NIELS STENSEN Meine Damen und Herren. Ich danke für die Ehre
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NIELS STENSEN Meine Damen und Herren. Ich danke für die Ehre
NIELS STENSEN KINDHEIT, JUGEND UND STUDIENJAHRE. Meine Damen und Herren. Ich danke für die Ehre beim 325. Todestag unseren genialen und seligen Niels Stensen an dieser Veranstaltung eingeladen zu sein. Sehr berechtigt hat man auch Referenten aus seinem Geburtsland, Dänemark, gewünscht. Wenn ich jetzt vor dieser vorwiegend deutschen Versammlung über die Jahren seiner Kindheit und Jugend in Kopenhagen etwas sagen möchte, muss ich aber zuerst einige Vorbehalte machen. Erstens rechne mit Ihrem freundlichen Nachsicht wegen meiner unvollkommenen deutschen Sprache, aber auch für die notwendige Beschränkung meines Themas. Es ist nicht meine Absicht, die allgemein bekannte ausführliche und fundamentale Schilderung des gleichen Themas vom Grossmeister der Niels Stensen Forschung, Dr. Gustav Scherz, zu wiederholen oder gar zu verbessern. Höchstens werde ich ihm mit gewissen Details ergänzen, die er damals nicht kannte. Dazu werde ich einzelne eigene Betrachtungen anführen über charakteristische Züge an Niels Stensensursprüngliche historische Umwelt, die seine grossartigen Erfolge als Naturwissenschaftler aber auch seine geistige Entwicklung bis zur Konversion, Priestertum und Bischofwürde etwas verdeutlichen können. Mit den Worten: „Anatom, Geologe, Bischof“ hat man für gewöhnlich und sehr zutreffend die drei besonderen Tätigkeitsgebiete Niels Stensens gekennzeichnet. Die meisten neueren Forschungsbeiträge beschäftigen sich nur mit einem dieser Fachgebiete, natürlich weil das Verständniss jeweils ganz bestimmte fachliche Kompetenzen voraussetzt. Seltener sind die Versuche, ein Gesamtbild des ganzen Lebens diesen zugleich genialen und heiligen Mannes herauszuarbeiten. Irgendwie sprengt er unseren gewöhnlichen intellektuellen Rahmen. Am besten gelingt es vielleicht für Poeten wie die ganz in dänischen Verse geschriebene Schilderung Marinus Børups in 1938. Aus den jüngsten Jahren werde ich zwei dänischen und einen norwegischen Autor vorstellen. Im Jahr der Seligsprechung Niels Stensens 1988 gab der Anatomieprofessor Harald Moe heraus: „Niels Stensen, En billedbiografi“ (Eine Bildbiograhie). Der Untertitel auf Deutsch: „Seine unermüdliche Suche. Sein Genie. Sein Streben nach dem Absoluten“ . Schön illustriert und mit einem Text, der in einem allgemein zugänglichen aber gut fundierten Form sein Lebenslauf schildert. Am schwächsten ist der abschliessende Teil über seine letzten religiös bestimmten Jahre. Eben diesen Mangel ergänzt das Buch der Benediktinerin aus Åsebakken, Schwester Miriam Mortensen: „Skønnest af alt. (Das Schönste von allem) En biografi om Niels Steensen“ , Kbhv. 1993. Eine gute und anziehend geschriebene Arbeit, die unbeschwert auch die neueren Forschungsergebnisse eingliedert . In Norwegen, der ja zu Stensens Zeit politisch mit Dänemark verbunden war, schrieb Hans Kermit an der Universitätsbibliothek Tromsø 1998 die kurze und präzise: „Niels Stensen, naturforsker og helgen“ (Naturforscher und Heiliger). Zuerst aber eine einleitende Betrachtung. Es ist bekannt, das eben unsere Zeit von einer bisher kaum erlebten Unsicherheit am Verständnis des Menschen selbst getroffen ist. Wie kann man einen Menschen verstehen? Die alte Grenze zwischen Human- und Naturwissenschaften werden weitgehend überschritten, ja aufgelöst. Am