Volkstrauertag 2005

Transcription

Volkstrauertag 2005
Estomihi / Visitationssonntag
2.3.2014
Sup. Dr. Helmut Kirschstein
Jesaja 58, 1-9a
Gottesdienst am Visitationssonntag Estomihi
„In Norden wie auf dem Maidan“
Jesajas Botschaft, Gottes Nähe, unsere Lieder
Predigt über Jesaja 58, 1-9a
Am 2. März 2014
in der Ludgerikirche zu Norden gehalten von
Superintendent Dr. Helmut Kirschstein
[ Unmittelbar vor der Predigt singen die Ludgeri Gospel Singers: „Awesome God“. ]
(1)
„Our God is an Awesome God“, liebe Gemeinde: „Unser Gott ist ein eindrucksvoller Gott“, so haben wir´s eben gesungen: „ein starker, ein überwältigender, ein Ehrfurcht gebietender Gott“. Ja
wirklich?
Ich hab´ manchmal eher das Gefühl, Gott ist längst zu einer Art himmlischer Spiel-Kumpan geworden: „Der Fußball-Gott hat ein Einsehen“, heißt es da in der Sportschau, und wenig später in den
Nachrichten: „Der Wettergott schlägt Kapriolen“, ja was für ein lächerlicher „Gott“ soll das denn
sein?! Aber auch in unseren Gottesdiensten gibt er doch meistens kein besonders starkes Bild ab, da
wirkt der „liebe Gott“ doch manches Mal eher wie ein zahnloser alter Mann – oder wie das Lieblings-Plüschtier für unsre Kleinen, oder?
„Our God is an Awesome God“ – sollte unser Gott uns wirklich Ehrfurcht gebieten?! Der Gospelsong erzählt jedenfalls, dass dieser Gott vom Himmel herab regiert, mit Weisheit, Macht – und Liebe. Vielleicht gehören die Drei ja wirklich zusammen, vielleicht sind die nur im Dreierpack zu haben: „Wisdom, Power and Love“ – Weisheit, Macht – und Liebe? Der Herr hat nicht gespaßt, als
er die Menschen aus dem Paradies hinauswarf, heißt es weiter, und es hatte schon seinen Grund,
dass er selbst sein Blut vergoss... Er sprach sein zorniges Urteil über Sodom und Gomorrha, aber
eben auch: Barmherzigkeit und Gnade schenkte Er uns am Kreuz... Offenbar gehört doch beides zusammen, wie die Kehrseiten einer Medaille: das zornige Urteil über brutale Menschenverachtung:
siehe Sodom – und die unverdiente Zuwendung zu den Verlorenen, die nicht wissen, was sie tun:
siehe Golgatha! Zwei Seiten einer Medaille, die Solistin erinnert daran: „I hope that we have not
too quickly forgotten / that our God is an awesome God“ – ich hoffe nur, wir haben das nicht allzu
schnell vergessen haben: dass unser Gott ein Ehrfurcht gebietender Gott ist...
(2)
Offenbar kann man das vergessen. Scheint typisch menschlich zu sein, schon vor zweieinhalb tausend Jahren haben sie´s vergessen. Darum gibt der Prophet Jesaja das weiter, was er von diesem
Ehrfurcht gebietenden Gott weiß, die Stimme Gottes gibt er weiter – ein richtiges Streitgespräch
führt er mit den Gott-vergessenen, ich lese aus dem Buch des Propheten Jesaja im 58. Kapitel:
Rufe getrost, halte nicht an dich! Erhebe deine Stimme wie eine Posaune und verkündige meinem Volk seine Abtrünnigkeit und dem Hause Jakob seine Sünden!
Sie suchen mich täglich und begehren, meine Wege zu wissen, als wären sie ein Volk,
das die Gerechtigkeit schon getan und das Recht seines Gottes nicht verlassen hätte.
Sie fordern von mir Recht, sie begehren, dass Gott sich nahe.
»Warum fasten wir, und du siehst es nicht an? Warum kasteien wir unseren Leib, und
du willst's nicht wissen?« - Siehe, an dem Tag, da ihr fastet, geht ihr doch euren Geschäften nach und bedrückt alle eure Arbeiter.
Siehe, wenn ihr fastet, hadert und zankt ihr und schlagt mit gottloser Faust drein. Ihr
Estomihi / Visitationssonntag
2.3.2014
Sup. Dr. Helmut Kirschstein
Jesaja 58, 1-9a
sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden
soll.
