Authentische Beziehungen in der Gruppenbetreuung von

Transcription

Authentische Beziehungen in der Gruppenbetreuung von
Authentische Beziehungen in der Gruppenbetreuung
von Säuglingen und Kleinkindern
Resources for Infant Educarers (RIE)
Herausgegeben von Stephanie Petrie und Sue Owen
Authentische Beziehungen
in der Gruppenbetreuung
von Säuglingen und Kleinkindern
Resources for Infant Educarers (RIE)
Die Prinzipien und ihre praktische Umsetzung
Herausgegeben von
Stephanie Petrie und Sue Owen
Aus dem Englischen übersetzt
von Christine Sadler
Arbor Verlag
Freiamt im Schwarzwald
Für Sarah Petrie, die mich mit RIE vertraut machte und mir
alles beibrachte, was ich über Babys und Kleinkinder weiß.
Tut mir Leid, dass ich eine so langsame Schülerin war!
Stephanie Petrie
Für meine Tochter Katharyn Owen,
in Liebe und Dankbarkeit.
Sue Owen
Danksagungen
Die Autorinnen danken der Familie Gerber für die Genehmigung,
Magda Gerbers Originalschriften zu verwenden; Joseph Amanzio für
das Foto von Magda Gerber auf Seite 45; Polly Elam für alle weiteren
Fotos; Patty Ryan, Expertin für Kleinkindpädagogik und RIE Associate, für die Abbildung 3.2 auf Seite 82.
Ein Dank geht auch an Ann Robinson vom National Children’s
Bureau, die uns überaus hilfreiche Literaturhinweise gegeben hat.
Copyright © Jessica Kingsley Publishers 2005
Copyright © 2006 der deutschsprachigen Ausgabe: Arbor Verlag, Freiamt
This translation of Authentic Relationships in Group Care for Infants and
Toddlers – Recources for Infant Educarers (RIE) is published by arrangement
with Jessica Kingsley Publishers Ltd.
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
Authentic Relationships in Group Care for Infants and Toddlers –
Recources for Infant Educarers (RIE). Principles into Practice
Alle Rechte vorbehalten
1 2 3 4 5
06 07 08 09 10
Auflage
Erscheinungsjahr
Titelfoto: © 2006 Martina Brandstetter
Lektorat: Dr. Richard Reschika
Buchinnengestaltung & Layout : Rosalie Schnell
Covergestaltung: Dirk Henn
Druck und Bindung: Westermann, Zwickau
Dieses Buch wurde auf 100 % Altpapier gedruckt und ist alterungsbeständig.
Weitere Informationen über unser Umweltengagement
finden Sie unter www.arbor-verlag.de/umwelt.
www.arbor-verlag.de
ISBN 3-936855-36-6
Inhalt
Einleitung
..................................
9
Kapitel 1
Die Arbeit von Emmi Pikler
und Magda Gerber . . . . . . . . . . . . . . . .
19
Die Prinzipien von RIE und
ihre praktische Umsetzung . . . . . . . . .
45
Kapitel 3
RIEs „Lehrplan“ für die Früherziehung
71
Kapitel 4
Die Anwendung von RIE
in einer Familientagespflegestelle . . . .
101
Gestaltung von hochwertigen
Gruppenbetreuungsprogrammen
für Säuglinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
119
Kapitel 6
Die Eltern-Kind-Kurse von RIE . . . . .
133
Kapitel 7
Lehren, wie Magda gelehrt hat
oder Gegenseitiger Respekt
und Vertrauen:
Die Rolle der Mentorin bei RIE . . . . .
165
..................................
187
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
194
Kapitel 2
Kapitel 5
Glossar
Einleitung
Stephanie Petrie und Sue Owen
Von Stephanie Petrie
Als mir zum ersten Mal Anfang der 1990er-Jahre von RIE
(Resources for Infant Educarers, „Rei“ ausgesprochen) erzählt
wurde, kamen alle meine Vorurteile und meine Engstirnigkeit
zum Vorschein. „Ach ja?“, dachte ich, „Kinderbetreuung aus
Kalifornien? Was, um alles in der Welt, haben uns die Amerikaner beizubringen – jeder weiß, dass sie die verzogensten
Kinder der Welt haben!“ Kurze Zeit später, als ich im Urlaub
in den USA war, erlebte ich, wie RIE bei einem einjährigen
Jungen zu Hause angewendet wurde. Seine Mutter und sein
Kindermädchen hatten gemeinsam an einem Eltern-Kind-Kurs
teilgenommen, um sicherzustellen, dass er Kontinuität in der
Pflege erfuhr, wenn seine Mutter arbeitete. Gleichsam gegen
mein Bestreben war ich beeindruckt. Ich war beeindruckt von
dem selbstsicheren, entspannten Baby, das ich sah, und von der
Beziehung, die er zu seiner Betreuerin hatte. Alle Merkmale
hochwertiger Betreuung, die später in diesem Buch beschrieben werden, waren vorhanden. Das Kind wurde mit Respekt
behandelt, ihm wurden Entscheidungen überlassen, und wenn
den Absichten eines Erwachsenen Priorität eingeräumt werden
musste, wurde ihm dies auf angemessene Weise erklärt und
seine Gefühle wurden respektiert. Am erstaunlichsten aber
fand ich das Vertrauen, das der Junge in seinen Körper hatte,
und zu welch hohem Maß er seine Welt ohne Einmischung
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Authentische Beziehungen in der Gruppenbetreuung
durch Erwachsene erforschen durfte. Der Raum, in dem er sich
bewegte, war hinreichend sicher, so dass es keine große Katastrophe bedeutete, wenn er von Zeit zu Zeit hinfiel, sondern
eine Lernerfahrung. Seine Betreuerin zeigte Vertrauen in seine
Fähigkeit, Probleme zu lösen, und ein freundliches Wort oder
ein warmer Blick gaben ihm wiederum das Selbstvertrauen, um
das Terrain und physische Herausforderungen selbständig zu
meistern. Dies ließ mich darüber nachdenken, wie ich selbst für
meine Tochter gesorgt hatte, als sie in dem Alter war. Ich war
ganz anders. Ich rechnete ständig mit Katastrophen und war
immer die Mutter, die bei den Spielgeräten stand, um meine
Tochter aufzufangen, falls sie herunterfallen sollte. Ich gab
laufend Kommentare ab: „Tu das nicht, sonst fällst du hin“,
„Halt dich davon fern, das ist gefährlich“, und schlimmer noch:
„Nein, so spielt man mit diesem Spielzeug“. Der Unterschied
zwischen dem, was ich als Mutter getan hatte, und dem, was
ich beobachtete, machte mich neugierig. Ich informierte mich
ein wenig über Magda Gerber und ihre Vorstellungen und
wollte mehr lernen, auch wenn ich noch immer viele Bedenken
hatte. Dazu gehörte insbesondere, dass RIE ja für wohlhabende
Eltern geeignet sein könnte, die viel Zeit und Geld für ihr Kind
zur Verfügung haben, aber ich konnte mir nicht vorstellen,
wie stark beanspruchte, arme und allein stehende Eltern diese
Methode anwenden sollten.