besten sieht man es in der Kriminalistik. Wird ein Mensch ein Verbrecher, weil seine genetischen Erbanlagen ihn dazu prädestiniert, oder ist es vielleicht eher seine Umwelt, schlechte Verhältnisse seiner Kindheit oder Jugend, die ihm dafür disponieren? Kann eine bestimmte Ideologie oder Religion die Begriffe eines Menschen so weit umgestalten, dass er Gut und Böse ganz verwechselt? Praktisch muss man, um ein Rechtsstaat überhaupt zu erhalten, immer davon ausgehen, dasjeder als freie Person für seine Taten Jørgen Nybo Rasmussen ”Niels Stensen, Kindheit, Jugend und Studienjahre”, Schwerin 26. nov. 2011. Seite 1 von 7 verantwortlich ist, und ihn also nach den Gesetzen der Gesellschaft beurteilen, auch wenn diese Verantwortlichkeit wissenschaftlich bezweifelt wird? Wenn unsere Auffassung der Kriminellen so vieldeutig geworden ist, gilt dann etwas ähnliches, wenn wir andere Menschen verstehen wollen? Auch gar eine Genie und einen Heiligen wie Niels Stensen? Ich bin natürlich nicht besonnen, diese grosse Frage hier zu beantworten. Aber ihre Existenz wird jedenfalls zur Vorsicht und Bescheidenheit bei der Beurteilung mahnen. Klassich werde ich selber davon ausgehen, dass die Person Niels Stensens wie der aller anderen Menschen von vier Einflüsse gestaltet wurde: 1) Die genetische Familienerbe, 2) die Umwelt der Kindheit und Jugend, 3) Die persönliche Respons darauf und 4) die Gnade Gottes. Unter den Vorfahren wissen wir ganz gut Bescheid mit Niels Stensens väterlichen Ahnen. Sein Vater, Sten Pedersen,stammte in mehreren Glieder von einer Pastorenfamilie in Schonen nieder, und seine beiden Brüder, Nielses Onkel, führten diese Tradition weiter. Die meisten waren bekannt als brave und gewissenhafte Pastoren in der bei der Reformation in Dänemark eingeführten lutherischen Staatskirche. Aber man kann kaum sagen, dass sie sich sehr vor den Kollegen des gleichen Stands auszeichneten. Niels Vater sonderte sich eben dadurch aus, dass er nicht den geistlichen Laufbahn wählte, sondern die Handwerk eines Goldschmiedes. Warum weis man nicht. Von der Mutter, Anne Nielstochter, ist wenig bekannt. Gustav Scherz hielt es für möglich, dass sie von der Familie des Odense Bürgermeisters Jakob Leth stammen könnte, bewiesen ist es aber nicht. Anne scheint jedenfalls eine Frau mit klarem praktischen Vernunft gewesen zu sein. Das Aussergewöhnliche bei Niels Stensen lässt sich jedenfalls nicht mit besondere von der Familie geerbten Anlagen erklären. Die historische Umwelt Niels Stensens war Dänemark und Kopenhagen um die Mitte des 17. Jahrhundert. Es war die Zeit der kulturellen Hochblüte der sogenannten „Nordischen Renässance“, aber gleichzeitig der politischen Krisis und Niedergang des Königreichs. Unter König Christian IV blühte Wissenschaft und Kunst, aber seine unheilvolle Teilnahme im Dreissigjährigen Krieg und der verlorene Kampf mit dem schwedischen Nachbarvolk um die Übermacht im Ostsee warfen in diesen Jahren immer tiefere Schatten über die dänischen Nation. Der Verlust der Provinzen östlich von Øresund im Frieden von Roskilde 1658 und die folgende Belagerung Kopenhagens, die 1659 nur mit Not und Mühe von einer katatrofalen Ende abgewehrt wurde, hat unvermeidlich den jungen Studenten tief geprägt. Selber hat er kaum etwas über seine aktiven Teilnahme an der Verteidigung Kopenhagens mitgeteilt, aber es muss ihm tief beeindrückt haben. Kopenhagen war im Laufe des 17. Jahrhunderts zum Rang einer bedeutenden