Editorial - Franz Steiner Verlag

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Editorial - Franz Steiner Verlag
Editorial
PETER F. E. SLOANE
Wo die wilden Kerle wohnen!
Das Jungenproblem in Klassen des Übergangssystems
„Wo die wilden Kerle wohnen!“ lautet der Name eines Kinderbuchs von MAURICE
SENDAK. Die amerikanische Originalausgabe erschien 1963 unter dem Titel „Where
the wild things are“: Die Hauptfigur Max sitzt in seinem Wolfskostüm beim Abendessen und macht Unfug. „Wilder Kerl“ schimpft seine Mutter. „Ich fress dich auf“,
sagt Max, daraufhin muss er ohne Abendessen ins Bett. In der Nacht wächst ein
Wald in Maxens Zimmer. Max erkundet ihn, erreicht einen Ozean und segelt über
diesen in das Land, in dem die wilden Kerle wohnen. Dies sind große Monster, doch
Max kann sie zähmen, da er keine Angst hat und ihnen in die Augen schauen kann.
So wird er zum König der wilden Kerle. Und es gibt jeden Tag Monstergebrüll und
Monstertänze, für ein ganzes Jahr. Dann hat Max Heimweh und er kehrt heim, ist
wieder in seinem Zimmer, wo das Abendessen auf dem Tisch steht. Es ist noch warm.
Das Buch wurde vor einigen Jahren verfilmt. Sowohl Buch als auch Film haben Erziehungswissenschaftler und Jugendforscher dazu motiviert, ernsthafte Bedenken
zu äußern. Gegenläufig dazu finden sich aber auch Interpretationen, die auf den
moralischen Wert der Geschichte verweisen: Max kehrt ja heim, ist geläutert, als ob
er nun doch kein wilder Kerl mehr sei. Man kann sicherlich überinterpretieren. Dies
ist mir auch nicht wichtig; interessant hingegen scheint zu sein, dass die Geschichte
selbst ein hohes Identifikationspotential hat. Kinder, denen man die Geschichte
vorliest, finden sich in Max und dessen Umgang mit den wilden Kerlen wieder. Wie
Max sind sie einen Moment lang wilde Kerle, und zwar erfolgreiche wilde Kerle, die
toben und brüllen können und sich in einer von den Erwachsenen nicht gewollten
Art und Weise benehmen.
Das ist dann schon als normativ wirkendes Bild eher verdächtig – zumindest
für den wirklich ernsthaften und erwachsenen Pädagogen. So droht Max zuweilen
das gleiche Schicksal wie Pippi Langstrumpf, an der sich die pädagogische Welt
wegen ihrer so verquer kinderlogischen Weltsicht durchaus auch lange gerieben
hat: Sprache, Verhalten und Lebensführung entsprachen so gar nicht dem, was
man im pädagogischen Prozess erreichen will.
Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 110. Band, Heft 1 (2014) – © Franz Steiner Verlag, Stuttgart
Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in
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„Die wilden Kerle“ gibt es immer noch und sie entziehen sich anscheinend erfolgreich dem Erziehungsbemühen ihrer Lehrerinnen1, was sie aber – und das ist dann
auch zugleich die immanente Tragik im wahren Leben – in die Situation bringt, nicht
erfolgreich zu sein. Es schadet ihnen.
Es geht um Jungen, die sich anders verhalten, als dies im schulischen Prozess
von ihnen erwartet wird. So haben wir in einem Projekt, bei dem es u. a. um die
Entwicklung von Unterrichtseinheiten für Klassen des Übergangssystems2 geht,
eine konkrete Begegnung mit ihnen gehabt. Dieses Entwicklungsprojekt führen wir
u. a. in Kooperation mit drei Berufskollegs in Ostwestfalen-Lippe durch3. Mit den
einzelnen Schulen haben wir dabei Zielvereinbarungen über Entwicklungsaufgaben
und Forschungszugänge getroffen, um so an den konkreten schulischen Problemkontexten arbeiten zu können.
So kam es dann am Erich-Gutenberg-Berufskolleg in Bünde zu einer Vereinbarung über das Projekt „Wilde Kerle“. An dieser Schule hat man vor Jahren bereits
ein sehr umfassendes Konzept zum selbstorganisierten Lernen (SOL und SOL-Ja)
in Klassen des Übergangssystems, u. a. im Berufsgrundschuljahr (BGJ), umgesetzt.
Die Schule versteht ihr SOL-Konzept nicht als eine Methode, sondern als einen
umfassenden systemischen Ansatz. Hierzu heißt es auf der Homepage4:
„SOL ist ein systemischer Ansatz, der neue Methoden in ein inhaltlich und pädagogisch
definiertes Unterrichtskonzept integriert und damit einen Rahmen für die Umsetzung einer
neuen Lern- und Unterrichtskultur bildet. Diese steht für die Vermittlung und den Erwerb
fachlicher und überfachlicher Kompetenzen, die sich an den Bedürfnissen der Berufs- und
Arbeitswelt und dem Ziel des mündigen, handlungskompetenten Bürgers orientieren.“
Es wurde das Selbstlernkonzept von Herold5 übernommen und an die besonderen
Bedürfnisse der schulischen Bildungsgänge angepasst. Hierfür wurde das gesamte
Obergeschoss der Schule umgebaut. Es gibt unterschiedliche Lernräume und
1 Eigentlich schreibe ich immer ohne bewusste Implikation auf das Geschlecht, vermeide aber Formulierungen wie LehrerInnen oder Lehrer und Lehrerinnen und verweise daher üblicherweise in
der ersten Fußnote darauf, dass, um diese sprachlichen Konstrukte zu vermeiden, eher zufällig
von Lehrer oder Lehrerin, von Schülerin oder Schüler gesprochen wird und das jeweils andere
Geschlecht dann mit gedacht werden soll. In diesem Beitrag ist jedoch der Sachverhalt, dass es
um Schüler und zum Teil um Lehrerinnen geht von großer Bedeutung, daher müssen sprachliche
Unterscheidungen gemacht werden und das jeweils andere Geschlecht ist nicht mit gedacht.
2 Es geht um das Projekt „Neugestaltung von Lernprozessen an Berufskollegs“ (NeGeL), welches
von der Unfallkasse NRW und der Reinhard Mohn Stiftung über eine Laufzeit von fünf Jahren
unterstützt wird.
3 Die beteiligten Schulen sind das Erich-Gutenberg-Berufskolleg in Bünde, das Lüttfeld-Berufskolleg in Lemgo und das Reinhard-Mohn-Berufskolleg in Gütersloh.
4 Quelle: http://www.egb-buende.de/egb/index.php?option=com_content&view=article&id=125&Ite
mid=179. Stand: 5. Januar 2014.