Im Dezember 2000 gewährte mir der Dempster Bequest
Fund ein kleines Stipendium, das es mir ermöglichte, in die
USA zu reisen und mich mit RIE zu beschäftigen. Im Januar
2001 schloss ich den zehntätigen Intensivkurs RIE I Theory and
Observation (Theorie und Beobachtung) ab und erhielt ein die
erfolgreiche Teilnahme bestätigendes Zertifikat. (Heute wird
ein Zertifikat erst nach Abschluss der Kurse RIE I, II und III
verliehen.) Dieser Kurs stellt den ersten Teil eines dreistufigen
Ausbildungsprogramms dar, das RIE zurzeit – hauptsächlich
in Los Angeles – zur Erlangung einer Qualifikation anbietet.
Gegenwärtig werden Möglichkeiten untersucht, wie auch
Interessierten in anderen Ländern eine Ausbildung angeboten
Einleitung
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werden kann (für weitere Erklärungen siehe Kapitel 7. Weitere
Auskünfte erteilt auch RIE – siehe Glossar). Ich hatte noch
mehrmals die Möglichkeit wiederzukommen, um mir von RIE
beeinflusste Betreuungsangebote anzusehen, an Konferenzen
teilzunehmen und mit qualifizierten RIE-Mitarbeitern („Associates“, siehe Kapitel 7) sowie anderen Menschen, die die RIEMethode in der Praxis anwenden, aber die Ausbildung nicht
abgeschlossen haben, zu sprechen. Die Organisation RIE ist
ein bescheidenes, gemeinnütziges Unternehmen, und sieht man
von der in Vollzeit tätigen, bezahlten Büroleiterin ab, wird die
gesamte mit Ausbildung, Veröffentlichungen, Konferenzen usw.
verbundene Arbeit auf freiwilliger Basis von Leuten geleistet,
die andernorts noch eine Vollzeitbeschäftigung haben. Bei vielen kam das Interesse für RIE durch ihren Kontakt mit Magda
Gerber, die all jene, die sie trifft, ebenso beeindruckt, wie ihre
Mentorin, die ungarische Kinderärztin Emmi Pikler, sie selbst
beeindruckt hat. Zu der Zeit, in der ich meine Ausbildung
machte, besuchte sie noch immer jeden Kurs, um ungeachtet
ihres beträchtlichen Alters Schüler zu treffen und sich mit ihnen
zu unterhalten. Auch wenn ihr kurzzeitiger Gedächtnisverlust
ihr viel abverlangte, konnte sie viele weise und menschliche
Erkenntnisse über Kinder, Pflege und, in der Tat, die Welt im
Allgemeinen an die Schüler weitergeben, und es war eine Ehre,
sie kennen zu lernen. Ich war aber eine schwierige und herausfordernde Schülerin. Ich hatte viele heftige Diskussionen mit
RIE Associates und anderen die RIE-Methode anwendenden
Betreuern, insbesondere über die eingeschränkten Möglichkeiten, die Interessierte in anderen Ländern im Hinblick auf
Ausbildung und Unterstützung haben. Ich war mir auch nicht
immer sicher, ob untersucht wurde, inwieweit das ganze Potenzial des Ansatzes von Pikler und Gerber von armen und jungen
Eltern genutzt werden konnte.
Ich war jedoch immer beeindruckt von der von RIE geprägten Betreuung, die ich sah, ob in Familientagespflegestätten
oder in Kindertagesstätten, ob gemeinnützig oder gewinnorientiert, ob von der Bundesregierung oder einem Bundesstaat
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Authentische Beziehungen in der Gruppenbetreuung
bereitgestellt. Ich begann, über die Lücken in Betreuungsangeboten und Leistungen für kleine Kinder und ihre Familien in
Großbritannien nachzudenken sowie darüber, wie der Ansatz
von RIE dazu beitragen könnte, einem Kind dadurch, dass
er von allen an seiner Pflege Beteiligten angewendet wird, in
Zeiten der Veränderung Kontinuität zu bieten – zum Beispiel
dann, wenn ein kleines Kind Zeit in der Tagespflege oder in
einer Pflegefamilie verbringt. Aber RIE ist für alle Eltern nützlich, und obwohl ich glaube, dass ich als Mutter „gut genug“
war, weiß ich, dass die ersten Jahre meiner eigenen Tochter,
vor allem ihre ersten Monate, für uns beide weniger anstrengend und viel angenehmer gewesen wären, wenn mir dabei
geholfen worden wäre, ihre Signale schneller und genauer zu
verstehen. Die Regierung Großbritanniens hat die Reduzierung
der Schwierigkeiten, denen junge, arme und allein erziehende
Eltern gegenüber stehen, zur Priorität erklärt, und Programme
wie Sure Start und Sure Start Plus sind unter anderem mit dem
Ziel eingerichtet worden, Eltern Unterstützung zu bieten. Der
RIE-Ansatz bietet nicht nur Elternbildung allgemeiner Art,
sondern gestaltet zudem die Beziehung zwischen Pflegeperson
und Kind in den entscheidenden ersten Monaten. Babys, die
besser verstanden werden, sind leichter zu pflegen. Eltern, die
darauf vertrauen, dass sie ihre Babys verstehen können, empfinden Kindererziehung als ein bisschen weniger aufreibend und
anstrengend.