europäischen königlichen Rezidenzstadt und Grossstadt aufgewachsen. Kopenhagen (Kauffmannshafen)wurde ursprünglich im Mittelalter als Hafenstadt und Festung der Bischöfen von Roskilde angelegt. Erst am Anfang des 15. Jahrhundert gelang es den Königen, die Stadt aus dieser kirchlichen Herrschaft hinaus zu lösen und an sich zu reissen. Mit dem Sieg der lutherischen Reformation 1536 wurde diese neue Stellung dauerhaft befestigt. Kopenhagens Aufstieg als Hauptstadt des neuzeitlichen Staates, bestehend aus Dänemark, Norwegen, Island und die Herzogtümer Schleswig und Holstein, fing an. Die 60-jährige Regierungszeit König Christians IV 1588-1648 war eine symbolische Verkörperung dieser Zeit. Heute noch ist Kopenhagen von den schönen Bauwerken geprägt, die das Ergebnis der künstlerische Geschmack und der unermüdlichen Tätigkeit dieses Königs sind. So das Gartenschloss Rosenburg (1606), die Börse (1623) mit den Versorgungsgebäuden der Seeflotte Jørgen Nybo Rasmussen ”Niels Stensen, Kindheit, Jugend und Studienjahre”, Schwerin 26. nov. 2011. Seite 2 von 7 am Hafen auf „Slotsholmen“, das Runde Turm (Rundetårn, 1642), das sein Verständnis für Astronomie bezeugt und zugleich Kirchturm der Studentenkirche Trinitatis Kirche (1656) war. Am zweiten Stock dieser Kirche wurde die erste Universitätsbibliothek eingerichtet. Gegenüber entstand „Regensen“ (1623) die königliche Wohnung für 100 Universitätsstudenten. So bekamen Kunst und Wissenschaft gleich günstige Verhältnisse in Dänemark wie in Europa sonst. Gleichzeitig mit und in der Mitte dieser neuen Heimstätten der Kulturblüte wuchs Niels Stensen auf. An der Ecke zwischen die Hauptstrasse Købemagergade und Klareboderne lag sein Geburtshaus, wo er am 1. Januar 1638 das Licht der Welt blickte. Dieses Haus blieb durch seine ganze Kindheit und Jugend, bis er als 22-jähriger ins Ausland zog, seine Heimat. Hier war die Goldschmiede seines Vaters, Sten Pedersen und nach seinem Tod 1645 seiner beiden Stiefväter, Peder Lesle + 1647 und Johann Stichmann + 1663. Diese spätere Verbindungen seiner Mutter Anne Nielstochter mit früheren Gesellen waren sicher „Vernunftehen“, die für die Weiterführung des blühenden Goldschmiedewerkstatts nötig waren. Ausser der Werkstatt war das stattliche Haus Wohnung für die Eltern, für Niels und für seine beiden Schwestern, die ältere Lisbeth und die jüngere Halbschwester Anne, Tochter Johann Stichmanns und seiner Mutter. Im Haus wohnten natürlich auch Gesellen, Lehrjünger, Dienstleute usw. wie es damals einer wohl situierten Familie ziemte. Neben der Goldschmiede erhöhte die Familie ihren Einnahmen mit einem im unteren Stock eingerichteten Weinbude, die recht angesehen war und gut besucht wurde. Diese Heimat Niels Stensens muss sehr lebendig gewesen sein. Die Familie selbst war nicht zahlreich, aber viele Leute kamen und gingen als Kunden in der Goldschmiede oder in der Weinbude. Niels hat selber beschrieben, wie er als kleiner Junge etwas kränklich war, und deshalb selten an den Spielen seiner Altergenossen teilnahm, aber je mehr lernte beim Lauschen der Gesprächen der Erwachsenen. Seine spätere Fähigkeit mit ganz verschiedenen Menschen gute Kontakte aufzunehmen hat er sich in wahrscheinlich schon diesem offenen Elternhaus angeeignet. Sowohl Sten Pedersen, Niels´ Vater, wie Johann Stichmann waren ausgezeichnete Handwerker hoch angesehen im Kopenhagener Goldschmiedezunft. Ihre Silber- und Goldarbeiten waren nachgefragt. Als