimmte Themen nicht auf die Agenda gesetzt werden.124
Bis 1990 strahlte nur der staatliche Sender TRT, dessen Inhalte an der jeweiligen Regierungspolitik ausgerichtet sind, sein Programm in Deutschland aus. Seit 1991 kann der eigens
für die Migranten produzierter Ableger (TRT-Int) über Kabel empfangen werden. Als erster
Privatsender ging 1990 Star 1 via Satellit auf Sendung. Nach und nach kam eine ganze Reihe
weiterer Privatsender hinzu (Show TV, HBB, Tele On, Kanal 6, TGRT, atv, Kanal D, Kanal
7). Die meisten der privaten Sender sind kommerziell ausgerichtet, allerdings unterstützt das
türkische Medienrecht und die Verfassung das nationalistische Element der Programme. Es
gibt jedoch auch einige Sender, die offensiv eine bestimmte politische Linie vertreten: TGRT
vertritt eine nationalistisch-religiöse Position und gehört der Ihlas-Gruppe, Kanal 7 steht der
ehemaligen Wohlfahrts- und jetzigen Tugend-Partei nahe.125
Neben der Veränderung der Fernsehlandschaft durch Kabel und Satellit ist auch das Angebot an türkischen Zeitungen sowohl aus der Türkei, als auch solcher, die eigene Deutschlandausgaben produzieren, immer größer geworden. Türkische Tageszeitungen werden seit
Ende der 60er Jahre in Deutschland angeboten. Heute werden acht überregionale türkische
Tageszeitungen und zwei Wochenzeitungen vertrieben, die mit ihrer jeweiligen politischen
Ausrichtung versuchen, den Bedürfnissen der türkischen Leserschaft gerecht zu werden. Den
in Deutschland vertriebenen Zeitungen sind in der Regel eigene sogenannte "Europa-Seiten"
beigefügt, auf denen insbesondere auf Themen und Belange der in Europa lebenden Türken
ebenso wie auf die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in diesen Ländern ein123
124
Vgl. Güntürk, Reyhan: Mediennutzung der Migranten - mediale Isolation? In: Butterwege, Christoph/Gudrun Hentges/Fatma Sarigöz (Hg.): Medien und multikulturelle Gesellschaft. Opladen 1999, S.136 143; Goldberg, Andreas: Mediale Vielfalt versus mediale Ghettoisierung. In: Zeitschrift für Migration und
Soziale Arbeit 2/1998; Becker, Jörg: Zwischen Integration und Dissoziation: Türkische Medienkultur in
Deutschland. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, No. 44-45/1996.
Vgl. Zentrum für Türkeistudien: Auswertung türkischer Tageszeitungen im Auftrag des Bundespresseamtes,
wöchentliche und monatliche Berichte im Auftrag des Bundespresseamtes.
70
Zentrum für Türkeistudien
gegangen wird. Verstanden sich die Tageszeitungen früher vorwiegend als Brücke in die
Heimat, fungieren sie heute als Sprachrohr der Migranten und als Anwälte ihrer Leserschaft.126 Versuche, eigene, hier produzierte Zeitschriften für die Gruppe der in Deutschland
lebenden türkischen Migranten zu etablierten (z.B. ETAP, Türkis, Hayat), scheiterten zwar
bisher, werden jedoch sicher in Zukunft wiederholt.
Tabelle 17: Türkische Zeitungen in Deutschland
Redaktionelle Linie
Tageszeitung
Hürriyet
Milliyet
Sabah*
Türkiye
Zaman
Milli Gazette
Evrensel
Özgür Politika
Liberalkonservativ mit deutlicher
Neigung zur Boulevardpresse
Linksliberal
Liberal mit deutlicher Neigung zur
Boulevardpresse
Konservativ-religiös
Konservativ-religiös
Religiös-fundamentalistisch
Links
Kurdische Zeitung, links, kurdischnationalistisch
Liberale Boulevardzeitung
Star
Wochenzeitungen
Dünya Hafta
Wirtschaftszeitung
Cumhuriyet Hafta Linksliberal
Auflage in
der BRD
Erstes
Erscheinungsjahr
ca. 107.000
1971
ca. 16.000
ca. 25.000
1972
1996
ca. 40.000
ca. 13.000
ca. 12.000
ca. 8.000
ca. 15.000
1987
1990
1973
1995
1995
ca. 20.000
2000
2.500
5.000
1990
1990
*Seit Februar 2000 eingestellt. Den Schritt auf den deutschen Markt planen momentan die liberale "Akşam"
sowie die islamistische "Yeni Şafak".
Nutzung deutscher und türkischer Medien
Es existieren zwar eine Vielzahl von medienwissenschaftlichen Studien über die Berichterstattung der deutschen Medien über Ausländer und den Themenkomplex der Migration sowie über die Wechselwirkung der Berichterstattung und der Meinungsbildung bei Deut-
125
126
Güntürk, Reyhan: Mediennutzung der Migranten - mediale Isolation? In: Butterwege, Christoph/ Gudrun
Hentges/Fatma Sarigöz (Hg.): Medien und multikulturelle Gesellschaft. Opladen 1999, S. 136-140.
Ebd., S. 142.
71
Zentrum für Türkeistudien
schen.127 Über die Nutzung (und Wirkung) sowohl der deutschen als auch der türkischen Medien bei den türkischen Migranten fehlen jedoch neuere und umfassende Studien.128
In der jüngsten ausführlichen, 1996 bundesweit durchgeführten Befragung zum Medienkonsum der türkischen Bevölkerung in der Bundesrepublik, die im Auftrag des Bundespresseamtes durch das Zentrum für Türkeistudien erfolgte, konnte festgestellt werden, dass
jeder zweite Befragte ausschließlich heimatsprachliche Zeitungen liest, während sich 38%
sowohl an türkischen als auch deutschen Zeitungen orientieren.129 Die auflagenstärkste Zeitung Hürriyet ist marktbeherrschend - mehr als 70% lesen diese Zeitung, gefolgt von Türkiye,
Sabah und Milliyet. Bei der deutschen Tagespresse sind vor allem Regionalzeitungen von
zentraler Bedeutung, von den überregionalen Zeitungen wird nur die "Bild" von einer nennenswerten Gruppe (33%) gelesen. Ein entscheidender Faktor für die Wahl der sprachlichen
Ausrichtung der Fernsehrprogramme wie des Zeitungskonsums ist das Alter, die Bildung und
- damit verbunden - die deutsche Sprachkompetenz. Dem Radio kommt - anders als dies vor
Einführung des Privatfernsehens war - eine deutlich untergeordnete Rolle zu. Weniger als die
Hälfte der Migranten hören bis zu einer Stunde täglich Radio. Diejenigen, die Radio hören,
bevorzugen eindeutig türkischsprachige Sender oder Sendungen.
In der bundesweiten Befragung des Zentrums für Türkeistudien im November 1999 unter
den Türkischstämmigen wurde ebenfalls die Mediennutzung erhoben.130 Nahezu alle Befragten (96%) informieren sich über türkische Medien, 93% jedoch auch über deutsche Medien. Welche Sprache bei der Mediennutzung bevorzugt wird, hängt leicht mit dem Alter und
mit dem Ausbildungsniveau zusammen, jüngere Befragte und solche mit beruflicher Ausbildung präferieren dabei eher deutsche Medien als ältere Befragte und solche ohne Ausbildung,
obwohl die Unterschiede entgegen der Erwartung nur sehr gering ausfallen. Weder das Ge-
127
128
129
130
Siehe Butterwege, Christoph/Gudrun Hentges/Fatma Sarigöz (Hg.): Medien und multikulturelle Gesellschaft. Opladen 1999; Schatz, Heribert/Christina Holtz-Bacha/Jörg-Uwe Nieland (Hg.): Migranten und Medien. Wiesbaden 2000; Zentrum für Türkeistudien (Hg.): Das Bild der Ausländer in der Öffentlichkeit.
Opladen 1995; Jung, Matthias/Martin Wengeler/Karin Böke (Hg.): Die Sprache des Migrationsdiskurses.
Das Reden über "Ausländer" in Medien, Politik und Alltag. Opladen 1997.
Dieser Mangel wurde auch von den Arbeitsgruppen des deutsch-türkischen Workshops „Integration und
Medien“, der im November 1999 vom Institut für Auslandsbeziehungen im Auftrag des Bundespresseamtes
durchgeführt wurde, benannt. "Neuere" Studien sind: Eckardt, Josef: Nutzung und Bewertung von Radiound Fernsehsendungen für Ausländer: Studie in Nordrhein-Westfalen. In: MediaPerspektiven No. 8/1996;
Mohr, Inge: SFB MultiKulti: Öffentlich-rechtliches Hörfunkangebot nicht nur für Ausländer. In: MediaPerspektiven No. 8/1996; Zentrum für Türkeistudien: Unterstützung türkischer Eltern bei der Wahrnehmung
ihrer Erziehungsaufgaben: Studie zum Medienverhalten der türkischen Minderheit in der Bundesrepublik.
Unveröffentlichtes Manuskript. Essen 1997; Zentrum für Türkeistudien: Medienkonsum der türkischen Bevölkerung in Deutschland. ZfT-aktuell Nr. 50. Essen 1997.
Zentrum für Türkeistudien: Medienkonsum der türkischen Bevölkerung in Deutschland. ZfT-aktuell Nr. 50.
Essen 1997.
Vgl. Zentrum für Türkeistudien: Soziodemographische und sozioökonomische Situation türkischstämmiger
Migranten in Deutschland. Unveröffentlichtes Manuskript. Essen 1999, S. 37ff.
72
Zentrum für Türkeistudien
schlecht, noch die Aufenthaltsdauer haben Einfluss auf die Sprache der genutzten Medien.
Etwas deutlicher fallen die Unterschiede nach Altersgruppen aus.
Abbildung 13: Genutzte deutsche und türkische Medien (Mehrfachnennungen, Prozentwerte)
100
92,5
80
96 92,9
88,3
79,3
60
51,3
40
17,7
27
20
31,5
1,4 6,3
6,1
0
Fernsehen
Radio
Tageszeitung Wochenzeitung
türkische Medien
Sonstige
Gesamt
deutsche Medien
Deutsche und türkische Medien werden dabei komplementär genutzt, 96% derjenigen, die
türkische Fernsehsender nutzen, sehen auch deutsche Sender und 87% derjenigen, die türkische Tageszeitungen lesen, lesen auch deutsche Tageszeitungen.
Auch bei jungen Migranten herrscht die gleichzeitige Nutzung von türkischen und deutschen Medien: 95% aller befragten Migranten unter 30 Jahren nutzen deutsches und türkisches Fernsehen, 36% deutsches und türkisches Radio, 50% deutsche und türkische Zeitungen. 82% der türkischen Zeitungsleser unter 30 Jahren lesen nebenher deutsche Tageszeitungen, 60% der Leser deutscher Zeitungen lesen auch türkische Zeitungen. Die Aufschlüsselung der Nutzung deutscher Medien nach Altersgruppen zeigt, dass jüngere Befragte
etwas häufiger deutsche Medien nutzen als ältere Befragte.
Tabelle 18: Nutzung deutscher Medien durch türkische Migranten nach Altersgruppen
(Mehrfachantworten, Prozentwerte)
Fernsehen
18-25 Jahre
26-29 Jahre
30-44 Jahre
45-59 Jahre
60 Jahre und älter
Radio
92,2
96,8
95,6
95,2
95,2
47,8
38,5
31,8
26,3
22,1
73
Tageszeitung
67,2
51,6
58,2
47,2
33,7
Wochenzeitung
29,4
16,7
18,0
15,3
11,5
Zentrum für Türkeistudien
Auch der DJI-Ausländersurvey stellt fest, dass das bevorzugte Medium erwartungsgemäß das
Fernsehen ist. 93% der jungen türkischen Migranten sehen türkische und 88% deutsche Sender.131 Auch hier bevorzugen die Jüngsten, aber auch Befragte mit Ausbildung, eher deutsche
Sender. Türkische Tageszeitungen werden von 79% der Befragten genutzt, deutsche Tageszeitungen von rund der Hälfte. Tageszeitungen werden häufiger von Männern gelesen. Die
etwas älteren Befragte und solche ohne Ausbildung lesen kaum deutsche Tageszeitungen.
Radio hören die Befragten eher in Deutsch (32%) als in Türkisch (27%). Männer und die
jüngste Gruppe hören häufiger deutsches Radio als Frauen und die etwas Älteren. Von 17%
der Befragten werden darüber hinaus deutsche Wochenzeitungen gelesen.
Die wichtigste Schlussfolgerung, die anhand dieser Befunde gezogen werden kann, ist die
der Komplementarität deutscher und türkischer Medien - eine Aussage, die für die Jüngeren
noch in besonderem Maße gilt. Diese Schlussfolgerung stützt die Einschätzung, dass der Nutzung türkischsprachiger Medien eher die Funktion der Beschaffung derjenigen Informationen
dient, die deutschsprachige Medien nicht bieten. Diese ließe auch die stärkere Nutzung türkischsprachiger Medien durch die erste Zuwanderergeneration, die über vergleichsweise
schlechte deutsche Sprachkompetenz verfügt, plausibel erscheinen. Mithin legt dieses Ergebnis nicht die Interpretation nahe, die Etablierung der türkischen Medien in Deutschland sei
Ursache oder Folge von Abschottung. Vielmehr kann Integrationspolitik im Prinzip guten
Gewissens auf die Kooperation mit den türkischsprachigen Medien setzen, freilich unter der
Voraussetzung inhaltlich-politischer Zielidentität, die allerdings nicht in allen Fällen gegeben
sein dürfte.132
3.5 Religion
In der bundesdeutschen Öffentlichkeit und in der einschlägigen Literatur wird häufig davon
ausgegangen, dass die Integrationsprobleme der Türken auf ihrer Religion beruhen. Nur allzu
oft wird der Islam und die Muslime mit der in einigen Ländern praktizierten radikal-fundamentalistischen Ausprägung gleichgesetzt und dabei nicht beachtet, dass in vielen islamischen
Ländern seit langem (in der Türkei seit 1923) eine Trennung zwischen Staat und Religion
131
132
Vgl. Weidacher, Alois (Hg.): In Deutschland zu Hause. Politische Orientierungen griechischer, italienischer,
türkischer und deutscher junger Erwachsener im Vergleich - DJI-Ausländersurvey. Opladen 2000, S. 91.
Das Zentrum für Türkeistudien wertet für das Landespresseamt NRW die türkischen Tageszeitungen
hinsichtlich der Berichterstattung über Deutschland aus. Den Tenor der Berichterstattung ist insgesamt
ambivalent für die hiesige Fragestellung. Zum einen sind viele Berichte konfrontativ und mitunter
separatistisch, andererseits ist das Engagement für die Belange der Leserschaft beträchtlich.
74
Zentrum für Türkeistudien
besteht.133 Trotz der inzwischen 40-jährigen Migration von Muslimen ist das Wissen über den
Islam in der deutschen Öffentlichkeit gering geblieben.134 Allein die Annahme, alle Türken
seien gläubige und praktizierende Muslime, ist schon falsch.135 Dabei untergliedern sich die
Muslime in mindestens ebenso viele unterschiedliche Richtungen wie die Christen, mit unterschiedlichen religiösen Vorschriften, Regeln, Riten und Maximen sowie mit unterschiedlichen
Graden an Religiosität.136 Darüber hinaus ist im Islam die Individualität des Gläubigen sehr
viel ausgeprägter als im Christentum: Der Islam hat keine der christlichen Kirchen entsprechende Hierarchie oder Organisationsstruktur.137 Verbindlich ist lediglich der Bezug auf den
Koran, seine fünf Säulen138 und die Überlieferungen des Propheten Mohammed ("sunna" und
"hadith"), deren Auslegung und Interpretation durch die muslimischen Gelehrten und Rechtsschulen jedoch zahlreiche Facetten aufweist. Es existieren keine formale Mitgliedschaft und
keine formalen Aufnahmeriten wie die christliche Taufe oder die Konfirmation bzw. Kommunion, sondern man gehört dem Islam aufgrund des persönlichen Bekenntnisses an. Allerdings trennt der Islam nicht Sakrales und Profanes, die Religion spielt so eine zentrale Rolle
im Alltag der Menschen.139 Der Glaube hat dadurch einen prägenden Einfluss auf die Identität
und das Leben der türkischen Muslime.
Organisationsstrukturen des Islam in Deutschland
Die islamischen Gemeinschaften in Deutschland haben keinen offiziellen Rechtsstatus als
Religionsgemeinschaft inne, der sie berechtigt, Schulen zu eröffnen und zum Beispiel karitative und soziale Aktivitäten mit finanzieller Unterstützung des Staates anzubieten. Um aber
in Deutschland ihre Interessen im demokratischen System vertreten zu können, haben sich die
verschiedensten Vertreterorganisationen, die rechtlich als Einzel-, Dach- und Spitzenverbände
133
134
135
136
137
138
Trautner, Bernhard: Türkische Muslime, islamische Organisationen und religiöse Institutionen als soziale
Träger des transstaatlichen Raums Deutschland-Türkei. In: Feist, Thomas (Hg.): Transstaatliche Räume:
Politik, Wirtschaft und Kultur in und zwischen Deutschland und der Türkei. Bielefeld 2000, S. 57 - 86.
Vgl. auch Zentrum für Türkeistudien: Muslims in Germany, ZfT-aktuell, Nr. 64. Essen 1998; KarakasogluAydin, Yasemin: Muslimische Religiosität und Erziehungsvorstellungen. Frankfurt/M. 2000.
Nach Angaben des Verfassungsschutzes gehören zu den „Islamisten“, die mit den Lehren des Koran eine
bestimmte Staatsordnung verknüpfen, gerade 1% der muslimischen Bevölkerung in Deutschland. Vgl.
www.verfassungsschutz.de/publikationen/islamp/html
Vgl. Zentrum für Türkeistudien (Hg.): Das ethnische und religiöse Mosaik der Türkei und seine Reflexionen
auf Deutschland. Münster 1998. Vgl. hierzu auch Tibi, Bassam: Der Islam und das Problem der kulturellen
Bewältigung sozialen Wandels. Frankfurt/Main 1991.
Zentrum für Türkeistudien/Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen: Türkische Muslime in Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf 1997, S. 13. Vgl. auch Zentrum für Türkeistudien: Islam in Deutschland. ZfT-aktuell Nr. 67. Essen 1998.
Glaubensbekenntnis, das rituelle Gebet, Armenspende, Pilgerfahrt nach Mekka und Fasten während des
Ramadan.
75
Zentrum für Türkeistudien
eingetragen sind, zusammengeschlossen. Sie nehmen jeder für sich in Anspruch, die Muslime
gegenüber der Mehrheitsgesellschaft zu vertreten, führen aber zugleich teilweise harte
Kontroversen untereinander. Auch wenn berücksichtigt werden muss, dass das Selbstverständnis dieser Organisationen nicht demjenigen klassischer Vereine in Deutschland entspricht, bei denen sich Tätigkeit und Verantwortung auf die eindeutig definierte Zahl von
Mitgliedern beschränken, sondern dass sie eher in der Tradition der islamischen Stiftungen
stehen, deren Angebote für alle offen sind, ist die Inanspruchnahme der Interessenvertretung
für alle Muslime durch die Dachverbände doch problematisch.
Inzwischen existieren in der Bundesrepublik rund 2.400 Moscheegemeinden, von denen
die überwiegende Mehrheit an türkisch-muslimische Dachorganisationen aufgrund infrastruktureller Vorteile (Bereitstellung eines ausgebildeten Imams, Bereitstellung von schriftlichem Material, Hilfe bei bürokratischen Schwierigkeiten) angeschlossen sind. Es existieren
auch eine Reihe von Gemeinden, die keiner übergreifenden Organisation angehören.140 Schätzungen gehen davon aus, dass ca. 15% der sunnitischen Muslime in Deutschland organisiert
sind.141 Die Nutzung der insbesondere von den Moscheevereinen angebotenen Dienstleistungen und Freizeitangebote sagt letztlich nichts über die auch ideelle Zugehörigkeit einer
Familie zu dem Moscheeverein, dessen Dienstleistungen sie annimmt, aus, da es eben keine
zwingende formale Mitgliedschaft gibt.
Die Moscheevereine decken ein weites Spektrum mit unterschiedlichen politischen, kulturellen, berufsständischen, landsmannschaftlichen und religiösen Aufgaben und Zielsetzungen
ab. Aufgrund der Tatsache, dass die türkischen Migranten die größte Gruppe bilden, ist der
Islam in Deutschland überwiegend türkisch geprägt. Dabei ist zu bedenken, dass die ebenfalls
mitgliederstarke Gemeinde der Aleviten in den großen Dachverbänden und Spitzenorganisationen nicht vertreten wird, ebenso wenig wie die vergleichsweise geringe Zahl der Schiiten.
Die Aleviten haben sich jedoch in einem eigenen Verband organisiert, ein zweiter ist bemüht
sich zu etablieren ("Çem-Stiftung").
139
140
141
Zentrum für Türkeistudien/Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen: Türkische Muslime in Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf 1997, S. 16.
1995 gab es 1.900 muslimische "e.V."; vgl. Zentrum für Türkeistudien/Ministerium für Arbeit, Gesundheit
und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen: Türkische Muslime in Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf
1997, S. 84; Trautner, Bernhard: Türkische Muslime, islamische Organisationen und religiöse Institutionen
als soziale Träger des transstaatlichen Raums Deutschland-Türkei. In: Feist, Thomas (Hg.): Transstaatliche
Räume: Politik, Wirtschaft und Kultur in und zwischen Deutschland und der Türkei. Bielefeld 2000, S. 60.
Vgl. Zentrum für Türkeistudien/Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NordrheinWestfalen: Türkische Muslime in Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf 1997, S. 83; Trautner, Bernhard: Türkische Muslime, islamische Organisationen und religiöse Institutionen als soziale Träger des transstaatlichen
Raums Deutschland-Türkei. In: Feist, Thomas (Hg.): Transstaatliche Räume: Politik, Wirtschaft und Kultur
in und zwischen Deutschland und der Türkei. Bielefeld 2000, S. 61.