Im Sommer 2001 besuchte ich Kalifornien mit meiner
Kollegin Sue Owen vom National Children’s Bureau in Großbritannien, einer Spezialistin auf dem Gebiet der frühen Kindheit, die, das spürte ich, angesichts ihrer Kenntnisse und ihrer
Erfahrung im Hinblick auf die Situation der Früherziehung
in Großbritannien in der Lage sein würde, den RIE-Ansatz zu
beurteilen. Sue hatte von Magda Gerber und ihrer Arbeit in den
1970er-Jahren gehört und wusste um deren Einfluss in Belgien,
wo sie enge berufliche Kontakte hat, aber sie hatte nie Gelegenheit gehabt, von RIE beeinflusste Einrichtungen in der Praxis
zu sehen. Sie war ebenfalls beeindruckt von den Menschen, die
Einleitung
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wir trafen, und von den Einrichtungen, die wir besuchten, darunter eine private Tageseinrichtung und eine große staatliche
Kinderbetreuungseinrichtung. Wir beschlossen, dass wir ein
Buch über RIE schreiben wollten, einschließlich Berichten aus
erster Hand von Magda Gerber und den von ihr ausgebildeten
Erzieherinnen in Kalifornien, um diesen Ansatz einem größeren Publikum nahe zu bringen, das dann sein Potenzial für die
Arbeit in Großbritannien überdenken könnte. Dieses Buch
ist das Ergebnis unseres Enthusiasmus, und wir sind Jessica
Kingsley Publishers dankbar dafür, das Potenzial des Ansatzes
erkannt zu haben.
Von Stephanie Petrie und Sue Owen
Dieses Buch möchte Menschen, die sich mit Gruppenbetreuung
für Säuglinge und Kleinkinder beschäftigen, auf die Vorstellungen und Ansätze der Expertinnen für Kinderbetreuung Emmi
Pikler und Magda Gerber aufmerksam machen. Wir beschreiben deren Arbeit mit Säuglingen und Kleinkindern in Ungarn
und den USA sowie die Literatur und die Untersuchungen, die
sie untermauern, als Einleitung zu einer Reihe von Kapiteln,
die von derzeitigen Mitarbeiterinnen der Organisation geschrieben wurden, die Magda Gerber in Kalifornien gegründet hat:
Resources for Infant Educarers (RIE).
Die Autorinnen beschreiben die Anwendung des RIEModells in einer Reihe von Einrichtungen in den USA, seine
Brauchbarkeit als Basis für Elternbildung und die Art und
Weise, wie der RIE-Ansatz vermittelt wird.
Hintergrund
Im Ungarn der Nachkriegszeit entwickelte Emmi Pikler ein
Modell für die Gruppenbetreuung von Säuglingen, das optimale Entwicklung und Bindungsbeziehungen förderte. Pikler
begann ihre Beobachtungen von Säuglingen und kleinen Kin-
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Authentische Beziehungen in der Gruppenbetreuung
dern im Rahmen ihrer Erfahrungen als Mutter und Kinderärztin. Im großen, nach dem Krieg gegründeten Kinderheim, das
als Lóczy bekannt wurde (siehe Glossar – nach Emmi Piklers
Tod im Jahr 1984 umbenannt in Emmi Pikler Nationales
Methodologisches Institut für Kinderpflege und -erziehung), fand
Pikler später Wege der Säuglingspflege, mit denen bestmögliche Entwicklung gefördert wurde, die aber dennoch nur einen
bescheidenen Einsatz von Mitteln verlangten. Sie stellte sich
der schwierigen Aufgabe, Babys und Kleinkindern mit einer
begrenzten Anzahl Pflegerinnen individuelle Pflege zuteil
werden zu lassen. Das Lóczy-Modell ist von Piklers Ernennung zur Leiterin des Heims im Jahr 1946 bis zum heutigen
Zeitpunkt untersucht worden (Gerber 1976). Es gibt Beweise
dafür, dass dieser Ansatz der Gruppenbetreuung für Säuglinge
Piklers Behauptung belegt, dass die Entwicklung der Kinder,
die im Lóczy im Rahmen von vollstationärer Heimerziehung
aufwuchsen, „gesund war und dem Entwicklungsmuster von
Kindern, die in Familien großgezogen werden, ähnlich ist“
(Pikler 1970, S. 92).
Magda Gerber, Piklers Freundin und Kollegin, brachte das
Lóczy-Modell der Säuglingspflege in den 1960er-Jahren in
die USA und arbeitete viele Jahre mit Säuglingen und Kleinkindern, darunter auch Kinder mit besonderen Bedürfnissen,
hauptsächlich im multi-ethnischen Kontext von Los Angeles.
Gefördert und für die Tagesbetreuung sowie die Anwendung in
der Familie weiterentwickelt wurde das Modell von RIE, einer
gemeinnützigen Organisation, die von Gerber gegründet wurde
und sich Säuglingen und ihren Betreuern widmet. Auch wenn
in den USA nur relativ wenig Forschung zu diesem Ansatz
betrieben worden ist, hat Gerber die frühkindliche Erziehung
und diesbezügliche Diskussionen doch beeinflusst. Ihr wird die
Einführung der Idee von „Respekt“ bei der Arbeit mit Säuglingen und Kleinkindern in den USA zugeschrieben (GonzalezMena und Widmeyer Eyrer 1993). Ist die Arbeit von Pikler und
Gerber in Großbritannien auch nur wenig bekannt, so haben
sie die Säuglingspflege doch nicht nur in den USA beeinflusst,
Einleitung
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sondern ebenfalls in europäischen Ländern wie Belgien, Frankreich, Deutschland und Italien (Penn 1999) sowie in jüngerer
Zeit in Australien und im Pazifischen Raum.