5 Es handelt sich hier um ein vom so genannten „Institut für Selbstorganisiertes Lernen“ angebotenes
Konzept, welches von Dr. Martin Herold geleitet wird. Das Institut firmiert mit dem Anspruch, dass
Herold ein ehemaliger Studiendirektor sei und dass man sich mit Dienstleistungen zum selbstorgansierten Lernen beschäftige. Hier soll keine weitere Auseinandersetzung mit dem Konzept
erfolgen. Es wird im Verlauf der Arbeit lediglich auf einige wenige Aspekte Bezug genommen
werden. Interessierte Leser und Leserinnen werden auf die Darstellungen auf der Homepage des
Instituts (http://www.sol-institut.de) verwiesen sowie auf die schulbezogenen Quellen in Fußnote
4 und 6.
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-ecken. Der Klassenverband wurde aufgelöst. Die Lehrerinnen und Lehrer arbeiten
in Teams mit den Lerngruppen und verstehen sich als Mentoren. Die Schulwoche
ist projektartig strukturiert: Die Schüler müssen ihr eigenes Lernpensum individuell
organisieren. Für diese Arbeit erhalten sie Punkte, die in einem entsprechenden
Punktekonto dokumentiert werden. In Gruppen arbeiten sie an Lernaufgaben.
Sie müssen eigenständig Lösungen entwickeln, wobei sie auf vorbereitete Materialien zurückgreifen sollen, die sie selbstständig bearbeiten (lesen, auswerten,
systematisieren, beurteilen usw.). Als drittes Merkmal neben dem selbstständigen
Zeitmanagement und den Projekten werden den Schülern Werkstätten zu einzelnen
Themen angeboten.6
Ohne weiter auf das Modell einzugehen, kann hier festgehalten werden, dass
es sich um ein Beispiel für eine vorbildliche Umsetzung von selbstorganisiertem
Lernen handelt; es wird v. a. deutlich, wie engagiert, kompetent und selbstständig
Schulen Lernumgebungen konzipieren und umsetzen können. Gespräche mit den
Lehrkräften zeigen, dass es eine hohe Zufriedenheit mit dieser Art der didaktischen
Arbeit gibt und dass die Lehrenden bereit und fähig sind, sich auf neue, veränderte
Arrangements konstruktiv einzulassen.
Eine Beobachtung der Lehrenden ist die Spaltung der Schülergruppe. So nimmt
die Hälfte der Schüler dieses Lernangebot konstruktiv auf, beteiligt sich und nutzt
die Möglichkeiten, die geboten werden. Die andere Hälfte verweigert sich auf eine
ganz besondere Art. Dies sind die „wilden Kerle“. Sie verstehen, was man von
ihnen verlangt. Sie haben aber anscheinend keine Lust auf das Lernarrangement,
beschäftigen sich anderweitig im Unterricht und tragen so zu einer „gewollten
Selbstdemontage“7 bei. In Hospitationen haben sich diese Überlegungen der Lehrkräfte bestätigt. Nimmt man diese Unterrichtsbeobachtungen und die Aussagen der
Lehrkräfte, so ergibt sich folgendes, erstes Bild:
Das SOL-Lernkonzept führt zu einer Teilung der Gruppe. Während eine Hälfte
der Lerngruppe, die überwiegend aus Mädchen besteht (es gibt auch einzelne
Jungen in dieser Gruppe), das Arrangement konstruktiv aufnimmt und sehr selbstständig arbeitet, separiert sich eine zweite, reine Jungengruppe. Diese ist mit sich
beschäftigt. Die Stimmung kann dabei i. d. R. nicht als aggressiv bezeichnet werden.
Im Gegenteil: Man hat viel Spaß miteinander, ist sehr körperlich, knufft sich, zankt
sich, lacht miteinander, albert herum, unterhält sich über das eine oder andere, aber
nicht über die Aufgabenstellung. Man drückt sich körperbetont aus, was sich in der
Art zeigt, wie man den Gruppenraum durschreitet: männliches Imponiergehabe der
„kleinen Helden“8, vielleicht auch schon ein Ausdruck von „harten Jungs – zarten
Mädchen“9. Es ist schwer zu beurteilen. Die Situation ist i. d. R. nicht aggressiv; es
gibt jedoch vereinzelt Gewaltandrohungen10. Insgesamt ist es eine totale Verwei6 Eine ausführliche Darstellung des Ansatzes findet sich auf der Homepage der Schule: http://www.
egb-buende.de/egb/index.php?option=com_content&view=article&id=252&Itemid=239. Stand: 5.
Januar 2014.
7 So und ähnlich äußern sich die Lehrkräfte über die Gruppe.
8 ... hier in Bezug auf das Buch von DIETER SCHNACK und RAINER NEUTZLING: Kleine Helden in Not.
Jungen auf der Suche nach Männlichkeit. Hamburg 1995.
9 ... wie es eine Studie von MANSEL (2007) über die Unterschiede von männlichen und weiblichen
Erscheinungsformen bei Gewalt und Kriminalität heißt. Soweit geht es hier nicht, aber es deutet
sich eben genau diese Dichotomie an. Hierauf wird noch einzugehen sein.
10 Hier muss differenziert werden: Nach unseren Beobachtungen und den Gesprächen mit den Lehrkräften war die unterrichtliche Arbeit im ersten Schulhalbjahr durchaus in dem oben beschriebenen
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gerung des Lernarrangements. Man drückt sich non-konform aus, eben i. S. der
wilden Kerle, die dem geregelten Unterrichtsalltag ein undiszipliniertes, überwiegend
nicht aggressives Monsterverhalten entgegensetzen.
Dabei wissen die Jungen schon, was von ihnen erwartet wird. So machte sich
beispielsweise in einer Sequenz, bei der ich selbst hospitierte, zum Ende einer
Gruppenarbeitsphase einer der wilden Kerle auf den Weg, um sich die Ergebnisse
bei den „fleißigen Mädchen“ zu beschaffen, was mit viel Charme auch gelingt. So
gesehen finden die wilden Kerle durchaus einen selbst regulierten, allerdings vollkommen non-konformen Weg, die Aufgabe zu lösen.
Genau genommen ist dies ein Dilemma des Arrangements. Es impliziert eine
gewisse Form der Selbstorganisation, dem sich die wilden Kerle entziehen. Sie
haben eine durchaus organisierte Form, den Unterrichtsalltag zu bewältigen, aber
eben nicht i. S. derjenigen, die das Konzept implementieren. Dies soll auch gar
nicht als Entschuldigung oder abstrakte Rechtfertigung dienen. Es deuten sich
aber verschiedene Fragen an, die von den beteiligten Lehrkräften und Forschern
herausgearbeitet wurden:
(1) Feminisierung der Schule – In der Schule unterrichten zunehmend mehr Lehrerinnen als Lehrer. Dabei geht es nicht nur darum, dass männliche Rollenmodelle
fehlen. Zugleich werden methodische Arrangements umgesetzt und Zielsetzungen verfolgt, die viel stärker auf Mädchen und deren Stärken bezogen sind.