76
Zentrum für Türkeistudien
Bis in die 80er Jahre waren die religiösen Vereine noch stark auf die religiösen Bedürfnisse und Anforderungen der ersten Generation ausgerichtet. Darüber hinaus agierten viele
Vereine stark Türkei-bezogen. Ihr weltliches Interesse galt ausschließlich der Türkei, ihr religiöses Interesse war darauf gerichtet, den vermeintlich zeitweilig in einem nicht-muslimischen Land lebenden Migranten einerseits einen Raum zur Religionsausübung zur Verfügung
zu stellen und andererseits Beistand in religiösen Fragen zu leisten. Erst im Laufe der 80er
Jahre übernahmen die Moscheevereine langsam soziale und gesellschaftliche Aufgaben sowie
weltliche Beratungsdienste, die sich auf das Leben in Deutschland bezogen. Heute existiert
organisationsübergreifend die Tendenz, die Zielsetzung und Angebotsstruktur der Tatsache
anzugleichen, dass die türkische Bevölkerung auf Dauer in Deutschland leben wird. Inzwischen kann man bei einer Reihe der Vereine eine verstärkte Hinwendung auch zum gesellschaftlichen Leben in Deutschland feststellen. Daneben sind eine Vielzahl der Vereine in politischer Hinsicht wesentlich moderater und die radikalen Töne entschieden leiser geworden,
fast alle Gruppen signalisieren Dialogbereitschaft mit den deutschen Stellen, wenden sich
gegen fundamentalistische oder islamistische Bestrebungen und betonen eine integrationspolitische Zielsetzung.142
In der Regel bieten die Vereine neben Korankursen und Religionsunterricht geistliche
Betreuung in Einzelfällen, sie begleiten und organisieren Beisetzungen, Hochzeiten, Beschneidungen und Pilgerfahrten, sie bieten Fortbildungskurse, Freizeit- und Sportangebote,
soziale Beratung und kulturelle Angebote sowie Informationsveranstaltungen zu unterschiedlichen Themen an.
Die zwei nationalitätenübergreifenden Spitzenverbände sind der "Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland", der aber als von der türkischen "Islamischen Gemeinschaft Milli Görüş", einer als islamistisch und konservativ eingeschätzten und auf politischer Ebene der Tugendpartei der Türkei nahestehenden Organisation, geführt gilt, sowie der "Zentralrat der
Muslime in Deutschland", der versucht, das gesamte Spektrum zu repräsentieren.
Der Zentralrat ist stark am Leben der Muslime in Deutschland orientiert und gibt sich pluralistisch-demokratisch. Seit einigen Jahren kooperieren beide Spitzenverbände miteinander.
Daneben existieren noch eine Reihe bundesweiter Dachverbände, deren Mitgliederzahlen
nicht zuverlässig anzugeben sind und starken Schwankungen unterliegen.143
142
143
Vgl. Zentrum für Türkeistudien/Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NordrheinWestfalen: Türkische Muslime in Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf 1997, S. 83ff.
Vgl. ebd., S. 85; vgl. auch Tezcan, Levent: Politische und religiöse Gruppen in der türkischen Minderheitsgesellschaft. Manuskript. Bielefeld 1998.
77
Zentrum für Türkeistudien
Tabelle 19: Türkisch-islamische Dachverbände in der Bundesrepublik
Organisation
DİTİB (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für
Religion e.V.)
Zielsetzung und Profil
offizielle laizistische Haltung der türkischen
Staatspolitik; staatlich, dem Religionsrat der
Türkei unterstellt, Imame werden aus der Türkei
entsandt
Verbindung in der Türkei
staatliches Präsidium für
religiöse Angelegenheiten der
Türkei
IGMG (Islamische Gemeinschaft Milli Görüs
e.V.)
Errichtung einer "gerechten Ordnung" und eines
islamischen Staates in der Türkei; vom Verfassungsschutz als islamistisch eingestuft, Betonung
der Erhaltung der türkischen Kultur auch in
Deutschland
Tugendpartei (RP)
VIKZ (Verband der islamischen
Kulturzentren
e.V., "Süleymancis")
Verwirklichung des traditionell-orthodoxen Islam im Rahmen der laizistischen türkischen
Staatsordnung; konservativ-islamisch
Süleymanci-Bewegung
ICCB (Verband der Islamischen Vereine und
Gemeinden e.V., "Kaplancis")
Errichtung eines Kalifen-Staates; Streng fundamentalistisch, islamistisch
Abspaltung der IGMG, Verbindung zur RP
Jama at un-Nur Köln e.V.,
Nurculuk-Bewegung
Verwirklichung des traditionell-orthodoxen Islam im Rahmen der laizistischen türkischen
Staatsordnung; Religiöse Reformbewegung, intellektuell
Nurculuk-Bewegung
ADÜTDF (Föderation der
Türkisch-Demokratischen
Idealistenvereine in Europa e.V., "Graue Wölfe")
Türkisch-islamische Synthese; Nationalistisch,
Einsatz für ein großtürkisches Reich, stark politisch
Partei der Nationalistischen
Bewegung (MHP)
ATIB (Union der Türkisch-Islamistischen Kulturvereine in Europa e.V.)
Synthese zwischen Islam und türkischen Nationalismus; inzwischen Distanz zur politischen
Ausrichtung, stärkere Betonung des Islams
Abspaltung des ADÜTDF
AABF (Föderation der
Aliviten Gemeinden in
Europa e.V.)
Erhalt der laizistischen Weltordnung, Vermittlung des Alevitentums bei den Aleviten in
Deutschland gegen die Gefahr der "Sunnitisierung"; Laizistisch-rechtsstaatlich
Aleviten
Bedeutung der Religion im Alltag
Anhand einer repräsentativen Befragung des ZfT unter 2.000 türkischstämmigen Migranten in
Deutschland vom Oktober 2000 kann auf die unterschiedlichen Facetten des religiösen Alltagsleben der türkischen Migranten, den Grad der Religiosität und religiöser Orientierungen
und Organisationsstrukturen der Muslime in Deutschland geschlossen werden. Dabei stehen
mögliche Differenzen zwischen den Generationen im Vordergrund der Analyse.144
144
Vgl. Zentrum für Türkeistudien: Der Islam etabliert sich in Deutschland. Münster 2001 (im Erscheinen).
78
Zentrum für Türkeistudien
Die Mehrheit der türkischstämmigen Migranten, die zu 93% dem Islam angehören, darunter 88% der sunnitischen und 11% der alevitischen Richtung, definiert sich selbst als religiös. Zwei Drittel sehen sich dabei als eher religiös, lediglich 7% schätzen sich als sehr religiös ein. Ein Viertel der Migranten sind eher nicht religiös und 3% empfinden sich als gar
nicht religiös.
Abbildung 14: Grad der Religiosität (Prozentwerte)
7,0
64,6
24,5
3,3
0%
Sehr religiös
20%
40%
eher religiös
60%
80%
eher nicht religiös
100%
gar nicht religiös
Mit zunehmendem Alter steigt die religiöse Bindung: die jüngeren Befragten sind weniger
religiös. Ob dies auf einen generellen Wertewandel bei der jüngeren Generation zurückzuführen ist, oder ein lebenszyklisches Phänomen kennzeichnet, kann anhand diese Daten zunächst nicht beurteilt werden. Aus dem Alterszusammenhang ergibt sich auch ein Zusammenhang zur Aufenthaltsdauer: Je länger die Befragten in Deutschland leben, um so eher
fühlen sie sich religiös. Ein langer Aufenthalt in einer nichtmuslimischen Umgebung führt
folglich nicht zur Loslösung von der ursprünglichen Religion.
Der Zuwanderungsgrund lässt erkennen, dass ehemalige Gastarbeiter, die älter sind und
sehr lange in Deutschland leben, sich stärker religiös definieren als die in Deutschland geborenen Migranten, die jünger sind und infolgedessen weniger lange hier leben. Doch auch der
Umkehrschluss, ein langer Aufenthalt in einer nichtmuslimischen Umgebung führe zu einer
stärkeren Religiösität, wie der Zusammenhang zwischen Aufenthaltsdauer und religiöser
Bindung vermuten lassen könnte, kann nicht bestätigt werden: Unterscheidet man die 18- bis
29-jährigen nach Aufenthaltsdauer und untersucht den Grad ihrer Religiosität, stellt man
keinen linearen Zusammenhang fest. Befragte, die weniger als 4 Jahre hier leben, sind zwar
weniger religiös als solche, die 4 bis 20 Jahre hier leben, diejenigen, die länger als 20 Jahre
hier leben - also hier geboren wurden - sind jedoch wiederum weniger religiös als die mittlere
Gruppe.
79
Zentrum für Türkeistudien
Tabelle 20: Religiosität nach soziodemographischen Merkmalen (Mittelwert*)
Religiosität
Mittelwert*
Alter
18-29 Jahre
30-45 Jahre
46-60 Jahre
Älter als 60 Jahre
Cramers V.: .21
Aufenthaltsdauer
1-3 Jahre
4-9 Jahre
10-20 Jahre
21-30 Jahre
Mehr als 30 Jahre
Cramers V.: .17
Zuwanderungsgrund
Gastarbeiter
Flüchtling/Asylbewerber
Familienzusammenführung
Studium/Ausbildung
Bin in Deutschland geboren
Cramers V.: .15
Schulabschluss
kein Abschluss/Grundschule
Hauptschulabschluss
Realschulabschluss
Fachabitur/Abitur
Cramers V.: 14
Insgesamt
2,65
2,74
2,89
2,91
2,45
2,74
2,76
2,76
2,84
2,88
2,18
2,78
2,59
2,57
2,91
2,74
2,71
2,60
2,76
* Skala von 1 = gar nicht religiös bis 4 = sehr religiös
Tabelle 21: Religiosität nach Aufenthaltsdauer der 18- bis 29-Jährigen (Mittelwert*)
18 bis 29-Jährige
Aufenthaltsdauer
Religiosität
Mittelwert
1-3 Jahre
2,41
4-9 Jahre
2,74
10-20 Jahre
2,72
21-30 Jahre
2,60
Insgesamt
2,66
* Skala von 1 = gar nicht religiös bis 4 = sehr religiös
80
Zentrum für Türkeistudien
Doch wie äußert sich die Religiosität im Alltag? Welche Bedeutung haben religiöse Handlungen für die befragten Muslime?
Religiöse Handlungen werden von der Mehrzahl auch der jüngeren Muslime praktiziert,
auch wenn sie sich selbst nicht als ausgesprochen religiös definieren.145
Tabelle 22: Häufig* ausgeführte religiöse Handlungen nach soziodemographischen
Merkmalen (Zeilenprozent, Mehrfachantworten)
Fasten
Tägl. Gebet Freitagsgebet
Feiertagsgebet
Almosen
Alter
18-29 Jahre
30-45 Jahre
46-60 Jahre
Älter als 60 Jahre
Insgesamt
77,4
76,8
83,4
82,5
78,7
Häufiger
Moscheebesuch
20,8
19,8
29,6
32,5
26,1
36,1
54,3
43,1
49,7
65,5
61,7
66,1
35,9
30,3
39,1
Wallfahrt Einhaltung der Beteiligung
geplant
Speiseam Opferfest
vorschriften
65,7
83,5
86,6
92,6
79,5
Alter
18-29 Jahre
30-45 Jahre
46-60 Jahre
Älter als 60 Jahre
Insgesamt
13,0
16,3
38,4
50,0
22,4
54,7
59,5
71,3
68,3
61,3
88,9
88,1
90,0
89,2
88,7
82,4
75,4
82,5
84,2
79,5
*Zusammengefasste Kategorie "immer" und "meistens"
Dies zeigt, dass die Bedeutung der religiösen Riten und Gebräuche auch eine kulturell-gesellschaftliche und nicht nur eine religiöse Ebene berühren. Auch die junge Generation wird, obwohl sie sich weniger religiös definiert, sich eng mit Deutschland verbunden fühlt und kaum
mehr an eine Rückkehr denkt, an bestimmten Riten und Handlungen als Teil der kulturellen
Identität fest halten.146 Insbesondere das Fasten, das Spenden von Almosen, die Beteiligung
am Opferfest und die Einhaltung der Speisevorschriften werden relativ unabhängig von der
Eigendefinition als religiös oder nichtreligiös praktiziert. Regelmäßiges Beten, der häufige
Moscheebesuch und die Absicht zur Wallfahrt sind hingegen eher Zeichen für eine ausgeprägtere Religiosität.
145
146
Vgl. ebd. S. 68.
Vgl. dazu auch Zentrum für Türkeistudien: Islam in Deutschland - zwischen Alltagsreligiosität und politischer Orientierung, ZfT-aktuell Nr. 35. Essen 1995.
81
Zentrum für Türkeistudien
Auch in der Shell-Jugendstudie wurden religiöse Einstellungen und Praktiken untersucht.147 Danach definieren sich zwei Drittel der türkischen Jugendlichen zwischen 15 und 24
Jahren als religiös, ein Drittel besuchen ab und zu den Gottesdienst, knapp die Hälfte beten
hin und wieder, und ebenfalls rund ein Drittel lesen religiöse Bücher. Die Studie kommt zu
dem Schluss, dass Muslim zu sein für die Jugendlichen über den religiösen Bereich hinaus
Bedeutung für die Lebensführung und die Zukunftsorientierung hat.148
Im Ausländersurvey des Deutschen Jugendinstituts wurde festgestellt, dass unter türkischen Jugendlichen die Wichtigkeit der Religion als persönlicher Lebensinhalt im Vergleich
mit anderen ausländischen Jugendlichen und mit deutschen Jugendlichen am höchsten ist.149
Rund 40% schätzen Religion für das eigene Leben als wichtig ein. Dabei wird ein deutlicher
Zusammenhang zur Schulbildung festgestellt. Je niedriger das Bildungsniveau ist, um so höher ist der Anteil der Jugendlichen, die Religion als wichtig für das eigene Leben einschätzen.
Zugleich plädieren jedoch mehr als 80% der türkischen Jugendliche - ebenso wie die griechischen, italienischen und deutschen Jugendliche - für eine Trennung von Staat und Kirche,
auch dann, wenn sie Religion als wichtigen Lebensinhalt sehen - ein wichtiges Indiz dafür,
dass die deutliche Mehrheit der Jugendlichen fundamentalistischen Bestrebungen eine Absage
erteilen.
Religiöse Einstellungen
In der Forschung ist umstritten, in welchem Ausmaß religiöse, fundamentalistische oder aufgeklärte Orientierungen in der Migrantengesellschaft anzutreffen sind. So geht Heitmeyer von
einem Anteil zwischen 30% und 50% Jugendlicher aus, die islamistisch-fundamentalistischen
Orientierungsmustern zuneigen.150 Öztoprak hingegen stellte fest, dass sich deutsche und türkische Jugendliche in ihren Werthierarchien nur wenig unterscheiden und ein ausgeprägter
Wertekonservatismus, der religiöse Orientierungen einschließt, lediglich unter türkischen Jugendlichen in der extrem verdichteten Community in Berlin existiert.151
Zur Untersuchung der Frage, inwieweit sich bei den befragten muslimischen Migranten
türkischer Herkunft religiöse bzw. religiös-konservative oder moderne, nichtreligiös geprägte
147
148
149
150
151
Vgl. Fischer, Arthur/Yvonne Fritsche/Werner Fuchs-Heinritz/Richard Münchmeier: Jugend 2000. 13. ShellJugendstudie. Opladen 2000, 1. Band, S. 158.
Ebd.
Vgl. Weidacher, Alois (Hg.): In Deutschland zu Hause. Politische Orientierungen griechischer, italienischer,
türkischer und deutscher junger Erwachsener im Vergleich - DJI-Ausländersurvey. Opladen 2000, S.125.
Vgl. Heitmeyer, Wilhelm et al.: Verlockender Fundamentalismus. Frankfurt 1997.
Öztoprak, Ümit: Wertorientierungen türkischer Jugendlicher im Generationen- und Kulturvergleich. In:
Reulecke, V. (Hg.): Spagat mit Kopftuch, Hamburg 1997, S.418 – 454.
82
Zentrum für Türkeistudien
Einstellungen zeigen, wurde den Befragten in der ZfT-Umfrage von 2000 eine Liste mit vier
Aussagen, zwei religiös-konservative und zwei fortschrittliche Statements (Item-Liste) vorgelesen und nachgefragt, ob sie diesen zustimmen oder ob sie die Statements ablehnen. Als
nichtreligiös-modern werden dabei die Aussagen "Es würde mir keine Probleme bereiten,
wenn mein Sohn eine Nichtmuslimin heiraten würde" und "Es würde mir keine Probleme
bereiten, wenn meine Tochter einen Nichtmuslimen heiraten würde" definiert. Die Aussagen
"Ich finde, am Sportunterricht oder an Klassenfahrten sollten Mädchen und Jungen nicht gemeinsam teilnehmen" und "Muslimische Frauen sollten generell in der Öffentlichkeit ein
Kopftuch tragen" werden als religiös-konservativ eingestuft.152
Abbildung 15: Beurteilung religiös-konservativer und moderner Aussagen (Prozentwerte)
Es würde mir keine Probleme
bereiten, wenn mein Sohn eine
Nichtmuslime heiraten würde
18,6
Es würde mir keine Probleme
bereiten, wenn meine Tochter
einen Nichtmuslimen heiraten
würde
18,2
Muslimische Frauen sollten
generell in der Öffentlichkeit ein
Kopftuch tragen
18,4
15,9
13,7
Am Sportunterricht oder an
Klassenfahrten sollten Mädchen
und Jungen nicht gemeinsam
teilnehmen
11,9
0%
10%
25,5
25,2
13,5
6,8
20%
stimme voll zu
31,2
6,3
34,2
23,5
6,5
34,7
14,9
14,5
64,5
30%
40%
eher zu
50%
eher nicht zu
60%
70%
gar nicht zu
1,9
80%
90%
100%
keine Angabe
Die Einstellungen der befragten muslimischen Migranten zeigen bei dem Problem der Geschlechtertrennung im Unterricht und bei der Frage des Kopftuchzwangs für Frauen eine eher
liberale, aufgeklärte Haltung. Mit der Akzeptanz der Heirat nichtmuslimischer Ehepartner der
eigenen Kinder haben dagegen die Mehrheit der Befragten Schwierigkeiten. Insgesamt vertreten sie jedoch Einstellungen, die eher in eine moderne denn in eine streng religiöse Richtung weisen. Erwartungsgemäß zeigen sich hier ebenfalls Differenzen zwischen der ersten
und der zweiten Generation. Das Religionsverständnis ist bei der zweiten Generation ein eher
152
Vgl. Zentrum für Türkeistudien: Der Islam etabliert sich in Deutschland. Münster 2001 (im Erscheinen), S.
72.
83
Zentrum für Türkeistudien
aufgeklärtes. Dennoch bleibt die türkisch-islamische Kultur ein zentraler Bezugsrahmen auch
der zweiten Generation.153
Tabelle 23: Bewertung religiöser Items (Mittelwert*) nach soziodemographischen Merkmalen
Geschlechter Kopftuch Schwieger- Schwieger- summativer
-trennung
sohn
tochter
Index
Alter
18-29 Jahre
30-45 Jahre
46-60 Jahre
älter als 60 Jahre
Cramers V.:
Zuwanderungsgrund
Gastarbeiter
Flüchtling
Familienzusammenführung
Studium/Ausbildung
in Deutschland geboren
Cramers V.:
Insgesamt
1,51
1,65
1,79
1,91
1,90
2,08
2,21
2,36
2,63
2,87
2,87
2,98
2,59
2,80
2,79
2,89
1,98
2,16
2,30
2,36
.20
1,90
1,18
1,62
1,41
1,40
2,29
1,67
2,10
1,71
1,68
2,86
2,67
2,92
2,46
2,41
2,77
2,67
2,85
2,41
2,36
1,61
1,99
2,77
2,71
2,29
2,05
2,20
1,84
1,81
.12
2,09
* Mittelwerte auf einer Skala von 1 = gar nicht konservativ-religiös bis 4=sehr konservativ-religiös
Auch eine bundesweite repräsentativen Befragung türkischstämmiger Migranten, die das
Zentrum für Türkeistudien im November 1999 durchführte, untersuchte die Größendimensionen traditionell-religiöser und modern-liberaler Orientierungen sowie beeinflussende Faktoren, insbesondere die sozioökonomische Situation und die Sozialisation der Familien bei jungen türkischstämmigen Migranten.154 Neben dem Elternhaus konnten vor allem die Schul- und
Ausbildung als Faktoren herausgearbeitet werden, die die kulturell-religiösen Einstellungen
der jungen Migranten beeinflussen. Je höher der schulische und berufliche Ausbildungsstand
ist, um so größer wird der Anteil derjenigen, die modern-liberalen Einstellungen zuneigen.
Eine qualifizierende Ausbildung bietet den jungen Migranten - und insbesondere den jungen
Frauen - einerseits soziale Perspektiven und Entfaltungsmöglichkeiten, aber auch eine intellektuelle Offenheit, sich mit den liberalen Werten der Zuzugsgesellschaft auseinander zu
setzten.155
153
154
155
Ebd.
Vgl. Sauer, Martina: Kulturell-religiöse Einstellungen und sozioökonomische Lage junger türkischer
Migranten. In: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik, No. 2/2000, S. 51 - 59.
Ebd., S. 57.
84
Zentrum für Türkeistudien
Tabelle 24: Modern-liberale Orientierung junge Migranten nach Schulbildung und
beruflicher Ausbildung
Soziodemographische Merkmale
Schulbildung
Kein Abschluss
Haupt-/Realschule
Fach-/Abitur
Noch Schüler
Ausbildung
Keine Ausbildung
Berufsfachschule
Meister/Techniker
Fach-/Hochschule
In Studium/Ausbildung
Gesamt
Modern-liberale Orientierung
Anzahl
Prozent
75
307
171
29
35,7
56,5
61,5
58,3
216
159
45
15
83
588
48,2
54,2
63,2
91,7
75,0
55,2
Diese Befunde legen zwei Schlussfolgerungen nahe: Das fortdauernde Selbstverständnis als
Muslim schließt in der zweiten und dritten Generation der Türken in Deutschland die Hinwendung zu modern-liberalen Orientierungen keineswegs aus. Die Gefahr der von Heitmeyer
heraufbeschworenen Fundamentalisierung der türkischen Jugendlichen wäre angesichts dieser
Befunde also zu relativieren.156 Gleichwohl ist die konkrete Ausgestaltung muslimischer
Identität stark vom Bildungstand, und damit auch allgemein von der wirtschaftlichen sozialen
Lage, abhängig. Will man das Assimilations- bzw. Inklusionspotential junger Türken und
Türkinnen erhöhen und der potentiellen Gefahr einer Fundamentalisierung vorbeugen, bietet
die Verbesserung der Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten eine vielversprechende Option, denn im Bereich der Ausbildung bestehen für Bildungsinländer türkischer Herkunft nach
wie vor vergleichsweise schlechte Chancen.
