Die aktive Reporterrolle

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Die aktive Reporterrolle
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Fachjournalist
Investigativer Journalismus, Teil 1: Klischee und
Wirklichkeit
Das Genre im Portät
Ann-Kathrin Lindemann · 23. Juni 2016
Investigativer Journalismus hat mit dem Klischee vom Journalisten als mutigem
Einzelkämpfer für Recht und Gesetz genauso wenig zu tun wie mit dem des
sensationslüsternen Spürhunds. Doch was ist er dann, welche Wurzeln hat er und
welche Rolle spielt er heutzutage? Diese Fragen werden in einer dreiteiligen Reihe
beantwortet. Sie ergänzt die Beitragsserie “Investigative Recherchen” um theoretische
Erkenntnisse über das Genre. Dieser erste Teil befasst sich mit den Klischees, die dem
investigativen Journalismus immer noch anhängen. Haben diese Vorurteile einen
sachlichen Hintergrund? Hier erfahren Sie, wie er sich selbst sieht und wie er in der
Wissenschaft definiert wird.
Wenn in der Belletristik oder im Fernsehen Journalisten auftreten, wird man häufig
mit demselben Klischee konfrontiert: der Journalist als einsamer Wolf, der einer
„heißen Sache“ über Korruption, kriminelle Machenschaften oder ähnlichen
Skandalen auf der Spur ist und häufig genug deswegen selbst in Bedrängnis gerät. In
diesen Formaten arbeitet der Journalist unabhängig von seiner Redaktion, trifft sich
heimlich mit Informanten und dringt mit einer falschen Identität bis in das Zentrum
des Geschehens vor.
Diese Schilderung ist zwar weit vom Alltag eines deutschen Journalisten entfernt,1
weist aber doch einige Aspekte auf, die typisch für investigativen Journalismus sind:
verdeckte Recherche, Zusammenarbeit mit Informanten oder das Aufdecken von
Missständen, um nur einige wenige Beispiele zu nennen.
Definitionen
Die wissenschaftliche Literatur zu investigativem, also nachforschendem oder enthüllendem Journalismus ist sehr stark praxisorientiert,2 was sich auch in dessen
Definitionen zeigt. So geben Bloch und Miller an, investigativer Journalismus
unterscheide sich von regulärem Journalismus vor allen durch die Gründlichkeit der
Arbeit: „While all reporting utilizes the same basic tools (questions, interviews,
research), these weapons are more skillfully for an investigative piece.“3
Auch aufgrund solcher Definitionen wird investigativer Journalismus oft als die
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Vollendung journalistischen Könnens angesehen, in der die Praktiken der Recherche
und des Erzählens perfektioniert werden.4 Nach dieser Logik müsste ein
durchschnittlicher Journalist also lediglich „besser“ werden, um sich zu einem
investigativen Journalisten zu entwickeln.
Wie sehr diese Auffassung an der Realität vorbei geht, verdeutlicht eine Betrachtung
der systematischeren Definitionen von investigativem Journalismus. Besonders
folgende drei Kriterien werden dabei immer wieder genannt:
1. die aktive Reporterrolle,
2. die Widerstände bei der Recherche sowie
3. die gesellschaftliche Relevanz der Themen.5
Die aktive Reporterrolle
Der Begriff der „aktiven Reporterrolle“ sieht den investigativen Journalisten als
treibende Kraft der Recherche und Veröffentlichung. Das heißt jedoch nicht, dass nur
die Themen investigativ bearbeitet werden können, die ein Journalist selbst
entwickelt. Eine investigative Recherche kann auch durch einen Themenvorschlag
einer redaktionsexternen Person oder Organisation ausgelöst werden, zum Beispiel,
wenn eine Tierschutzorganisation einen Journalisten auf Misshandlungen bei
Tiertransporten hinweist. Entscheidend für die aktive Reporterrolle ist, dass der
Journalist eigene Recherchen zu dem Thema anstellt, neue Quellen und Informationen