Soll das ein Fasten sein, an dem ich Gefallen habe, ein Tag, an dem man sich kasteit,
wenn ein Mensch seinen Kopf hängen lässt wie Schilf und in Sack und Asche sich bettet? Wollt ihr das ein Fasten nennen und einen Tag, an dem der HERR Wohlgefallen
hat?
Das aber ist ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg!
Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus!
Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und
Blut!
Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird
schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen.
Dann wirst du rufen, und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er
sagen: Siehe, hier bin ich.
[Luther-Übs. Jesaja 58, 1-9a]
Wirklich ein gewaltiger Gott, den Jesaja hier zu Wort kommen lässt. Oder umgekehrt: Dieser Ehrfurcht gebietende Gott bringt Jesaja zum Reden, wisdom, power and love, Gottes Weisheit, Gottes
Macht und Gottes Liebe kommen hier in einem Atemzug zur Sprache:
Fasten wollt ihr, auf Überflüssiges verzichten, um mir nahe zu sein? Wisst ihr denn nicht,
mit wem ihr es zu tun habt? Aber ihr merkt schon, dass ihr bei mir nicht ankommt?! Ja ist
das denn ein Wunder?
Wenn ihr Verzicht üben wollt, in meinem Sinne: Dann verzichtet auf alle Gehässigkeiten!
Hört auf, eure Arbeiter auszubeuten! Macht Schluss mit der ganzen Ungerechtigkeit!
Von wegen Sack und Asche! Nein, ein Fasten, wie ich es haben will, sieht anders aus!
Löst die Fesseln der Gefangenen, nehmt das drückende Joch von ihrem Hals, gebt den
Misshandelten die Freiheit, und macht jeder Unterdrückung ein Ende!
Ladet die Hungernden an euren Tisch, nehmt die Obdachlosen in euer Haus auf, gebt denen, die in Lumpen herumlaufen, etwas zum Anziehen, und helft allen in eurem Volk, die
Hilfe brauchen!1
Das ist doch mal eine Ansage! Rote Karte für die religiöse Pflichterfüllung – es geht um Gottes Willen nicht um ein religiöses „Es-war-schon-immer-so“, und wenn es eine so schöne „heilige Tradition“ wie das Fasten wäre! Es geht im Namen Gottes nicht um rituelle Richtigkeiten – es geht um
eine andere Lebenseinstellung! Es geht darum, die grenzenlose Güte dieses mächtigen Gottes im
Rahmen unsrer begrenzten Möglichkeiten abzubilden! Sagen wir´s deutlich: Es geht diesem Gott
um soziale Gerechtigkeit!
Gib frei, die du bedrückst - brich dem Hungrigen dein Brot: darin spricht sich Gottes Wille aus!
Das ist der Verzicht, den Er predigt: der Verzicht auf alles, was mit Ausbeutung zu tun hat, was zur
Verarmung der Menschen führt, was Menschen unter Druck setzt und klein macht und ihnen die
Würde raubt. Stattdessen: Teile, was du hast – deine Freiheit, deine Würde, dein Essen, deine Kleidung, dein Haus. Tu nicht nur demütig – sei es gefälligst! Also lauf nicht mit hängendem Kopf herum, sondern richte die Bedrückten auf – das ist mein Wille, spricht der Ehrfurcht gebietende Gott:
1 Übersetzung von Jes 58, (3) 6+7 in der GUTE NACHRICHT BIBEL
Estomihi / Visitationssonntag
2.3.2014
Sup. Dr. Helmut Kirschstein
Jesaja 58, 1-9a
in seiner Weisheit – in seiner Macht – in seiner Liebe.
Das muss doch wirklich hinausposaunt werden, damals wie heute: Erhebe deine Stimme wie eine
Posaune und verkündige meinem Volk seine Abtrünnigkeit – jaja, früher hätte ich das dem Propheten in meiner Predigt nur allzu gerne nachgemacht – nein, nicht „hätte“, früher habe ich solche
Bibelworte gerne genutzt, um Tacheles zu reden, verkündige meinem Volk seine Abtrünnigkeit –
na, das tust du als junger Theologe schon auch mal ganz gerne!