Ähnliche Schlussfolgerungen zieht auch Heitmeyer, abgesehen von seiner Abweichenden
Einschätzung der quantitativen Bedeutung des Fundamentalismusproblems. Auch er stellt
einen sehr starken Zusammenhang zur Schulbildung und zur Bildungsaspiration, also der zukünftigen Erwartung an die Berufsausbildung und -position, her. Jugendliche sind nach Heitmeyer dann besonders anfällig für religiös-fundamentalistische Orientierungen, wenn sie für
sich persönlich in der Mehrheitsgesellschaft deutlich schlechtere Bildungs- und Berufspositionen und damit schlechtere Zukunftschancen antizipieren.157 Somit liegt in der Förderung der
156
157
Vgl. dazu auch Zentrum für Türkeistudien: Islam in Deutschland - zwischen Alltagsreligiosität und politischer Orientierung, ZfT-aktuell Nr. 35. Essen 1995.
Vgl. Heitmeyer, Wilhelm/Helmut Schröder/Joachim Müller: Desintegration und islamischer Fundamentalismus. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft B7-8 1997, S. 27.
85
Zentrum für Türkeistudien
Bildungs- und Berufssituation türkischer Jugendlicher eine maßgebliche Prävention gegen
fundamentalistische Orientierungen.
Religiöser Organisationsgrad
Wie wirkt sich das Bekenntnis zum Islam auf die religiöse Organisation in den unterschiedlichen Generationen aus? In der repräsentativen Befragung des ZfT unter 2.000 türkischstämmigen Migranten in Deutschland vom Oktober 2000 wurde auch die Nutzung und die
Einstellung gegenüber islamischen Organisationen abgefragt.158 Die Mehrheit der Befragten
(55%) besuchen zwar eine bestimmte Moschee zum Beten oder zu Veranstaltungen, von diesen sind dort jedoch nur 65% auch als Mitglieder formal eingetragen. Dies sind 36% aller
befragten Muslime - damit jedoch deutlich mehr, als die bisherigen Schätzungen, die bei
10%-15% lagen, ergaben. 159
Abbildung 16: Mitgliedschaft in einem Moscheeverein (Prozentwerte)
100
80
60
40
20
0
64,1
35,9
Mitgliedschaft
keine
Mitgliedschaft
Möglicherweise liegt dies daran, dass nicht nur die formal eingetragenen und beitragszahlenden Muslime sich als Mitglieder deklarierten, sondern auch Befragte, die zwar selbst direkt
keine formalen Mitglieder sind, aus deren Familien jedoch jemand als Mitglied eingetragen ist
oder die sich unabhängig von einer formalen Mitgliedschaft einem Moscheeverein verbunden
fühlen, denn in der Praxis erstreckt sich die Mitgliedschaft eines Familienmitgliedes auf die
ganze Familie und ist anders als in deutschen Vereinsverständnis nicht an eine formale Mitgliedschaft gebunden, so dass die Befragten nicht zwischen einer formalen Mitgliedschaft und
der emotionalen Zugehörigkeit differenzieren.
Befragte aus der Altersgruppe zwischen 18 und 29 Jahren sind unter den Mitgliedern von
Moscheevereinen unterrepräsentiert, das durchschnittliche Alter der Mitglieder in Moschee-
158
159
Zentrum für Türkeistudien: Der Islam etabliert sich in Deutschland. Münster 2001 (im Erscheinen), S. 89.
Vgl. Zentrum für Türkeistudien/Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NordrheinWestfalen: Türkische Muslime in Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf 1997, S.93.
86
Zentrum für Türkeistudien
vereinen ist höher als in der gesamten Befragtengruppe. Ältere Befragte sind entsprechend
überrepräsentiert. So ist der Anteil der ehemaligen Gastarbeiter unter den Mitgliedern höher
als unter allen Migranten, hier Geborene sind unter den Mitgliedern entsprechend seltener
anzutreffen.
Tabelle 25: Mitglieder von Moscheevereinen nach soziodemographischen Merkmalen
(Spaltenprozent)
Mitglieder
Alle Befragte
Alter
18-29 Jahre
30-45 Jahre
46-60 Jahre
älter als 60 Jahre
Cramers V.: .12
Zuwanderungsgrund
Gastarbeiter
Flüchtling
Familienzusammenführung
Studium/Ausbildung
in Deutschland geboren
Cramers V.: .11
20,8
42,9
28,6
7,7
30,2
41,6
22,4
5,9
32,6
0,3
55,1
0,7
9,9
24,1
1,8
53,1
1,9
16,7
Die überwiegende Mehrheit der befragten Moscheevereinsmitglieder (71%) gehört Vereinen
an, die dem Dachverband "Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V. (DITIB)"
angeschlossen sind, dies sind 26% aller befragten Muslime. Dieser Verband ist der Anstalt für
Religion der Türkei unterstellt und somit eine staatliche Organisation der Türkei. Sie vertritt
die offizielle laizistische Haltung der türkischen Staatspolitik, konzentriert sich stärker auf die
religiöse Betreuung und versteht sich in erster Linie unpolitisch.160
Von nennenswerter Bedeutung ist mit 8% der Moscheevereinsmitgliedern genannte Dachverband Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG)", die eine stärker politische Ausrichtung hat und sich für die Anerkennung der Muslime als religiöse Minderheit in Deutschland
einsetzt. Sie vertritt - inzwischen moderate - islamistische Positionen. Von allen befragten
Muslimen sind dort 3% organisiert. Dem konservativ-orthodoxen, jedoch laizistisch orientierten "Verband der türkischen Kulturzentren e.V. (VIKZ)" gehören 5% der Moscheevereinsmitglieder und 2% aller Muslime an.
160
Vgl. ebd., S. 87; Trautner, Bernhard: Türkische Muslime, islamische Organisationen und religiöse Institutionen als soziale Träger des transstaatlichen Raums Deutschland-Türkei. In: Feist, Thomas (Hg.): Transstaatliche Räume: Politik, Wirtschaft und Kultur in und zwischen Deutschland und der Türkei. Bielefeld 2000, S.
61.
87
Zentrum für Türkeistudien
Abbildung 17: Zugehörigkeit zu Dachverbänden* der Moscheevereine (Prozentwerte)
72,1
DITIB
8,3
IGMG
4,5
VIKZ
2,5
ATIB
ÇEM-Stiftung
1,9
keinem Dachverband
1,9
AABF
1,7
ADÜTDF
0,7
Jama at un-Nur
0,4
ICCB
0,3
ANF
0,1
3,3
Sonstige
0
10
20
30
40
50
60
70
80
*DITIB: Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V.; IGMG: Islamische Gemeinschaft Milli Görüs;
VIKZ: Verband der Islamischen Kulturzentren, ATIB: Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa;
AABF: Föderation der Aleviten-Gemeinden in Deutschland e.V.; ADÜTDF: Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Europa e.V., ICCB: Verband der Islamischen Vereine und Gemeinden e.V.; ANF:
Föderation der Weltordnung in Europa.
Den stärker politisch-nationalistisch bzw. islamistischen Organisationen "Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Europa e.V. (ADÜTDF)", dem "Verband der Islamischen Vereine und Gemeinden e.V. (ICCB)" und der "Föderation der Weltordnung in
Europa (ANF)", gehören wie der eher intellektuell ausgerichteten Reformbewegung "Jama at
un-Nur" jeweils weniger als 1% und zusammengenommen 1,5% der Moscheevereinsmitglieder, und damit weniger als 0,5% aller Muslime an. Bei der "Föderation der Aleviten-Gemeinden in Deutschland e.V. (AABF)" sind 2% der Mitglieder und 0,6% aller Muslime organisiert. Anderen Dachverbänden rechnen sich 3% und keinem Dachverband 2% der Mitglieder zu. DITIB kann als der Verband der mäßig religiösen, vorwiegend männlichen älteren
Befragten mit langer Aufenthaltsdauer und ehemaliger Gastarbeiter eingestuft werden, der die
laizistische Haltung der türkischen Regierung repräsentiert.
88
Zentrum für Türkeistudien
Tabelle 26: Mitglieder ausgewählter Dachverbände und Mitglieder gesamt nach
soziodemographischen Merkmalen (Spaltenprozent bzw. Mittelwerte)
Dachverbände
Mitglieder
Religiosität
religiös
nicht religiös
Index religiöse Einstellungen*
Geschlecht
männlich
weiblich
Alter
18-29 Jahre
30-45 Jahre
46-60 Jahre
älter als 60 Jahre
Altersdurchschnitt in Jahren
Aufenthaltsdauer
4-9 Jahre
10-20 Jahre
21-30 Jahre
mehr als 30 Jahre
Durchschnittl. Aufenthaltsdauer
Zuwanderungsgrund
Gastarbeiter
Flüchtling
Familienzusammenführung
Studium/Ausbildung
Bin in Deutschland geboren
Heimatverbundenheit
Türkei
Deutschland
Beide Länder
Mitglieder
gesamt
Alle
Muslime
DITIB
IGMG
VIKZ
86,6
13,4
2,4
92,2
7,8
2,6
94,3
5,7
2,6
84,0
16,0
2,4
72,0
28,0
2,15
54,7
45,3
50,8
49,2
57,1
42,9
53,5
46,5
48,6
51,4
19,7
40,6
31,6
8,1
41,8
28,6
54,0
17,5
35,5
22,9
48,6
11,4
17,1
39,8
21,8
42,7
27,8
7,7
40,7
30,2
41,6
22,4
5,9
38,1
4,4
27,9
56,3
11,4
23,4
13,8
36,9
40,0
9,2
20,2
11,8
26,5
50,0
11,8
22,0
6,0
28,5
54,8
10,7
22,9
33,9
0,2
53,9
0,9
9,7
18,8
65,6
14,1
28,6
57,1
11,4
32,3
0,4
54,5
0,6
10,6
24,1
1,8
53,1
1,9
16,7
50,9
13,6
33,2
35,9
20,3
43,8
48,6
11,4
40,0
48,8
15,2
33,8
40,4
19,0
35,4
7,7
28,6
52,8
9,6
22,1
*Summativer Index der Einstellungen zu religiösen Statements, Skala von 1= nicht konservativ-religiös bis 4=
sehr konservativ-religiös
IGMG ist dagegen der Verband der stärker religiös Geprägten. Frauen sind hier häufiger als in
anderen Verbänden anzutreffen, ebenso die jüngeren Altersgruppen, auch viele hier Geborene.161 Von den 18 bis 29-jährigen organisierten Migranten sind 11% Mitglieder der IGMG,
161
Heitmeyer fand in seiner Untersuchung von 15 bis 21-jährigen türkischen Jugendlichen rund 30%, die sich
durch IGMG oder ADÜTDF in ihren Interessen zumindest teilweise vertreten sehen, gut in den Interessen
durch die IGMG vertreten sahen sich 16%; vgl. Heitmeyer, Wilhelm/Helmut Schröder/Joachim Müller:
Desintegration und islamischer Fundamentalismus. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft B 7-8/1997, S.
27.
89
Zentrum für Türkeistudien
das sind 3% aller Migranten dieser Altersgruppe. Die IGMG vertritt einen konservativen Ansatz mit stärkerer politischer Ausrichtung. Der VIKZ vereint ebenfalls stärker religiös geprägte Muslime, ist stark männerdominiert und hat überproportional viele Anhänger unter den
30-45-jährigen und unter den über 60-jährigen. Er vertritt einen orthodoxen Islam, allerdings
ohne politische Ausrichtung.162
Diese Befunde zeigen die Schwierigkeit einer generalisierenden Betrachtung der Fundamentalismus-Gefahr bei der zweiten und dritten Migrantengeneration. Die Mehrheit der Jüngeren scheint aufgrund ihrer eher modern-liberalen Orientierung eine geringere Neigung zur
Organisation in religiösen Gemeinschaften aufzuweisen. Die Minderheit, die religiös-konservative Einstellungen vertritt, ist aber in eher doktrinären Moscheevereinen organisiert. Soweit
aus diesem Umstand überhaupt auf die Gefahr der Fundamentalisierung geschlossen werden
kann, so wäre dies keine generelle Entwicklung, sondern ein Problem, das sich zuvorderst mit
Blick auf diejenigen Jugendlichen mit besonderes ungünstigen Perspektiven stellt.
Islamischer Religionsunterricht
Die Diskussion um die Einführung eines Islamischen Religionsunterrichts wird seit einigen
Jahren intensiv geführt.163 Bisher gibt es in Deutschland keinen islamischen Bekenntnisunterricht, der jedoch von einigen Islamischen Gemeinden und Gläubigen gefordert wird. Als
Grund hierfür wird von den Landeskultusministerien das Fehlen einer einheitlichen Organisationsstruktur der Muslime genannt, die verhindere, einen einheitlichen und allgemeingültigen
Lehrplan für konfessionellen Islamunterricht zu entwickeln. Auf der deutschen Seite wird der
islamische Bekenntnisunterricht an den Schulen jedoch als mögliches Gegengewicht zum
Islamunterricht an den Moscheen, den man nicht kontrollieren und beeinflussen kann, diskutiert. Bisher wird im Rahmen des "Muttersprachlichen Ergänzungsunterrichts", der in fast
allen Bundsländern als freiwillige Unterrichtseinheit angeboten wird, nach unterschiedlichen
Modellen religionskundlicher Unterricht in türkischer Sprache angeboten. In den einzelnen
Bundesländern wird aufgrund der Kulturhoheit der Länder dabei die Gestaltung des Unterrichts völlig unterschiedlich gehandhabt und es werden verschiedene Modelle praktiziert bzw.
162
163
Vgl. Zentrum für Türkeistudien: Der Islam etabliert sich in Deutschland. Münster 2001 (im Erscheinen), S.
96.
Vgl. dazu Zentrum für Türkeistudien: Islamischer Religionsunterricht in den deutschen Schulen, ZfT-aktuell
Nr. 42. Essen 1998; Şen, Faruk/Dirk Halm: Ethnisch-religiöse Differenz, Integration und Desintegration.
Zur gesellschaftspolitischen Bedeutung des islamischen Religionsunterrichts in Deutschland. In: Bildung
und Erziehung, No. 4/2000, S. 397-398; Tibi, Basssam: Islamische Bildungsvorstellungen und Islamunterricht an deutschen Schulen. In: Bildung und Erziehung 1995, S. 249-260; ders.: Fundamentalismus im Islam.
Eine Gefahr für den Weltfrieden? Darmstadt 2000.
90
Zentrum für Türkeistudien
neue Modelle entwickelt. Umstritten ist, ob es überhaupt einen Bekenntnisunterricht geben
sollte, ob der Unterricht in Deutsch oder Türkisch erfolgen soll, vor allem aber, wer für den
Inhalt und den Lehrplan verantwortlich sein soll. In Bayern und Baden-Württemberg beispielsweise werden die Lehrer vom türkischen Kultusministerium für eine bestimmte Zeit aus
der Türkei nach Deutschland entsandt (sog. "Konsulatslehrer"), der Lehrplan und die Lernmittel wurden dort entwickelt. Allerdings wird derzeit in Bayern ein neues Modell entwickelt,
das die Gestaltung des Curriculums in die Verantwortung der deutschen Erziehungsbehörden
legt. In anderen Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen, Hessen und Hamburg wird bereits
ein Modell praktiziert, das den religionskundlichen Unterricht im Rahmen des muttersprachlichen Ergänzungsunterricht mit von den deutschen Kultusministerien entwickelten Lehrmaterialien und Lehrplänen und mit Lehrern, die vom den Landeskultusministerien angestellt sind,
durchführt.
Neben der in Art. 4 garantierten Glaubens- und Gewissensfreiheit legt das Grundgesetz
die Erteilung des Religionsunterrichtes als ordentliches Unterrichtsfach fest, das der schulund unterrichtstechnischen Verantwortung des Staates untersteht. Dieser Unterricht hat inhaltlich sowohl den staatlichen Erziehungs- und Bildungsauftrag als auch dem inhaltlichen
Gestaltungsrecht der jeweiligen Religionsgemeinschaft Rechnung zu tragen. Die Grundsätze
der Religionsgemeinschaften müssen im Religionsunterricht berücksichtigt werden. Die
Funktion der Religionsgemeinschaften nehmen hierbei die christlichen Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts ein. Das Grundgesetz wendet sich an dieser Stelle zwar nicht
an eine bestimmte religiöse Gruppierung, geht aber von der christlichen Tradition der in Kirchen organisierten Religionsgemeinschaften aus. Insofern wird deutlich, dass die derzeitige
Anwendung die Besonderheiten der Nicht-Christen nicht einbezieht.
So gesehen bildet die Anerkennung der Islamischen Föderation in Berlin einen Wendepunkt, da erstmalig auf der Ebene eines Bundeslandes ein Dachverband als Religionsgemeinschaft anerkannt wurde und nunmehr das Recht erhalten hat, islamischen Religionsunterricht
zu erteilen. Gerade dieses Beispiel lässt aber auch das Dilemma zu Tage treten, dass die genannte Organisation nur einen Teil der dortigen Muslime vertritt. Da der Dachverband von
einer bestimmten, in mancher Hinsicht fragwürdigen Ausrichtung beeinflusst wird, stellt sich
die Frage, inwieweit der von ihr getragene Unterricht bei der Zielgruppe eine breite Akzeptanz erlangen kann. Deshalb ist die Suche nach tragfähigeren Modellen für einen islamischen
Religionsunterricht geboten. Berücksichtigt werden müssen hierbei die Besonderheiten des
Islam und die der Struktur der Muslime in Deutschland.
91
Zentrum für Türkeistudien
In der im Oktober 2000 vom Zentrum für Türkeistudien durchgeführten Umfrage164 zeigte
sich, dass die Bemühungen einzelner Dachorganisationen wie der Islamischen Föderation
Berlin, Verantwortung für den islamischen Religionsunterricht zu übernehmen, von den türkischen Migranten in Deutschland kaum unterstützt wird. So äußerten lediglich 7% der Befragten, dass die islamischen Organisationen die Verantwortung für den Religionsunterricht übertragen bekommen sollten. Die inhaltliche Verantwortung durch eine Kommission, die sich aus
drei Gliedern zusammensetzt, wird immerhin von 40% der Befragten befürwortet. Allerdings
sprachen sich auch 45% der Befragten für den türkischen Staat als bevorzugten Verantwortlichen bei der Erteilung des islamischen Religionsunterrichtes aus.
Abbildung 18: Verantwortung für den Inhalt des Islamunterrichts (Prozentwerte)
Eine
Kommission aus
Vertretern des
deutschen
Staates, der
islamischen
Gemeinden und
islamischen
Staaten
40%
Die Islamischen
Gemeinden in
Deutschland
7%
Der deutsche
Staat
4%
keine Angabe
4%
Der türkische
Staat
45%
Verschiedene Faktoren sprechen dafür, dass die Einführung eines islamischen Religionsunterrichtes als ordentliches Unterrichtsfach eine sinnvolle Maßnahme zur weitergehenden Integration der hier lebenden Muslime darstellt. Faktisch ist der Bedarf durch die hohe Zahl muslimischer Migranten gegeben, die derzeit in Deutschland leben und auch in Zukunft leben
werden.
Die überwiegende Mehrheit der Muslime (89%), die das Zentrum für Türkeistudien im
Oktober 2000 befragte165, wünschen sich konfessionellen islamischen Religionsunterricht an
den Schulen. Nur knapp jeder Zehnte findet dies überflüssig. Dabei zeigt sich, dass auch 78%
164
165
Vgl. Zentrum für Türkeistudien: Der Islam etabliert sich in Deutschland. Münster 2001 (im Erscheinen), S.
105.
Ebd.
92
Zentrum für Türkeistudien
derjenigen, die sich als kaum oder gar nicht religiös definieren, Religionsunterricht befürworten.
Abbildung 19: Angebot von konfessionellem islamischen Religionsunterricht für
muslimische Kinder an deutschen Schulen (Prozentwerte)
Keine Angabe
2%
Nein
9%
Ja
89%
Die Einführung eines regulären islamischen Religionsunterricht bedeutet einen wichtigen
Schritt bei der Gleichstellung und Gleichbehandlung der Muslime gegenüber den bereits
etablierten Religionsgemeinschaften im Bereich der allgemeinbildenden Schulen. Die Gleichstellung des Islam durch die Einführung eines islamischen Religionsunterrichtes ist aber insbesondere unter integrationspolitischen Aspekten große Bedeutung beizumessen. In der Erziehung und schulischen Sozialisation der hier aufwachsenden muslimischen Kinder und Jugendlichen hat er identitätsbildende und identitätsstützende Funktion, da sie als Angehörige
einer anderen Religionsgemeinschaft im Bereich der schulischen Ausbildung ganz natürlich
als gleichrangig akzeptiert wären. Ferner würde der Unterricht eine Brückenfunktion für die
in zwei Lebenswelten sozialisierten Kinder übernehmen. Nicht zu unterschätzen ist sicherlich
auch der Aspekt, dass ein islamischer Religionsunterricht das Vertrauen der muslimischen
Eltern in die deutsche Schule und die Identifikation mit dem Zuwanderungsland Deutschland
insgesamt stärken könnte.
Angesichts der Tatsache, dass die Muslime in Deutschland aus unterschiedlichen Herkunftsländern kommen, wäre ein islamischer Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen
in deutscher Sprache sinnvoll. Ein weiterer wichtiger Aspekt hierbei ist die integrationspolitische Dimension. Die Durchführung des Unterrichts in deutscher Sprache würde den muslimischen Schülern das Bewusstsein vermitteln helfen, dass sie als Angehörige einer anderen Religionsgesellschaft ein natürlicher und akzeptierter Teil der Gesellschaft sind.