Die praktische Umsetzung der Prinzipien von RIE
Um das Charakteristische an der Methode von RIE, Babys
zu pflegen und etwas über sie zu lernen, zu verstehen, muss
man die Geschichte und Entwicklung des Ansatzes betrachten.
Emmi Pikler gründete ihre Theorien auf die Prinzipien kindzentrierter Praxis, die Mitte des 20. Jahrhunderts von Kinderärzten, Psychologen und Psychoanalytikern in Kontinentaleuropa
entwickelt worden waren. Stephanie Petrie beschreibt in ihrem
Überblick (Kapitel 1), wie Pikler im Lóczy bei der Arbeit mit
Kindern, die von ihren Eltern getrennt worden waren, aufeinander abgestimmte Methoden und Prinzipien entwickelte. Magda
Gerber übernahm dann diese Prinzipien und entwickelte das
RIE-Modell, das Thema dieses Buches ist, als sie in die USA
auswanderte. Petrie meint: „Es ist bemerkenswert, dass die zwei
Frauen auch auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, als sich
die zwei Seiten des Eisernen Vorhangs gegenseitig mit Feindschaft und Argwohn betrachteten, weiterhin zusammenarbeiteten und Ideen austauschten.“ Dies ist nur ein Beispiel, das die
Flexibilität des Ansatzes demonstriert, der, so sehr er sich auf
die einzigartigen Bedürfnisse und Persönlichkeiten der Kinder
konzentriert, kulturelle, soziale und körperliche Unterschiede
überwinden und „gleiche Sorge“ und Einbeziehung für jedes
Kind gewährleisten kann. Der Ausdruck „gleiche Sorge“ wurde
im Children Act 1989, einem britischen Gesetz zu Erziehung,
Schutz, Betreuung und Unterstützung von Kindern, verwendet,
um Pflege zu beschreiben, die gleiche Behandlung von Kindern
sicherstellt, dabei aber trotzdem die Unterschiede zwischen
ihnen erkennt und würdigt: gleich, aber nicht identisch (Children Act 1989, S. XX, zitiert nach Bainham 1990).
Wir haben uns entschieden, für die Beschreibung der Grundprinzipien und -methoden von RIE (Kapitel 2) Magda Gerbers
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Authentische Beziehungen in der Gruppenbetreuung
eigene Worte zu verwenden. Sie schrieb diese in den späten
1970er-Jahren für Educaring, einen Newsletter für Eltern.
Ihr flüssiger und anschaulicher Stil sorgt für die bestmögliche
Beschreibung ihres Ziels, Eltern und Betreuern dabei zu helfen,
ihre Kinder vom Augenblick der Geburt an besser zu verstehen
und zu unterstützen. Ein Zitat aus diesem Kapitel erscheint
auch am Anfang eines jeden weiteren Kapitels. Hiermit sollen
all die unterschiedlichen Beispiele für die Arbeit mit RIE der
Gesamtheit von Gerbers ursprünglicher Arbeit zugeordnet und
soll eine Verbindung zwischen der praktischen Ausführung und
Gerbers grundsätzlichen Zielen hergestellt werden.
Wie aber sieht ein Lehrplan von RIE aus? Wenn dieser
Ansatz für Betreuer im gesamten Spektrum an Früherziehungseinrichtungen von Interesse sein soll, muss klar formuliert
werden, was er im Hinblick auf Aktivitäten und Maßnahmen
zur Förderung des kindlichen Lernens beinhaltet. In Kapitel 3
umreißt Ruth Money, was die Fachkräfte von RIE unter einem
Lehrplan verstehen, und gibt Beispiele dafür, was er im Hinblick auf die Aktivitäten, die Art zu planen und den respektvollen Umgang mit kleinen Kindern beinhaltet: „Säuglinge,
die von Anfang an in respektvollen Beziehungen stehen und
die Möglichkeit haben, ungehindert zu spielen, haben es nicht
nötig, dass man ihnen die Zeit vertreibt. Diese Kinder können
sich lange auf selbst gesetzte Aufgaben konzentrieren. Dabei
lernen sie, zu lernen.“
Diesen Beschreibungen der grundlegenden Philosophie und
der Prinzipien von RIE folgen zwei Kapitel, die skizzieren, auf
welche Weise der Ansatz in unterschiedlichen Kinderbetreuungseinrichtungen in den USA bereits Anwendung gefunden
hat. In Kapitel 4 erzählt Catherine Coughlan von ihrer Arbeit
als Tagesmutter in ihrer Familientagespflegestelle und davon,
wie sie es schaffte, diese von Beginn an so zu gestalten, dass
sie den Prinzipien von RIE entsprach. Sie untersucht einige
Punkte, die wir zumeist als selbstverständlich betrachten, wie
die Auswirkungen von gemischten Altersgruppen und die
Bedeutung von Aktivitäten, die Kinder selbst initiieren, und
Einleitung
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lässt uns noch einmal neu über sie nachdenken: „Ihnen das
Spielen zu erleichtern, war viel wichtiger und sinnvoller, als ihre
Beweggründe zu hinterfragen.“
Catherine ruft inständig zu stärkerer Subventionierung der
Leistungen für kleine Kinder auf. Dieses Thema wird auch von
Polly Elam in Kapitel 5 aufgegriffen, in dem sie die Umsetzung
des RIE-Ansatzes in Tageseinrichtungen mit Gruppenbetreuung beschreibt. Sie fordert uns auf, darüber nachzudenken,
wie wir Babys „hervorragende“ Betreuung bieten können und
was zur Gewährleistung derselben alles gegeben sein muss. Sie