Lieferanten zum Königlichen Hof erwarben sie die höchste Annerkennung der Zeit Einige ihrer Arbeiten sind heute noch erhalten. Dabei erwähne ich einen bisher kaum beachteten Altarkelch von Sten Pedersen, der heute noch in Gebrauch ist in der evangelischen Kirche in Tranquebar, das heisst in der ehemaligen dänischen Kolonie an der Ostküste Indiens. Die Stensen-Forschung hat immer gut verstanden, dass der junge Niels nur durch die Anwesenheit dieses Werkstatt im seinem Elternhaus sehr viel gelernt haben muss. Selber ging er allerdings nicht ins Handwerk ein. Er fing keine Ausbildung als Goldschmiedgeselle an. Aber auch als Schüler und Student hat er oft die Arbeit im Heimat gefolgt, die Gesellen an der Behandlung der Edelmetalle beobachtet, und ist mit ihren feinen Werkzeuge und Instrumente vertraut geworden. Hier hat er die Schärfe seiner Augen geübt und sich die Präzision bei der Benutzung der Instrumente angeeignet, die ihm später seinen grossen anatomischen Entdeckungen ermöglichten. Er lernte auch chemischen und physikalischen Prozesse kennen, deren weiteren Zusammenhänge er später im Leben erforschte, und für seine bahnbrechenden, krystallografischen, palæologischen und stratigrafischen Erkenntnisse nützlich machen konnte. So weit ich weiss, hat doch bis heute kein Stensen-Forscher untersucht, wie die Werkzeugen eines damaligen Goldschmiedewerkstatt und die von Niels Stensen benutzten anatomischen Instrumente sich an einander verhalten? Jørgen Nybo Rasmussen ”Niels Stensen, Kindheit, Jugend und Studienjahre”, Schwerin 26. nov. 2011. Seite 3 von 7 Das Elternhaus Niels Stensens ist schon längst verschwunden. Am 11. Januar 1997, den 359. Geburtstag Niels Stensens,wurde an der Stelle in „Klareboderne“ Nr 1 ein Gedenktafel angebracht. Das war eine gemeinsame Initiative der katholischen St. Ansgar Kirche und der Universität Kopenhagen. Die Inschrift lautet ganz einfach (ins Deutsche übersetzt): „Hier wurde Niels Stensen geboren. 1638-1686. Anatom, Geologe, Bischof.“ Im Unterschied zum entsprechenden Gedenktafel in Schwerin, ist in Kopenhagen die Seligsprechung Niels Stensens 1988 nicht erwähnt. Niels Stensens Bildungsgang bestand aus den gleichen drei Stufen wie die der meisten europïschen Akademiker seiner Zeit: Grundschule, Lateinschule und Universität. Die Grundschule, in dänischen Städten „Bürgerschule“ genannt, vermittelte den ca. 6-9 jährigen die elementären Fähigkeiten: Lesen, Schreiben, Buchstabieren in Dänisch und die vier Rechnungsarten . In Fall Niels Stensens sind keine Nachrichten darüber bekannt, vielleicht hatten die Eltern einen „Privatlehrer“ für ihren begabten Sohn angestellt. Die Lateinschule Kopenhagens lag südlich der mittelalterlichen Hauptkirche „Vor Frue Kirke“ (Liebfrauenkirche) in der Stadtmitte und war wie diese im 13. Jahrhundert gestiftet. Hier war Niels als ca. 10–18 -jähriger Schüler 1648-1656. Schülerverzeichnisse sind leider nicht erhalten. Entsprechend der damaligen Bildungsnorm war es das Hauptziel durch das „Trivium“ eine sichere Beherrschung der lateinischen Sprache zu erreichen. Aus seinen späteren wissenschaftlichen und theologischen Schriften geht Niels Stensens sprachliche Gewandtheit in dieser Sprache der Gelehrten Europas hervor, damals ja eigentlich „eine conditio sine qua non“. Rektor der „Liebfrauenschule“ Kopenhagens war der modern denkender Pädagoge, Jørgen Eilersen. Für Niels hatte es einen besonderen Wert, dass auch Dizciplinen wie Mathematik