Über die Frage, in welcher Sprache der islamische Religionsunterricht erteilt werden
sollte, wird allerdings kontrovers diskutiert. Während die Unterrichtssprache Deutsch den
praktischen Vorteil böte, einen einheitlichen Unterricht für alle muslimischen Schüler durch93
Zentrum für Türkeistudien
zuführen, bestünde auf der Gegenseite das Problem, dass es nicht genügend Lehrer gibt, die
entsprechend ausgebildet sind, um den Unterricht in deutscher Sprache zu erteilen. Hinzuweisen ist auch darauf, dass die Migranten das Recht auf muttersprachlichen Unterricht haben.
In der im Oktober 2000 vom Zentrum für Türkeistudien durchgeführten Untersuchung
wurden die türkischen Migranten in Deutschland befragt, in welcher Sprache der islamische
Religionsunterricht durchgeführt werden sollte.
Abbildung 20: Gewünschte Sprache des konfessionellen Islamunterrichts
(Prozentwerte)
keine Angabe
6%
Deutsch
21%
Türkisch
73%
Die Ergebnisse der Befragung zeigen, dass 73% der türkischen Migranten einem in Türkisch
erteilten Religionsunterricht den Vorzug geben. Damit wird deutlich, dass dem Religionsunterricht neben der religiösen Unterweisung eine hohe Bedeutung im Sinne eines Heimatkundeunterrichts zuteil wird. Aus integrationspolitischer Sicht ist es kaum sinnvoll, diesen
Wünschen Folge zu leisten. Allerdings regt der Umfragebefund zum Nachdenken darüber an,
ob Islamunterricht nicht eventuell durch bilinguale Curricula die als pädagogisch sinnvoll
betrachtete Erhöhung der Kompetenz in beiden Sprachen einbeziehen könnte.
3.6 Heimatverbundenheit und Rückkehrabsicht
Zur Ermittlung der nationalen und kulturellen Identität der Migranten und ihrer Veränderungen zwischen den Generationen können als Indikatoren auch das Gefühl der Verbundenheit
mit Deutschland und der Türkei, die Rückkehr- bzw. Verbleibeabsicht in Deutschland sowie
das Deutschlandbild der türkischen Jugendlichen herangezogen werden.
94
Zentrum für Türkeistudien
Abbildung 21: Rückkehrabsicht (Prozentwerte)
50
40
45,4
30
31,8
22,6
20
10
0
Nein
Ja
Weiss nicht
Nach den Ergebnissen der bundesweiten Befragung des ZfT vom Herbst 2000 haben fast die
Hälfte (46%) der türkischstämmigen Migranten nicht (mehr) die Absicht, in die Türkei zurückzukehren bzw. dorthin auszuwandern.166 Nur noch knapp ein Drittel halten sich diese
Option offen. Allerdings wissen 23% der Befragten noch nicht, ob sie irgendwann einmal
zurückkehren möchten. Die sich hierin ausdrückende starke Verunsicherung über die Zukunft
in Deutschland ist möglicherweise eine Reaktion auf das erneute Aufflammen der fremdenfeindlichen Übergriffe.
Abbildung 22: Heimatverbundenheit (Prozentwerte)
Türkei
40%
Keines der
beiden Länder
5%
Deutschland
19%
Beide Länder
36%
Jeder fünfte türkischstämmige Migrant (19%) fühlt sich inzwischen in erster Linie mit
Deutschland verbunden. Mehr als ein Drittel (35%) haben Heimatgefühle sowohl gegenüber
Deutschland als auch gegenüber der Türkei, nur noch eine Minderheit von 40% fühlt sich in
erster Linie mit der Türkei verbunden. Dies widerspricht dem gegen die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft vorgetragenen Argument, man könne sich nicht zwei Staaten verbunden fühlen und erklärt die Enttäuschung vieler Migranten über die Regelung des neuen
Einbürgerungsrechts, das der Gefühlslage eines Großteils der Betroffenen offensichtlich nicht
95
Zentrum für Türkeistudien
gerecht wird.167 Zusammen genommen empfinden mehr als die Hälfte (54%) der Migranten
inzwischen zumindest auch Deutschland als ihre Heimat.
Tabelle 27: Rückkehrabsicht und Heimatverbundenheit nach soziodemographischen
Merkmalen (Zeilenprozent)
Rückkehrabsicht
Nein
Ja
Weiß
nicht
Heimatverbundenheit
Türkei
Deutsch- Beide
land
Alter
18 bis 29 Jahre
30 bis 45 Jahre
46 bis 60 Jahre
Älter als 60 Jahre
Aufenthaltsdauer
1 bis 3 Jahre
4 bis 9 Jahre
10 bis 20 Jahre
21 bis 30 Jahre
Mehr als 30 Jahre
Zuwanderungsgrund
Gastarbeiter
Flüchtling/Asylbewerber
Familienzusammenführung
Studium/Ausbildung
ich wurde hier geboren
Gesamt
53,6
43,7
38,3
41,5
23,0
32,7
40,4
39,8
23,3
23,3
21,3
18,7
28,8
40,7
49,0
65,0
26,3
18,1
11,9
14,6
37,5
36,7
35,2
17,1
38,1
41,4
46,5
45,3
49,8
33,3
34,4
30,1
31,2
37,1
28,6
24,2
23,4
23,2
17,8
61,9
52,9
38,6
37,1
49,8
14,3
14,0
18,9
19,3
18,4
23,8
28,0
38,0
37,3
29,4
39,5
76,9
43,4
41,0
59,3
45,4
41,8
12,8
31,3
43,6
17,7
31,8
18,7
10,3
25,0
15,4
23,1
22,6
58,3
18,4
39,3
35,0
20,5
40,1
13,6
36,8
17,8
10,0
29,6
19,0
26,4
21,1
38,2
45,0
41,6
36,4
Erwartungsgemäß stehen das Alter und die Aufenthaltsdauer mit der Rückkehrneigung und
der Heimatverbundenheit in Zusammenhang. Je jünger die Befragten sind und je länger sie in
der Bundesrepublik leben, um so geringer wird der Anteil der Rückkehrwilligen und der Türkeiverbundenen. Der Anteil derer, die sich Deutschland oder beiden Ländern verbunden fühlen, steigt entsprechend. So hegen nur 23% der 18 bis 29-jährigen die Absicht, in die Türkei
zurückzukehren, jedoch 40% der über 60-jährigen, von denen sich lediglich 15% ganz in
Deutschland heimisch fühlen, im Vergleich zu 26% der 18-29-jährigen. Unterschiede zeigen
sich bei beiden Einstellungen jedoch am stärksten, wenn man nach dem Zuwanderungsgrund
differenziert. Ehemalige Gastarbeiter und Befragte, die zum Studium oder zur Ausbildung
und somit erst im Erwachsenenalter nach Deutschland kamen, wollen sehr viel häufiger zurückkehren als diejenigen, die im Zuge der Familienzusammenführung nachreisten und vor
166
167
Vgl. Zentrum für Türkeistudien: Die Einbürgerung türkischer Migranten in Deutschland. Münster 2001 (im
Erscheinen), S. 46.
Vgl. dazu: Goldberg, Andreas/Faruk Şen (Hg.): Deutsche Türken - Türkische Deutsche? Die Diskussion um
die doppelte Staatsbürgerschaft. Münster 1999.
96
Zentrum für Türkeistudien
allem als die hier Geborenen, von denen sich nur noch 18% eine Remigrationsoption offen
halten. 42% der ehemaligen Gastarbeiter und 44% der Ausbildungsmigranten wollen dagegen
zurückkehren. Auch die Heimatverbundenheit ist stark davon abhängig, aus welchem Grund
die Befragten in Deutschland leben: So fühlen sich mehr als die Hälfte (58%) der ehemaligen
Gastarbeiter hauptsächlich mit der Türkei verbunden, nur 14% von ihnen fühlen sich hier
ganz und 26% in beiden Ländern heimisch. Bei den hier Geborenen sind es nur noch 21%, die
sich vor allem mit der Türkei verbunden fühlen, knapp ein Drittel dagegen in erster Linie mit
Deutschland und 42% mit beiden Ländern.
Der Ausländersurvey des Deutschen Jugendinstituts bestätigt diese Tendenzen.168 Rund
60% der türkischen Jugendlichen zwischen 18 und 25 Jahren wollen in Deutschland bleiben,
nur 13% äußern die Absicht einer "Rückkehr" und ein Viertel ist noch unentschlossen. Festgestellt wurde hier ebenfalls ein Zusammenhang zur Aufenthaltsdauer bzw. zum Einreisealter.
Je kürzer die Jugendlichen in Deutschland leben, um so stärker ist ihre Rückkehrneigung. Es
lässt sich darüber hinaus ein linearer und ausgeprägter Zusammenhang zur Schulbildung feststellen, der auch in der bundesweiten ZfT-Untersuchung zu sehen war.169 Je geringer die
Schulbildung ist, um so eher neigen die Befragten zur Rückkehr. Zu vermuten ist, dass gute
Zukunftsperspektiven, die durch eine höher qualifizierte schulische und berufliche Ausbildung erwartet werden, aus der eine hohe Zufriedenheit mit dem Leben in Deutschland resultieren kann, die Verbleibeabsicht deutlich erhöht. Die Zeitreihenuntersuchung des ZfT in
Nordrhein-Westfalen bestätigt diese Vermutung. Migranten, die Rückkehrabsichten hegen,
äußern sich zu allen Lebensbereichen weniger zufrieden als diejenigen, die in Deutschland
bleiben wollen.170
Tabelle 28: Zufriedenheit mit verschiedenen Lebensbereichen nach Rückkehrabsicht
(Spaltenprozentwerte)
Rückkehrabsicht
Ja
Nein
Gesamt
168
169
Wohnverhältnisse
Berufs/Aufstiegschancen
Weiterbildung
77,3
84,2
84,2
53,7
58,1
56,4
37,1
42,7
41,9
Vgl. Weidacher, Alois (Hg.): In Deutschland zu Hause. Politische Orientierungen griechischer, italienischer,
türkischer und deutscher junger Erwachsener im Vergleich - DJI-Ausländersurvey. Opladen 2000, S.68.
Vgl. Zentrum für Türkeistudien: Einbürgerung türkischer Migranten in Deutschland. Münster 2001 (im
Erscheinen), S. 46-47.
97
Zentrum für Türkeistudien
Nationale und kulturelle Identität definiert sich vor allem in einer Abgrenzung gegenüber
"Anderen". Diese dialektische Abgrenzung zwischen "Wir" und den "Anderen" verwischt sich
jedoch bei den jungen Migranten in Deutschland, da sie sich mehrheitlich beiden Kulturen
und Nationalitäten zugehörig fühlen. Von türkischen Landsleuten in der Türkei werden sie als
"Deutschländer" und damit als "Andere" gekennzeichnet, von den Deutschen als "Ausländer".171
Das Bild, dass sich junge türkische Migranten von Deutschland und den Deutschen machen, insbesondere im Vergleich zum Selbstbild der Deutschen, also deren nationalen Identität, kann neben der Heimatverbundenheit und der Verbleibeabsicht als weiterer Indikator für
die nationale und kulturelle Identität türkischer Jugendlicher und ihrer (Selbst-)Ethnisierung
herangezogen werden. Das Deutschlandbild der Migranten verrät vor allem etwas darüber,
wie sie sich selbst in Deutschland fühlen, über ihre Befindlichkeit zwischen Nähe und Distanz.
Die Shellstudie 2000 hat das Deutschlandbild türkischer Jugendlicher anhand von Skalen
zu den Bereichen Lebensart und Wärme, Deutschland als zivilisiertes Land sowie Verschlossenheit gegenüber Fremden untersucht.172 Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die ausländischen
Jugendlichen zu einem positiveren Eindruck in Bezug auf Deutschland als ein zivilisiertes
Land (vor allem bezogen auf die Rechtsstaatlichkeit und die soziale Sicherheit) kommen, in
den anderen Bereichen jedoch einen negativeren Eindruck als die Deutschen haben. Vor allem
Lebensart und Wärme sprechen die jungen Türken den Deutschen ab, aber auch die Verschlossenheit gegenüber Fremden sehen sie in höherem Maße als die deutschen Jugendlichen.
Türkische Jugendliche sehen sowohl die positiven als auch die negativen Bereiche drastischer
als die deutschen Jugendlichen, in der generellen Tendenz unterscheiden sie sich jedoch auffällig wenig. Das Deutschlandbild der Türken ist nicht negativer, jedoch profilierter als das
der Deutschen.173
Die große Zahl der jungen Migranten, die inzwischen zumindest auch in der Bundesrepublik heimisch geworden sind und ihren Lebensmittelpunkt bewusst und zukünftig hier sehen,
zeigt eine stark bikulturelle Identität. Denn die zunehmende Heimatverbundenheit mit
Deutschland geht nicht einher mit einer emotionalen Loslösung von der Türkei, so dass auch
170
171
172
173
Sauer, Martina/Andreas Goldberg: Die Lebenssituation und Partizipation türkischer Migranten in NordrheinWestfalen. Hrsgg. vom Zentrum für Türkeistudien, Münster 2001 (im Erscheinen), S. 62.
Vgl. Fischer, Arthur/Yvonne Fritsche/Werner Fuchs-Heinritz/Richard Münchmeier: Jugend 2000. 13. ShellJugendstudie. Opladen 2000, 2. Band, S. 7, 185, S. 372.
Ebd., S. 310-311.
Ebd., S. 325.
98
Zentrum für Türkeistudien
in Zukunft von einer Doppelidentität ausgegangen werden muss. Das Verständnis von Integration in der Aufnahmegesellschaft sollte diesem Umstand Rechnung tragen.
3.7 Einbürgerung
Die Einbürgerung ist ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zu gelungener Integration, weil
sie den Migranten von der politischen Partizipationsmöglichkeit bis zur rechtlichen Gleichstellung zahlreiche Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe bietet. Einbürgerung kann
dabei Resultat von Assimilierungs- wie Inklusionsprozessen sein. Zugleich bedeutet das Angebot zur Einbürgerung ein Signal der Akzeptanz der Zuwanderer durch die Aufnahmegesellschaft, wodurch auch die weitere Integrationsbereitschaft maßgeblich gefördert werden
kann.174
Tabelle 29: Einbürgerung türkischer Migranten 1982-1999
Jahr
1982
1983
1984
1985
1986
1987
1988
1989
1990
1991
1992
1993
1994
1995
1996
1997
1998
1999
Gesamt 1999
2000175
Gesamt 2000
174
175
Einbürgerungen Türken
Veränderungen zum Vorjahr
Anzahl
Prozent
580
853
+273
+47%
1.053
+200
+23%
1.310
+257
+24%
1.492
+182
+14%
1.184
-308
-21%
1.243
+59
+5%
1.713
+470
+38%
2.034
+321
+19%
3.529
+1.499
+74%
7.377
+3.849
+109%
12.915
+5.538
+75%
19.590
+6.675
+52%
31.578
+11.988
+61%
46.294
+14.716
+47%
42.240
-4.054
-9%
59.664
+17.424
+41%
103.900
+44.236
+57%
337.800
132.200
+28.300
+27%
470.000
-
Absolut
Vgl. dazu Goldberg, Andreas/Faruk Şen (Hg.): Deutsche Türken - Türkische Deutsche? Die Diskussion um
die doppelte Staatsbürgerschaft. Münster 1999, S. 7.
Prognose des Zentrum für Türkeistudien auf der Basis von Umfrageergebnissen zur Einbürgerung in
Nordrhein-Westfalen im Sommer 2000, vorgestellt bei einer Pressekonferenz der Parlamentarischen
Staatssekretärin im Innenministerium Frau Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast am 08.02.2001 in Berlin.
99
Zentrum für Türkeistudien
Bereits 1991 wurde das noch aus dem Deutschen Reich stammende Staatsbürgergesetz verändert und die Einbürgerung erleichtert. Die doppelte Staatsbürgerschaft wurde in Ausnahmefällen zugelassen, wenn eine Entlassung aus der ursprünglichen Staatsbürgerschaft nicht
möglich war. Dennoch wurden bereits die damaligen Bestimmungen, insbesondere die Ablehnung der doppelten Staatsbürgerschaft als Regelfall, hart und kontrovers diskutiert. Allerdings ermöglichten die türkischen Behörden ihren ehemaligen Staatsangehörigen, nach der
Entlassung aus der türkischen Staatsangehörigkeit, die Bedingung für die Erteilung der deutschen Staatsangehörigkeit ist, die türkische Staatsbürgerschaft wieder neu zu beantragen und
zu erhalten. Diesen Weg gingen ca. 260.000 Deutsche türkischer Abstammung und kamen so
in den Genuss der doppelten Staatsbürgerschaft. Diese Praxis wurde 1997 auf Druck der deutschen Regierung eingeschränkt und den ehemaligen türkischen Staatsangehörigen von den
türkischen Behörden nur noch eine sogenannte "Pembe-Kart" (rosa Karte) ausgehändigt, die
sie berechtigte, eingeschränkt Grundbesitz zu erwerben und Erbrechte anzutreten, aber beispielsweise das Wahlrecht nicht zuerkennt.
Nach den Angaben des Statistischen Bundesamtes wurden 1999 103.900 Personen türkischer Herkunft eingebürgert. Nach einem leichten Rückgang 1997, dem ein starker Anstieg
seit 1991 vorangegangen war, bedeutete dies eine Steigerung um 44.236 Personen (57%) gegenüber 1998. Insgesamt waren damit Ende 1999 337.800 türkischstämmige Migranten eingebürgert. Dies sind ca. ein Viertel aller rund 1,4 Mio. erwachsenen türkischstämmigen
Migranten.176
Die türkische Bevölkerung reagierte auf die Bestimmungen im neuen Staatsangehörigkeitsgesetz, das am 01.01.2000 in Kraft trat und den Kreis der Einbürgerungsberechtigten
erheblich ausweitete, mit großer Enttäuschung.177 Die Auseinandersetzungen führten zu wochenlangen Attacken in der türkischen Presse, die bis zum Boykottaufruf des neuen Staatsangehörigkeitsgesetz an die Migranten führte, der von einigen Selbstorganisationen unterstützt wurde.178 Auch wenn nicht alle Migranten diese radikale Position teilten, kritisieren
jedoch viele Betroffene insbesondere die Bestimmung zu den ausreichenden Sprachkenntnis176
177
178
Quelle: Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung vom 28. Dezember 2000.
Mit dem Inkrafttreten des neuen Gesetztes wurde das ius sangunis, das Rechtes der Abstammung um das ius
solis, das Recht des Bodens (Geburtsortprinzip) erweitert. Dadurch hat jeder in Deutschland geborene
Mensch Anspruch darauf, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten, unabhängig von der Staatsangehörigkeit der Eltern, wenn ein Elternteil seit mindestens acht Jahren in Deutschland lebt. Darüber hinaus können
Ausländer, die mindestens seit acht Jahren in Deutschland leben, eine Aufenthaltserlaubnis haben, die deutsche Sprache beherrschen, nicht von Arbeitslosen- oder Sozialhilfe Gebrauch machen und keine Straftaten
begangen haben, die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen. Allerdings wurde eine doppelte Staatsangehörigkeit als Regelfall nach wie vor ausgeschlossen. Vgl. dazu Goldberg, Andreas/Faruk Şen (Hg.): Deutsche
Türken - Türkische Deutsche? Die Diskussion um die doppelte Staatsbürgerschaft. Münster 1999, S. 39.
Siehe etwa Hürriyet 01.07.2000, 13.07.2000, Sabah, 02.07.2000, Hürriyet vom 30.06.00, Milliyet vom
27.07.00.
100
Zentrum für Türkeistudien
sen und den Ausschluss einer Doppelstaatsangehörigkeit als Regelfall.179 Ein großer Teil ist
darüber hinaus verunsichert über ihren rechtlichen Status in der Türkei nach Abgabe des türkischen Passes oder erwartet sich nur wenige Vorteile durch eine deutsche Staatsbürgerschaft.
Doch entgegen der Behauptungen in der türkischen Presse, die von einem deutlichen
Rückgang der Einbürgerungszahlen spricht, existieren bisher keine offiziellen Zahlen zur
Einbürgerung nach der jüngsten Gesetzesänderung.180 Allerdings führte das Zentrum für Türkeistudien im Oktober 2000 eine bundesweite Befragung türkischer Migranten zur Einbürgerung durch, um zu untersuchen, wie die türkische Bevölkerung tatsächlich über die Einbürgerung denkt, wie viele Menschen sich aus welchen Gründen einbürgern lassen wollen, wie
viele Migranten welche Einbürgerungsvoraussetzungen erfüllen und was man sich von einer
Einbürgerung verspricht.181
Tabelle 30: Staatsbürgerschaft nach sozidemographischen Merkmalen (Zeilenprozent)
Deutsch
Türkisch
28,4
24,3
15,5
16,3
35,59
71,6
75,7
84,5
83,7
38,78
4,8
3,2
24,3
24,7
25,2
23,5
95,2
96,8
75,7
75,3
74,8
21,6
14,9
70,3
19,8
42,5
37,9
23,1
85,1
29,7
80,2
57,5
62,1
76,9
Alter
18-29 Jahre
30-45 Jahre
46-59 Jahre
60 Jahre und älter
Mittelwert (Jahre)
Aufenthalt
1-3 Jahre
4-9 Jahre
10-20 Jahre
21-30 Jahre
mehr als 30 Jahre
Mittelwert (Jahre)
Zuwanderungsgrund
Gastarbeiter
Flüchtling
Familienzusammenführung
Studium/Ausbildung
hier geboren
Gesamt
Der Altersdurchschnitt der deutschen Staatsbürger türkischer Herkunft, die in der Umfrage
einen Anteil von 23% ausmachen, ist mit 36 Jahren niedriger als der der türkischen Staatsbür179
180
181
Vgl. dazu Goldberg, Andreas/Faruk Şen (Hg.): Deutsche Türken - Türkische Deutsche? Die Diskussion um
die doppelte Staatsbürgerschaft. Münster 1999, S. 29.
