Schuld ohne Sühne Eine Frauenfantasie? - Edu-Uni-Klu
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Schuld ohne Sühne Lo. Li. Ta. Eine Frauenfantasie? Von: LV: Leiterin : Datum: Bettina Pirker (Matr. Nr.: 9960771) 180.853 Seminar zur Medienpädagogik und Kommunikationskultur: Medien-Fantasien Brigitte Hipfl Klagenfurt, 28.08.2003 „Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Meine Sünde, meine Seele. Lo-li-ta: die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei Drei gegen die Zähne. Lo. Li. Ta. Sie war Lo, kurz Lo, am Morgen, 1,50 m groß in einem Söckchen. Sie war Lola in Hosen. Sie war Dolly in der Schule. Sie war Dolores von amtswegen. Aber in meinen Armen war sie immer Lolita.“ (Nabokov 1976:12) 1 Inhalt 1. Warum Lo. Li. Ta.? 3 2. Wider der Dualität 3 2.1 Kultur : Natur 4 2.2 Frau : Mann 6 2.3 Kind : Erwachsene/r 8 2.4 Femme fatale & Femme fragile 10 2.5 Dazwischen 11 3. Reale Fantasien 14 4. Die Suche nach Lo. Li. Ta. 15 4.1 Als künstlerisches Konstrukt? 16 4.2 Im männlichen Blick? 18 4.3 Ein Klischee? 20 4.4 Ein Mythos? 21 4.5 In meiner Erinnerung? 23 4.6 Eine (reale) Frauenfantasie? 24 5. Lo. Das Gefühl 26 5.1 Begehren 27 5.2 Macht 28 5.3 Reflexivität von „public fantasies“ 29 6. Li. Die Verführung 30 6.1 Moral, Ethik und Logik 31 6.2 Wer verführt wen? 33 6.3 Kindliche Sexualität und der Pädophilie-Diskurs 34 7. Ta. Die Lesart 35 8. Schuld ohne Sühne – Resümee 37 Literatur 38 Internet 40 Anhang Text: Grönemeyer „Kinder an die Macht“ Text: Bush “The man with the child in his eyes” Lolita-Fantasien I, II Tabelle: Auswertung der Erinnerungsarbeiten 41 2 1. Warum Lo. Li. Ta.? Als Mythos spukt sie durch unsere Welt, mit vielen Klischees ist sie behaftet: Lolita, die Kindfrau. Sie räumt auf mit den dualen Denkweisen und zwingt uns mit Aporien umzugehen. Sie ist eine Zuschreibung, ein literarisches Konstrukt, Opfer männlichen Begehrens und durchtriebene Meisterin der Verführung. Gibt es sie nur, weil Männer sie erschaffen, oder hat sie auch einen Platz in unserer Realität? Das Aussprechen ihres Namens beflügelt schon die Fantasie: bei ‚Lo’ ist die Zunge ganz weit hinten – ein, noch unbestimmtes Gefühl kommt auf, ‚Li’ wird am Gaumen ausgesprochen – ein verführerisches Kitzeln ist dabei zu spüren, das ‚Ta’ ist schon ganz vorne an den Zähnen, die Zunge verlässt fast das innere und kommt beinahe mit der Außenwelt in Kontakt. Ich begebe mich auf die Suche nach diesem faszinierenden Wesen. Wo ist sie einzuordnen in unserer dualen Welt, ist sie Fakt oder Fiktion. Existiert sie nur als Mythos oder als Klischee? Ist sie ein literarisches Konstrukt oder eine männliche Wunschvorstellung? Ein unbestimmtes Gefühl überkommt mich, wenn ich an Lolita denke – als könnte ich mich an sie erinnern. Was hat ein Männerphantasma mit mir zu tun? Gibt es eine Lolita-Fantasie auch bei anderen Frauen und wenn ja, was hat eine Fantasie mit der Realität zu tun? Jede Frage über Lolita wirft eine weitere auf, in den logischen Strukturen unserer Welt ist sie nicht einzuordnen. Ist sie nur eine Utopie – etwas das im Hier und Jetzt keinen Platz hat? Sie ist im Diskurs, wir glauben sie zu kennen und doch wissen wir nicht wo wir sie finden können. Sich auf die Kindfrau einzulassen bedarf der Fantasie – und genau dort werde ich sie suchen. 