und Naturkunde ihren Platz im Bildungsprogramm der Schule hatten. Ob es nun Glück oder Neigung war, Niels Stensen hatte eine besondere Begabung für wertvolle Bekanntschaften. Ein jüngerer Lehrer an der Schule war Ole Borch. Er war Chemiker, arrangierte aber auch botanische Exkursionen für die Schüler in die Umgebung Kopenhagens. Das man die Natur selbst in den Unterricht einzog war neu, und hat den Weg für den späteren Naturbeobachter Niels Stensen gezeigt. Ein gleichaltriger Freund fand Niels in Jakob Henrik Paulli. Sein Vater, Simon Paulli, kam von Rostock, war königlicher Leibarzt und wurde der erste Anatom in Dänemark. Christian IV hatte ihn berufen, und er wurde am 1643 eingerichteten „Anatomischen Theater“ bei der Universität angestellt. Hier führte er die ersten öffentlichen Sezierungen in Dänemark aus. Durch seine Freundschaft mit dem Sohn hat Niels Stensen also schon als Junge die Kunst der Anatomie praktisch kennen gelernt. Simon Paulli war auch Botaniker und schuf die erste illustrierte „Flora Danica“. Zu Besuch bei Jakob Henrik war Niels ein häufiger Gast im schön ausgestatten Haus des Vaters, wo ein damals ungewöhnlich vorurteilsloser akademischer Geist herrschte. Man untersuchte und debattierte frei. An den Wänden standen Bibeltexte und Sprichwörter, die im Geist des christlichen Humanismus den Ernst des Lebens ermittelte: „O Mensch, gedenk die Ewigkeit, Gottes Auge ruht auf dich“. - Aber „Eine fette Küche ist die Mutter der Krankheit“ klingt überraschend praktisch und ganz modern! Wenn auch die Schulzeit Niels Stensens für den lernwilligen Jungen eine glückliche war, begegnete ihm doch ganz hart dieser Ernst des Lebens. In seinem vierten Schuljahr 1652 raffte eine Fieberkrankheit, wohl eine Art Grippe,so viele Mitschüler weg, dass man wegen den zahlreichen Beerdigungen die Hälfte der Unterrichtszeit absagen musste. Aber noch schimmer wurde es, als die Pest im Sommer 1654 Kopenhagen erreichte, und in wenigen Monaten 9000 Menschen, ein Drittel der Bevölkerung, ausrottete. Damals gehörte es zu den Aufgaben der Lateinschüler, und war Jørgen Nybo Rasmussen ”Niels Stensen, Kindheit, Jugend und Studienjahre”, Schwerin 26. nov. 2011. Seite 4 von 7 zugleich ihre Einnahmequelle, dass sie die Leichenzügen folgten und Sängerdienst leisteten. Die Vergänglichkeit des irdischen Lebens war für den Teen-ager Niels kein leeres Wort. Im Jahr 1656 wurde Niels Stensen an der Universität Kopenhagens immatrikuliert. Er wählte für sich als Hauptfach die Medizin, und gehörte damit einer Minderheit unter den Studenten. Die Mehrzahl suchten nach einem Pastorenamt in der Kirche und studierten also Theologie. Als „Mentor“ wählte Niels den ihm schon bekannten Professor Thomas Bartholin. Er hatte schon einen internationalen Ruf als Anatom und Entdecker des Lymphenkreislaufes. Neben Simon Paulli sezierte auch er im „Anatomischen Theater“. Sein jüngerer Bruder Rasmus Bartholin lehrte Mathematik, Physik und Mineralogie und war nach seinem Studienaufenthalt in Frankreich ein überzeugter Anhänger von René Descartes geworden, dessen „Methode“ er als die einzig wissenschaftliche verkündete. Auch von ihm wurde der junge Niels Stensen sehr beeindrückt. Schon in Kopenhagen eignete Niels sich also durch diese Lehrer die neue Bewegung der Forschung an: weg vom fruchtlosen Zitieren der Klassiker zur empirisch-mathematischen Naturkunde. Wie Niels Stensens Schuljahren von einer der grossen Plagen der Zeit, der