nutzt und selbstständig entscheidet, wann etwas veröffentlicht oder auch nicht
veröffentlicht wird. Bei der Recherche können dann zwar auch Informanten (oder
“Whistleblower”) eine Rolle spielen, diese dürfen jedoch keinen Einfluss auf deren
inhaltliche Orientierung haben oder die einzige Informationsquelle darstellen. Der
Journalist muss in seiner investigativen Arbeit unabhängig bleiben und darf sich nicht
zum öffentlichen Sprachrohr einer Interessengruppe machen (lassen). Um eine
Instrumentalisierung durch Informanten zu verhindern, sollte er Informationen immer
mit anderen Quellen abgleichen und verifizieren.6
Die Widerstände bei der Recherche
Die Widerstände bei der Recherche7 können vielfältig sein: von der Weigerung,
bestimmte Informationen herauszugeben, bis hin zu der Weitergabe von falschen
Informationen. Grundsätzlich sucht ein investigativ arbeitender Journalist nach
Informationen, die jemand verbergen will. Die Bandbreite reicht dabei von konkreten
Handlungen, wie unerlaubten Finanztransaktionen oder Ausbeutung von Arbeitern,
bis hin zu diffuseren Vorwürfen oder auch explizitem Nicht-Handeln, wie bewusstem
Missachten von Sicherheitsvorschriften. Informationen, die dem Ansehen einer Person
oder Organisation schaden können, werden in der Regel gut geschützt. Ein
investigativ arbeitender Journalist muss “quasi zum Detektiv”8 werden, um an alle
benötigten Informationen für seinen Artikel zu kommen. Die aktive Behinderung der
Recherche durch Dritte ist laut Redelfs zudem ein wichtiges Kriterium, um
investigativen Journalismus von Recherchejournalismus zu unterscheiden. Beide
journalistischen Genres zeichnen sich durch einen hohen Rechercheaufwand aus,
allerdings fokussiert Letzterer das neue Zusammenstellen oder Zusammenfassen von
bereits zugänglichen Informationen, während investigativer Journalismus sich mit
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einem Gegenspieler konfrontiert sieht, der die Veröffentlichung des Materials
verhindern will.9
Als Reaktion auf die erschwerte Recherche entwickelten sich verschiedene Techniken,
mit denen die Informationsschranken umgangen werden können. Dazu gehören die
verdeckte Recherche, die Arbeit mit Informanten und das Computer-Assisted
Reporting (CAR).
Die verdeckte Recherche wurde in Deutschland vor allem durch Günter Wallraff
bekannt.10 Dabei nimmt der Journalist – häufig über mehrere Wochen oder Monate –
eine falsche Identität an, um entweder direkten Zugang zu Informationen zu erhalten
(z. B. als Arbeiter in einem Betrieb) oder um das Vertrauen von relevanten Personen
zu gewinnen und so indirekt Zugang zu den Informationen zu bekommen. Da diese
Recherchetechnik auf einer Täuschung beruht, läuft ein investigativer Journalist bzw.
dessen Medium jedoch Gefahr, im Anschluss von den ausgespähten Personen oder
Organisationen verklagt zu werden.11 Methoden der verdeckten Recherche sollten
deshalb nur mit Bedacht eingesetzt werden.
Informationsschranken können auch durch die Arbeit mit Informanten umgangen
werden. Diese sollten jedoch nicht die alleinige Quelle für Informationen darstellen,
sondern lediglich Ergänzungen liefern und neue Recherchewege vorschlagen.12
Das Computer-Assisted Reporting (CAR) hat sich vor allem in den USA als investigative Recherchemethode durchgesetzt. Dabei werden von den Journalisten
Datenbanken aufgebaut und betreut, um durch das Auswerten der Daten Missstände
zu entdecken und darüber zu berichten13. In Deutschland ist diese Technik bisher
wenig verbreitet.
Da alle Arbeits- und Recherchemethoden auch von Journalisten anderer Genres
verwendet werden,14 sind insbesondere die bearbeiteten Themen ein wesentliches
Abgrenzungsmerkmal des investigativen Journalismus.