Und – Visitation hin, Landessuperintendent her, es ist, wie es ist, und es kribbelt mich schon: Der
Prophet klagt hier die soziale Gerechtigkeit ein, und er klagt die ungerechten Asozialen an, und das
sind nicht die Armen, das sind die Reichen, die Schwerreichen, nämlich diejenigen, die Arbeiter anstellen und ausbeuten, die also Menschen arbeiten lassen, ohne dass die genug zum Leben bekommen, und da fällt mir auch heute die prekäre Situation so vieler Menschen in unserem reichen Land
ein: Alleinerziehende am Existenzminimum, Kinder unter Sozialhilfeniveau, ausgemusterte Arbeitslose, Rentner, die buchstäblich zum Sterben zuviel und zum Leben zuwenig haben... Nirgendwo in der Europäischen Union ist das Vermögen so ungleich verteilt wie in Deutschland! 1 Viel
schlimmer geht es aber den arm gelassenen Menschen in der Dritten Welt: Während in der irrealen
Welt der Börsen per Knopfdruck die Getreidesilos ganzer Nationen hin- und hergeschoben werden
und irgendjemand auf diese perfide Weise Millionen Dollar scheffelt, hungern und verhungern in
der ganz realen Welt Millionen Menschen, weil ihre Grundnahrungsmittel durch Börsenspekulationen immer unerschwinglicher werden. Was für ein himmelschreiender Skandal, da füllen Menschen
ihre Konten wie ihre Swimmingpools, und nebenan ersaufen andere in ihrer Armut! Waren Sodom
und Gomorrha eigentlich schlimmer?
Jaja, es gibt genügend Menschen, denen diese Worte wie der Schall der letzten Posaune in den Ohren klingen müssten – wie der Posaunenschall beim jüngsten Gericht! - Aber Hand auf´s Herz: Ob
die nun ausgerechnet heute morgen hier in der Kirche sitzen?
Unsre Gewissen schärfen – ja, das können die Worte des Propheten ganz bestimmt, auch heute morgen, sie lassen uns Recht und Unrecht unterscheiden, wir hören wieder ganz neu, auf welcher Seite
wir stehen sollen, wenn wir auf Gottes Seite stehen wollen, wir ahnen ja alle, in welche Richtung
sich diese Welt bewegen müsste: hin zu mehr ausgleichender Gerechtigkeit, damit „Menschenwürde“ für Milliarden nicht nur auf dem Papier steht.
(3)
Aber – nun bin ich ja kein junger Theologe mehr, und ich will auch niemandem das jüngste Gericht
in die Ohren posaunen. Für uns, hier, heute in der Kirche, höre ich eine andere Frage viel stärker
heraus, diese Frage ist es, die Jesaja für uns aufgreift und für uns beantwortet, diese Frage geht nun
wirklich jeden von uns an! – Und diese Frage lautet:
Wo ist Gott? Wo ist er eigentlich? Wie bekomme ich Gott in meinem Leben zu greifen? Wenn es
einen Gott gibt – interessiert der sich denn überhaupt für mich? Warum spüre ich so wenig von
ihm, selbst wenn ich faste, wenn ich bete, wenn ich mich im Gottesdienst auf ihn einlassen möchte?
Wo ist Gott??
Bei Jesaja klingt das so, als analysierte Gott selbst diese menschliche Frage: Sie suchen
mich täglich und begehren, meine Wege zu wissen... Sie begehren, dass Gott sich nahe.
»Warum fasten wir, und du siehst es nicht an? Warum kasteien wir unseren Leib, und
du willst's nicht wissen?«
Das ist die Frage. Gerade für alle, die dem Glauben etwas abgewinnen können, die der Kirche nahe
stehen, denen ihr eigenes Seelenleben nicht egal ist – gerade für alle, die auch in unseren modernen
Zeiten ein Fenster zur Ewigkeit öffnen wollen, denen es nicht gleichgültig ist, was am Ende einmal
1 Süddeutsche Zeitung, 26. Feb. 2014: aktuelle Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsförderung (DIW)
Estomihi / Visitationssonntag
2.3.2014
Sup. Dr. Helmut Kirschstein
Jesaja 58, 1-9a
über ihrem Leben steht, wenn es ans Sterben geht – gerade für alle, die nicht wollen, dass ihnen auf
dem Weg durch´s Leben unterwegs die Seele abhandenkommt: für sie alle – für uns alle ist das die
Frage: Wo ist Gott? Wo ist Gott für mich? Nicht nur so eine philosophische Idee, so ein gewaltiger
Sternenhimmel, so ein schweigendes Universum – sondern Gott für mich: spürbar, erlebbar, zum
Greifen nahe: die unendliche Liebe, die mich geborgen sein lässt – die innere Kraft, die mich durch
den Alltag trägt – der tiefe Sinn, der mein Leben lebenswert macht – die klare Orientierung, damit
ich weiß, was richtig und was falsch ist – die faire Chance zu einem Neuanfang nach meinem Scheitern: Wo ist Gott? Wir können nach ihm fragen, wir können zu ihm beten, wir können für ihn singen – kommen wir ihm dadurch näher? Kommt er uns dadurch nahe?
