Ansprache zur Verabschiedung der Abschlussklasse 2016

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Ansprache zur Verabschiedung der Abschlussklasse 2016
Ansprache zur Verabschiedung der Abschlussklasse 2016
HofgutRössle,Nessellachen/Breitnau-9.Juli2016
LiebeSchüler,liebeElternundFamilienangehörige,liebeKollegen,
herzlichwillkommenandiesemFesKag!
IhrLieben,vonEuchmussichmichnunverabschieden,unddasistimmereine
ernsteSache.VielleichtwerdenwirunsjainZukunRnochabundzusehen,aberIhr
werdetdannnichtmehrmeineSchülerseinundichnichtmehrEuerLehrer.Wir
werdendanneineandereArtvonBeziehunghaben,-undjetztmüssenwireinEnde
findenfürEureZeithierinderSchuleaufdenNessellachen.Ihrwerdeteinenneuen
Anfangwagenmüssenunddürfen.
EsisteinschönerBrauch,zudiesemAnlasseinpaarWortezusagen,umEuchzu
EuremAbschlusszugratulierenundumvonEuchAbschiedzunehmen.Denn
AbschiedistwichXg,mansollnichteinfachsoauseinanderlaufen.
Jetztstehichdaundsollreden.AberwaskönnteichEuchnochsagen?
VieleTage,WochenundMonatelanghabtIhrmirzugehört.Ichweißeigentlich
nichtsmehrzusagen,wasIhrnichtschongehörthabt.IndieserganzenZeithabeich
geredetundgeschwätztundgelehrt,habevorgetragenunddargestellt,habedoziert
unddiskuXert,habeauchgeschimpRundgedrohtundkriXsiert,vielleichthabich
auchmanchmalbedeutungsvollgeschwiegen,abersichernichtoR.
WasalsosollichEuchnocherzählen,wasIhrnichtschondutzendfachvonmir
gehörthäKet?
DieserTagistjaeineSollbruchstelleinEuremLeben.Allessolljetztanderswerden,
langehabtIhraufdiesenTagzugelebt,ihnwohlherbeigesehnt.UndjetztstehtIhr
dazwischenTürundAngel,IhrgehörtschonnichtmehrrichXgdazu,aberganzweg
seidIhrauchnicht.DaistschonderLuRzugderFreiheitumEuch,derDuRist
kostbarundköstlich,abereinbisschenSchisshabtIhrwohlauch.Undvielleichtfühlt
IhraucheinegewisseWehmut,weildaeinStückLebenvorbeiist,undvielleichthabt
IhrauchdenVerdacht,dassIhrdieSchulenocheineganzeWeilenichtloswerdet,
dasssieEuchnochlangebegleitenwird.IchdenkedanichtandenInhaltvon
Lehrplänen,dievergessensichleichtundschnell,wennmannichtalltäglichUmgang
mitihnenpflegt.Nein,ichdenkeandieErfahrungen,diewirmiteinandergemacht
haben,anunsereBegegnungenundAuseinandersetzungen,anunserRingen,anall
das,wasunsalsMenschengeprägthat.
ZumAbschiedwillichEuchetwasausmeinempersönlichenAlltagerzählen:
JedenMorgen,wennichmeineTascheausdemArbeitszimmerhole,umindie
Schulezugehen,fälltmeinBlickaufeineKarte,welcheinmeinemBücherregalsteht.
SiezeigteinGesicht.EssindgroßedunkleAugenineinemkleinen,sehrfalXgen
GesichteineraltenFrau,dievor10JahreninhohemAlterverstorbenist.Esistein
feinesGesicht,sehraltundsehrschön.EsistdasGesichtderDichterinHildeDomin.
SieschautvondieserKartemichan,diemirvorJahrenindieHändefiel.
DieDichterinHildeDomingehörtmitihrenWortenzumeinemLeben.Immerwieder
kannichmichinihrenGedichtenfinden,erweiternihreWortemeinenHorizontund
immerwiedermachtmirihreLyrikMut.IhreWorteklingenundlassenMelodien
entstehen.IhreGedichtemarkierenStandpunkte.HildeDominzeigtsich.Siezeigt
sichinihremSchmerzundsiezeigtsichinihrerHoffnung.Innereundäußere
ErlebnissefasstsieinWorte.UndihreWortegehenweitübereinpersönliches
Erlebenhinaus.HildeDominschenktsichinihrerSprache,mitihrenWortender
Welt.
NebendiesemGesichtstehendieWorte:
DeinOrtist
woAugendichansehn
wosichdieAugentreffen
entstehstdu.
Esgibtdich
weilAugendichwollen
dichansehenundsagen
dassesdichgibt
IchverstehedieseVersevonHildeDominalseinVersprechenundalseineMahnung.
AlsdieMahnung,imUmgangmitdenSchülernunddenKollegenimmeroffenzu
seinfürdieBegegnung,wahrzunehmenwermirindemanderenbegegnet.Die
Personsollichsehen,nichtdieEXkeKen,mitdenenwirunsbelegen,diemeistaus
densozialenRollenkommen,diewirsospielen,SchülerundLehrer,Erzieherund
Eltern.UnddamitsinddannimmerErwartungenundVorstellungenverknüpR,die
denBlickaufdiewirklicheIndividualitätverstellen.AusdiesenFallen,someinendie
VersevonDomin,mussmansichbefreien.NichtmitvorgefasstenMeinungenund
festenErwartungenaufdieanderenzugehen,guterSchüler,schlechterSchüler,
sondernoffenseinfürdaswaskommt,fürÜberraschungenundneueErfahrungen.