Ebenso liegen offizielle Zahlen, aus denen die Anzahl der tatsächlich berechtigten Migranten - einschließlich
der berechtigten Ehepartner - berechnet werden könnte, nicht vor.
Vgl. Zentrum für Türkeistudien: Die Einbürgerung türkischer Migranten in Deutschland. Münster 2001 (im
Erscheinen).
101
Zentrum für Türkeistudien
ger (39 Jahren), die 77% der Befragten stellten. Die Mitglieder der jüngsten Gruppe unter den
Befragten, im Alter zwischen 18 und 29 Jahren, haben sich am häufigsten einbürgern lassen,
28% von ihnen besitzen die deutsche Staatsangehörigkeit. Mit zunehmenden Alter sinkt die
Einbürgerungsquote.182
Ebenso wie das Alterskriterium ist die Aufenthaltsdauer ein wichtiger Faktor für die Einbürgerung, nicht zuletzt aufgrund der rechtlichen Bestimmungen der Einbürgerung. Die türkischen Migranten, die eingebürgert sind, haben entsprechend durchschnittlich eine höhere
Aufenthaltsdauer (24 Jahre) als die nicht eingebürgerten (22 Jahre). Je länger sich die Befragten in Deutschland aufhalten, um so größer wird der Anteil der Eingebürgerten. Auch der
Zuwanderungsgrund spielt eine wichtige Rolle bei der Einbürgerung. Die Migranten, die als
Gastarbeiter nach Deutschland eingereist sind, weisen eine geringere Quote (15%) an Eingebürgerten auf als alle anderen Gruppen. Auch die nachgezogenen Familienangehörigen sind
unter den deutschen Türken unterrepräsentiert. Erstaunlich hoch ist dagegen der Anteil von
43% der türkischen Migranten über 18 Jahren, die zu Bildungszwecken nach Deutschland
gekommen sind und bereits eingebürgert sind. Auch die Quote der Eingebürgerten, die als
Flüchtlinge bzw. Asylsuchende nach Deutschland eingewandert sind, ist mit 70% ausgesprochen hoch - allerdings ist der Gesamtanteil dieser beiden Gruppen an den türkischstämmigen
Migranten gering. Diejenigen, die hier geboren wurden, haben sich zu 38% einbürgern lassen.
Für diesen Befund sind zum einen die rechtlichen Bestimmungen ausschlaggebend, zum anderen aber vermutlich auch die mentale Disposition in Bezug auf das Gefühl der Zugehörigkeit, die bei Gastarbeitern und deren Familienangehörigen lange Zeit von der Rückkehrabsicht geprägt war, bei den hier Geborenen jedoch von einem dauerhaften Verbleib im Geburtsland. Bei Flüchtlingen wiederum muss von einer ganz spezifischen Situation ausgegangen werden, die mentale und rechtliche Dimensionen einschließt.183
Tabelle 31: Gründe für die vollzogene Einbürgerung (Mehrfachantworten, Prozentwerte)
Rechtliche Vorteile/Aufenthaltssicherheit
Ich wollte politische Rechte haben (Wahlrecht)
Ich werde mein Leben hier verbringen
Weil meine Kinder Deutsche geworden sind
Ich fühle mich als Deutscher/Sehr eng mit Deutschland verbunden
Ich habe keine Bindung mehr an die Türkei
Sonstiges
keine Angabe
182
183
Ebd., S. 52.
Ebd., S. 53.
102
Prozent
76,5
72,6
27,7
12,3
7,1
4,6
20,7
1,5
Zentrum für Türkeistudien
Als Gründe für ihre Entscheidung zur Einbürgerung nannten 77% und damit die meisten der
deutschen Befragten türkischer Herkunft rechtliche Vorteile und Aufenthaltssicherheit. Nahezu genauso wichtig ist es den Eingebürgerten, dass sie in ihrer neuen Heimat politische
Mitspracherechte genießen. Dementsprechend gaben 73% der eingebürgerten Befragten diesen Grund für den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit an. Der zukünftige Aufenthalt in
Deutschland spielte ebenfalls, jedoch mit deutlich weniger Nennungen, eine Rolle bei der
Einbürgerungsentscheidung. 28% der schon eingebürgerten Befragten gaben an, dass sie ihren
Lebensabend in Deutschland verbringen möchten. Für eine Gruppe von 12% war die Einbürgerung der Kinder der Grund für die eigene Einbürgerung. Allerdings ließen sich nur 7% deshalb einbürgern, weil sie sich ganz und gar mit Deutschland verbunden fühlten und nur 4%,
weil sie keinerlei emotionale oder familiäre Bindung mehr an die Türkei haben. Somit sind
für die Entscheidung zur Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft vor allem rechtliche,
politische und pragmatische Aspekte ausschlaggebend, emotionale Gründe sind untergeordnet. Die Altersgruppen unterscheiden sich hier kaum, lediglich die Einbürgerung der Kinder
spielt bei den jüngeren Befragten naturgemäß keine Rolle.
Nach eigenen Angaben erfüllen drei Viertel der bisher noch nicht eingebürgerten Migranten die Voraussetzungen für die deutsche Staatsangehörigkeit. Die Quote derjenigen, die die
Voraussetzungen nicht erfüllen, liegt bei 15%. 8% von den noch nicht eingebürgerten
Migranten wissen nicht genau, ob sie die Voraussetzungen erfüllen oder nicht. Somit ist ein
Informationsdefizit bezüglich des neuen Gesetzes unter der türkischen Bevölkerung zu konstatieren.184
Abbildung 23: Erfüllung der Voraussetzungen für die Einbürgerung nach dem neuen
Staatsangehörigkeitsrecht (Prozentwerte)
100
90
80
70
60
50
40
30
20
10
0
75,4
15,1
Voraussetzungen Voraussetzungen
erfüllt
nicht erfüllt
184
Ebd., S. 55.
103
8
Weiß nicht
Zentrum für Türkeistudien
Nahezu alle der hier Geborenen erfüllen die Einbürgerungskriterien nach dem neuen Gesetz.
Drei Viertel der nachgezogenen Familienangehörigen erfüllen die Kriterien ebenso. 68% von
denjenigen türkischen Migranten, die aus Bildungszwecken nach Deutschland eingereist sind,
können sich einbürgern lassen. Dagegen liegt der Prozentwert der ehemaligen Gastarbeiter,
die die deutsche Staatsbürgerschaft nach eigenen Angaben erlangen können, nur bei 67%.
Das Fehlen der ausreichenden Sprachkenntnisse ist hier das größte Hindernis. 42% der
Befragten, die die Voraussetzungen für die Einbürgerung nicht erfüllen, stoßen auf die
Sprachbarriere im neuen Gesetz. Auch die Dauer des Aufenthalts, insbesondere bei jungen
Befragten, sowie die Inanspruchnahme von Sozial- bzw. Arbeitslosengeld spielt eine Rolle
bei der Nichterfüllung der Einbürgerungskriterien.185
Tabelle 32: Nicht erfüllte Einbürgerungsvoraussetzungen (Prozentwerte,
Mehrfachnennungen)
Einbürgerungsvoraussetzungen
Prozent
Sprachkenntnisse
Dauer des Aufenthaltes
Bezug von Sozialhilfe oder Arbeitslosenhilfe
Vorstrafenfreiheit
Keine Aufenthaltserlaubnis
42,2
13,8
13,8
1,4
2,0
Die Befragten wurden unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft und den erfüllten Voraussetzungen gebeten, anhand vorgegebener Aussagen die umstrittene Bestimmung ausreichender
Sprachkenntnisse im neuen Einbürgerungsgesetzt, die für die mit Abstand größte Gruppe das
Haupthindernis auf dem Weg zur deutschen Staatsbürgerschaft darstellt, zu bewerten.186
Tabelle 33: Zustimmung der türkischstämmigen Migranten zu Aussagen über die
Sprachkenntnisse als Einbürgerungskriterium (Prozentwerte)
Prozent
Ich finde es richtig, dass jemand, der Bürger eines Landes werden
möchte, auch die Sprache beherrschen sollte
Im Grunde finde ich es richtig, aber es sollte Ausnahmeregelungen
für ehemalige Gastarbeiter geben
Ich finde das nicht richtig, denn Menschen, die lange hier leben,
sollten unabhängig von ihren Deutschkenntnissen das Recht auf
Einbürgerung haben
185
186
Ebd., S. 56.
Ebd., S. 58.
104
28,7
30,1
38,7
Zentrum für Türkeistudien
Nicht überraschend angesichts der Proteste verschiedener Selbstorganisationen lehnen mehr
als ein Drittel der türkischstämmigen Migranten (39%) die Voraussetzung der Sprachkenntnisse als Einbürgerungskriterium im neuen Gesetz ab, nur gut ein Viertel (29%) stimmen der
jetzigen Regelung zu. 30% finden Sprachkenntnisse zwar grundsätzlich als Einbürgerungskriterium legitim, wünschen sich jedoch Sonderregelungen für ehemalige Gastarbeiter, die
häufig von Sprachproblemen betroffen sind, alle anderen Voraussetzungen aber erfüllen. Die
jüngeren Befragten stimmen der derzeitigen Regelung eher zu (31%) als die Älteren (20%),
wobei sie zugleich häufiger als die Älteren für eine Kompromissregelung plädieren. Deutliche
Differenzen zeigen sich, wenn man nach Zuwanderungsgrund unterscheidet. Ehemalige Gastarbeiter lehnen die derzeitige Regelung am häufigsten ab, sie stimmen jedoch auch nur zu
geringen Teilen einer Kompromissregelung zu, von der sie profitieren würden. Flüchtlinge
stimmen am häufigsten der derzeitigen Regelung zu, auch die hier Geborenen sind hier überrepräsentiert, allerdings treten sie auch stark für eine Ausnahmeregelung für ehemalige Gastarbeiter ein.
Trotz der massiven Kritik am neuen Einbürgerungsgesetz haben 21% der bisher noch
nicht eingebürgerten türkischen Migranten die ernsthafte Absicht, sich einbürgern zu lassen.
Weitere 15% überlegen es sich. 6% haben bereits den Antrag auf Einbürgerung gestellt und
warten darauf, deutsche Staatsbürger zu werden. Allerdings lehnt die Mehrheit der türkischen
Staatsbürger in Deutschland (57%) die Einbürgerung definitiv ab.
Abbildung 24: Absicht zur Einbürgerung (Prozentwerte)
60
57,1
50
40
30
20
20,5
10
14,8
6,4
0
Einbürgerung
beabsichtigt
Einbürgerung
überlegt
Antrag bereits
gestellt
Keine
Einbürgerung
Die Gruppe der türkischstämmigen Migranten im Alter von 46 bis 60 Jahren ist einheitlich
abgeneigt: 76% von ihnen haben nicht vor, sich einbürgern zu lassen. Bei den Befragten zwischen 30 und 35 Jahren sind es nur noch gut die Hälfte, die eine Einbürgerung ausschließen.
105
Zentrum für Türkeistudien
Wie erwartet hat die jüngste Migrantengruppe unter den Befragten mit türkischem Pass die
größte Neigung, sich einbürgern zu lassen. Die Migranten im Alter zwischen 18-29 Jahren
wollen sich zu 32% und damit zu überdurchschnittlichen Anteilen einbürgern lassen, 7% von
ihnen haben den Antrag auf Einbürgerung schon gestellt. Die Quote der Nichteinbürgerungswilligen in dieser Gruppe bleibt mit 40% deutlich unter dem Anteil der Befragten insgesamt.187
Tabelle 34: Absicht zu Einbürgerung nach sozidemographischen Merkmalen (Zeilenprozent)
Einbürgerungsabsicht
Vielleicht Antrag bereits
gestellt
Ja
Nein
Alter
18-29 Jahre
30-45 Jahre
46-60 Jahre
älter als 60 Jahre
Mittelwert in Jahren
Aufenthaltsdauer
4-9 Jahre
10-20 Jahre
21-30 Jahre
mehr als 30 Jahre
Mittelwert in Jahren
Zuwanderungsgrund
Gastarbeiter
Flüchtling
Familienzusammenführung
Studium/Ausbildung
hier geboren
Gesamt
32,4
19,5
10,3
12,6
33,48
19,7
16,3
9,3
3,9
34,74
7,3
8,5
3,3
1,9
34,65
39,9
54,5
75,8
77,7
42,04
30,5
22,7
17,8
11,2
18,97
15,2
18,9
14,9
2,0
20,21
4,6
8,0
6,9
3,3
20,80
47,7
48,9
59,5
82,9
23,12
13,7
53,8
19,7
26,1
33,0
20,5
9,3
23,1
16,0
13,0
21,6
14,8
3,0
7,8
9,2
6,4
72,6
15,4
55,3
60,9
36,2
57,1
Wie das Alter hängt auch die Aufenthaltsdauer und der Zuwanderungsgrund mit der Einbürgerungsabsicht zusammen: Je länger die Befragten in Deutschland leben, um so seltener wollen sie sich einbürgern lassen. Insbesondere die Gruppe, die bereits mehr als 30 Jahre in
Deutschland lebt, schließt zu 83% eine Einbürgerung aus. Je kürzer die Befragten hier leben,
um so häufiger wollen sie sich einbürgern lassen. Entsprechend der Altersstruktur und der
Aufenthaltsdauer lehnen vor allem ehemalige Gastarbeiter eine Einbürgerung ab. Auch Befragte, die zur Ausbildung oder zum Studium nach Deutschland kamen, wollen sich eher selten einbürgern lassen. Dagegen ist die Absicht bei den hier Geborenen und bei den Flüchtlin-
187
Ebd., S. 61.
106
Zentrum für Türkeistudien
gen besonders hoch, wie bereits der Alterszusammenhang und der Effekt der Aufenthaltsdauer andeuteten.
Legt man zur Berechnung der potentiellen deutschen Staatsbürger zugrunde, ob die Einbürgerungskriterien nach eigener Einschätzung erfüllt werden und somit eine Einbürgerungsabsicht auch Aussicht auf Erfolg hat, erhält man neben den 25% bereits eingebürgerten 5%
der Migranten, die den Antrag bereits gestellt haben und wegen der Erfüllung der Kriterien
höchstwahrscheinlich in Kürze eingebürgert werden. Somit werden bald 30% der türkischstämmigen Migranten Deutsche sein. Weitere 10% haben die Absicht und könnten sich einbürgern lassen. 9% überlegen sich eine Einbürgerung noch, könnten sich jedoch ebenfalls
einbürgern lassen. Gut die Hälfte der Migranten möchten (35%) oder können (18%) sich nicht
einbürgern lassen.
Nach Angaben des statistischen Bundesamtes leben in Deutschland rund 1.400.000 türkischstämmige Migranten ab 18 Jahre.188 Geht man von 30% in Kürze eingebürgerter
Migranten (bereits eingebürgert und Antrag gestellt) aus, erhält man hochgerechnet auf diese
Gruppe in Deutschland zum Ende des Jahres ca. 420.000 türkischstämmige Deutsche. Addiert
man noch die jährlich rund 50.000 neugeborenen Kinder türkischstämmiger Eltern hinzu, die
seit dem Jahr 2000 automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten, kommt man am
Ende des Jahres auf rund 470.000 Eingebürgerte. Zusätzlich müssen auch noch Migranten in
Betracht gezogen werden, die die Einbürgerungskriterien erfüllen und eine Einbürgerung beabsichtigen und dies größtenteils auch umsetzen. Dies wären rund 140.000 türkischstämmige
Migranten. Somit könnten in naher Zukunft rund 600.000 Deutsche türkischer Herkunft in der
Bundesrepublik leben.189 wenn man davon ausgeht, dass sich auch ein Teil derjenigen, die
sich eine Einbürgerung überlegen (hochgerechnet rund 120.000), diese in die Tat umsetzten
werden.
Die Gründe, sich nicht einbürgern lassen zu wollen, sind vielfältig. Die meisten Nennungen (40%) sind mit der Unsicherheit verbunden, dass einige Rechte in der Türkei nach der
Einbürgerung und der damit einhergehenden Aufgabe der türkischen Staatsbürgerschaft verloren gehen könnten (Erbrechte, Grundstückserwerb, Familienangelegenheiten, etc.). Fast
ebenso viele Befragte möchten darüber hinaus abwarten, wie sich der rechtliche Status der
eingebürgerten Türken in der Türkei entwickelt. Offensichtlich ist das Vertrauen in die Rechte
durch die "Rosa Karte", die der türkische Staat an seine ehemaligen Staatsbürger ausgibt,
nicht besonders groß. Zusätzlich sehen die türkischen Staatsbürger zu 35% keine Vorteile bei
188
189
Stichtag 31.12.1999, Quelle: Statistisches Bundesamt, Fax auf Anfrage.
Zentrum für Türkeistudien: Die Einbürgerung türkischer Migranten in Deutschland. Münster 2001 (im Erscheinen), S. 66.
107
Zentrum für Türkeistudien
der Einbürgerung. Daneben sind 16% der Meinung, dass sie auch dann als Ausländer gesehen
werden, wenn sie die deutsche Staatsbürgerschaft haben und sich somit im Alltag nichts für
sie ändert.
Tabelle 35: Gründe, sich nicht einbürgern zu lassen (Mehrfachantworten, Prozentwerte)
Prozent
40,2
Ich möchte meine türkische Staatsbürgerschaft nicht aufgeben, weil ich dadurch
Rechte in der Türkei verliere - rechtliche Gründe
Ich möchte erst abwarten, wie sich Der rechtliche Status der eingebürgerten
Türken in der Türkei entwickelt.
Ich verspreche mir von der deutschen Staatsbürgerschaft keine Vorteile
Ich werde auch als Ausländer gesehen, wenn ich die deutsche Staatsbürgerschaft
habe
Ich möchte meine türkische Staatsbürgerschaft generell nicht aufgeben emotionale Gründe
Ich möchte meine Zukunft/meinen Lebensabend in der Türkei verbringen
Der bürokratische Aufwand ist mir zu hoch
Zu hohe Kosten
Der Sprachtest schreckt mich ab
39,5
35,3
16,0
13,8
8,9
5,1
4,3
2,1
14% der Befragten gaben an, sich nach wie vor mit der Türkei sehr eng verbunden zu fühlen
und deshalb ihre türkische Staatsbürgerschaft nicht aufgeben zu wollen. Hier unterscheiden
sich die Altersgruppen nicht wesentlich. Unter jungen Migranten spielt lediglich die Aufgabe
der Staatsbürgerschaft aus emotionalen und rechtlichen Gründen eine etwas geringere Rolle,
sie wollen eher abwarten, wie sich die Situation entwickelt. Die Notwendigkeit der Aufgabe
der türkischen Staatsbürgerschaft stellt somit insgesamt das zentrale Hindernis für eine noch
weiter gehende Einbürgerung der türkischen Migranten dar.
Tabelle 36: Gründe für die Einbürgerung (Mehrfachantworten, Prozentwerte)
Prozentwert
Rechtliche Vorteile/Aufenthaltssicherheit
Ich möchte politische Rechte haben (Wahlrecht)
Weil meine Kinder Deutsche geworden sind
Ich werde mein Leben hier verbringen
Ich fühle mich als Deutscher/eng mit Deutschland verbunden
Ich habe keine Bindung mehr an die Türke
79,6
74,9
18,9
17,9
3,1
2,6
Den einbürgerungswilligen Befragten wurde, ebenso wie den bereits eingebürgerten, die
Frage gestellt, aus welchen Gründen sie sich einbürgern lassen wollen. Ausschlaggebend für
die Einbürgerung sind bei denjenigen, die sich einbürgern lassen möchten - ebenso wie bei
108
Zentrum für Türkeistudien
den bereits Eingebürgerten - die Aufenthaltssicherheit sowie rechtliche Vorteile, die von 80%
genannt werden. Drei Viertel der einbürgerungswilligen Befragten geben als Grund darüber
hinaus den Gewinn der politischen Rechte (z.B. Wahlrecht) an. Die rechtliche Vorteile sowie
der Gewinn der politischen Rechte durch die Einbürgerung sind mit großem Abstand die häufigsten Nennungen. Weitere Gründe sind mit jeweils 18% die Einbürgerung der Kinder und
die dauerhafte Verbleibeabsicht in Deutschland. Ganz und gar als Deutsche fühlen sich jedoch
nur 3% der Einbürgerungswilligen, ebenso viele nennen als Einbürgerungsgrund keinerlei
emotionale oder sonstige Bindung an die Türkei. Junge Migranten betonen etwas stärker als
ältere die rechtliche Sicherheit und das Wahlrecht, auch die Absicht auf dauerhaften Verbleib
wird von ihnen häufiger als Einbürgerungsgrund genannt. Auch bei der Überlegung für die
Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft überwiegen somit pragmatische rechtliche Aspekte, emotionale Gründe spielen nur eine untergeordnete Rolle.190
Trotz Kritik am neuen Staatsangehörigengesetz ist aber insgesamt ein zunehmender Trend
nicht nur bei der tatsächlichen, sondern auch bei der beabsichtigten Einbürgerung zu konstatieren, der auf eine hohe Integrationsbereitschaft insbesondere der jüngeren, hier geborenen
oder lange hier lebenden Migranten schließen lässt.
Diese Entwicklung ist ein deutliches Zeichen für dafür, dass ein großer Teil der Migranten
die Einwanderung als Tatsache akzeptiert hat und bemüht ist, sich mit dem Leben in der
neuen Heimat zu arrangieren. Für eine Einbürgerung sprechen nach Meinung der Befragten
vor allem rechtliche Aspekte wie die Aufenthaltssicherheit, aber auch die politischen Beteiligungsrechte. Mit Blick auf die spezifische Situation der Gastarbeiterkinder überrascht dieser
Befund nicht. Dennoch: Die am neuen Gesetz kritisierten Regelungen - der Sprachtest und die
Ablehnung des Doppelpasses - führen dazu, dass sich ein beträchtlicher Teil nicht einbürgern
lassen kann - im Fall des Sprachtests - oder nicht einbürgern lassen möchte - im Fall der doppelten Staatsbürgerschaft. Wo diese Hinderungsgründe nicht bestehen, zeigt sich, dass Teilhabeangebote (neben der Integrationsbereitschaft die zweite wichtige Integrationsdimension),
hier konkret die politische und rechtliche Gleichstellung, von den türkischen Zuwanderern
angenommen werden.