Pest, belastet war, fiel in seiner Universitätszeit die andere grosse Plage, der Krieg, über Land und Stadt. Die politische und militärische Kraftprobe mit Schweden erreichte ihren Höhepunkt mit der Belagerung Kopenhagens, die vom August 1658 bis Sommer 1659 dauerte. In dieser Zeit wurde eine normale Fortführung der Studien mehr oder weniger unmöglich. Viele Lehrer, auch Thomas Bartholin, verliessen die Stadt. Wegen katastrofaler Mangel an richtigen Soldaten, musste die Verteidigung der Stadt mit bewaffneten Korps der Zivilen ergänzt werden. Niels Stensens Stiefvater Johann Stichmann war Kommandant eines Bürgerkorps, und Niels selber wurde ins Studentenkorps eingegliedert. Zuerst arbeiteten sie an der Verstärkung der Wallanlagen, später leisteten sie regulären Wachtdienst in der Winterkälte. Während der Hauptsturm der Schweden am 11. Februar 1659 kämpften sie blutig auf dem Eis im Hafen. Nur inzwischen konnte trotz Hunger und Kälte studiert werden. Niels Stensen liess sich jedenfalls nicht wegen des Kriegs von seinen Studien abhalten, im Gegenteil. Das grosse Zeugnis davon ist, wie bekannt, sein „Chaos-Manuskript“, das er vom März bis Juli 1659 mit seinen Aufzeichnungen füllte. Das ist die erste aber überragend wichtige Quelle aus seiner eigenen Hand, die uns einen tiefen Einblick in seinen Studien und seinen Gedanken erlaubt, eben als er am Ende dieser Studien und auch seiner Anwesenheit in Kopenhagen war. Im Herbst des gleichen Jahres verlies er Dänemark und zog ins Ausland. (Ich präsentiere nicht die Ausgabe des „Chaos“ aus der Hand Dr. August Ziggelaars 1997- ins Englische übersetzt und kommentiert. Sie dürfte von allen Anwesenden gut bekannt sein.) Die Niels Stensen-Forschung hat diesen Text ausführlich studiert um dort Aussagen zu finden, die auf seine späteren wissenschaftlichen Errungenschaften und auf seine religiöse Entwicklung hin zeigen. Darauf werde ich hier nicht eingehen. Aber seine vielseitigen Interessen, die ihre Spuren in „Chaos“ hinterlassen haben, sind deshalb nicht erschöpft. Zum Beispiel erwähnt er mehrmals Äusserungen eines gewissen „Hoffmann“. Die Forschung hat gezeigt, dass dieser der deutsche Festungsingenieur Georg Hoffmann war, der sich zusammen mit seinem Bruder Gottfried Hoffmann in den 1650-jahren in Dänemark aufhielt um Festungen und befestigen Städte zu verbessern und modernisieren nach den neuesten Prinzipien der Verteidigungskunst. „Chaos“ zeigt, dass Hoffmann mit Stensen eine nahe Verbindung hatte. Er erzählte ihm von Heilpflanzen, die er in Balkan kennen lernte, wie er ein Gehirn seziert hatte, aber auch von seinen eigenen Jørgen Nybo Rasmussen ”Niels Stensen, Kindheit, Jugend und Studienjahre”, Schwerin 26. nov. 2011. Seite 5 von 7 Gesundheitsprobleme mit Schlaf und Verdauung. Stensen verhielt sich wie sein Schüler und lernte Mathematik, Technik und Landmessung bei Hoffmann. Also ziemlich weit von seinen späteren Interessen, aber damals verständlich. AuchNiels hatte sich mit der Ausbesserung der Festung Kopenhagen während der schwedischen Belagerung beschäftigen müssen. Wie immer strebte er den wahren Zusammenhang der Phänomene, die ihm bewusst wurden, zu verstehen. Für viele am wichtigsten ist aber die Frage nach seiner religiöse Haltung in dieser frühen dänischen Jugendzeit? Selbst bezeugte er, in genauer Übereinsstimmung mit was man sonst von der Zeit weiss, dass er in einer festen lutherischen Überzeugung erzogen, unterrichtet und eingeübt wurde. Als