beschreibt ausführlich die regelmäßigen Pflegeaktivitäten, die
Grundlage der respektvollen Aufmerksamkeit sind, die Kindern von ihren Betreuern entgegengebracht wird. Sie spricht
über die zentrale Rolle von Management und Leitung, wenn
es darum geht, eine Vision in die Praxis umzusetzen und daran
zu arbeiten, die hierfür nötigen Mittel zu beschaffen: „Es
reicht nicht aus, zu sagen, dass wir uns verpflichten; unsere
Verpflichtung muss durch unsere Taten gezeigt werden – durch
die Grundsätze, die wir aufschreiben, und durch die Strategien,
einschließlich solcher zu finanzieller Unterstützung, die wir
entwickeln, um sie in die Tat umzusetzen.“
In Kapitel 6 stellen Elizabeth Memel und Lee Fernandez
eines der grundlegenden Elemente der Arbeit von RIE in den
USA vor, die Eltern-Kind-Kurse. Die ganzheitliche Methodik
der Organisation bringt es mit sich, dass diese Kurse für Eltern
oder Pflegepersonen Unterstützung und Basis für das eigene
Wachstum bieten, für Kinder eine bereichernde Umgebung
und für RIE-Betreuer aller Stufen ein geeignetes Übungsgelände darstellen. Die Autorinnen beschreiben Situationen, in
denen all diese Funktionen in jeweils ganz unterschiedlichem
Kontext, darunter auch im Zusammenhang mit dem Studium
am College, erfüllt sind. Das Schönste an ihrem Kapitel ist die
Stelle, an der wir miterleben, wie Entspannung und Verständnis
auf Seiten der Eltern allmählich anwachsen, als sie erkennen,
dass sie, in Gerbers Worten, „mehr beobachten und weniger
tun“ und darauf vertrauen können, dass sie selbst die Experten
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Authentische Beziehungen in der Gruppenbetreuung
für ihr eigenes Kind sind. Wie Memel und Fernandez in Kapitel 6 sagen: „Die Mutter oder der Vater ist dann weniger aktiv
und deshalb weniger belastet und frustriert, und das Kind ist
aktiver und deshalb freier und hat bessere Möglichkeiten, seine
eigene Persönlichkeit zum Ausdruck zu bringen.“
Sie betonen auch die Bedeutung, die ein Prozess wie dieser
für die Stärkung und Unterstützung der Eltern sowie ihrer
Kinder hat. Dies führt zurück zu den Punkten, die Stephanie
Petrie in Kapitel 1 anspricht, wenn sie über den Nutzen eines
Ansatzes wie diesen, der viel Zeit, aber wenig Mittel erfordert,
für arme und gefährdete Familien nachdenkt: „Intervention
muss die Stärken, die Familien haben, hervorheben, statt die
Schwächen zu unterstreichen. Das nicht defizitäre Modell von
RIE propagiert Stärkung als einen im Lauf der Zeit für Eltern
kleiner Kindern aus jedem Teil der Gesellschaft stattfindenden
Prozess der Veränderung.“
Kapitel 1
Die Arbeit von
Emmi Pikler und Magda Gerber
Stephanie Petrie
Das Ziel ist innere Disziplin oder Selbstdisziplin,
Selbstvertrauen und Freude an der Kooperation.
Magda Gerber
Emmi Pikler und Magda Gerber
Die Arbeit von Magda Gerber und ihrer Mentorin, Kollegin
und Freundin Emmi Pikler (1902–1984) ist seit mehr als 50
Jahren und in Ländern mit vollkommen unterschiedlichen
sozioökonomischen und politischen Systemen von Nutzen.
Ihre Arbeit nahm im kommunistischen Ungarn nach dem
Zweiten Weltkrieg ihren Anfang, und in den späten 1950erJahren brachte Magda Gerber im Zuge ihrer Auswanderung
die Prinzipien der respektvollen Kinderbetreuung in die USA,
der Apotheose des Kapitalismus, wo sie dieselbe Wirksamkeit
erlangten. Es ist bemerkenswert, dass die zwei Frauen auch auf
dem Höhepunkt des Kalten Krieges, als sich die zwei Seiten
des Eisernen Vorhangs gegenseitig mit Feindschaft und Argwohn betrachteten (Hobsbawm 1994), weiterhin zusammen-
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Authentische Beziehungen in der Gruppenbetreuung
arbeiteten und Ideen austauschten. Noch heute unterhalten
die gemeinnützige Organisation Resources for Infant Educarers
(RIE), von Magda Gerber in den USA zur Förderung respektvoller Säuglings- und Kleinkindpflege gegründet, und das 1946
von Pikler gegründete Nationale Methodologische Institut für
Kinderpflege und -erziehung (nach der Straße in Budapest, in
der das Institut liegt, kurz Lóczy genannt), das zurzeit unter der
Leitung von Piklers Tochter Anna Tardos steht, enge Verbindungen und lernen weiterhin voneinander.
Judit Falk (1986), zuerst stellvertretende Leiterin und
später Leiterin des Lóczy, sieht in Piklers Ausbildung zur Kinderärztin in den 1920er-Jahren, ihrer Erfahrung als Mutter
und ihrer zehnjährigen Praxis als Kinderärztin in Budapest
vor dem Zweiten Weltkrieg die Hauptfaktoren, die Einfluss
auf die Ausrichtung ihrer Arbeit mit Kindern hatten. Piklers
Ausbildung am Universitätskinderkrankenhaus in Wien in den
1920er Jahren bei den Professoren von Pirquet und Salzer war,
was den Umgang mit kleinen Patienten betraf, extrem radikal.