190
Ebd., S. 66-67.
109
Zentrum für Türkeistudien
4 Motive für (Selbst-)Ethnisierung
4.1 Zur Bedeutung eigenethnischer Organisation
Die oben dargelegten Befunde weisen auf die Notwendigkeit einer differenzierten Sicht auf
die Integrationsbereitschaft der Zuwanderer und die Teilhabangebote der Mehrheitsgesellschaft hin. Die spezifische Situation der zweiten und dritten Zuwanderergeneration als teilweise "Fremde im eigenen Land" weist zudem auf die Etablierung einer ganz eigenen Identität hin, deren Realität die simple Alternative des Beharrens auf "traditionellen" Werten und
Einstellungen der Herkunftsgesellschaft oder der Übernahme "moderner", "individualistischer" Denk- und Handlungsmuster der Aufnahmegesellschaft nicht gerecht wird.
So gesehen muss die Frage nach der Bedeutung eigenethnischer Organisation neu gestellt
werden. Eigenethnische Organisationen sind nicht per se Zeichen von Desintegration, so wenig wie jedwede ethnische Selbstorganisation vor der Gefahr, Abschottungstendenzen von der
Gesamtgesellschaft zu unterstützen, gefeit ist.191
Organisationsgrad
Tabelle 37: Mitgliedschaft in Vereinen/Organisationen türkischer Jugendlicher nach
Geschlecht (Mehrfachnennungen, Prozentwerte)
Deutsche Vereine
Heimat-/Bürgerverein
Jugend-/Studentenverbindung
Kirche
Gewerkschaft
Sportvereine
Sonstiges
Türkische Vereine
Jugendverband
Kulturvereine
Sportvereine
Anderes
191
Männer
Frauen
3
6
8
19
30
11
2
2
5
6
10
9
6
17
18
21
2
12
4
15
Zentrum für Türkeistudien: Bestandsaufnahme der Potentiale und Strukturen von Selbstorganisationen von
Migrantinnen und Migranten türkischer, kurdischer, bosnischer und meghrebinischer Herkunft in NordrheinWestfalen. Hrsgg. vom Ministerium für Arbeit, Soziales und Stadtentwicklung, Kultur und Sport des Landes
Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf 1999, S. 7; vgl. auch Diehl, Claudia/Julia, Urban/Hartmut Esser: Die soziale und politische Partizipation von Zuwanderern in der Bundesrepublik. Hrsgg. von der Friedrich-EbertStiftung. Bonn 1998, S. 26.
110
Zentrum für Türkeistudien
Im DJI-Ausländersurvey 2000 wurden die Mitgliedschaften in deutschen und eigenethnischen
Vereinen und Organisationen untersucht.192 Türkischstämmige junge Männer und Frauen unterscheiden sich stark nach der Mitgliedschaft in Organisationen, Frauen sind deutlich seltener
sowohl in deutschen, aber auch in eigenethnischen Verbänden organisiert. Fast jeder fünfte
türkischstämmige männliche Jugendliche ist Mitglied in einer Gewerkschaft, bei Frauen sind
es nur 6%. Dieser hohe Anteil der Männer erklärt sich zum einen durch die relativ hohe Erwerbstätigkeit unter türkischen Jugendlichen, die seltener als beispielsweise deutsche Jugendliche höhere Schulabschlüsse erwerben, zum anderen auch die Berufszweige, in denen
türkische Jugendliche beschäftigt sind. Ein Drittel der jungen Männer sind Mitglieder in deutschen Sportvereinen, jedoch nur 10% der Frauen. Erstaunlicherweise sind auch 8% der jungen
Männer und 5% der jungen Frauen in kirchlichen Organisationen Mitglied, möglicherweise
sind dies, gerade in eher kleinstädtischen oder ländlichen Gegenden, die einzigen Organisationen, die Jugendarbeit anbieten. Im Vergleich zur Verteilung der Vereinsmitgliedschaften
unter deutschen Jugendlichen sind türkische Jugendliche zu etwas geringeren Grad organisiert. Letztere sind aber zusätzlich noch in eigenethnischen Verbänden Mitglieder, 52% der
türkischen Jugendlichen sind sowohl in einem deutschen als auch in einem eigenethnischen
Verein. Vor allem die Kategorie "Anderes" wird von türkischen Männern mit 21% angegeben, vermutlich handelt es hierbei um Moscheevereine. Aber auch in eigenethnischen Sportvereinen (18%) und in Kulturvereinen (17%) sind sie häufig organisiert. In letzteren sind
Frauen zu ähnlichen Anteilen wie Männer.193 Als allgemeine Gelegenheitsstrukturen für die
Mitgliedschaft wirken sich die Erwerbssituation und die Lebensform aus: Arbeitslose und
Verheiratete sind seltener organisiert, jüngere sind eher in Sportvereinen, ältere eher in der
Gewerkschaft. Die Mitgliedschaft in eigenethnischen Organisationen wird vor allem durch ein
dichtes eigenethnisches Beziehungsnetz unterstützt. Deutlicher Zusammenhänge zur Organisation in deutschen oder eigenethnischen Vereinen zeigt die Sprachkompetenz.
Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung ergab, dass 20% der türkischen Migranten Mitglieder in Gewerkschaften oder Berufsverbänden sind. Dabei ist der Organisationsgrad bei
jüngeren Befragten geringer als bei älteren.194
192
193
194
Weidacher, Alois (Hg.): In Deutschland zu Hause. Politische Orientierungen griechischer, italienischer,
türkischer und deutscher junger Erwachsener im Vergleich - DJI-Ausländersurvey. Opladen 2000, S. 102.
Ebd..
Vgl. Diehl, Claudia/Julia Urban/Hartmut Esser: Die soziale und politische Partizipation von Zuwanderern in
der Bundesrepublik. Hrsgg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung. Bonn 1998, S. 41.
111
Zentrum für Türkeistudien
Motive für eigenethnische Organisation
Rein theoretisch können zwei Motive für den Zusammenschluss in ethnischen Gruppen unterschieden werden:
Erstens die Unmöglichkeit der Verfolgung der eigenen Interessen und Bedürfnisse aufgrund mangelnden Zugangs zu von der Mehrheitsgesellschaft verwalteten Ressourcen. Der
wichtigste Hinderungsgrund sind hier mangelnde Sprachkenntnisse. Aber auch offene und
versteckte Diskriminierung, mangelnde Bildungschancen und Aneignung von Kulturtechniken jenseits der Sprache spielen hierbei eine Rolle.
Zweitens sprechen die Befunde aus Kapitel 3 dafür, dass auch im Falle fortschreitender
Chancengleichheit kulturelle Spezifika erhalten bleiben werden. Starke Hinweise darauf sind
insbesondere die Doppelidentifikation der zweiten Migrantengeneration mit Deutschland und
der Türkei, die Bedeutung des Islam als identitätsstiftende Orientierung auch bei den jüngeren
in einer modifizierten, liberalen Form, die Nutzung türkischer Medienangebote bei zugleich
steigender Rezeption auch deutscher Medien sowie die Präferenz für intraethnische Eheschließungen. Alle diese Merkmale sind zwar nicht gänzlich, aber zum Teil von der Teilhabe
an den Ressourcen und Prozessen der Aufnahmegesellschaft unabhängig.
Die Unterscheidung der beiden Motivgruppen zur Etablierung eigenethnischer Organisationen, die sich wie die Integration insgesamt auf die Paradigmen Teilhabechancen und Handlungsorientierungen zuspitzen lassen, hat weit reichende Konsequenzen für die Einschätzung
eigenethnischer Organisationsformen: Besteht die berechtigte Hoffnung, dass diejenigen Organisationen, die sich aus dem ersten Motivkreis heraus etabliert haben, mit fortschreitender
Integration, sprich Assimilation aufgrund der Gewährung besserer Teilhabechancen, obsolet
werden, können sich die dem zweiten Motivkreis entspringenden Organisationen als persistent erweisen, unabhängig davon, wie weit reichend die Teilhabechancen ausgestaltet sind.
Selbstverständlich ist die hier getroffene Unterscheidung eine idealtypische, die meisten eigenethnischen Organisationsformen werden Mitglieder mit beiden Motivkreisen integrieren.
Freilich muss darauf hingewiesen werden, dass ethnische Selbstorganisationen in einem eigendynamischen Prozess ethnozentristische Einstellungen verstärken können. Eine vergleichende Untersuchung des Zentrums für Türkeistudien der Selbstorganisationen von Migranten in Duisburg und Wuppertal ergab, dass diese vor einem grundsätzlichen Dilemma stehen.
Einerseits benötigen sie für den Erhalt und den Ausbau ihres Einflusses das ethnospezifische
kulturelle Kapital der türkischen Minderheit. Solange es sich nicht um problem- und bedarfsorientierte, funktional spezifizierte Interessen- und Fachverbände handelt, kann nur auf der
112
Zentrum für Türkeistudien
Grundlage der ethnokulturellen Identität das Klientel gehalten und mobilisiert werden. Da die
Integration der Migranten auf konservierte ethnokulturelle Identitäten tendenziell eher auflösend wirkt, kollidieren solche Vorstellungen mit den vitalen Eigeninteressen der ethnischer
Eigenorganisationen.195 Nichtsdestotrotz: die Findung eines Mittelwegs zwischen Gemeinsamkeit und Tolerierung eigenethnischer Organisationsformen erscheint unumgänglich und
muss für die unterschiedlichen Lebensbereiche pragmatisch angegangen werden.
Wie differenziert die Motive für ethnische Selbstorganisation sind, zeigt die Arbeitserfahrung des Modellprojekts "Interkulturelles Konfliktmanagement" am ZfT im Bereich Sport.196
Gerade das Beispiel Sport drängt sich auf, da in diesem Bereich, wie in kaum einem anderen,
der Imperativ der Gleichheit und Gemeinsamkeit gilt. Nicht zuletzt deshalb wird dem Sportsystem noch immer ein großes integratives Potential zugeschrieben, obwohl, gerade was die
Kontakte der unterschiedlichen Ethnien und Kulturen anbetrifft, eine Zunahme von Segregation in den letzen Jahren unübersehbar ist. Dies gilt insbesondere für die in Deutschland hinsichtlich der aktiven wie der passiven Beteiligung populärste Sportart Fußball. Hier manifestiert sich der Rückzug in ethnische Nischen in der steigenden Anzahl der in eigenethnischen
Mannschaften Spielenden. Die Entwicklung ist hier eindeutig: Klein/Kothy/Cabadag haben
die zahlenmäßige Entwicklung eigenethnischer Mannschaften in den achtziger und neunziger
Jahren untersucht, und zwar in den Städten Münster, Wuppertal und Duisburg. 197 In Münster
ist die Zahl der eigenethnischen Mannschaften in den Kreisligen zwischen 1985 und 1997 von
5% auf 15% gestiegen, in Wuppertal von 13% auf 36% und in Duisburg von 18% auf 21%.
Auf die Beteiligung dieser Mannschaften an den Verhandlungen des Sportgerichts hat sich die
Zunahme sogar überproportional ausgewirkt: In Münster stieg der Anteil im selben Zeitraum
von 11% auf 43%, in Wuppertal von 41% auf 71% und in Duisburg von 26 auf 55%. In allen
drei Fußballkreisen ist zudem der Anteil der Spielkonflikte, d.h. an Konflikten zwischen
Spielern oder zwischen Spielern und Schiedsrichter, an den Verhandlungsursachen gestiegen.
Bemerkenswert an der Untersuchung von Klein/Kothy/Cabadag ist übrigens, dass, trotz der
unterschiedlichen Sozialstruktur der untersuchten Städte, die Konfliktlagen kaum variieren.
Auch wenn diese statistische Korrelation nicht automatisch auf einen Kausalzusammenhang zwischen dem Anwachsen der Spielerzahl eigenethnischer Vereine und Mannschaften
und der Häufung von Konflikten schließen lässt, legt er doch die These nahe, dass die Etablie195
196
197
Vgl. Zentrum für Türkeistudien: Die Ablehnung und Akzeptanz infrastruktureller Einrichtungen der türkischen Minderheit durch die aufnehmende Gesellschaft und Konfliktkonstellationen individueller, infrastruktureller und regionaler Desintegrationspotentiale. ZfT-aktuell Nr. 83. Essen 2000, S. 17.
Vgl. Zentrum für Türkeistudien: Interkulturelles Konfliktmanagement. Projektendbericht. Unveröffentlichtes
Manuskript. Essen 2001, S. 37- 44.
Vgl. Klein, Marie-Luise/Jürgen Kothy/Güsen Cabadag: Interethnische Kontakte und Konflikte im Sport. In:
Reimund Anhut/Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Bedrohte Stadtgesellschaft. Frankfurt/Main 2000, S. 285-324.
113
Zentrum für Türkeistudien
rung eigenethnischer Teams dem friedlichen Miteinander im Sport letztlich entgegensteht. Als
sicher kann jedenfalls gelten, dass die in den Medien vielbeachteten gewalttätigen Übergriffe,
insbesondere bei Fußballspielen mit türkischer Beteiligung, die Verständigung zwischen
Deutschen und Nicht-Deutschen im Sport und darüber hinaus merklich erschweren. Gelten
die (vermeintlich von allen akzeptierten) sportlichen Spiel- und Verhaltensregeln normalerweise als idealer Integrationsfaktor, so lasen diese Befunde eher auf Desintegration schließen.
Ethnische Identität wird dabei sowohl durch das von den Akteuren zum Ausdruck gebrachte
Verhalten als auch durch deren eigene Wahrnehmung und Selektionen definiert. Diese stützen
die kulturellen Wertmuster der eigenen Gruppe und können der Bewahrung ethnischer Grenzen förderlich sein. Interessanterweise wird diese Sicht sowohl von den Deutschen als auch
von den Zuwanderern selbst formuliert. Die Erfahrungen des Projekts indessen lassen darauf
schließen, dass es sich dabei um unbegründete ethnische Zuschreibungen bzw. Selbstethnisierung handelt. Die kulturelle Substanz der Konflikte im Fußball ist bei genauerem Hinsehen
eher eine vernachlässigbare Größe. Viel mehr greifen bei "interkulturellen" Konflikten im
Fußball komplexe Mechanismen im Kampf um soziale Anerkennung in einander. Die wichtigsten Aspekte dieses Kampfes seien hier kurz skizziert: Die Gründe für die Formierung eigenethnischer Mannschaften liegen noch in einem Gemisch sozialer und kultureller Ursachen:
Das Motto "Gleich und Gleich gesellt sich gern" trifft hier insofern zu, als etwa muslimische
Spieler in der Regel keinen besonderen Wert auf die Teilhabe an aufnahmegesellschaftlichen
Formen der Geselligkeit legen, die sich in den unteren Spielklassen in der Regel auf den gemeinschaftlichen Alkoholkonsum nach dem Spiel oder Training beschränkt. Der Rückzug der
Muslime aus deutschen Mannschaften ist damit auch die Entscheidung für sie adäquate Formen der Freizeitgestaltung. Schon im Jugendbereich deutscher Vereine geben Ausländer aber
zudem an, bei der Mannschaftsaufstellung von den deutschen Trainern benachteiligt zu werden, was die Suche nach einem Stammplatz in einem eigenethnischen Team befördert.198 Die198
Exemplarisch hier der Auszug aus dem Protokoll eines im Rahmen des Projekts geführten Interviews mit
einem türkischen Spieler (20 Jahre, Geschichtsstudent, Oberliga, sechs Geschwister, Eltern aus der Türkei
zugewandert). Das Gespräch wurde am 23.12.1999 im ZfT in Essen geführt: "Ich studiere gerade, Geschichte und Sowi, will aber noch Jura oder BWL dazunehmen, weil ich ins Management will. [..] Mein
Vater hat sehr unterstützt, dass ich mit dem Fußballspielen beginne, da hier Disziplin gelehrt wird und man
erkennt, dass Leistung in der deutschen Gesellschaft zu Anerkennung führt. [..] Ich halte mich für ehrgeizig
und spiele deshalb nicht in einer eigenethnischen Mannschaft. Bei denen herrscht eine Art negativer Ehrgeiz,
da man es den Deutschen oftmals einfach zeigen will. Sicher gibt es Benachteiligungen von Türken im Fußball und besonders von türkischen Mannschaften, auch durch Schiedsrichter mit Vorurteilen. Ich will aber
durch Leistung Anerkennung bekommen und gegen diese Vorurteile arbeiten, und das gelingt auch sehr gut,
sonst würde ich auch nicht so gut durch den Fußball verdienen. [..] Das war nicht immer so. Ich bin seit
sechs Jahren bei RWE, also auch schon in der Jugend, und da waren wir einmal sechs türkische Spieler, das
war in der B-Jugend, die allesamt nie eine Minute gespielt haben. Ich habe erst später verstanden, dass das
daran lag, dass man in der Zeit als es das Bosman-Urteil noch nicht gab, von Vereinsseite den deutschen
Nachwuchs auf Biegen und Brechen fördern wollte. Keiner von den deutschen Spielern, die damals vorgezogen wurden, hat den Sprung in die erste Mannschaft von RWE geschafft, aber ich. Die anderen fünf Tür114
Zentrum für Türkeistudien
ser subjektive Eindruck der Migranten könnte übrigens tatsächlich auch empirischen Gehalt
haben, da die deutsche Nachwuchsförderung seitens der Fußballverbände durchaus ein erklärtes Ziel ist. Die Wahrnehmung der Benachteiligung der Zuwanderer wird zudem dadurch
verstärkt, dass die Suche nach sozialer Anerkennung durch den Sport bei diesen weitaus ausgeprägter ist als bei Deutschen, schlichtweg, da aufgrund mannigfaltiger Benachteiligungen in
anderen Lebensbereichen Anerkennung für junge Migranten vergleichsweise schwer zu erzielen ist. Zugleich besteht die Gefahr einer Negativauslese durch die Bildung türkischer
Mannschaften, da sie, oft in Ermangelung eigener Jugendabteilungen, zum Sammelbecken der
in gemischtethnischem Mannschaften frustrierten Hobbykicker werden. Bereits hierin liegt
beträchtliches Konfliktpotential, das sich beim Aufeinadertreffen zweier verschiedenethnischer Mannschaften potenzieren kann - und die Zahl derartiger Kontakte nimmt in NRW,
wie von Klein/Kothy/Cabadag gezeigt - zu.
Die Hauptkonfliktlinie verläuft dabei zwischen Spielern und Schiedsrichtern bzw. Zuschauern und Schiedsrichtern. Auch hier gibt es starke Hinweise darauf, dass die von Zuwanderern formulierte Benachteiligung durch Schiedsrichter und Schiedsgerichte, die den Unmut
wiederum fördert, nicht ganz der empirischen Evidenz entbehrt. Eine Analyse der Spruchkammerurteile der Kreisligen im Fußballverband Niedersachsen belegt, dass dort Ausländer
für das gleiche Vergehen mit längeren Sperren zu rechnen haben als Deutsche.199 Die Erklärung hierfür liegt einerseits in der von den Spruchkammern behaupteten mangelhafteren
Einsicht von Ausländern in ihr Fehlverhalten vor den Spruchkammern, andererseits im
Versuch erzieherischer Betätigung der Spruchkammern aufgrund der überproportionalen
Beteiligung von Ausländern an Spielkonflikten. Das gesamte Konfliktpotential diese
Befundes erschließt sich erst, wenn man in Betracht zieht, das Verhandlungsgrundlage vor
den Spruchkammern der Spielbericht des Schiedsrichters ist. Mithin gibt es eine Reihe von
Hinweisen darauf, dass kulturelle Faktoren bei interethnischen Konflikten im Fußball eine
untergeordnete Bedeutung haben. Verschärft wird die Situation im Übrigen durch sich ver-
199
ken haben zu spielen aufgehört oder kicken in gemischtethnischen Mannschaften der unteren Spielklassen.
[..] Ich habe das Gefühl, nur aufgrund meiner guten Leistungen im Fußball nicht diskriminiert zu werden. [..]
Man braucht eine professionelle Einstellung. Die Spieler in den türkischen Mannschaften haben die oft
nicht. Vielleicht sind einige von ihnen im Fußball auch falsch, aber Fußballspielen ist unter türkischen Kindern ein Muss. Hätte ich nicht mit dem Fußball begonnen, wäre ich in meinem Freundskreis nicht anerkannt
worden. [..] Fußballvereinsmitgliedschaften sind auch billiger als z.B. Tennis, Schwimmen oder Basketball,
und da viele ausländische Familien nur wenig Geld haben, spielen die Kinder halt Fußball. [..] In eigenethnischen Vereinen tragen die Spieler oft ihren Frust und ihre Konflikte aus anderen Lebensbereichen aus.
Vgl. Pilz, Gunter: Fußball und Gewalt - Auswertung der Verwaltungsentscheide und Sportgerichtsurteile im
Bereich des Niedersächsischen Fußballverbandes Saison 1998-1999. Unveröffentlichtes Manuskript 2000.
Für das vergehen "Tätlichkeit mit Verletzung erhielten 54% der deutschen eine Spielsperre von unter 4 Wochen, 25% zwischen 4 und 6 Wochen und 20% über sechs Wochen. Bei den Ausländern ist das Verhältnis
genau umgekehrt: 25% unter 4 Wochen, 25% zwischen 4 und 6 Wochen, 50% über 6 Wochen.
115
Zentrum für Türkeistudien
schärfende Ressourcenkonkurrenz um die sehr knappen Spiel- und Trainingsplätze - die politische Dimension von Sportkonflikten wäre hiermit angesprochen.
Die somit aufgebauten Aggressionen verschärfen kulturelle Unterschiede, die trotz allem
auch noch per se zum Tragen kommen. Dies gilt insbesondere für die unterschiedlichen Ehrbegriffe von Deutschen und Muslimen, die in der Praxis insbesondere divergierende Gewichtungen verbaler Attacken und Beleidigungen einerseits und physischer Angriffe andererseits bedeuten. In höheren Ehrenämter, wie in Spruchkammern und Verbänden, sind Zuwanderer indessen so gut wie nicht vertreten, auch gemessen an ihrem eigenen Anteil am Spielbetrieb, so dass insgesamt eine Anpassung des Fußballsystems an die neuen interkulturellen
Bedürfnisse noch weitestgehend aussteht.