Die Jungen erleben einen Unterricht, in dem gefordert wird, still und konzentriert
zu lesen, miteinander zu reden und Plakate zu malen, was ihren vitalen Bedürfnissen nicht entspricht. So ist Unterricht für eine bestimmte Jungengruppe
gekennzeichnet durch ‚Bildchen malen’, ‚Plakate schön machen’ usw. Zugleich
kommen diese Jungen mit subtilen Provokationen der sonst ‚braven Mädchen’
nicht wirklich klar11.
(2) Lernkulturen und Lehrverständnis – Es ist auch von Bedeutung, dass es bei
den wilden Kerlen nicht nur um jungenspezifisches Verhalten geht; zugleich
zeigen sich soziokulturelle Besonderheiten. So hatten die von uns beobachteten Gruppen durchweg Mitglieder mit Migrationshintergrund. Dies soll hier
allerdings nicht explizit als ethnisches Merkmal interpretiert werden. Gleichwohl ethnische Zuordnungen möglich sind, scheint es doch so zu sein, dass
dieses Merkmal gleichzeitig für einen milieuspezifischen Unterschied steht: für
familiale Merkmale, für traditionelle Rollenvorstellungen von Männlichkeit usw.
Im Unterricht thematisieren die Schüler und Schülerinnen jedoch die Herkunft
und benutzen dieses Merkmal zur Kennzeichnung der jeweiligen Gruppe. So
gibt es die braven deutschen Mädchen und die Türken. Die braven Mädchen
artikulieren beispielsweise, dass sie zwar nichts gegen Ausländer hätten, ihnen
die Verhaltensweisen der Türken aber auf die Nerven gingen. Sie fordern dann
von den Lehrkräften, dass sie die Jungen disziplinieren. Die Lehrkraft wird in
einen Rollenkonflikt gedrängt. Zum einen wird die explizite Position vertreten,
die Gruppenprozesse eher moderieren zu wollen. Es wird Wert darauf gelegt,
Sinn, nämlich anstrengend, zuweilen ‚nervend’, überwiegend jedoch nicht aggressiv. Während einer
Klassenfahrt hat es jedoch Drohungen von einzelnen wilden Kerlen gegen Mitschüler, insbesondere
auch eine latent sexuell motivierte Aggressivität gegenüber Schülerinnen und z. T. sogar Schülern
gegeben. Dies muss sicherlich weiter betrachtet werden.
11 ... so beschreiben es die Lehrkräfte.
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dass die Lernenden ihre Prozesse selbst regulieren. Zum anderen werden sie
aber explizit aufgefordert, den Konflikt zu lösen. Aus Sicht der braven Mädchen
heißt dies: Die Jungen sollen aus dem Unterricht entfernt werden. Die Jungen
wiederum sind teilweise aufgrund ihrer kulturellen Prädisposition durchaus geneigt, Autorität anzuerkennen, typischerweise eher in Person des Lehrers als
der Lehrerin, wollen aber zugleich nicht, dass die Mädchen diese Macht über
sie bekommen.
Anzumerken wäre dabei, dass für die Lehrer das Dilemma entsteht, dass ein
bewusst auf das männliche Rollenmuster fokussiertes ‚männliches’ Verhalten
wirksam ist: Direkte Aufforderungen in der Form ‚Stell’ dich nicht an, ich trete
dich in den Hintern, wenn du jetzt nicht voran machst’, eine kumpelhafte, aber
durchaus dominante Verwendung des impliziten Du’s: ‚Mach jetzt!’ usw., verbunden mit haptischen Unterstützungen wie Schulterklopfen u. v. m. wird von den
wilden Kerlen positiv aufgenommen. Der Lehrer wird zu Max, den die wilden
Kerle respektieren.
Dies ist aber vom pädagogischen Grundkonzept nicht wirklich gewollt und ist i.
S. der ethischen Begründung des eigenen pädagogischen Handelns schwierig
zu rechtfertigen. Dies wird im Kollegium thematisiert. Zugleich stehen die Lehrerinnen ein wenig ratlos vor dieser Art der Kommunikation und stellen durchaus
die Frage: ‚Warum können die Jungs das nicht so wie die Mädchen machen?’
Damit wären wir wieder bei dem Stichwort der Feminisierung. Die wilden Kerle
wollen keine braven Mädchen sein. Die professionsethische Frage, die dabei
mehrheitlich von der Lehrkräftegruppe gestellt wird, bezieht sich dann darauf,
was überhaupt zulässig von den Jungs gefordert werden könne und dürfe.
(3) Schule als didaktisches Hindernis – Es scheint so zu sein, dass der pädagogische
Raum selbst, so wie er für die Lernenden organisiert worden ist, das Problem
ist. Anders formuliert: Der pädagogische Rahmen verhindert den pädagogischen
Prozess. Dies hat zum einen etwas mit Schule und der Rezeption von Schule
durch die Schülerinnen und Schüler zu tun, zum anderen geht es auch um das
konkrete SOL-Konzept.
Schule selbst wird von Schülerinnen und Schülern generell in Richtung auf die
Lehrer interpretiert. Genau genommen werden Erwartungserwartungen gebildet. Man antizipiert, was Lehrkräfte wohl von einem wollen, wie sie einen sehen
sollen und können und verhält sich entsprechend. Damit ist Schule in dem
grundlegenden Dilemma, dass ihre Protagonisten zwar artikulieren können, man
ginge dorthin, um für das Leben zu lernen und man würde dort – in der heutigen
Diktion formuliert – die Kompetenzen erwerben, die man für die Teilnahme am
gesellschaftlichen Leben benötige. Tatsächlich rezipieren Lernende aber zuweilen
eher, was Schule von ihnen fordert.12
Im vorliegenden Fall haben die Lehrenden nun ein durchaus überzeugendes
Konzept, um Schule und Unterricht anders als gewöhnlich zu präsentieren. Und
es scheint ja auch in gewisser Weise – zumindest bei einem Teil der Lernenden
– zu funktionieren. Das SOL-Konzept nach Herold weist jedoch in der Grundstruktur eine hohe Schematisierung und gleichbleibende Phasierung auf. Es
12 Auf die besondere Problematik weisen SCHMITTER UND WEBER (2007) in einem Beitrag zur Förderung
selbst regulierten Lernens hin. Sie thematisieren als Ausweg die Arbeit mit Portfolios, um so zu
erreichen, dass die Lernenden sich entsprechend fokussieren.
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kommt zu Routinen. Zugleich basieren die geforderten und so auch geförderten
Lernhandlungen überwiegend auf Schreib- und Lesestrategien, so dass hier die
Gefahr besteht, dass eher an anderen Aktivitäten interessierte Schüler hier eine
gewisse Monotonie erleben, die ihren eigentlichen Bedürfnissen nach Aktivität,
Wettbewerb und Spannung eher zuwiderläuft. Oder einfacher gesagt: Es ist
den wilden Kerlen einfach zu langweilig und die Schule wird nicht als ernsthafte
Lebenswirklichkeit gesehen.