2. Wider der Dualität Lolita, die Kindfrau, provoziert alleine schon durch die Bezeichnung ‚Kindfrau’ eine Beschäftigung mit unserem dualen Denken. Jemand kann entweder Kind oder Frau sein, aber nicht beides – dies widerspricht doch jeglicher ‚natürlichen’ Logik! So 3 lange Zeit haben wir das richtig/falsch Denken praktiziert und kultiviert, dass es für uns natürlich wirkt. Alles, was nicht in dieses Schema passt, wird schnell als abnormal bezeichnet, nicht unserer dualen Norm entsprechend, oder auch als unnatürlich, da es nicht der dualisierenden Kultur entspricht, die für uns zur Natur geworden ist. Und schon sind wir mitten drin in der ‚dualen Falle’. Wenn es Natur gibt, gibt es sie nur im Gegensatz zu Kultur? Gibt es Frau nur im Gegensatz zum Mann, groß nur weil es klein gibt, arm nur weil es reich gibt, lang kann etwas nur sein, weil was anderes kurz ist,…? Zu allem und jedem gibt es ein Gegenstück, Oppositionen sind das, woraus unsere Welt gemacht ist. Liegt es in der Natur der Dinge nur mit ihren Gegenstücken gemeinsam aufzutreten? Gibt es tatsächlich nur entweder/oder, wie steht es dabei mit dem ‚und’? Wenn wir diesen Gedanken weiterführen, geraten wir schnell an die Grenzen der Dualität. Wie sieht es zum Beispiel aus mit ‚rot’? Dazu gibt es kein Gegenteil, ‚rot zu nicht-rot’ kann wohl kaum die Alternative sein. Wie steht es mit so einfachen Dingen wie dem Tisch, gibt es den Tisch nur im Gegensatz zum Nicht-Tisch? Auch diese Aufzählung könnte lange weitergeführt werden und lässt uns, wenn auch zaghaft, Abstand nehmen vom dualen Denken. Lolita zeigt uns ein Gegenstück zu den Oppositionen, sie ist irgendwo dazwischen und dieses ‚Dazwischen’ gilt es zu fassen um so möglicherweise eine neue Art des Denkens zu ‚kultivieren’. 2.1 Kultur : Natur Wie wenig hilfreich Oppositionen für das Verstehen verschiedener Phänomene sind, möchte ich anhand des Gegensatzes von Kultur und Natur klar machen, um mich so dem ‚Dazwischen’, der Erkenntnis abseits des dualen Denkens, anzunähern. Stellen wir uns folgende Situation vor: wir befinden uns in der freien Natur, an einem kleinen Waldsee, dem Forstsee, in Kärnten; er ist nur zu fuß zu erreichen. Die schönsten Buchten findet man nach einem kurzen Marsch durch den Wald. Nackt, ‚wie Gott mich schuf’, ‚im Eva-Kostüm’, mache ich es mir auf einem Felsen bequem 4 und genieße diese Situation – im ‚Einklang mit der Natur’. Obwohl wir uns in der Aufklärung von der Teleologie verabschiedet haben, sehen wir die Natur gerne noch als ‚gottgegeben’. So und nicht anders ist es und war es auch schon immer, wir nehmen es hin und hinterfragen nichts. Wenn wir uns nun allerdings die Fakten, im Gegensatz zu den Fiktionen, näher ansehen, stellen wir fest, dass die Natürlichkeit des idyllischen Sees nichts anderes ist, als eine Fiktion. Das Wasser wird im Winter abgelassen, die hohen Strommasten im Wald weisen auf das nahe gelegene Kraftwerk hin, das vom Wasser dieses Sees gespeist wird. Inmitten der Bäume entdecken wir öffentliche Toiletten und neben dem kleinen Trampelpfad, der sicher auch nicht von alleine, natürlich, entstanden ist, leuchtet uns in auffälligem rot ein Cola-Automat entgegen. Die vereinsamte Telefonzelle erweckt im Handy-Zeitalter ein nostalgisches Gefühl. Auch die Natürlichkeit des nackten Körpers hält einer näheren Betrachtung nicht stand. Sowohl der Nagellack, die Haarfarbe, als auch die rasierten Beine oder die wohlduftende Sonnenschutzcreme sind nichts anderes als Kulturprodukte. KULTUR NATUR FAKTEN FIKTIONEN nackt, wie Gott mich schuf, im Eva-Kostüm... am Forstsee (Kärnten), ...mit Nagellack, rasierten Beinen, Sonnenschutzcreme... ... wird im Winter abgelassen, Toiletten, Cola-Automat, StromMast, Telefonzelle... Dieses Beispiel zeigt, dass Kultur etwas ist, das so lange bearbeitet und internalisiert wurde, bis es für uns natürlich wirkt und diese Natur im Grunde nichts anderes ist als eine kulturelle Illusion. Die Fakten werden zu Fiktionen und umgekehrt, die 5 Schnittstelle zeigt das ‚Dazwischen’ und macht die Differenzierung von Kultur : Natur, Fakten : Fiktionen nicht länger haltbar, der Dualismus scheint seine Gültigkeit zu verlieren. Daher macht es auch wenig Sinn, Lolita, die Kindfrau, als Fakt oder Fiktion bzw. als natürlich entstanden oder kulturell produziert, festzumachen. Konventionelle Kategorien sind zu eng um sie fassen zu können. 