Im Gegensatz zu den damals üblichen Praktiken der Kinderpflege wurde kleinen Kindern Kleidung angezogen, die freie
Bewegung zuließ. Sie durften aus ihrem Bett aufstehen und
spielen, wenn es ihnen gut genug ging, und auf den Stationen
waren Spielecken eingerichtet. Das System war auf kooperative
und respektvolle Interaktion mit den Kindern ausgerichtet,
die auf Beobachtungen ihres tagtäglichen Verhaltens basierte.
Während ihrer Ausbildung beobachtete Pikler auch, dass
Kinder, die sich in der häuslichen Umgebung frei bewegen
durften, weniger Unfälle erlitten, da sie körperlich geübter und
deshalb selbstsicherer waren. Ihre Vorstellungen nahmen konkrete Gestalt an, als in den frühen 1930er-Jahren ihre Tochter
geboren wurde und sie direkt erlebte, welche Vorteile solch ein
respektvoller, am Kind ausgerichteter Handlungsansatz für das
Kind und die Eltern hat. In den folgenden zehn Jahren entwickelte Emmi Pikler als Kinderärztin ihre Methoden mit Hilfe
ihrer Patienten und deren Familien weiter. Als sie 1946 von der
Stadt Budapest mit der Gründung des Lóczy beauftragt wurde,
Die Arbeit von Emmi Pikler und Magda Gerber
21
war sie bereit, ihre Ideen bei der Pflege von Kindern in die Tat
umzusetzen, die Beziehungen zu ihren Eltern und ihrer Familie
entbehrten.
Magda Gerber lernte Emmi Pikler zuerst als Mutter kennen,
deren Kind denselben Kindergarten besuchte wie ihre eigene
älteste Tochter. Sie beschreibt, wie sie Dr. Pikler als Kinderärztin für ihre Kinder verpflichtete und wie stark sie von der Art
beeinflusst wurde, wie Pikler sich ihnen gegenüber verhielt.
Anschließend arbeitete Magda Gerber mit ihrer Mentorin im
Lóczy, bis sie und ihre Familie in den späten 1950er-Jahren
Ungarn verließen und in die USA gingen. Sie stellte fest, dass
die Familienkultur in den USA in den 1950er-Jahren und
1960er-Jahren für Kinder nicht immer förderlich war. Sie fand
aber auch heraus, dass die grundlegenden Prinzipien respektvoller Pflege auch an anderen Orten als in Kinderheimen angewendet werden konnten und dort genauso wirkungsvoll waren.
Sie übernahm Piklers Ansatz und ihre Methoden bei der Arbeit
an verschiedenen Stellen, die sie in jenen ersten Jahren hatte:
in Kinderkrankenhäusern, Schulen für autistische Kinder, bei
Programmen, die Eltern in der Kindererziehung unterstützten,
und später in Kindertagesstätten.
Die Arbeit von Pikler und Gerber ist deshalb in Ungarn
und den USA am bekanntesten, wenngleich das Kinderbetreuungsangebot in einigen europäischen Ländern, vor allem in
Italien, Belgien und Frankreich, ebenfalls von ihr beeinflusst
wurde. Emmi Pikler genießt bei einigen europäischen Spezialisten auf dem Gebiet der Kinderbetreuung einen besonders
guten Ruf: „Cocever … ist der Meinung, dass Emmi Pikler,
der Leiterin des Lóczy Instituts, ein ähnlicher Status zusteht
wie den anderen großen Pädagogen, deren Fachgebiet die
frühe Kindheit ist, wie Maria Montessori und Celestin Freinet“
(Penn 1999, S. 28).
Es wurde jedoch darauf hingewiesen, dass ein Grund für den
geringeren Einfluss von Piklers Arbeit in Europa im Vergleich
mit anderen Theoretikern und Experten auf dem Gebiet der
Kindheitsentwicklung, wie zum Beispiel Montessori, darin zu
22
Authentische Beziehungen in der Gruppenbetreuung
sehen sei, dass am Anfang einige der im Lóczy untergebrachten
Kinder die Sprösslinge von Dissidenten waren, also aus politischen Gründen von ihren Familien getrennt worden waren
(Penn 1999). Weil der Grund dafür, dass die Betreuung außerhalb der Familie stattfand, für viele Menschen inakzeptabel war,
wurde der Qualität der Pflege keine Beachtung geschenkt. Seit
ihrem Tod im Jahr 1984 hat Piklers Arbeit dennoch in vielen
Ländern beständig an Einfluss gewonnen:
Die Arbeit zur motorischen Entwicklung und die Vorstellungen über den Lernprozess finden Interesse bei denjenigen, die mit Kindern mit „besonderen Bedürfnissen“
arbeiten. Elterngruppen wurden eingerichtet, die für die
Erziehung der Kinder den „Pikler-Ansatz“ empfehlen. In
jüngerer Zeit, da die Unterschiede zwischen der „mütterlichen Beziehung“ und der „beruflichen Beziehung“
analysiert sind, sehen wir, dass Pflegeeltern und Tagespflegepersonen auf diese Erfahrung zurückgreifen. Die
jüngste Entwicklung ist die, dass Wissenschaftler und
Akademiker Interesse an dem reichhaltigen Material
zeigen, das die Beobachtungen und ihre Analyse liefern.
Diese tragen zu neuen Fortschritten beim Verständnis
von früher Entwicklung und den Bedingungen, unter
denen die Entwicklung verbessert werden kann, bei.
(Appell 2003)
In Großbritannien ist die Arbeit dieser Frauen weniger bekannt.
Dies mag daran liegen, dass sich sowohl die Politik als auch die
Einstellung in der Gesellschaft hinsichtlich Erziehung und
Betreuung von kleinen Kindern ein wenig von denen unserer
europäischen Nachbarn unterscheiden. Im Gegensatz zu den
meisten europäischen Ländern werden diese Dienste eher als
eine nötige Hilfe für arbeitende Eltern oder für Eltern, die
Probleme mit der Erziehung haben, bereitgestellt, denn als
wertvolle Dienste für Kinder (Burden, Cooper und Petrie 2000;
Novak et. al 1997; Statham, Dillon und Moss 2001).