Dies korrespondiert mit artikulierten Erfahrungen der Lehrkräfte, dass einige der
wilden Kerle im betrieblichen Praktikum ganz anders auftreten, zielorientierter
und interessierter sind. So gesehen muss wohl der Frage nachgegangen werden,
ob Lernumgebungen dieser Art subjektive Relevanz für die Jungen haben.
(4)Volition und Motivation – Dies weist zurück auf das Lernsubjekt, auf jeden einzelnen wilden Kerl und auf dessen Motivation und Volition. Welche Interessen
haben die Lerner tatsächlich? Was wollen sie tun und was sind sie bereit zu
machen, und zwar im Unterricht und in der Schule, vor dem Hintergrund ihrer
sozialen Herkunft, ihrer Interpretation von Männlichkeit usw.
Nimmt man diese vier Merkmale (siehe Abbildung 1), die aus den Gesprächen mit
den Lehrern und der Unterrichtsbeobachtung generiert wurden, als Rahmenstruktur, so stellt sich Schule und Unterricht für die wilden Kerle als soziales Setting dar,
bei dem es ihnen eigentlich darum geht, sich entsprechend ihrer soziokulturellen
Voraussetzungen in einer bestimmten Art und Weise zu entfalten.13 Dieses Entfaltungsbedürfnis erfährt aber aus Sicht dieser Lerner eine Begrenzung: durch die
Inszenierung von SOL, durch die Erwartungserwartungen, durch die Rezeption von
Schule und Unterricht, durch das Erleben von Routinen usw. In Abbildung 1 werden
diese Überlegungen zusammengefasst.
Die zentrale Frage wäre dann, ob die Begrenzung zulässig ist und es darum
gehen muss, die Entfaltungsbedürfnisse zu verändern oder ob die Begrenzungen
wirklich begrenzend in der Form sind, dass sie legitime Entfaltungsmöglichkeiten
nicht zulassen. Diese durchaus relevante und auch alte bildungstheoretische Frage nach dem Verhältnis von Entfaltung und Begrenzung wird von den Lehrkräften
gleichermaßen formuliert.
Es stellt sich die Frage, ob diese Dichotomie ein Einzelfall ist oder ob sie ein
Beispiel für ein generelles Problem in der pädagogischen Arbeit – zumindest im
Übergangssystem – ist.
13 Diese Fokussierung auf die Person des ‚wilden Kerls’ wird in Abbildung 1 durch eine ‚graue’ Hervorhebung gekennzeichnet, was ausdrücken soll, wie sich die Rahmung aus der Perspektive der
Jungen darstellt.
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Abbildung 1: Rahmung des Problems und die Perspektive der Jungen (Person)
3.
Das Jungenproblem14 ist lange Zeit in der Öffentlichkeit nicht weiter zur Kenntnis
genommen worden. Im Zuge der Emanzipationsbewegung ging es verstärkt darum,
Mädchen zu fördern und die objektiv vorhandenen Benachteiligungen von Frauen
zu reduzieren. Mädchenförderung wurde so zum Thema. Die Jungen wurden in
gewisser Weise vergessen bzw. als nicht förderbedürftig angesehen.
Mittlerweile wird das Problem sichtbar. KLAUDIA SCHULTHEIS (2013) fasst die aktuellen Probleme von Jungen so zusammen:
Jungen ...
• haben Defizite in den Basiskompetenzen (PISA, IGLU)
• sind anfälliger für Krankheiten
• sind relativ gesehen schlechtere Schüler als Mädchen (Schulversagen, Anteil
in höheren Bildungsgängen usw.)
• leiden eher an ADS/ADHS
• neigen eher zu Drogen und Gewalt
• leben gefährlicher
• haben nicht genug männliche Vorbilder in Bildungseinrichtungen
14 Die Ausführungen dieses Abschnitts greifen zurück auf eine Analyse des Forscherteams des
Projekts NeGeL. Hierzu hat DESIREE DANIEL (2014) ein umfassendes Arbeitspapier erarbeitet, das
zurzeit weiterentwickelt wird und demnächst auf der Homepage des Lehrstuhls eingestellt werden
wird.
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Und auch in der breiten Öffentlichkeit ist mittlerweile bekannt, dass Mädchen in der
Schule leistungsfähiger sind als Jungen und dass Jungen gerade in der Mittelstufe
große Probleme haben.
Dies ist wohl auch einer einseitigen Betrachtung von Gender geschuldet. So soll
die Genderforschung eigentlich nicht das biologische Geschlecht thematisieren,
sondern die soziale Konstruktion von Geschlechterrollen (vgl. HOLZ 2006a, 17).
Geschlechterrollen werden erlernt. Doing gender ist ein Sozialisationsprozess (vgl.
MEUSER 2013, 39), in dem sich, ausgehend von vorhandenen biologischen Unterschieden15, eine jeweilige Identität herausbildet. Männliche und weibliche Identität
machen sich dabei daran fest, wie man sich in sozialen Situationen verhält.
So entstehen Unterschiedlichkeiten, die durchaus durch die Forschung bestätigt
werden, etwa im Hinblick auf Kommunikationsstile, Sprachvermögen, Interessen
(vgl. SCHULTHEIS 2013). Problematisch wird dies, wenn das eine soziale Geschlecht
als Maßstab für das jeweils andere genommen wird. So „galt der Mann als Norm,
die Frau als defizitäres Wesen“ (KREIENBAUM und URBANIAK 2006, 38). Einen Unterschied so zu formulieren, gilt heute als politisch sehr inkorrekt, was dann dazu führt,
solche Aussagen nicht zu treffen. Damit wird aber nicht wirklich geklärt, wie das
Verhältnis der jeweiligen Geschlechterrollen zueinander ist. In der Öffentlichkeit wird
eher verdeckt davon gesprochen, dass Männer weiblicher und Frauen männlicher
werden, dass das eine Geschlecht Merkmale des anderen übernimmt. Verkannt
wird dabei, dass immer noch von einer Zweigeschlechtlichkeit ausgegangen wird,
die zuweilen antithetisch begründet wird: „Männlichkeit ist das, was Weiblichkeit
nicht ist“ (SEEBAUER und GÖTTEL 2006, 22). Andererseits wird angenommen, dass
man gegenseitig Fähigkeiten voneinander übernimmt: „Heute wird als positive Charaktereigenschaft bewertet, wenn ein Mann seine Gefühle zeigen kann und auch
seiner Familie gegenüber emotional offen ist“ (HOLZ 2006a, 12).
Es wird vielleicht Zeit, etwas genauer zu fragen, ob der gesellschaftliche Prozess
der letzten Jahre und Jahrzehnte, der berechtigt das Modell der Frau als defizitären Mann kritisiert, dazu geführt hat, dass – um im Sprachspiel dieses Beitrags
zu bleiben – Jungs nunmehr defizitäre Mädchen sind. Dies ist, wie das Fallbeispiel
zeigen sollte, die Folge der Feminisierung von Schule sowie der Betonung eines
Lernerleitbildes, dem das brave Mädchen eher genügt als der wilde Kerl u. v. m.