2.2 Frau : Mann „Die Kindfrau materialisiert einen radikalen Bruch mit traditionellen, abendländischen Dualismen, und sie ist ein Phänomen des 20. Jahrhunderts, einer Zeit also, in der ebendiese Dualismen in Frage gestellt werden. Mit ihr werden scheinbar Manifeste abendländischen Denkens erschüttert, nämlich die scheinbaren ›Tatsächlichkeiten‹ der Gegensätze von Mann-Frau, Erwachsener-Kind, Opfer-Täter, und diese Gegensätze werden an jener Differenzierung, die sie gemeinsam haben, nämlich am Geschlecht, gebrochen.“ (BRAMBERGER 2000: 273) Die Unterscheidung der Geschlechter scheint etwas zu sein, dass eine duale Sichtweise bestätigen könnte. Schon kleine Kinder beschäftigt die Frage, wer ist ein Mann, wer ist eine Frau bzw. wer ein Junge und wer ein Mädchen ist und auch zu welcher Sorte man selbst gehört. Offenbar liegt hier eine ‚natürliche’ Dualität vor, die an Vagina und Penis festzumachen ist und die es daher ‚immer schon gab’? Doch auch diese Unterscheidung und klare Trennung der Geschlechter entstand erst im Zuge der Etablierung der Bürgerlichen Gesellschaft im 18. Jahrhundert (vgl. MAIHOFER: 1995:29). „Davor existierte seit der Antike das, was Laquer das Ein-GeschlechtModell nennt. Die Geschlechtsteile wurden als gleichförmig beschaffen angesehen: Frauen und Männer haben dieselben Genitalien, nur einmal nach innen, das andere Mal nach außen gestülpt, wobei allerdings die männliche Morphologie als Norm gradueller Unterschiede fungiert: die Vagina wird als innerer Penis gesehen, nicht etwa umgekehrt. Kurz: es gab einen Körper, und der war männlich.“ (ebd. 1995:29) 6 Seit über zwei Jahrhunderten internalisieren und kultivieren wir die Zweigeschlechtlichkeit, daher ist diese Unterscheidung für uns ‚natürlich’. Wir lernen wie wir uns als Frau bzw. als Mann zu benehmen haben; Geschlechtsspezifische Darbietungsregeln sind die ersten, umfassendsten und folgenreichsten Regeln, die uns im Lauf unseres Lebens vorgegeben werden; diese spezifischen Gender-Scripts vervollständigen die umfassende Genderisierung des gesamten körpersprachlichen Repertoires. (vgl. MÜHLEN ACHS 1993:85) Diese Verhaltensregeln lernen wir, oft unbewusst, im Laufe unserer Sozialisation – so lange bis wir sie verinnerlicht haben um sowohl bei der Beobachtung anderer, als auch bei eigenen Handlungen darauf bezug nehmen. MAIHOFER vertritt die These „dass wir nicht nur zu Männern und Frauen ‚gemacht’ werden, sondern dass wir dies […] dann auch (geworden) sind (ebd. 1995: 16).“ Das duale Konstrukt der Geschlechtertrennung sorgte dafür, dass eine „eigenständige Entwicklung als Subjekt“ für die Frau unmöglich wird, da es sie nur im Gegensatz zum Mann gibt. „Die ihr zugewiesenen gesellschaftlichen Existenzweisen erweisen sie stets als durch den Mann definiert, in ihrem gesellschaftlichen Status von diesem abhängig. Die Frau ist Horkheimer und Adorno zufolge – ähnlich wie dies später auch Luce Irigaray betont – entweder Hetäre [Geliebte], Prostituierte, Ehefrau oder Mutter, nie ist sie einfach nur Frau.