Die Arbeit von Emmi Pikler und Magda Gerber
23
Dieses Kapitel fasst die Ergebnisse der Untersuchungen zu
den Folgen schlechter Früherziehung zusammen und hebt die
Bedeutung der Bindungstheorie hervor. Beides hatte großen
Einfluss auf Piklers Arbeit. Die Schlüsselelemente ihres Ansatzes zur Pflege von Kindern unter drei Jahren in Institutionen
werden ebenso skizziert wie der Ansatz von Magda Gerber für
die Arbeit mit Eltern und die außerfamiliäre Tagesbetreuung.
Anhaltspunkte für die Wirksamkeit der Ansätze werden überprüft. Die Begriffe „Pflegeperson“, „Betreuer“ und „Eltern“
werden im Austausch benutzt; dies soll die große Vielfalt an
Betreuungsformen zum Ausdruck bringen.
Die Auswirkungen
schlechter Früherziehung auf Kinder
Die schädlichen Folgen, die eine Heimerziehung für sehr kleine
Kinder hat, und die Auswirkungen von „Mutterentbehrung“
im Säuglingsalter auf die seelische Gesundheit eines Individuums im Erwachsenenalter wurden ungefähr zu der Zeit allgemein bekannt, als Emmi Pikler 1946 Leiterin des Lóczy wurde.
Wissenschaftler wie Spitz (1945) und Bowlby (1951) wiesen
die Auswirkungen von schlechter Früherziehung auf Gesundheit, Wachstum und die Entwicklung vom Säuglingsalter bis
zum Erwachsenenalter nach. Spitz bewies, dass Heimerziehung
von Säuglingen und kleinen Kindern zu niedriger Resistenz
gegenüber Krankheiten, zu hohen Todesraten, beeinträchtigter
motorischer und kognitiver Entwicklung und zu emotionaler
Verwirrung führt. Bowlbys Beobachtungen von Kindern, die
während des Krieges als Waisen, Evakuierte oder Flüchtlinge
von ihren Eltern getrennt wurden, sowie die frühen Erfahrungen junger, in Verbrechen involvierter Menschen führten dazu,
dass er unter Rückgriff auf viele andere Disziplinen die Bindungstheorie entwickelte. Ohne eine positive Bindungsbeziehung in den ersten Lebensjahren, so Bowlby, sei die Fähigkeit
eines Individuums, befriedigende Beziehungen aufzubauen und
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Authentische Beziehungen in der Gruppenbetreuung
im Erwachsenenalter gute seelische Gesundheit zu erlangen,
beeinträchtigt: „(D)ie anhaltende Entbehrung mütterlicher
Fürsorge kann für das kleine Kind schwerwiegende und weitreichende Auswirkungen auf seinen Charakter und damit auf sein
gesamtes zukünftiges Leben haben“ (Bowlby 1951, zitiert aus
Clarke und Clarke 2000, S. 13).
Die Bindungstheorie ist der bedeutendste theoretische
Beitrag des vergangenen Jahrhunderts zu unserem Verständnis
der psychologischen Entwicklung von Kindern. Bindung kann
definiert werden als „die Konstellation von Gefühlen und Verhaltensweisen, die Babys gegenüber ihren Eltern und anderen
Betreuungspersonen zum Ausdruck bringen“ (Sutton 1994, S.
41). In seiner Monographie (1951) richtete Bowlby sein Augenmerk auf die Trennung von Mutter und Kind und argumentierte, dass, wenn ein Kind die ersten zweieinhalb Jahre „gute
mütterliche Fürsorge“ entbehren muss, die schädlichen Folgen
für das heranwachsende Kind wahrscheinlich nicht mehr gemildert werden könnten. Dies wiederum habe vermutlich nachteilige Konsequenzen im Erwachsenenalter. Bowlbys ursprüngliche Hypothese wurde aus zahlreichen Gründen kritisiert, unter
anderem wegen einer Verzerrung der Stichproben in seiner
ersten empirischen Studie (Clark und Clark 2000). Feministen und andere argumentierten, dass er, davon ausgehend, die
Hauptbetreuungsperson sei weiblich, den Einfluss von Vätern
oder männlichen Partnern ausschließe und die gesamte Schuld
für nachteilige Auswirkungen bei Kindern den Müttern anlaste
(Riley 1983). Diese grobe Vereinfachung der Bindungstheorie
wurde in Großbritannien in den 1950er- und 1960er-Jahren
zur Rechtfertigung sozialpolitischer Entscheidungen benutzt,
die darauf abzielten, Frauen vom Eintritt in den Arbeitsmarkt
abzuhalten, mit dem Argument, dies sei schlecht für die Kinder
(Williams 1995). Tatsächlich waren die Gründe ökonomischer
Natur, und als sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt und die
sozialen Umstände wieder änderten, änderte sich auch die auf
arbeitende Mütter mit kleinen Kindern gerichtete Sozialpolitik.
In Großbritannien, wie auch in den USA, werden arme Frauen
Die Arbeit von Emmi Pikler und Magda Gerber
25
nun dazu ermuntert, ins Arbeitsleben einzusteigen, um auf
diese Weise für sich und ihre Kinder einen Weg aus der Armut
zu finden. Wie im letzten Kapitel beschrieben wurde, konzentrieren sich die Kinderbetreuungsprogramme häufig zum
Nachteil der Kinder auf die Bedürfnisse der Erwachsenen und
größerer Teile der Gesellschaft.