Lateinschüler und auch als Universitätsstudent bildete die Lebensstil des orthodoxen Luthertums die Rahmen des Lebens: Andachten, Gebet, Gottesdienste und Unterricht gehörten dazu.Deshalb wird es allgemein angenommen, dass Niels Stensen erst in Holland eine Gesellschaft erlebte, wo religiöser Pluralismus und skeptische Philosophie toleriert und ohne Unterdrückung offen bekannt werden konnte. Diese Erfahrung verursachte für ihn eine religiöse Krise, die erst in Italien 1667 mit seiner Konversion zur katholischen Kirche seine Lösung fand. Ohne diese Auffassung grundsätzlich anzufechten, möchte ich aber kurz zeigen, dass er schon in seiner dänischen Jugendzeit auf anderen Glaubensformen traf als das orthodoxe Luthertum. Er hatte einen viel älteren Halbbruder Johann, einen Sohn seines Vaters aus dessen erster Ehe, geboren um 1614. Er studierte Theologie, aber wegen Schwierigkeiten bei der Aneignung des notwendigen Lateins wurde er 1632 im Haus eines ausgezeichneten Philologe, Professor Jakob Mathiesen einlogiert. Dieser Jakob Mathiesen (Jacobus Mathiæ) war aber ein früherer Sekretär undBewunderer vom Edelmann und berühmten Theologen Holger Rosenkrantz „der Gelehrte“ auf Rosenholm in Jütland. Dank seiner originellen theologischen Schriften wurde Rosenkrantz auch im Ausland bekannt. Aber er kam in Verdacht, weil er die Bedeutung der guten Taten und das fromme Leben in Gott für das Heil so sehr hervorhob, dass Bischof Jesper Brockmann und die orthodoxen Theologen in Kopenhagen ihm der Ketzerei vorwarfen. Nur sein Tod in 1542 verhinderte, dass ein Prozessgegen ihn angelegt wurde. Statt dessen erhielt er wegen seines Ruhmes eine grossartige Bestattung. Vom Hofprediger Ole Vind wurde er sogar als „wahrer Heiliger“ bezeichnet. Johann Stensen war sicher dabei und hat im Vaterhaus von ihm gesprochen. Damit hörte der kleine Niels etwas von theologischen Gegensätze in der dänischen Kirche. Später wurde ausgerechnet der SohnJakob Mathisens, Holger Jacobæus,einen treuen persönlichen Freund und Bewunderer Niels Stensens, und war wie bekannt nahe daran auch selbst zu konvertieren. Theoretisch wäre es für Niels Stensen möglich gewesen, die katholische Kirche in Kopenhagen selbst zu erleben. Im Traktat vor Madrid 1641 war es vereinbart, dass ein Gesandter in einem Land mit einem anderen Konfession seine eigene Religion mit seinen Angestellten frei ausüben und auch seinen eigenen Geistlichen mitnehmen dürfte. Auf dieser Grundlage war der erste Gesandt Spaniens Graf Bernardino de Rebolledo schon 1648 nach Kopenhagen gekommen. In seiner Ambassade in „Strøget“ richtete er eine katholische Kapelle ein, wo die Hl. Messe gefeiert wurde. Aber nichts deutet darauf, dass Niels Stensen etwas davon ahnte, obwohl Rebolledo als „Fremder Vogel“ sich in der Kopenhagener Gesellschaft recht bemerkbar machte – auch als bekennender Katholik. Unter den vielen Büchern, die Niels im „Chaos“- Manuskript referierte, war nur ein einziges ein religiöses Buch, nicht aber von einem Lutheraner, sondern von einem deutschen Jesuiten verfasst. Jørgen Nybo Rasmussen ”Niels Stensen, Kindheit, Jugend und Studienjahre”, Schwerin 26. nov. 2011. Seite 6 von 7 Jeremias Drexel war 1581 als Sohn protestantischer Eltern in Augsburg geboren. Er konvertierte zum Katholizismus und trat 1608 in den Jesuitenorden ein. Er lehrte in mehreren Kollegien und wurde 1615 Hofprediger in München. Wegen seinen gut geschriebenen religiösenSchriften gewann er