(4)
Auch in Kiew wird in diesen Wochen viel gesungen, erst wenige Tage ist es her, da hallen Choräle
über den Maidan, den Platz der Unabhängigkeit in der ukrainischen Hauptstadt.Vor kurzem noch
wurde scharf geschossen, jetzt machen Gerüchte die Runde, schon bald würden die Sicherheitskräfte den Platz stürmen. Aber die Leute singen Choräle. Tamara, eine 36jährige blonde Frau, wird interviewt, als sie gerade dabei hilft, neue Barrikaden aufzutürmen: Autoreifen, Bauschutt, Blechteile,
Bretter. „Warum singen die Leute Choräle?“ - „Weil wir uns Gott nahe fühlen. Wir helfen uns
doch. Wir stehen einander bei. Und wir sind hier für die gerechte Sache.“ Sie blinzelt in die Kamera, dann packt sie wieder mit an, und über den Platz hallen weiter die Choräle...
Wo Gott ist? Für Tamara in Kiew ist die Antwort klar: Dort, wo Menschen zusammen mit anderen
Menschen für Gerechtigkeit eintreten. Für Menschenwürde. Für Freiheit. Für den Respekt vor jedem einzelnen Menschenleben. Da ist Gott. Da wird Gott spürbar.
Ich lasse mal offen, wieviel Gewalt auch von manchen Demonstranten ausging und wieviel Hass
auch von den Aufständischen gestreut wurde – ich weiß es nicht. Ich weiß auch nicht, ob Tamara in
Kiew jemals bewusst die Botschaft des Propheten Jesaja gehört hat: Nicht fromme religiöse Übungen bringen dich in die Nähe Gottes! Du kommst ihm keinen Schritt näher, solange Du Dich immer
nur um Dein eigenes Seelenheil drehst! Da kannst Du fasten und beten solange Du willst. Sondern
tretet ein für Gerechtigkeit: Löst die Fesseln der Gefangenen, nehmt das drückende Joch von ihrem Hals, gebt den Misshandelten die Freiheit, und macht jeder Unterdrückung ein Ende!
Ich glaube, dass Tamara in Kiew dem biblischen Gott wirklich nahe war, weil dieser Gott seine
Nähe genau für diesen Einsatz versprochen hat. Unser Gott, und das Angebot seiner Nähe kann
auch jeder annehmen, der nicht gerade auf dem Maidan in Kiew Barrikaden baut: Ladet die Hungernden an euren Tisch, nehmt die Obdachlosen in euer Haus auf, gebt denen, die in Lumpen
herumlaufen, etwas zum Anziehen, und helft allen in eurem Volk, die Hilfe brauchen!
Wo also ist Gott? Wo ist Gott für mich? Jeder von uns, der so fragt, kann die Probe auf´s Exempel
machen – wenn Du so willst: Dein ganz persönliches Gottes-Experiment.
Wo Gott ist? Bleib nicht allein mit Deiner Frage! Schließ Dich mit anderen zusammen. Arbeitet
miteinander für eine bessere Welt – für die Welt, wie Gott sie will: Im Ehrenamt für die Norder Tafel, um die Zukurzgekommenen zu unterstützen! Im Einsatz für die Kinder: in Krabbelkreisen und
im Kindergottesdienst; für Jugendliche: im Jugendcafé und in unseren Jugendteams: Stiftet Werte
für heute und morgen! Im Altenkreis und im Besuchsdienst, um Einsamen und Gebrechlichen Nähe
zu vermitteln: Ihr seid nicht vergessen! Im Weltladen und in unseren Initiativen für die Menschen
im Sudan oder in Uganda: Verbreitet Hoffnung auf eine Welt der Gerechtigkeit! Und dann: betet,
und Ihr werdet Gottes Nähe spüren – singt, und Ihr werdet Gott nahe sein: Lieder vom Ehrfurcht
gebietenden Gott der Freiheit, die durch Kirchen und über Plätze hallen!
Dann wirst du rufen, und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er
sagen: Siehe, hier bin ich.
In Norden, wie in Kiew auf dem Maidan. AMEN

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