Ähnlich stellt MEUSER (2013, 43) fest:
„Von den Jungen wird einerseits gefordert, sich wie die Mädchen den Erwartungen der
Schule gemäß zu verhalten, andererseits wird ihnen aber oft unterstellt, sie seien dazu
nicht in der Lage. Derartige Zuschreibungen finden sich gleichermaßen bei Lehrern und
Lehrerinnen.“
Dies ist mehr als nur eine Verschiebung des normativen Gefüges. Hierhinter verbirgt
sich ein neues Genderproblem. Es ist notwendig, sich der Frage zuzuwenden, wie
sich die Geschlechteridentität der Jungen entwickelt.
Bereits 1995 verweisen DIETER SCHNACK und RAINER NEUTZLING in ihrem Buch
‚Kleine Helden in Not’ in ihrem Vorwort ‚Wie wird aus einem Kind ein richtiger Mann‘
auf das Grundproblem:
15 ... die nach KIMMEL (2011, 31) eher vernachlässigt werden können. Sie sind allenfalls dann wichtig,
wenn Sie zur Identitätsbildung beitragen (vgl. HOLZ 2006a, 17)
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„Welche positiven Verhaltensweisen Mädchen gemeinhin zeigen, lässt sich leicht
aufzählen: Mädchen verhalten sich oft nicht nur gruppendienlicher, fürsorglicher und
kommunikativer als Jungen. Sie sind im Schnitt auch besser in der Schule und erzielen
nicht nur hier, sondern inzwischen auch an den Universitäten bessere Leistungen. Sie
sind anpassungsfähiger und in ihren Strategien zur Bewältigung ihrer (Entwicklungs-)
Aufgaben flexibler. Außerdem stehen sie ihren Gefühlen näher und neigen weniger zu
Gewalt. Solche Eigenschaften werden in der pädagogischen Landschaft heute nicht nur
allgemein belobigt. Mädchen können sie sich außerdem zu eigen machen, ohne mit den
Rollenbildern klassischer Weiblichkeit in Konflikt zu geraten.“
Dies provoziert die Frage nach der klassischen Männlichkeit. ROBERT W. CONNELL
(1994; 1999) spricht hier von masculinity und unterscheidet vier Formen:
(1) Hegemoniale Männlichkeit – Das gesellschaftliche Leitbild der Männlichkeit
basiert auf einer Vorstellung von Autorität, die mit Macht durchgesetzt wird.
Beispiele hierfür sind u. a. die Führungsebenen von Militär, Wirtschaft, Politik.
(2) Untergeordnete Männlichkeit – Dies wird als typisches Rollenmuster angesehen
für Männer, die zwar objektiv ihren Führungsanspruch verloren haben oder diesen
nicht einlösen können, jedoch weiterhin Hegemonie beanspruchen. Beispiele
sind Arbeitslose, die sich als Ernährer der Familie verstehen, Machtlose, die
weiterhin Macht ausüben usw. In diesen Fällen wird das männliche Selbstbild
aufrechterhalten, auch wenn es real nicht (mehr) existiert, etwa im Fall des Arbeitslosen, der sich als Ernährer der Familie sieht. Der Machtlose folgt weiterhin
dem Muster hegemonialer Männlichkeit.
(3) Komplizenhafte Männlichkeit – Dieses Rollenmuster zielt auf Unter- und Überordnungsmechanismen in Männergruppen, z. B. durch Ausschluss, Gewalt,
verbal wie aktiv, aber auch durch Verleugnung. So wird die untergeordnete
Männlichkeit in Jungen- oder Männergruppen hergestellt, indem heterosexuelle
Jungen und Männer als schwul bezeichnet oder als Weichei, Schlappschwanz
usw. beschimpft werden. Die hegemoniale Männlichkeit projiziert sich auf eine
durch Gewalt hergestellte Unterordnung.
Die komplizenhafte Männlichkeit korrumpiert in der Form, dass man von der
hegemonialen Männlichkeit profitiert, indem man sie für sich reklamiert, ohne
sie jedoch faktisch durchsetzen zu können. Eine Art sozialer Mitläufer. Hierzu
gehört nach CONNELL auch das Arrangement mit der Frau, die den Mann männlichmächtig sein lässt, gleichwohl er es nicht ist.
(4) Marginalisierte Männlichkeit – Dieses Rollenmuster bezieht sich auf diskriminierte
Männer, etwa ethnische Minderheiten.
Leitend ist das Rollenmuster der hegemonialen Männlichkeit. Jungen und Männer
sind in einem Wettbewerb. Sie wollen die Unterordnung der anderen – Männer
wie Frauen – sicherstellen (vgl. SPINDLER 2009, 121). Doing masculinity zielt auf
Dominanz; dies nicht zu schaffen oder zu können oder zu dürfen führt zu Identitätsproblemen und Unzufriedenheit (MEUSER 2013, 39).
Vor dem Hintergrund dieses traditionellen Verständnisses von ‚Mann-Sein’ stellen
sich dann schon die konkreten Fragen, ob es eine Alternative zu dem hegemonialen Modell gibt (vgl. RENOLD 2004) und ob es auch angeboten wird. Dies scheint
problematisch:
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BÖHNISCH und WINKLER (1993) gehen in ihrer Theorie der männlichen Sozialisation
davon aus, dass Jungen hier vom Grundsatz her Probleme haben, eine Geschlechterrolle zu finden. In ihrem Ansatz ist Mann-sein ein lebenslanger Prozess der Bewältigung von Problemen. Dabei definieren sich Männer eher über die Außenwelt
(Externalisierung). Dies passt aber zugleich nicht zu der Geschlechterrolle, die von
der modernen Gesellschaft erwartet wird (Erwartungserwartung). Hieraus ergibt
sich ein Konfliktpotential. Außerdem finden Jungen schwerer zu einer Geschlechteridentität als Mädchen, da ihre Erziehung auch in den Händen ihrer Mütter – also
von Frauen – liegt. Anders als Mädchen müssen Jungen zudem ihr Selbstbild in
der Abgrenzung zur Mutter finden.
Diese Grundproblematik wird auch in neuen Untersuchungen bestätigt. – Solche
Untersuchungen legen den Schluss nahe, dass es hier milieuspezifische Unterschiede gibt. Die Forschungsbeiträge von MICHAEL KIMMEL und MICHAEL MEUSER weisen
in diese Richtung und untermauern die Interpretation des Falles (siehe oben):
„Das Problem ist, dass eine bestimmte Ideologie von Männlichkeit insbesondere unter
Jungen der Arbeiterschicht und Jungen, die sozialen Minderheiten angehören, hartnäckig
fortbesteht, nämlich, dass es den Regeln der Männlichkeit widerspricht, die Schule ernst
zu nehmen. Im Gegenteil, schulisches Desinteresse wird als Mittel zur Steigerung von
Männlichkeit gesehen“ (KIMMEL 2011, 31).