Bowlby forschte und theoretisierte bis zu seinem Tod im
Jahr 1990. Andere Empiriker und Theoretiker (Ainsworth et.
al. 1978; Clarke und Clarke 1976; Parkes, Stevenson-Hinde
und Marris 1991; Rutter 1981) haben zu unserem Verständnis
seiner Theorien beigetragen. Bindungsverhalten von Babys
gegenüber ihren Hauptpflegepersonen und deren Reaktionen
den Babys gegenüber sowie die daraus resultierenden Folgen
für Kinder werden besser verstanden und untermauern heute
zum großen Teil Politik und Methoden der Kinderbetreuung in
Großbritannien. Das Framework for the Assessment of Children
in Need and their Families (DoH, DfEE, HO 2000) beispielsweise, das gesetzlich vorgeschriebene Vorgehen und die dazugehörige Anleitung zur Einschätzung gefährdeter Kinder, basiert
auf der Bindungstheorie innerhalb eines aus ökologischen Systemen bestehenden Rahmens und reflektiert den gegenwärtigen
Forschungsstand und die neuesten Erkenntnisse aus der Praxis
(Sidebotham 2001). Mit anderen Worten, die Kausalität bei
Kindheitsschäden ist komplex, und jede Einschätzung muss
kindzentriert sein und die positiven wie defizitären Bindungsbeziehungen sowie das Potenzial für Verbesserungen berücksichtigen:
Die Zeit überdauert hat die These, dass die Merkmale
von Eltern-Kind-Beziehungen bei der Kindererziehung
einen zentralen Aspekt darstellen, dass die Entwicklung
sozialer Beziehungen eine entscheidende Rolle beim
Persönlichkeitswachstum spielt und dass Abnormalitäten
in Beziehungen bei verschiedenen Arten von Psychopathologie von Einfluss sind. (Rutter, M., zitiert in Howe
et al. 1999, S. 10)
26
Authentische Beziehungen in der Gruppenbetreuung
Die im Folgenden kurz dargestellten Schlüsselelemente von
Bowlbys Theorie erweisen sich weiterhin als nützlich:
• Die Bindungsfigur: das Individuum, normalerweise
die Hauptpflegeperson, mit dem das Kind den Kontakt aufrechtzuerhalten versucht und die ein starkes,
allumfassendes und beständiges Gefühl von Sicherheit bietet.
• Bindungsverhalten: Dies ist ein Verhalten, welches
das Kind zeigt, um Nähe zu der Bindungsperson aufrechtzuerhalten oder herzustellen. Dazu gehören das
Suchen von körperlicher Nähe („proximity-seeking“),
das Benutzen der Bindungsperson als sichere Ausgangsbasis für Erkundungen der Umgebung, wobei
das Kind von Zeit zu Zeit zur Bindungsperson
zurückkehrt („secure-base effect“), und der Protest
bei Trennung („separation protest“). Diese Verhaltensweisen treten am ehesten im Alter von etwa sechs
oder sieben Monaten bis drei Jahren auf (vgl. den von
Mary Ainsworth entwickelten Test „strange situation“
[Ainsworth et al. 1978]).
• Pflegeverhalten: Dies sind die Reaktionen der Hauptpflegeperson auf das Bindungsverhalten des Kindes,
darauf ausgerichtet, das Kind zu besänftigen, ihm
Trost und Verständnis zu bieten, z. B. Sensitivität,
Anerkennung und Zugänglichkeit (sowohl emotional
als auch körperlich).
• Trennungsverhalten: Protest, Rückzug und inneres
Loslösen sind die emotionalen Verhaltensweisen, die
Kinder zeigen, wenn sie von ihrer Bindungsfigur
getrennt werden. Sie ähneln den emotionalen Phasen,
die Erwachsene nach einem schmerzlichen Verlust
durchleben (Fahlberg 1994; Parkes et al. 1991).
Die Arbeit von Emmi Pikler und Magda Gerber
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• Bindungsklassifikationssystem: Das klassische Paradigma, vorgeschlagen von Bowlbys Kollegin Mary
Ainsworth (Ainsworth et al. 1978) und später von
Main und Soloman verbessert, unterteilt Bindungsbeziehungen in unsicher-vermeidend, sicher, unsicherambivalent/resistent, unsicher-desorientiert/desorganisiert und Nichtbindungen. (Diese Varianten sind in
allen Gesellschaften zu beobachten und ihre Ausmaße
scheinen mit den gesamten kulturellen Merkmalen
der Gesellschaft in Beziehung zu stehen, z. B. damit,
ob der gesellschaftliche Schwerpunkt auf Wettbewerb
oder auf Kooperation liegt.)
Die Bedeutung, die Spielen und selbstgesteuertes Lernen für
das optimale Heranwachsen und die bestmögliche Entwicklung eines Kindes auf allen Ebenen – körperlich, geistig und
seelisch – haben, wurde von einem weiteren bedeutenden Theoretiker hervorgehoben, der sich mit der Kindesentwicklung
beschäftigte. Jean Piaget (1975) sah Kinder als von Geburt an
aktiv im Prozess des Wissenserwerbs Beteiligte. Nach Piaget
durchlaufen Kinder verschiedene Stadien kognitiver Entwicklung, eine jede gekennzeichnet durch spezielle Denkstrukturen.
Die physische Aktivität eines Kindes von den ersten Tagen an
führe, so Piaget, zu kognitiver Aktivität und zur Entwicklung
von Bewältigungskompetenz und Selbstachtung. Erik Erikson
(1950) betonte die Bedeutung von Vertrauen, das sich durch
Beziehungen mit anderen entwickelt und neben Autonomie
entscheidend für die optimale Entwicklung eines Kindes sei.
Seit den 1940er- und 1950er-Jahren erforschen diese und
andere auf Kindesentwicklung spezialisierte Theoretiker weiterhin die Welt des Kindes und erweitern damit unser Verständnis
von den essenziellen und notwendigen Voraussetzungen für
optimale Entwicklung. Es ist allerdings bemerkenswert, dass
zur selben Zeit, als Bowlby, Piaget und Erikson ihre höchst einflussreichen Theorien entwickelten, Emmi Pikkler genau dieselben Themen untersuchte, jedoch sowohl vom Standpunkt einer