UnddieseVerseversprechen,dassichzumirselbstkommedurchden
aufmerksamenBlickderAnderen,dassichmichselbstannehmenkann,wennichim
Blickeinesanderenspüre,dassermichannimmt.SowirdmanerstzumMenschen,
zurPerson,manbrauchtdazudieanderen,diemichannehmen,diemirwohlwollen.
DannmacheichmichaufmeinenWegzurSchule,laufeanderKapellevorbei,die
wirhiervorJahrenhiergebauthaben,tretedortfüreinpaarAugenblickeeinund
begrüßedieVögel,diesichhierinzwischeneingenistethaben.InGedankengeheich
denVormiKagdurch,wasichheutezutunhabe,wasichnichtvergessendarf:das
TelefonatmitEltern,dieKonferenzmitmeinenKollegenunddieStunden,diezu
haltensind.DanngeheichhinunterzumRössle.ManchmalbegrüßenmichSchüler
vordemHausmiteinemfreundlichen„GutenMorgen,Hubert!LassDirnurZeit,wir
haben’snichteilig.“HellesLachen,strahlendeAugen,fröhlicheGesichter.
EinpaarMinutenspätersitzendieselbenvormirimKlassenraum.Dereinehatsein
HeRvergessen,derandereseinMäppchen,eindriKerseineSchulaufgaben.Trotzig
schautdereineausdemFenster,derandereverlegenaufdenBoden.Ichgucke
grimmig,dasverlangtderBerufso,Schlampereikannnichtgeduldetwerden,
außerdembinichwirklichsauer,alleskannmanihnenhundertmalsagen,und
immerwiederhatmandenEindruck,esnutztgarnichts.
DieVersevonHildeDominsindweitweg.MeinOrtistamPult,EurerinderBank,
dazwischengähntmanchmaleinAbgrund.
Später,oRinderPauseoderbeimgemeinsamenMiKagessen,dagelingtdurchein
Blick,durcheinWortdanndocheinBrückenschlagüberdiesenAbgrund.
HildeDomin,diekluge,kenntdas.SiehaKeaucheinmaleineRedezuhalten,zu
ihremeigenenSchulabschluss.Daistzulesen:
BereitseinfürdieAugenblicke,woZeits>llsteht.IndenenderMenscherselbstist.
Ganzerselbst,nurdannisterauchfähig,einszuwerdenmitdemandern.Dasist
dasParadox:Zeitistnur,woZeitauHört:inderPause.NureinIchkannseines
NächstenBrudersein.
WirwerdenoRwohllebenmüssenmitStrukturenundZwängenamArbeitsplatz,in
denBetrieben,indenSchulen.Siewerdenversuchen,unsimmerwieder
einzufangenundihreRegelnzudikXeren.Dasistnichtimmerzuändernund
bisweilenwohlauchprakXsch,sofunkXoniertnunmaldieWelt.
Aberandererseits:WirwollenjamehrseinalsRädchenimGetriebederWelt,als
Automaten.Alsosolltenwirnichtresignieren,wirmüssennuroffenseinfürdie
Pausen,fürjeneAugenblicke,indenendieZeitsXllsteht.ManwirddanndenMut
brauchen,sichausderRollefallenzulassenunddasUnüblichezuriskieren.Auch
dazuweißHildeDomineinenRat:
GebtdemandereneineChance.ErhatsovielAngstvorEuchwieihrvorihm.Erhält
euchseinerseitsvielleichtfürAutomaten.E>keMertihnnicht.Vertrauenistdas
Schlüsselwort.Vertrauen,diesesschwersteABC.Buchstabiertestäglichneu.Ohne
Wehleidigkeit.
DannistauchdieÜbergabeandieKollegendesNachmiKagdienstesrumundich
machemichaufdenHeimweg.VordemHaustreffeichjeneSchülervomMorgen
wieder,dieSXmmenhellundklar:„Tschüss,Hubert,bismorgendann!“IhrBlick
geradezuköniglichfrei,nixwiewegindenNachmiKag,indiefreieZeit.
AufdemWegnachHausegeheichselbstabernochmaldenVormiKaginmeinen
Gedankendurch:wasichvergessenhabe,wasgeklappthat,undwasnicht.Wasich
nochmachenmuss,wasnochkorrigiertunddurchgesehenwerdenmuss,vieles
stapeltsichschonaufdemSchreibXsch.
DannbinichwiederinmeinerWohnung.UndwennichdieTascheaufmeinem
SchreibXschablege,schautHildeDominwiederzumirherüber-diegroßenklugen
Augen,ohneSpoK,ohneIronie.AbereinbisschengeprüRfühleichmichschon,was
habeichandiesemVormiKaggemachtausihrenVersen,ausdemgroßen
Versprechen,ausdergroßenMahnung?
DeinOrtist
woAugendichansehn
wosichdieAugentreffen
entstehstdu.
Ichhoffe,dassIhrdieErfahrungsolcherAugenblickeinEurerZeithierbeiuns
gemachthabtundichwünschevorallem,dassEuchsolcheAugenauchaufEuren
künRigenWegenbegegnenundansehenwerden.
EuchundIhnenallendankeichsehrfürdieAufmerksamkeit.
M.HubertSchwizler

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