„Insofern wäre es irreführend, generell eine mangelnde Passfähigkeit von männlicher
Peer-Kultur und Schule zu behaupten. So ist das Phänomen einer expliziten Schulverweigerung zwar bei Jungen stärker als bei Mädchen verbreitet, es tritt aber vor allem an
Haupt- und Sonderschulen auf, an denen der Anteil von Angehörigen unterer sozialer
Schichten und ethnischer Minderheiten besonders hoch ist [...]“. (MEUSER 2013, 50).
Dies verstärkt auch den im Fallbeispiel formulierten Zusammenhang zwischen
Milieu/Ethnie und Rollenverhalten. So gehören „überdurchschnittlich viele Migrantenfamilien […] zur unteren sozialen Schicht. Der enge Zusammenhang von sozialer
Herkunft und guten Noten in Deutschland ist mit PISA bewiesen. Sie treffen also auf
ein Schulsystem, das sie von Anfang an benachteiligt. Dazu können noch Sprachprobleme kommen und die Schwierigkeit, zwischen zwei Welten zu balancieren“
(DRÄGESTEIN und SCHWARZE 2006, 76).
Hier wird sichtbar, dass gerade im Übergangssystem gleichsam eine Doppelung
stattfindet: Das Jungenproblem wird durch ungünstige Milieumerkmale verstärkt.
Daneben zeigen aber weitere Untersuchungen, dass die Schule nicht darauf vorbereitet ist, kompensierend im Hinblick auf diese Effekte zu wirken. Hier wirkt dann
gleichsam zusätzlich das erwähnte Phänomen der Feminisierung. WILLIAM F. POLLACK (2001, 276) weist auf Defizite in der notwendigen Förderung von Jungen hin.
Demnach werden Lese- und Schreibprobleme von Jungen nicht erkannt. Generell
werden die Bedürfnisse dieser Gruppe nicht ausreichend wahrgenommen und allenfalls als Disziplinprobleme erachtet. Sowohl Lehrpläne als auch die angewandten
Unterrichtsmethoden berücksichtigen die Bedürfnisse der Jungen nicht.
Die Jungenbedürfnisse zeigen sich im Gruppenverhalten. Die Peer-Kultur von
Jungen ist nach MEUSER (2013, 40 f.) „raumgreifend und körperbetont“, durch Coolness geprägt; „Autonomie und Selbstbewusstsein sind oberste Werte“. Entscheidend
scheint zu sein, dass Jungen den Wettbewerb in der Gruppe suchen, während
Mädchen eher die Kooperation mit den Peers betonen (vgl. ebenda, 41). Letztlich
sind die Peergroups der Jungen daher weniger kompatibel mit den Verhaltensanforderungen der Schule (vgl. STÜRZER ET AL. 2003; TERVOOREN 2006). Opposition
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gegen Schule und gegen die Erwartungen der Lehrer und Lehrerinnen zu zeigen ist
daher letztlich der Versuch der Jungen, ihre Männlichkeit nach außen zum Ausdruck
zu bringen, indem sie sich bewusst gegen den Erwartungsdruck stellen (MEUSER
2013, 48). Schulisches Scheitern wird gleichsam zur Bestätigung der Männerrolle
benötigt. In der PISA Studie (vgl. BAUMERT U. A. 2001, 500) wird daher ein Zusammenhang zwischen schlechten Schulleistungen von Jungen einerseits und einer
Tendenz zu aggressiver Orientierung an Cliquen andererseits herausgestellt. Sich
in der Schule anzustrengen ist letztlich ‚uncool’, schulischer Erfolg wird nur dann als
erstrebenswert angesehen, wenn er ohne Anstrengung gelingt. Nur so kann – um
wieder ins Sprachspiel des Falles zu kommen – ein wilder Kerl brillieren, nämlich
in Abgrenzung zum fleißigen Mädchen (vgl. auch JACKSON und DEMPSTER 2009).
Hier muss dann wieder ausdrücklich der milieuspezifische Zusammenhang gesehen werden (siehe oben). Schule ist daher nicht generell ungeeignet für Jungen,
vielmehr benachteiligt sie Jungen aus sozial schwachen Schichten und ethnische
Minderheiten (vgl. MEUSER 2013, 50 und zum Hintergrund WAGNER, DUNKAKE und
WEISS 2004). „Die Schulen sind durchaus jungengerecht für Schüler, die aus gebildeten Elternhäusern kommen.“ (DRÄGESTEIN und SCHWARZE 2006, 76). Dies verweist
wiederum auf das Problemfeld Bildungsgänge des Übergangssystems zurück.
Migrationshintergrund und ethnische Minderheit bilden hierbei, wie bereits mehrfach dargelegt wurde, eine strukturelle Einheit (vgl. DRÄGESTEIN und SCHWARZE 2006,
76). Es gibt zwar Befunde zum Männerbild von Jungen mit Migrationshintergrund,
in denen u. a. herausgestellt wird, dass in solchen Peers Loyalität und Solidarität
gegenüber der Gruppe besonders wichtig sei oder dass weibliche Familienmitglieder
verteidigt werden müssen. Allerdings korrelieren diese Verhaltensweisen mit dem
familiären Milieu (vgl. MEUSER 2013, 55).16
4.
Die Befundlage zur Jungenproblematik bestätigt die Erfahrungen, die in dem Fallbeispiel gemacht wurden. Es wird sichtbar, dass es sich um ein generelles Problem
handelt. Jungen sind zum einen durch Schule und in Schule benachteiligt. Der
schulische Lebensraum erwartet Verhaltensweisen, die eher von braven Mädchen
als von wilden Kerlen realisiert werden. Im Übergangssystem kommt erschwerend
hinzu, dass die geschlechterspezifische Identitätsentwicklung durch soziale Faktoren
mit geprägt wird. Hier scheint es sich auf den ersten Blick um ein Migrationsproblem
zu handeln; tatsächlich jedoch geht es um soziale Benachteiligungen, die in Familien
mit Migrationshintergrund stärker vorhanden sind. So wird das Übergangssystem
zu einem Ort, an dem das Jungenproblem besonders stark in Erscheinung tritt.
Von der theoretischen Seite her sind die Jungen auf der Suche nach einer hegemonialen Männerrolle. Sie inszenieren sich entsprechend im schulischen Alltag.
16 Hier könnte sicherlich noch differenzierter argumentiert werden, was aus Darstellungsgründen
leider nicht möglich ist. Ich verweise lediglich auf Untersuchungen zum Milieu von türkischen
Familien und Jugendlichen von TOPRAK und EL-MAFAALANI (2011, 180 ff.), die u. a. herausarbeiten,
welchen besonderen Belastungen Kinder aus türkischen Familien ausgesetzt sind, wenn sie im
Spannungsfeld von Familienerwartungen einerseits und Schulerwartungen andererseits ihre
Identität finden müssen. Dabei zeigt sich aber auch wieder, dass die jeweiligen Unterschiede in
den sozialen Besonderheiten bildungsferner Schichten begründet sind.