grosses Ansehen und wurde in viele Sprachen übersetzt. Was Niels Stensen in seinem „Joseph Prorex Ægypti“ (ed. Amsterdam 1641),also die alttestamentliche Geschichte von Josef in Ägypten, beeindruckte war, wie Drexel diese als Beispiel der Vorsehung Gottes im wechselvollen Leben eines jeden Gläubigen deutete. Ein Bibelverständniss, dem sich gewiss auch ein Lutheraner anschliessen konnte, aber immerhin von einem Katholiken und Jesuiten dargelegt. Die umfassende Auszüge aus Drexels Buch zeigen, wie tief Niels Stensen von ihm beeindrückt war. In seinem eigenen wechselvollen Leben spielte sein unerschütterlicher Glaube an Gottes Vorsehung eine entscheidende Rolle. Das ist bezeugt z. B. in seinem bekannten Gebet: „Allmächtiger Gott, ohne dessen Wille weder ein Haar vom Baume noch ein Vogel aus der Luft fällt….usw.“ Es wird angenommen, dass Niels dieses Buch vom Reichhofmeister Joachim Gersdorff, wo sein Freund Ole Borch als Chemiker angestellt war, geliehen hatte. Die strenge Bücherzensur, die sonst verhindern sollte, dass „gefährliche“ das heisst vor allem katholische und kalvinistische Bücher in das orthodoxe Dänemark eingeführt oder gar gedruckt wurden, hinderte nicht, das hochgestellte Personen wie ein Reichshofmeister (Staatsminister) solche Bücher in ihren Privatbibliotheken besassen. In diesem Zusammenhang kann erwähnt werden, dass der Vorgänger Joachim Gersdorffs, als Reichshofmeister, Korfitz Ulfeldt, neulich von der Forschung direkt als Kryptokatholik nachgewiesen worden ist. Das war natürlich den Zeitgenossen ganz unbekannt. Und wäre es bekannt geworden, hätte es übrigens kaum der katholischen Sache gut gedient. Korfitz Ulfeldt verlor ja sein Amt wegen Unterschlagung von Staatsmitteln, und später wurde er wegen Landesverrat im schwedischen Krieg und auch danach zum Tode verurteilt. Wahrscheinlicher ist es, dass Niels Stensen erfuhr, dass der Bruder der dänischen Königin Sofie Amalie, Herzog Johann Friedrich von Hannover, 1651 zur katholischen Kirche übergetreten war. Er war öfters zu Besuch bei seiner Schwester in Kopenhagen und führte mit seinem Schwager, König Friedrich III, gerne Religionsgespräche. Aber dass eben dieser gleiche Herzog Johann Friedrich einmal veranlassen sollte, dass Niels Stensen 1677 als katholischer Bischof zu seinem Hof gerufen würde, lag gewiss für beide in der unbekannten Zukunft geborgen. Um Niels Stensens spätere Entwicklung zu verstehen, muss man also seine Jugendzeit in Dänemark genauer als bisher beachten. Die gute Erziehung im Elternhaus, die praktischen Erfahrungen an der Goldschmiede, die Schulzeit wo das traditionelle Latein mit Naturkunde ergänzt wurde, die Universitätsjahren mit progressive Lehrer, die Pioniere der Anatomie waren, öffnete für Niels Stensen die Welt der neuen Naturwissenschaft, wozu er selbst später in genialer Weise beitragen würde. Die unbedingte Offenheit für die Wahrheit, die er sich hier aneignete, leitete ihn auch weiter in seiner Suche nach der religiösen Wahrheit. Ausgehend von der christlichen Erziehung seiner Jugend, aber ohne dabei stehend zu bleiben, führte seine Erfahrungen mit dem religiösen Pluralismus Europas ihn schliesslich zu seiner Konversion zur Katholischen Kirche, die er als Seine Kirche erkannte, der sich selbst als die Wahrheit in Person offenbart hatte Roskilde 23. nov. 2011. Jørgen Nybo Rasmussen Jørgen Nybo Rasmussen ”Niels Stensen, Kindheit, Jugend und Studienjahre”, Schwerin 26. nov. 2011. Seite 7 von 7