Die gesellschaftliche Relevanz der Themen
Eine gesellschaftliche Relevanz der Themen ist beim investigative Journalismus generell gegeben, da er sich mit Themen von öffentlichem Interesse befasst. Damit ist er
scharf von Tabloid-, Boulevard- oder Sensationsjournalismus abzugrenzen, in dem
mitunter ähnliche Recherchetechniken verwendet werden, um das Privatleben
insbesondere von prominenten Personen auszuspähen.15
Investigativer Journalismus erfüllt zudem eine normative Funktion, indem er, mehr
noch als regulärer Journalismus, als vierte Gewalt Politik, Wirtschaft und
gesellschaftliche Akteure einer Machtkontrolle unterzieht. Dabei werden nicht nur
rechtliche Verstöße thematisiert, sondern auch die Verletzung ethischer Normen, die
möglicherweise (noch) nicht Bestandteil juristischer Regulierungen sind.16
Insbesondere, wenn ein Missstand durch das Handeln einer Einzelperson verursacht
wird, sollte investigativer Journalismus darauf achten, auf das negative Handeln der
Person hinzuweisen und sie nicht persönlich anzugreifen und niederzuschreiben.
Angriffe auf eine Person werden schnell boulevardesk; investigativer Journalismus
sollte dagegen in erster Linie Entscheidungen oder Verhaltensweisen der Person
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kritisieren und so Distanz zum Sensationalismus wahren.17
Singuläre und tagesaktuelle Ereignisse rücken nur selten in den Fokus des
investigativen Journalismus. Bloch und Miller zitieren zur Veranschaulichung die
treffende Beschreibung eines investigativ arbeitenden Journalisten: “Investigative reporting deals with issues and conditions, rather than incidents and events.”18
Diese Langfristigkeit von investigativen Themen greift auch Ludwig auf, der zusätzlich
zu den drei oben dargestellten Definitionskriterien noch drei weitere, vor allem in der
Praxis relevante Elemente des investigativen Journalismus identifiziert.
Investigativ arbeitende Journalisten müssen nach Ludwig zusätzlich:
1. einen “lange[n] Atem” haben und dem Publikum die recherchierten Themen immer
wieder “ins Gedächtnis rufen”.19 Wenn ein Journalist einen einmal recherchierten
Missstand im Auge behält, ergeben sich zudem leicht weitere Artikel über die neuen
Entwicklungen des Falles oder über mögliche Langzeitfolgen des Systemversagens.
2. präzise darstellen. Dies gebietet nicht nur die Sorgfalt bei der Recherche, auch
Gerichtsprozesse können durch eine exakte Darstellung der Ereignisse verhindert
werden.20 Eine unpräzise Berichterstattung kann dazu führen, dass es den an den
Pranger gestellten Personen oder Organisationen leichter fällt, die Vorwürfe zu widerlegen – und sie gewarnt sind, in Zukunft vorsichtiger vorzugehen. Im schlimmsten Fall
leidet die Glaubwürdigkeit der gesamten Recherche unter der unpräzisen Darstellung
eines Ereignisses.21
3. die Informationen verständlich für die Leser aufbereiten. Hierzu können auch Grafiken
oder ein besonderes Layout (z. B. bei Online-Veröffentlichungen) herangezogen
werden.22
Zwischenfazit
Zusammenfassend kann investigativer Journalismus definiert werden als ein
Journalismusgenre, welches sich mit Themen des öffentlichen Interesses beschäftigt
und auf gesellschaftliche Missstände hinweist. Dabei nimmt der investigative
Journalist eine aktive Rolle in der Recherche und Veröffentlichung des Materials ein
und muss gegen Widerstände und Behinderungen der Recherche ankämpfen. Die
Artikel und Berichte zum recherchierten Material sollten möglichst präzise und
verständlich sein und auch die langfristigen Folgen oder weiteren Entwicklungen des
Falls behandeln.
In Teil 2 der Beitragsserie erfahren Sie alles über die Geschichte des investigativen
Journalismus.
Titelillustration: Esther Schaarhüls
Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen FachjournalistenVerbands (DFJV).
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Die Autorin Ann-Kathrin Lindemann studierte von 2007 bis
2010 Kommunikationswissenschaft an der LudwigMaximilians-Universität München. Von 2010 bis 2011
absolvierte sie den Masterstudiengang Science Journalism an
der City University London. Seit 2011 ist sie wissenschaftliche
Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft,
insbesondere Medienpolitik, der Universität Hohenheim. Seit
Oktober 2015 Mitarbeiterin im Humboldt-Reloaded-Projekt.
Dieser Beitrag wurde publiziert am Donnerstag den 23. Juni 2016 um 16:00
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