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Die Verweigerung von Unterricht und das ‚Zur-Schaustellen’ von Desinteresse ist
Teil der männlichen Identitätsfindung. Das Peer-Verhalten ist durch den Anspruch
geprägt, cool zu sein, sich körperlich aktiv zu präsentieren, außenorientiert i. S.
der Peer-Normen erfolgreich zu sein, was v. a. bedeutet, dass man es ablehnt,
schulische Erwartungen zu erfüllen.
Viele Befunde zur Jungenforschung thematisieren dabei auch die Entwicklung
von Gewaltpotentialen. Dies wird hier ausgeblendet. Die Fallstudie hat mit Bedacht
den Titel „Wilde Kerle“, was eine durchaus sympathische Konnotation haben soll.
Es geht nicht um Gewalt in Klassen. Dieses Phänomen gibt es auch. In den hier
betrachteten Klassen des Übergangssystems erleben die Lehrkräfte sich aber aus
einem anderen Grund als ein Stück ratlos. Anfänglich war die Gesamtsituation eher
gewaltlos. Zwischenzeitlich, d. h. nach ca. einem halben Jahr Unterricht zeigt sich
zusehends eine gewisse Gewalttendenz, die sich in sexuellen Anzüglichkeiten,
Bedrohungen usw. zeigt. So steht zwar nicht wirklich eine (ständige) konfrontative
Gewalttätigkeit im Vordergrund, aber es kommt zu vereinzelten Drohgebärden u. Ä.
Unklar ist dabei, wie sich dies entwickeln wird, ob hier beispielsweise gruppendynamische Prozesse wirken, die dazu führen, dass ein bestimmter Grad an Eskalation
stattfindet.
Zurzeit werden die Schüler von Lehrerinnen und Lehrern überwiegend als sympathisch und nett angesehen. Es überwiegt dabei die Wahrnehmung und Interpretation,
dass eigentlich sympathische Schüler sich selber schaden. Allerdings besteht hier
auch die Gefahr, dass diese Wahrnehmung kippt, und zwar in dem Maß, wie man
sich als Lehrkraft hilflos im Umgang mit latenter und/oder beginnender Gewalt der
Schüler verhält. – Die Literatur gibt nur einige wenige und hierbei eher allgemeine
Hinweise, was im Umgang mit solchen Jungen gemacht werden könnte:
(1) So werden Maßnahmen vorgeschlagen, die darauf zielen, die Geschlechterrolle
zu thematisieren. Hier wird u. a. der Ansatz einer schulischen Jungenarbeit vorgeschlagen (vgl. BOLDT 2004), bei der eine aktive Auseinandersetzung mit der
männlichen Rolle und den männlichen Verhaltensmustern stattfindet. Es sollen
dabei geschlechtsspezifische Alltagserfahrungen (Geschlechterrollen, Frauenund Männerbilder in Werbung, Politik usw.) reflektiert werden.
Schwierig scheint hier zu sein, dass bestimmte Formen der Reflexion und Versprachlichung benötigt werden, um solche Prozesse erfolgreich umsetzen zu
können. Außerdem bedarf es eines Problembewusstseins für die Problematik, so
dass schon kritisch zu prüfen wäre, wie solche Prozesse im Unterricht umgesetzt
werden können.
(2) Ein anderer eher pragmatischer Vorschlag ist der Einsatz von mehr männlichen
Lehrkräften in den jeweiligen Bildungsgängen. Damit ist aber nicht geklärt, was
man dadurch konkret erreichen will. Zwar weiß man, dass Schülerinnen und
Schüler bei Problemen eher dazu neigen, Lehrkräfte des gleichen Geschlechts
anzusprechen (vgl. MEUSER 2013, 48), jedoch ist unklar, wie die männliche Identitätsbildung beeinflusst werden kann. Folgt man den hier rezipierten Analysen,
so besteht das Problem letztlich in einer schichtspezifisch geprägten Form der
Herausbildung von männlichen Rollenmustern. Hier muss man an sich mehr
Klarheit schaffen, welches Rollenmuster man wirklich will und wie man mit der
kritischen Feststellung umgeht, dass die Rollenerwartung eher darin besteht,
dass die wilden Kerle sich wie brave Mädchen verhalten sollen. Hier bedarf es
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daher zusätzlich einer kritischen Auseinandersetzung mit den Rollenerwartungen
von Schule sowie von Lehrkräften.
(3) Es gibt Überlegungen, eine reflexive Koedukation einzuführen. Dies bedeutet,
dass man im Unterricht einen sensiblen Umgang mit Geschlechterunterschieden
vornimmt. In der Folge kann es dabei auch sinnvoll sein, für Jungen mit traditionellen Rollenvorstellungen, die zugleich oft leistungsschwach sind, ein monoedukatives Angebot bereitzustellen, da es sein kann, dass diese Junge in einer
reinen Jungengruppe besser lernen. Auch dies muss differenzierter betrachtet
werden, denn es soll durch diese Form der Außendifferenzierung nicht zugleich
zu einer Bestätigung des Rollenmusters kommen (vgl. zum Modell DRÄGESTEIN
und SCHWARZE 2006, 77). So gibt es durchaus Hinweise, dass die Trennung eher
dazu führt, Geschlechterstereotypen zu stabilisieren (vgl. KIMMEL 2011, 37).
(4) Ein weiteres Konzept ist das der konfrontativen Pädagogik. Es wurde als Ansatz
entwickelt, um mit besonders gewaltbereiten und -tätigen Männern und Jugendlichen umzugehen. Um eine solche Gruppe geht es hier nicht; dies wurde schon
festgehalten. Allerdings soll die Grundidee einbezogen werden. Vom Grundansatz
her soll die Lehrperson auf Kleinigkeiten reagieren und nicht in einem falsch
verstandenen entschuldigenden Sinn Grenzüberschreitungen zulassen bzw.
entschuldigen, z. B. mit der Vorstellung, dass es ja Jugendliche seien. Diese mit
der Null-Toleranz-Idee verbundene Grundposition fordert einen Erziehungsstil,
der verständnisvolles, verzeihendes und nicht-direktives Vorgehen mit der Bereitschaft zur Austragung von Konflikten verbindet, bei der es dann auch sein
kann, dass direktiv gehandelt wird (vgl. WEIDNER 2009, 253). Offen bleibt, wie
die Balance zwischen diesen beiden Polen im konkreten Fall hergestellt und
begründet wird. Dies wird letztlich der Expertise der Lehrkräfte überlassen.