Das Beispiel Fußball illustriert, das die Unterstützung, Gleichbehandlung und insbesondere Qualifizierung ethnischer Eigenorganisationen durchaus integrative, genauer: inklusive
Effekte haben kann: Die Qualifizierung eigenethnischer Vereine bei der Verbandsarbeit, die
Ermunterung zur Wahrnehmung der sozialen Verantwortung durch die Gründung von Jugendabteilungen etc. wird letztlich zu einem friedlichen und konstruktiven Miteinander und
zu weiterer Integration führen. Erste Hinweise hierauf finden sich im Ruhrgebiet, wo deutsche
Spieler und Vereinsfunktionäre langsam beginnen, sich in türkischen Mannschaften zu engagieren.200
Deutlich wird darüber hinaus an dem Beispiel Fußball, aber auch an der Tatsache, dass
türkische Jugendlich häufig Mitglieder sowohl in eigenethnischen als auch in deutschen Vereinen sind, dass sich bei der Entscheidung zu eigenethnischen Organisationen Motivbündel
mischen und nicht diese nur als Zeichen einer gewollten Abschottung zu verstehen sind.
4.2 Theoretische Folgen der Befunde
Die Formulierung von Integrationsbilanzen und -zielen, sowie von Axiomen und daraus abgeleiteten Maßnahmen zur Erreichung der Ziele steht in engem Zusammenhang mit den theoretischen Modellen, die der Diskussion zugrunde gelegt werden.
Welche Implikationen ergeben sich aus den vorgelegten Befunden für die theoretische
Diskussion und die damit hinterlegte politische Debatte? Inwieweit existieren Tendenzen eines "Ethnic Revival" und der Abschottung? Inwieweit stellen diese eine Gefahr für das
Zusammenleben dar?
200
Von den sechs türkischen Fußballvereinen in der Stadt Essen beispielsweise haben inzwischen zwei deutsche Vorstandsmitglieder.
116
Zentrum für Türkeistudien
Die hier dargelegten Befunde unterstützen nachdrücklich die zunehmende Abkehr der
neueren europäischen Migrationsforschung von der Theorie der (amerikanischen) Klassiker
der Migrationsforschung. Bei Robert E. Park oder Emory S. Bogardus besteht Integration in
erster Linie in der Schrittweisen Assimilation an die Werte und Einstellungen der Aufnahmegesellschaft, die linear mit der Aufgabe hergebrachter Werte und Einstellungen einher geht,
und sich - solang erstens ein Mindestmaß an Kontakt zwischen Autochthonen und Allochthonen und zweitens hinreichend Zugang zu ideellen und materiellen Ressourcen der Aufnahmegesellschaft besteht - nach einigen Generationen vollzieht.201
Das wichtigste Argumente gegen diese klassische Sichtweise ist, dass sich die Identität der
zweiten Migrantengeneration nicht aus der Summe der beibehaltenen traditionellen und der
übernommenen aufnahmegesellschaftlichen Werte ergibt, sondern sich eine spezifische eigene Kultur mit Elementen beider Gesellschaften konstituiert und somit der lineare und wechselseitige Prozess von Aufgabe und Aneignung authentischer Werte nicht der Realität entspricht. Inzwischen wurden in der Migrationsforschung zur Möglichkeit der Assimilation
alternative Integrations- und Desintegrationsformen entwickelt, die auch tatsächlich empirische Relevanz besitzen - Inklusion, Exklusion, Segregation. Wenn man darüber hinaus in
Betracht zieht, dass die in der klassischen Theorie als Voraussetzung formulierte Bereitstellung hinreichender materieller und ideeller Teilhabe eine hypothetische bzw. visionäre Bedingung ist, erhält man ein weiteres gewichtiges Argument gegen die Anlehnung an das klassische Integrationsmodell. Ethnisch motivierte oder ethnisch ummäntelte Diskriminierung ist
auch für die jungen Migranten keine Seltenheit, trifft dabei jedoch auf ein von der Elterngeneration vollkommen unterschiedliches Selbstverständnis. Nur die zweite Voraussetzung der
klassischen Theorie - der hinreichenden Kontakt - scheint insbesondere für die zweite Generation in zunehmendem Maße gegeben.
Das heißt aber nicht, dass grundsätzlich eine größere Skepsis gegenüber möglichen Integrationserfolgen automatisch angebracht ist - solange man als vielversprechende Integrationsformen nicht nur Assimilation, sondern auch Inklusion als Integrationserfolg ins Kalkül zieht
und damit abweichende kulturelle Orientierungen nicht als Gefährdung einer imaginären einheitlichen Kulturgemeinschaft sieht, sondern als nicht nivilierbaren Bestandteil einer modernen pluralistischen Gesellschaft akzeptiert. Die konstruktive eigenethnische Interessenorganisation sollte nicht per se als integrationsfeindlich betrachtet werden, weil Deutsche und Zuwanderer der zweiten Generation nicht gleich behandelt werden und - nicht nur, aber auch 201
Vgl. Park, Robert E.: Human Migration and the Marginal Man. In: American Journal of Sociology 1928, S.
881-893; Bogardus, Emory S.: A Race-Relations-Cycle. In: American Journal of Sociology 1930, S. 612617.
117
Zentrum für Türkeistudien
deshalb eigene, spezifische Identitäten entwickeln. Vielmehr kann man die alternative These
aufstellen, dass die eigenethnische Organisation eventuell auch ein Zwischenschritt in einem
Prozess der beiderseitigen Assimilierung von Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft an neue
soziale Realitäten sind. Ein Grundproblem eigenethnischer Organisation bleibt jedoch: Nimmt
man eine hohe Kontaktintensität zwischen deutschen und Zuwanderern als konstitutiv für
Integration an, so widerspricht ethnische Selbstorganisation dem tendenziell:202 Rein quantitativ wird mit ethnischer Selbstorganisation der Kontakt zu anderen ethnischen Gruppen in eben
diesen Bereichen nachlassen. Zudem bleibt das Problem, dass ethnische Selbstorganisationen
zwecks Selbstlegitimierung tendenziell das Empfinden der ethnisch-kulturellen Andersartigkeit ihrer Mitglieder stützen als zu dessen Relativierung beitragen werden.
Die hier dargelegten Befunde zur Lebenswirklichkeit der türkischen Zuwanderer und ihrer
intergenerativen Veränderung sprechen aber ebenso wenig wie für eine vollzogene Assimilation für die Hypothese des "Third Generation Return" oder "Ethnic Revival" im Sinne einer
bewussten und weit verbreiteten Segregation, wie etwa von Nauck oder Heckmann in den
frühen neunziger Jahren formuliert.203 Dies schließt schon die belegte starke Heterogenisierung der Gruppe der jungen Zuwanderer aus. Allerdings kann diese Annahme für diejenigen
Jugendlichen nicht ganz von der Hand gewiesen werden, die von besonderer Benachteiligung
betroffen sind und bei denen die unter 4.1 geschilderten Motive der (Selbst-) Ethnisierung
zum Tragen kommen.
Als gesellschaftliches Minimalziel des Zusammenlebens kann man unter diesen Voraussetzungen sicherlich das möglichst konfliktfreie, gleichberechtigte Miteinanderleben der unterschiedlichen Ethnien in Deutschland definieren. Allerdings ist mit dem Postulat des gleichberechtigten Miteinander - das sich auch in intensivem und häufigen Kontakten der Ethnien
ausdrückt - bei Akzeptanz unterschiedlicher kultureller Orientierungen zugleich die Gefahr
einer Erhöhung des interethnischen Konfliktpotentials gegeben - wer keinen Kontakt pflegt
und keine gleichberechtigte Teilhabe einfordert, wird auch kaum in Konflikte geraten, zumindest nicht auf der Mikroebene alttäglichen sozialen Kontakts.
202
203
Auch Kecskes kommt bei seiner Durchsicht integrationstheoretischer Ansätze zu dem Schluss, dass soziale
Beziehungen der Minorität mit Angehörigen der Majorität als zentral für die gesellschaftliche Integration
angesehen werden; vgl. Kecskes, Robert: Die starken Gründe unter sich zu bleiben. Zur Begründung der
Entstehung ethnisch homogener sozialer Netzwerke unter türkischen Jugendlichen. Unveröffentlichtes Manuskript. 2001, S. 1.
Vgl. Heckmann, Friedrich: Ethnische Minderheiten, Volk und Nation: Soziologie interethnischer Beziehungen. Stuttgart 1992, S.172; Nauck, Bernhard/Annette Kohlmann/Heike Diefenbach: Familiäre Netzwerke,
intergenerative Transmission und Assimilationsprozesse bei türkischen Migrantenfamilien. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1997, S. 477; siehe hierzu auch die Kritik von Nieke, Wolfgang: Situation ausländischer Kinder und Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland: Vorschule,
Schule, Berufsausbildung, Freizeit, Kriminalität. In: Lajios, Konstantin (Hg.): Die zweite und dritte Ausländergeneration. Ihre Situation und Zukunft in der Bundesrepublik Deutschland. Opladen, 1991; S. 16.
118
Zentrum für Türkeistudien
Magisches Dreieck der Integrationspolitik
Man kann damit von einem "Magischen Dreieck" der Integrationspolitik ausgehen: hohe
Kontakthäufigkeit und -intensität, Verzicht auf ein rein assimilatives Verständnis von Integration und Konfliktfreiheit sind Ziele, die nicht zur gleichen Zeit in vollem Umfang verwirklicht werden können. Integrationspolitik hat also eine sehr genaue Abwägung zwischen diesen
Zielen zu treffen. Entscheidet man sich für ein weiter gefasstes Verständnis von Integration
und fördert die gleichberechtigte Teilhabe und das Miteinander, muss man zumindest zunächst mit einer Erhöhung des Konfliktpotentials zwischen Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft rechnen.
Bedingungen zur Reduzierung interethnischen Konfliktpotentials
Eine Orientierungshilfe dahin gehend, unter welchen Bedingungen bei hoher Kontaktfrequenz
Konflikte zwischen Deutschen und Zuwanderern vermieden oder zumindest reduziert werden
können und somit eine Analyse von Faktoren, die Konfliktvermeidend wirken, bietet die
Überprüfung der Kontakthypothese204 durch Yehuda Amir205. Er extrahierte bestimmte Voraussetzungen, unter denen Kontakte eine verständigungsfördernde Wirkung entfalten - denn
solche Voraussetzungen, so die Schlussfolgerung Amirs, sind nicht per se gegeben.206
204
205
206
Die Kontakthypothese geht davon aus, dass sich interkulturelle Konflikte mit der Zunahme des interkulturellen Kontakts und damit der zwangsläufigen Zunahme des Wissens um einander praktisch von selbst erledigen. In Deutschland scheinen prominente aktuelle Studien auf eine Bestätigung der Kontakthypothese hinzudeuten. Die Shell-Jugendstudie des Jahres 2000 weist eine negative Korrelation zwischen Kontakthäufigkeit mit Ausländern und dem Grad der Fremdenfeindlichkeit bei Jugendlichen nach (vgl. Arthur Fischer/Yvonne Fritzsche/Werner Fuchs-Heinritz/Richard Münchmeyer: Jugend 2000. Die 13. Shell-Jugendstudie, Bd.1. Opladen 2000). Rainer Dollase belegt in seiner Untersuchung fremdenfeindlicher Einstellungen
in Schulklassen in NRW ein ebenfalls negative Korrelation zwischen der Zahl ausländischer Kinder pro
Schulklasse und dem Grad fremdenfeindlicher Einstellungen bei deutschen Schülern (vgl. Rainer Dollase:
Sind hohe Anteile ausländischer SchülerInnen in Schulklassen problematisch? In: Journal für Konflikt- und
Gewaltforschung, No. 1/1999, S. 56-83).
Vgl. Amir, Yehuda: Contact Hypothesis in Ethnic Relations. In: Psychological Bulletin, No. 5/1969, S. 319342.
Ebd., S. 337.
119
Zentrum für Türkeistudien
Die qualitative und quantitative Verbesserung der interethnischen Beziehungen knüpft
Amir an die Voraussetzungen
•
Gleichwertiger sozialer Status und damit eine Erhöhung des sozialen Status der ethnischen
Minderheiten,
•
Förderung des Sozialklimas,
•
Regelmäßigkeit von Kontakten,
•
hohe Intensität von Kontakten,
•
beiderseitige Vorteile des Kontakts,
•
Realisierung eines gemeinsamen Ziels207.
Aus der Analyse Amirs208 ergeben sich eine Reihe politischer Handlungsfelder, die sich weitgehend mit den Ergebnissen der in diesem Gutachten vorgestellten empirischen Analysen
decken: An erster Stelle steht die Verbesserung des sozialen Status der ethnischen Minderheiten, die die Förderung der Schul- und Berufsausbildung und des Arbeitsmarktzuganges
einschließt, aber auch den Abbau von Diskriminierung und ethnisch ummäntelten sozialen
Konkurrenzkampf um knappe Ressourcen sowie die Unterstützung der Einbindung der
Migranten in das gesellschaftliche und politische Leben der Bundesrepublik. Die Statusaufwertung, der Abbau von Diskriminierung und die Einbindung der Migranten in das politische Alltagsleben würde auch auf die Handlungsorientierungen der Migranten rückwirken
207
208
Jürgen Kothy spezifiziert mit Blick auf interkulturelle Sportkontakte den bei Amir als "Arbeit für ein gemeinsames Ziel" angegebenen Punkt. Er gibt jedoch zu bedenken, dass eine gescheiterte Arbeit für gemeinsame Ziele zur Ethnisierung von Schuldzuweisungen führt. Aufgrund der Plausibilität von Kothys Argumentation, auch mit Blick auf die nicht sportbezogenen Arbeitsfelder des Konfliktmanagement-Projekts,
wird dieser Punkt hier entsprechend modifiziert; vgl. Jürgen Kothy: Konfliktdimensionen interethnischer
Kontakte im Fußball-Sport. In: ders./Marie-Luise Klein (Hg.): Ethnisch-kulturelle Konflikte im Sport. Tagung der dvs-Sektion Sportsoziologie vom 19.-21.3.1997 in Willebadsee. Hamburg 1997, S. 71.
Auf den ersten Blick scheint diese Theorie im Widerspruch zu den hier insbesondere unter 3.2 dargelegten
Befunden zur weitgehenden Irrelevanz von Merkmalen der sozialen Lage für den Wunsch nach mehr interkulturellen Kontakten seitens der Migranten zu stehen, würde man doch annehmen, dass negative Erfahrungen mit Deutschen den Wunsch nach mehr Kontakten dämpfen und geht man davon aus, dass Migranten mit
niedrigem sozialen Status häufiger negative Erfahrungen machen. Beide Annahmen treffen jedoch nicht zu,
wie die Befragung des ZfT von 1999 in NRW zeigt (vgl. Zentrum für Türkeistudien: Standardisierte Mehrthemenbefragung der türkischen Wohnbevölkerung in Nordrhein-Westfalen. Unveröffentlichtes Manuskript.
Essen 1999.). Weder wirken sich Diskriminierungserfahrungen negativ auf den Wunsch nach Kontakten aus,
noch ist eine verstärkte Diskriminierungserfahrung bei Migranten mit niedrigem Sozialstatus zu erkennen.
Die Motive für den Wunsch nach intensiveren und häufigeren Kontakten können unterschiedlich sein:
Migranten mit hohem sozialen Status, die über häufige Kontakte verfügen, möchten diese erweitern,
Migranten mit niedrigem sozialen Staus, die nachweislich weniger Kontakte haben, hoffen möglicherweise,
gerade im privaten Bereich über neue Kontakte soziale Anerkennung durch die Mehrheitsgesellschaft zu erfahren. Makrosoziologisch im Sinne Amirs kann man argumentieren, dass bei Kontakte von sozial
benachteiligter ethnisch-kultureller Minderheiten zu Vertretern der Mehrheitsgesellschaft mit
vergleichbarem sozialen Status die Verständigungs- und Kontaktvoraussetzungen eher günstig bleiben. Die
unter 2.2 nachgewiesene hohe Relevanz der Ressourcenknappheit auf Kontaktfeldern für die
Diskriminierung bestätigt darüber hinaus die Gültigkeit von Amirs System.
120
Zentrum für Türkeistudien
und die Notwendigkeit, über eigenethnische Strukturen soziale und gesellschaftliche Anerkennung zu erreichen, verringern.
4.3 Identität der zweiten und dritten Generation – eine Integrations-"Bilanz"
Wie Robert Kecskes209 zutreffend bemerkt, schließt bei türkischen Jugendlichen die von Şen
1996210 belegte Heterogenisierung der Verhaltensweisen in der zweiten und dritten Zuwanderergeneration auch radikale Einstellungen nicht aus - was jedoch nicht erstaunlich ist. Im Gegenteil müsste man sich wundern, wenn die Jugendlichen aus Zuwandererfamilien sich in
dieser Hinsicht von den Deutschen unterscheiden würden - die Neigung zu Extrempositionen
in der Jugend ist ein unumstrittener Befund der Jugendsoziologie211.
Wie ist die Identität der zweiten und dritten Zuwanderergeneration zu beschreiben, und
welchen Einflussfaktoren unterliegt sie? Worin manifestiert sich (Selbst-)Ethnisierung und
Integration, wie wird sie befördert und wie unterbunden?
Wie in der Einleitung bereits ausgeführt und durch die Befunde des Gutachtens bestätigt,
kennzeichnet die Kinder der "Gastarbeiter" eine Bikulturalität, verortet zwischen dem neuen
Heimatland Deutschland und der eigenen Herkunft, die sich in der Familie, den sozialen
Netzwerken und nicht zuletzt der Sprache als mehr oder weniger persistent erweist. "Bikulturalität" versteht sich dabei nicht als Summe der Bestandteile von Aufnahme- und Herkunftskultur, sondern als eine Menge von Bedeutungsangeboten, aus der die zweite und dritte Generation authentische, aber vor allem auch spezifische Einstellungsmuster konstruiert.212 Einige
der oben dargelegten Befunde - die Präferenz für intraethnische Eheschließungen, die komplementäre Nutzung deutscher und türkischer Medien, die Entwicklung einer liberal geprägten Identität als Muslime, die Verbundenheit mit Deutschland und dem Herkunftsland der
Familie - sprechen dafür, dass sich auch in Zukunft nicht alle kulturellen Unterschiede nivellieren lassen werden. Zwar zeigen die Entwicklungen der Einstellungen auf diesen Feldern
209
210
211
212
Kecskes, Robert: Soziale und identifikative Assimilation türkischer Jugendlicher. In: Berliner Journal für
Soziologie, No. 1/2000, S. 62.
Şen, Faruk: Die Folgen zunehmender Heterogenität der Minderheiten und der Generationsaufspaltung. Am
Beispiel der türkischen Minderheiten in Deutschland. In: Heitmeyer, Wilhelm/Rainer Dollase (Hg.): Die bedrängte Toleranz. Ethnisch-kulturelle Konflikte, religiöse Differenzen und die Gefahren politisierter Gewalt.
Frankfurt/Main 1996, S. 261-270;
Kecskes, Robert: Soziale und identifikative Assimilation türkischer Jugendlicher. In: Berliner Journal für
Soziologie, No. 1/2000, S. 62.
Ansätze zur Erklärung der Identität von zweiter und dritter Generation, die Handlungen und Einstellungen
junger Migranten vor der Folie eines Kulturkonflikts als Folge kultureller Dualität interpretieren, sind daher
kritisch zu hinterfragen; siehe beispielhaft zur Debatte um Devianz und Gewaltbelastung türkischer Jugendlicher: Apitzsch, Ursula/Dirk Halm/Christian Pfeiffer u.a.: Junge Türken als Täter und Opfer von Gewalt Tagungsdokumentation. WissenschaftlerInnen und ExpertInnen aus Verwaltung und Praxis im Gespräch
über die Gewaltbelastung junger Migranten türkischer Herkunft. Weinheim 2000.
121
Zentrum für Türkeistudien
zum Teil Korrelationen insbesondere mit dem Bildungsstand und den Sprachkenntnissen diese sind aber nicht so eindeutig, als dass man davon ausgehen könnte, dass bessere Gelegenheitsstrukturen und Chancengleichheit automatisch die Irrelevanz kultureller Faktoren
bewirken werden. Die Kontakte zur Aufnahmegesellschaft sind zudem bereits stark ausgeprägt. Das Integrationsmodell, das diese Befunde impliziert, ist das der Inklusion: gleiche
gesellschaftliche Teilhabechancen junger Menschen aus Zuwandererfamilien bei Hinnahme
und Akzeptanz eventuell abweichender kultureller Identität(en). Auch einem langfristigen
Ziel der Assimilation steht das nicht entgegen: Die Akzeptanz der Identität(en) von Zuwanderern ist Voraussetzung für Inklusion wie Assimilation gleichermaßen. Akzeptanz durch das
und Identifikation mit dem Aufnahmeland sind zwei Seiten einer Medaille. Oliver Hämmig
weist darauf hin, dass Bikulturalität und die Entwicklung eines stabilen Selbstkonzeptes nicht
per se zueinander im Widerspruch stehen und verweist hier auf Meads symbolischen Interaktionismus, der einen Fülle von möglichen Selbstkonzepten, je nach den unterschiedlichen
Zugehörigkeiten zu sozialen Gruppen, vorsieht.213 Ein besserer Zugang zu Bildung und insbesondere der Sprachkenntnisse sowie die Sicherstellung häufigen und intensiven Kontakts sind
Voraussetzungen dafür das Zuwanderer sich mit ihrer Identität zwischen Inklusion und Assimilation positionieren können. Wie weit die Vermischung der unterschiedlichen Kulturen
letztlich gehen wird, hängt schließlich auch von der Integrationsbereitschaft der Aufnahmegesellschaft ab. Das eigentlich drängende Handlungsfeld ist indessen die Entscheidung zwischen Segregation und Inklusion. Die Befunde des ZfT legen drei Faktorenkomplexe nahe,
die hierfür von großer Bedeutung sind:
Erstens mangelnde Gelegenheitsstrukturen: Hier zeigt sich, dass die ausgeprägten Kontaktstrukturen eigentlich keine schlechten Integrationsvoraussetzungen darstellen. Auch kann
hinsichtlich der Entwicklung des Kontakts sowie der wohnräumlichen Segregation rein quantitativ nicht von einer sich verstärkenden Bildung von Parallelgesellschaften ausgegangen
werden - vielmehr hat sich die Situation in den letzten Jahren eher verbessert, und das insbesondere bei den jungen Zuwanderern. Problematisch bleiben die noch immer nicht ausreichenden Sprachkenntnisse, die die Qualität und Intensität der Kontakte beeinflussen dürften.