Die Befragungen von Lehrkräften17 zeigen, dass sich einzelne Facetten sowohl
aus der Analyse zum Jungenverhalten als auch zu möglichen Maßnahmen im
schulischen Alltag wiederfinden. Fasst man die Ergebnisse zusammen, so ergibt
sich folgendes holzschnittartige Bild möglicher Maßnahmen:
(1) Jungen brauchen eine engere Steuerung. Gerade bei leistungsschwächeren
Schülern sollten zu offene Fragen und Problemstellungen, die eine Explikation
durch den Lerner erforderlich machen, vermieden werden. In einem offenen
Unterricht können Jungen mit dem Freiraum nicht so konstruktiv umgehen wie
Mädchen. Sie ‚driften ab’, ziehen sich in Privatgespräche und sonstige Nischen
zurück.
(2)Unterrichtsgespräche sollten kürzer und fokussierter sein. Es sind mehr Lernerfolgskontrollen und kürzere Arbeitsschritte erforderlich. Jungen brauchen mehr
Rückmeldungen als Mädchen.
(3) Der Unterricht braucht klare Rahmendaten; durch genaue Zeitvorgaben und ggf.
durch Rituale muss die Lernzeit für Jungen stärker reguliert sein.
17 Wir haben damit begonnen, mit einzelnen Lehrkräften, die schon Erfahrungen im Umgang mit dieser
Jungenproblematik haben, Interviews zu führen. Wir sind hier am Anfang und die Ausführungen
geben daher einen ersten explorativen Eindruck.
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(4)Jungen brauchen anders als Mädchen mehr Abwechslung im Unterricht. Jungen lassen sich schneller ablenken und brauchen einen schnelleren Wechsel
zwischen ruhigen Arbeitsphasen und Aktivitätsphasen.
In der Summe kann man wohl festhalten, dass Jungen mehr Anleitung und mehr
Regulative im Unterrichtsalltag brauchen.
Was in der Literatur vernachlässigt wird und auch in den Gesprächen eher nicht
thematisiert wird, ist die Frage nach der Rezeption von Schule und Unterricht und
die jeweilige Wahrnehmung des Unterrichts.
Gerade das im Fallbeispiel initiierte SOL-Konzept trägt als gewissen Nachteil
in sich, dass die wilden Kerle mit einer Arbeitsweise konfrontiert werden, die entsprechend der obigen Analysen wohl als ganz und gar nicht cool, als Streberarbeit
usw. wahrgenommen wird. Außerdem wird von ihnen verlangt, dass sie mit sehr
viel Raum auskommen müssen. Es ist ein prinzipiell offener Ansatz, der viele
Entscheidungen ganz bewusst den Schülern und Schülerinnen überantwortet. Es
betont zudem sprachliche Fähigkeiten.
So gesehen steht das Arrangement den hier herausgearbeiteten Bedürfnissen
der wilden Kerle entgegen. Das SOL-Konzept der Schule ist ganz bewusst installiert worden, um eine schulische Lernkultur anzubieten, die sich deutlich von den
Lernerfahrungen unterscheidet, die die Schülerinnen und Schüler sonst gemacht
haben. Und trotzdem rezipieren die Jungen diese alternative Lernkultur als Teil eines
schulischen Lebensraums, den man dann doch wohl nicht ernst nehmen kann, weil
Schule eben nicht cool ist. Und vielleicht, weil es eher die Welt der Mädchen und
der Weicheier ist, die brav die Aufgaben erfüllen.
5.
So bleibt dann zum Schluss wohl nur noch die Frage, ob es vielleicht sinnvoll wäre,
das Lernarrangement zu durchdenken. Konkret hat sich für mich die Frage gestellt,
ob die nach Herold (siehe oben) entwickelte und auch von dessen Unternehmen
unterstützte Implementation des Konzepts wirklich passend ist für diese Zielgruppe.
Es scheint in einer bestimmten Weise eben doch für Kinder aus bildungsnahen
Schichten geeignet zu sein. Dies wäre ja auch kein neues Phänomen. Hier reproduziert sich in gewisser Weise ein bildungsbürgerliches Modell von Lernen und
Arbeiten. Die interessante Frage wäre dann, ob solche Modelle nicht in erster Linie
in der Wahrnehmung und Interpretation von Lehrern und Lehrerinnen wie auch
von Forschern und Forscherinnen als gute Modelle für ein selbstorganisiertes Lernern angesehen werden. So formulieren wir mit solchen Konzepten immer auch
bestimmte Vorstellungen darüber, wie wir uns ein gutes Lernen, eine vernünftige
Form der Zusammenarbeit vorstellen usw.
Ob dies von Schülerinnen und Schülern auch so gesehen wird, wird erst sichtbar,
wenn diese in den Arrangements eingebunden sind. Es zeigt sich in deren unterrichtlicher Performanz. Im konkreten Fall wird sichtbar, dass eine Gruppe, nämlich
die wilden Kerle, nicht i. S. dieser Erwartung handelt, sondern sich anders verhält.
Die Analyse hat gezeigt, woran das liegen kann.
Wahrscheinlich wird es notwendig sein, bestimmte Erwartungen an die Lerner zu
modifizieren. Man muss dann das real gezeigte Verhalten in die Modellierung des
Arrangements aufnehmen. Pragmatisch hieße dies, dass man z. B. die Freiräume
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der Jungen abbaut und mehr Regulierungen vorsieht. Vielleicht gelingt es i. S. eines
fading out, diese Regulierungen auf Dauer abzubauen.
Zugleich sollte man wohl darüber nachdenken, an welchen Stellen in dem Arrangement Leistungen bzw. Handlungsprodukte gefordert werden, die eher typisch
sind für das brave Mädchen als für den wilden Kerl. Konkret geht es dann um Fragen der Verschriftlichung und Dokumentation, des Malens von Übersichten, des
Präsentierens von Ergebnissen usw. Um im Bild zu bleiben: Während die Jungen
lieber Monstergebrüll veranstalten, malen die Mädchen ihre schönen Plakate. Und
das ist wirklich nicht cool.
Schließlich kann man auch davon ausgehen, dass manche Dinge, die nach
unserer Analyse i. S. einer Mädchenrolle unterhaltsam, aufregend und erfüllend
sind, z. B. Plakate künstlerisch zu gestalten, für jemanden, der in der Männerrolle
aufgeht, langweilig sind und keine wirklichen Entfaltungsspielräume bieten. Wenn
es wirklich so ist wie in der Literatur beschrieben, dass Mädchen etwas miteinander
machen wollen und sich in der Kooperation in der Peergroup entfalten, dann ist ein
Unterricht, der darauf zielt – und dies tut das Konzept –, für eine Jungengruppe, die
sich körperlich artikuliert, die den Wettbewerb miteinander sucht, die bestrebt ist,
hegemoniale Rollenmuster zu entfalten, sich dabei nach außen orientiert und dort
nach Anerkennung sucht, vorsichtig formuliert, nicht passend.
Dann ist es eigentlich klar, dass man lieber zusammen darauf wartet, dass ein
Urwald im Klassenzimmer wächst, damit man etwas Spannendes machen kann.
Es wäre eine interessante Aufgabe, diesen Ort in der Schule zu finden.
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