Die Situation ist in der zweiten Generation zwar deutlich besser als in der ersten, die momentan zu konstatierende Stagnation bei der Schulbildungsbeteiligung junger Zuwanderer ist aber
ein Alarmzeichen dafür, dass sich die Sprachkenntnisse bei der dritten Generation wieder
verschlechtern könnten.
213
Hämmig, Oliver: Zwischen zwei Kulturen. Spannungen, Konflikte und ihre Bewältigung bei der zweiten
Ausländergeneration. Opladen 2000, S. 51.
122
Zentrum für Türkeistudien
Zweitens ist die Suche nach sozialer Anerkennung als bedeutende Segregationsursache zu
nennen: Die noch immer nachweisbare Diskriminierung von Migranten insbesondere in gesellschaftlichen Bereichen, in denen knappe Ressourcen verteilt werden (so insbesondere auf
dem Arbeitsmarkt), Erfahrungen von Rassismus sowie allgemein schlechte soziale und gesellschaftliche Teilhabechancen aufgrund mangelnder Voraussetzungen resultieren gerade bei
jungen Zuwanderern in einem Defizit sozialer Anerkennung, die jedoch gerade für Heranwachsende unerlässlich ist. Der Ausgleich dieses Defizits erfolgt zum einen mittels des Rekurses auf herkunftsgesellschaftliche Identitätsentwürfe, die das eigene Anderssein betonen
und der Andersbehandlung damit Sinn verleiht und sie erträglich macht. Zum anderen führen
gerade rassistische Erfahrungen und ethnische Diskriminierung dazu, die eigenen Interessen
dann auch wirklich innerhalb der eigene Ethnie zu organisieren. Diese (Selbst-)Ethnisierung
wäre somit ein wechselseitiger Zuschreibungsprozess zwischen Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft.
Drittens ist auch von Einflussfaktoren auf die Identitätsbildung der zweiten und dritten
Generation auszugehen, die nicht gesellschaftlich, sondern privat geprägt sind. Es existiert
eine Wertetransmission innerhalb von Zuwandererfamilien. Allerdings können hierbei auch
konflikthafte Zuspitzungen entstehen, die sich aus der Abweichung der Lebensplanung der
Kinder von den Vorstellungen der Eltern ergeben. Das Heimisch-Werden der Familie in
Deutschland ist von der ersten Generation nicht immer gewünscht und wird mitunter auch
durch Zwang zu verhindern gesucht.
Typisierung
Die Analysen und Befunde zum Stand der Integration und zum intergenerativen Verhalten der
türkischstämmigen Migranten ergaben starke Unterschiede vor allem zwischen den ehemaligen Gastarbeitern und der zweiten Generation, die sich sowohl in den Teilhabechancen, aber
auch in den Handlungsorientierungen ausdrücken. Man kann beide Gruppen als typisierte
Kontrastgruppen gegenüber stellen.
Der "typische" ehemalige Gastarbeiter der ersten Generation, die momentan rund ein
Viertel der türkischen Bevölkerung ausmacht, verfügt über eine geringere Schul- und berufliche Ausbildung, einen geringen Berufsstatus und eher schlechte deutsche Sprachkenntnisse seine strukturellen Teilhabechancen sind sehr gering. Er nimmt zugleich Diskriminierung
weniger stark wahr. Der Grund hierfür ist in den geringeren Ansprüchen an eine Integration
und der nach wie vor virulenten Rückkehrneigung zu vermuten. Seine Referenzgruppe, an der
123
Zentrum für Türkeistudien
er seinen Status festmacht, sind die zurückgebliebenen Familienangehörigen und Freunde
seiner Generation, zu denen er vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht im Vergleich besser abschneidet. Er nutzt eher türkische als deutsche Medien, fühlt sich eher religiös, nutzt religiöse
Organisationen und praktiziert religiöse Handlungen bei einer gemäßigt konservativen Einstellung. Er fühlt sich eher mit der Türkei verbunden und neigt dazu, sich die Rückkehr offen
zu halten. Entsprechend gering ist die Absicht zur Einbürgerung. Seine Integration in die
Mehrheitsgesellschaft - legt man die interkulturellen Kontakte zugrunde - ist relativ gering.
Somit zeigt seine Handlungsorientierung eher in Richtung einer Konservierung der Herkunftskultur. Sein Status muss folglich als segregiert bezeichnet werden.
Im Gegensatz dazu charakterisiert sich die zweite Generation durch eine verbesserte
Schul- und Ausbildung, eine höhere berufliche Stellung und ein besseres Sprachniveau - die
strukturellen Teilhabechancen sind also besser, wenngleich noch deutliche Differenzen zur
Mehrheitsgesellschaft bestehen. Zugleich nimmt der typische Vertreter dieser Gruppe aber
auch Diskriminierung aufgrund der völlig anderen Ansprüche sehr viel stärker wahr, was die
subjektive Wahrnehmung der Teilhabechancen negativ beeinflusst. Seine Referenzgruppe
sind im Unterschied zur ersten Generation die Gleichaltrigen der Mehrheitsgesellschaft, zu
denen der Vergleich defizitär ausfällt. Ein typischer Angehöriger der zweite Generation nutzt
deutsche und türkische Medien komplementär, fühlt sich mit beiden Ländern gleichermaßen
verbunden und hat selten die Absicht zu remigrieren. Die Religiösität ist weniger ausgeprägt,
obwohl zugleich religiöse Handlungen in ihrer kulturellen Dimension nach wie vor von Bedeutung sind. Die Einstellungen sind eher liberal, die Bindung an religiöse Organisationen ist
geringer. Zugleich werden jedoch eigenethnische Organisationen zusätzlich zur Partizipation
am deutschen gesellschaftlichen Leben genutzt. Die gesellschaftliche Nähe zur Mehrheitsgesellschaft, die sich in Kontakten, in einem positiven Deutschlandbild und im interethnischen Freizeitverhalten ausdrückt, ist relativ stärker als bei der ersten Generation. Die
Handlungsorientierung der zweiten Generation insgesamt weist stärker auf die sukzessive
Aneignung der Werte der Mehrheitsgesellschaft, wobei die Herkunftskultur nach wie vor eine
gewichtige Rolle spielt. Insgesamt ist der Status der zweiten Generation im Vergleich zur
ersten durch eine Verschiebung hin zur Assimilation gekennzeichnet, wobei auch Tendenzen
von Inklusion (Generierung einer spezifischen Migrantenkultur), Exklusion (im subjektiven
Vergleich zur Mehrheitsgesellschaft) und Segregation festzustellen sind.
Denn die Befunde machen deutlich, dass sich auch innerhalb der zweiten Generation
Kontrastgruppen gebildet haben und sich somit auch innerhalb der Folgegeneration unterschiedliche Typen des Integrationsverlaufs zeigen. Zum einen existiert die bereits beschrie124
Zentrum für Türkeistudien
bene typische Zweitgenerationsgruppe, die über gute soziale Teilhabechancen verfügt und
deren Handlungsorientierungen eher auf die Mehrheitsgesellschaft gerichtet sind. Zum anderen finden sich jedoch Zweitgenerationsangehörige, deren Teilhabechancen nach wie vor sehr
gering sind und deren Status damit der Exklusion bzw. Segregation entspricht, je nach Handlungsorientierung. Feststellbar ist, dass sich eine - wenn auch kleine - segregierte Gruppe konstituiert hat, deren Handlungsorientierungen sich nicht zuletzt aufgrund der als defizitär wahrgenommenen gesellschaftlichen Stellung und der niedrigen Teilhabechancen auf die Konservierung der Herkunftskultur konzentrieren, die auch religiös-konservativ geprägte Einstellungen einschließt. Diese Gruppe nutzt zur Verbesserung ihres sozialen Status verstärkt eigenethnische Strukturen, die die Segregation weiter unterstützen können.
125
Zentrum für Türkeistudien
5 Empfehlungen
Für die Integrationspolitik im Allgemeinen und ein Integrationsgesetz im Besonderen können
sich eine ganze Reihe von Schlussfolgerungen aus den Befunden ergeben. Wir stellen hier
abschließend diejenigen heraus, die Themenkreise und Handlungsfelder berühren, die in besonderer Weise in der öffentlichen Debatte um Integration und damit um ein Zuwanderungsund Integrationsgesetz eine Rolle spielen.
Anti-Diskriminierungsgesetz
Ein Anti-Diskriminierungsgesetz als Bestandteil einer rechtlichen Regelung von Integration
erscheint auf der Basis der Befunde zur Verbesserung der Teilhabechancen unerlässlich. Aufgrund veränderter Lebenswirklichkeiten und veränderter Ansprüche an das Aufnahmeland
Deutschland nimmt das subjektive Diskriminierungsgefühl bei den jüngeren Zuwanderern
nicht ab, sondern eher zu. Auch objektiv sind nach wie vor Diskriminierungen, so insbesondere auf dem Arbeitsmarkt, zu konstatieren. Ein Anti-Diskriminierungsgesetz könnte in zwei
Richtungen wirken: Einerseits würde tatsächlicher Diskriminierung entgegengewirkt, andererseits auch das subjektive Diskriminierungsgefühl von Zuwanderern zurückgedrängt: Das
explizite Bekenntnis der deutschen Gesellschaft zur Chancengleichheit für Migranten hätte
nicht nur Symbolwirkung, sondern eröffnet den Zuwanderern auch Handlungsalternativen
jenseits des Rückzugs und der (Selbst-)Ethnisierung.
Islamischer Religionsunterricht
Ein zentrales Thema ist nach wie vor die Einführung islamischen Religionsunterrichts an
deutschen Schulen. Diese auch vom Zentrum für Türkeistudien in den letzten Jahren immer
wieder vorgebrachte Forderung wird durch die neusten Forschungsbefunde gestützt. Gerade
unter den jungen Türken entwickelt sich ein Verständnis des Islam, das immer weniger im
Widerspruch steht zu individualistischen und liberalen Einstellungen. Dabei leben in
Deutschland inzwischen an die 3,2 Millionen Muslime, EU-weit an die 13 Millionen. Ein
europäischer Islam ist damit faktisch Realität, wobei seine Entfaltung in einem toleranten, die
Werte und Normen von Industriegesellschaft und Aufklärung bejahenden Sinne, unterstützt
werden sollte. Dieser Notwendigkeit soll durch die Einführung von Islamunterricht an
staatlichen Regelschulen Rechnung getragen werden, um nicht ohne Not Segregation bei der
126
Zentrum für Türkeistudien
religiösen Unterweisung in den islamischen Selbstorganisationen zu befördern. Dem
bekannten Problem der nicht vorhanden Alleinvertretung der Muslime, die an der
Curriculaentwicklung
im
Sinne
des
Grundgesetzes
mit
den
Kultusministerien
zusammenwirken könnte, sollte man durch die Etablierung einer Kommission begegnen.
Diese sollte paritätisch aus Vertretern der Kultusministerien, der religiösen und nichtreligiösen Selbstorganisationen in Deutschland sowie, um einzelnen islamischen Richtungen
in den unterschiedlichen Herkunftsländern gerecht zu werden, aus Experten (Religionswissenschaftler, NGO-Vertreter) aus eben diesen Ländern. Keinesfalls darf einzelnen
islamischen Vertretungen in Deutschland der Alleinvertretungsanspruch für die Gesamtheit
der Muslime zugebilligt werden, indem man sie isoliert in die Curriculaentwicklung einbindet. Die insbesondere in Berlin manifest gewordene Entwicklung zum bevorstehenden Religionsunterricht durch die Islamische Föderation ist die Folge institutioneller Diskriminierung,
genauer: der Tatsache, dass die vereinsmäßige Organisation der Muslime in Deutschland
nicht dem Grundgesetz implizierten Modell der Religionsgemeinschaft als durch eine Anstalt
des öffentlichen Rechts repräsentierte Organisation entspricht. Es kann nicht verwundern,
dass unter derartigen Ausgangsbedingungen gerade radikalere, im kulturellen Abgrenzungsprozess und in der Formulierung einer radikalen ethnisch-religiösen Identität befindliche
Gruppen ihre Bedürfnisse am nachhaltigsten vertreten und der Öffentlichkeit das unzutreffende Bild vom Islam als homogener Bewegung mit politischen Ambitionen vermitteln.
Tatsächlich reflektiert die Mehrheit der Muslime in Deutschland seit langem die Bedingungen
und Herausforderungen für den Islam in der Diaspora und seine Anpassung an die veränderten Rahmenbedingungen, die rechtlichen und politischen eingeschlossen. Die Erteilung eines
islamischen Religionsunterrichts wäre ein Katalysator für die stärkere Ausweitung dieser Reflexion auch auf den Bereich des Erziehungswesens, in dem wie nirgends sonst Weichenstellungen für ein friedliches Miteinander der ethnisch-religiösen Gruppen in der Zukunft
vorgenommen werden können.
Islamunterricht an deutschen Schulen sollte in deutscher Sprache oder eventuell zweisprachig durchgeführt werden (siehe unten).
Sprachkenntnisse
Das Erlernen der deutschen Sprache ist eine der wichtigsten Integrationsvoraussetzungen.
Von der Sprache hängt die Entwicklung intensiven Kontakts zur Zuwanderungsgesellschaft
ab, sie ist die Grundvoraussetzung zum Erlangen von Bildung, was wiederum die zentrale
127
Zentrum für Türkeistudien
Mittel zur Erlangung gesellschaftlicher Teilhabe ist. Unsere Befunde zeigen, dass die Sprachkenntnisse sich bei den jüngeren Zuwanderern im Vergleich zur Elterngeneration verbessert
haben. Zufriedenstellend sind sie freilich nicht. Plausibelerweise ist davon auszugehen, dass
sich die häufig anzutreffende "kulturelle Zerrissenheit" der jungen Zuwanderer auch in ihren
Sprachkenntnissen spiegelt - oft wird sowohl das Deutsch als auch die Herkunftssprache dann
nur unzureichend beherrscht. Es wäre zu überlegen, ob nicht durch innovative Unterrichtskonzepte (Interkulturelle Erziehungskonzepte) dieser Mangel in einen Vorteil umzumünzen
wäre, der das Konkurrenzverhältnis der Sprachen von Herkunfts- und Zuwanderungsland
aufhebt, indem die Sprachkompetenz generell erhöht und auf die Beherrschung beider Sprachen gesetzt wird. Die Konfrontation mit beiden Sprachen wird, in den Familien einerseits
und bei aufnahmegesellschaftlichen Kontakten andererseits, noch lang als Tatsache erhalten
bleiben. Für diejenigen Zuwanderer, deren schulische Sozialisation nicht in Deutschland
stattgefunden hat, ist übrigens zweifelhaft, ob eine irgendwie geartete, in der öffentlichen Debatte wiederholt geäußerte Forderung nach einer Zwangsweisen Versorgung mit Sprachkursen das Sprachniveau tatsächlich verbessert. Zwei starke Argumente stehen dagegen. Die
Notwendigkeit zum Erlernen der deutschen Sprache wird seitens der hier untersuchten türkischen Migranten nur von einer sehr geringen Minderheit bestritten. Zudem garantiert auch der
Sprachkursbesuch keineswegs eine durchgreifende Anhebung des deutschen Sprachniveaus.
Die Erfolge einer Modifizierung des Angebots könnten somit mehr zur Verbesserung der Situation beitragen als Zwangsmittel. Besonders ist hier darauf hinzuweisen, dass Sprachkurse
im betrieblichen Kontext besonderer Erfolge zeitigen. Es wäre mithin sinnvoll, entsprechende
Konzepte auszuweiten und deren Erfolgsfaktoren wenn möglich auch auf Sprachkurse in außerbetrieblichen Kontexten zu übertragen.
Eine zentrale Zielgruppe stellen hierbei insbesondere die Heiratsmigranten dar, für deren
sprachliche und gesellschaftliche Integration ähnliche Programme wie für Aussiedler enorm
beitragen könnten.
Förderung und Evaluierung von Selbstorganisation
Eine weit gehende Assimilierung von Zuwanderern ist, auch bei gleichen gesellschaftlichen
Chancen und einem vollkommene Abbau von Diskriminierung nicht unbedingt realistisch,
wie gerade auch die neuere (amerikanische) Migrationsforschung, die vom hochgepriesenen
Postulat des "melting pot" abgerückt ist, zeigt. Ethnische Selbstorganisation sollte daher als
selbstverständlicher Bestandteil der deutschen Gesellschaft betrachtet werden. Gleichwohl
128
Zentrum für Türkeistudien
sind die desintegrativen Wirkungen ethnischer Selbstorganisation nicht zu unterschätzen. Für
eine pragmatische Integrationspolitik, die beständig bemüht ist, ein Mehr an Gemeinsamkeit
zwischen Deutschen und Zuwanderern herzustellen, ist der Ausbau des Wissenstandes über
die Motive für ethnische Selbstorganisation unerlässlich. Nur so kann eine Unterscheidung
des Rückzug in ethnische Nischen als Folge nachlassender Kontakte, Diskriminierung und
fehlender Teilhabechancen von im Kern kulturbedingten, durch Integrationspolitik nicht zu
beeinflussende Neigungen zur Etablierung eigenethnischer Netzwerke, die für die Identitätsbildung und -stabilisierung unerlässlich sein können, getroffen werden. Die Unterstützung
sich mit dieser Fragestellung befassender wissenschaftlicher Forschung wäre somit ein wichtiger Bestandteil der Gestaltung des zukünftigen Zusammenlebens von Deutschen und Zuwanderern.
Förderung von internationalem und interkulturellem Jugendaustausch
Gerade bei Kindern und Jugendlichen, die sich noch weitestgehend jenseits der Bedingungen
von Wettbewerb und sozio-ökonomischer Konkurrenz begegnen, bedeutet interkultureller
Kontakt in der Regel auch den Abbau von Vorurteilen. Insbesondere Maßnahmen des internationalen Jugendaustauschs mit den Entsendestaaten der Migranten in Deutschland bieten
damit ein nachhaltiges Verständigungs- und Integrationspotential. Derartige Maßnahmen
sollten verstärkt benachteiligte deutsche Jugendliche berücksichtigen, die wenig Kontakt zu
Zuwanderern, aber gleichzeitig beträchtliche Vorurteile ihnen gegenüber haben. In diesem
Zusammenhang wäre zu überlegen, ob ein deutsch-türkisches Jugendwerk diese Aufgaben
nicht wahrnehmen könnte.
Verhältnis von Zuwanderungs- und Integrationsgesetz
Zum Verhältnis eines Integrations- und eines Zuwanderungsgesetzes ist generell anzumerken,
dass eine Befristungen des Aufenthaltsrecht bestimmter Gruppen langfristig kontraproduktiv
für die gesellschaftliche Integration sind. Zahlreiche der zu konstatierenden Integrationsdefizite und -schwierigkeiten der Migranten resultieren aus der vermeintlich befristeten Arbeitsmigration, wie an der Geschichte der türkischen Gastarbeiter allzu deutlich wird: Die erst
explizite, dann implizite Annahme einer bei genauem Hinsehen schon längst nicht mehr in
Frage kommenden Rückkehr dieser Menschen hat den Blick auf die Frage nach den Notwendigkeiten eines langfristigen Zusammenlebens mit diesen Menschen in Deutschland auf bei129
Zentrum für Türkeistudien
den Seiten verstellt. Ausländerpolitik bezog sich lange Zeit in erster Linie auf die Reduzierung der Zahl der Ausländer und nicht auf ihre Integration.214 Die ersten türkischen "Gastarbeiter" erreichen inzwischen in Deutschland das Rentenalter, und sind weder in ihre Heimat
zurückgekehrt, noch vollständig assimiliert. Sie haben spezifische, von denen der Deutschen
abweichende Bedürfnisse nach der Versorgung im Alter, auf die die deutsche Gesellschaft
nach wie vor nicht im geringsten eingestellt ist. Nur ein geringer Teil der türkischen Senioren
- 26% - kann sich vorstellen, in einem deutschen Altenheim zu leben, in dem, so die Befürchtung, türkischen Lebensgewohnheiten keine Rechnung getragen wird, sich Verständigungsprobleme ergeben, usw.215 Diese Fehler sollten bei Zuzug neuer Zuwanderergruppen
nicht wiederholt werden. Das heißt: Mit einer Befristung des Aufenthalts darf nicht mittelbar
ein Argument für die Unterlassung von Integrationsanstrengungen und notwendige gesellschaftliche Anpassungsprozesse geliefert werden.
214
215
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.): Sechster Familienbericht der Bundesregierung: Familien ausländischer Herkunft in Deutschland. Leistungen, Belastungen, Herausforderungen.
Berlin 2000, S. 8.
Vgl. Zentrum für Türkeistudien: Ältere Migranten in Deutschland. ZfT-aktuell Nr. 76. Essen 1999, S. 37.
130
Zentrum für Türkeistudien
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Zentrum für Türkeistudien: Einbürgerung türkischer Migranten in Deutschland. Münster 2001
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Zentrum für Türkeistudien: Interkulturelles Konfliktmanagement. Projektendbericht. Unveröffentlichtes Manuskript. Essen 2001.
Zentrum für Türkeistudien: Modellprojekt zur beruflichen Ausbildung in türkischen Unternehmen in Nordrhein-Westfalen im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und
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Zentrum für Türkeistudien: Schulische Integration ausländischer Kinder. Stand und Entwicklungen, ZfT-aktuell, Nr. 80. Essen 2001 (im Erscheinen).
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