“ (MAIHOFER: 1995:116). Gegen diese, vom Mann abhängige, Definition verwehrt sich die Kindfrau. Sie vermittelt Jungfräulichkeit und schließt so schon ein Dasein als Geliebte oder Prostituierte aus. Kindliche Ehefrauen sind zwar in anderen Kulturkreisen immer noch üblich, aber bei uns undenkbar, was eine Vorstellung von Lolita als Ehefrau auch nicht aufkommen lässt. Die körperliche Unreife – die Kindlichkeit, wie auch die konnotierte Virginität lässt keine Gedanken an Mutterschaft aufkommen (vgl. HOCHHOLDINGER-REITERER 1995:5). Lolita hält sich an das Gender Script, alle Geschlechtsattributionen verweisen auf ihre Weiblichkeit, dennoch verhindert sie die Zuweisung einer weiblichen Rolle. BRETON setzt die Kindfrau zwar nicht der „anderen Frau“ [obwohl er sie als andere bezeichnet] entgegen, meint aber, „dass in ihr und nur in ihr im Zustand völliger Transparenz das andere Paradigma vorhanden ist, das zur Kenntnis zu nehmen man sich hartnäckig 7 weigert, weil es ganz anderen Gesetzen gehorcht, deren Verbreitung der männliche Despotismus um jeden Preis verhindern muss“ (1993:66). BRAMBERGER hält daran fest, dass die Kindfrau, weil sie eine Frau ist, „aus einer geschlechterorientierten Position gedacht werden muss, dass sie eine ›Frau zum Mann‹ werden, dass sie begehrt werden muss, um überhaupt wahrgenommen werden zu können, dass sie über dieses Begehren definiert sein muss“ (2000: 89). Übersehen wird dabei allerdings die Möglichkeit, dass sie selbst begehren könnte! Lolita lässt sich nicht mit binären Codes festmachen, sie ist weder Gegenstück zum Mann, aber auch kein Spiegelbild der Frau. Sie ist tatsächlich ein Anzeichen für ein anderes Paradigma, das den Konventionen dualen Denkens nicht gehorchen will. Sie ist nicht ein ‚Entweder/Oder’, sie ist das ‚Dazwischen’, wie auch das ‚Und’. 2.3 Kind : Erwachsene/r „Sie [die Kindfrau] ist das Ergebnis eines besonderen Zusammenspiels zweier Themenkomplexe, die zur Jahrhundertwende enthusiastisch diskutiert wurden: die Geschlechterfrage und die Generationenfrage. Ihre ungebrochene Aktualität verweist auf Problembereiche innerhalb jener Diskussionen, die spannungsgeladen und ungelöst geblieben sind.“ (BRAMBERGER 2000: 10) Auch dieser weiteren dualen Unterscheidung zwischen Erwachsenen und Kindern stellt sich die Kindfrau entgegen. Bemerkenswert erscheint mir bei dieser Gegenüberstellung, dass hierbei auf die fein säuberliche Trennung von Frau und Mann verzichtet wird. Plötzlich, und sei es nur um auf Dualitäten zu beharren, sind beide Geschlechter als Erwachsene im Gegensatz zu Kindern, die ebenfalls nicht nach Geschlechtern differenziert werden, zusammengefasst. So sehr alleine schon die Formulierung der Gegenüberstellung Inkonsequenzen aufweist, könnte doch in diesem Fall eine Dualisierung berechtigt sein. „Historisch gesehen gilt dasjenige Kind, dessen ›Erfindung‹ mit dem 18. Jahrhundert kultiviert wurde, nicht nur als etwas Anderes zum Erwachsenen, sondern mitunter auch als etwas Besonderes. Es verfügt, so die Annahme, über Fähigkeiten, die der Erwachsene entbehrt.“ (BRAMBERGER 2000: 183) In Kindern lässt sich 8 scheinbar eine ‚Natürlichkeit’ festmachen, sie leben außerhalb der festgeschriebenen Konventionen und betrachten die Welt mit ‚unschuldigen’ Augen. Denken wir nur an das Lied von Herbert Grönemeyer „Kinder an die Macht“ (1986 auf der LP "Sprünge"). Das kindliche Gemüt, ihre Unschuld und Unvoreingenommenheit wird verherrlicht, wenn sie an der Macht wären, gäbe es weder Gewalt, Krieg noch Ungerechtigkeit (vgl. Liedtext im Anhang). Dies will uns zumindest der Liedtext glauben machen und deckt sich mit der allgemeinen Vorstellung von der Kindheit als ‚natürlicher’ Lebensphase abseits von Schuld und Lasterhaftigkeit der Erwachsenenwelt. „Erst seit der Romantik, darüber herrscht in der Forschung durchwegs Einigkeit, lässt sich im deutschsprachigen Raum jene weitgehende kontinuierliche Idolisierung feststellen, die für die im 20. Jahrhundert vorherrschende Einschätzung von Kindheit bedeutsam geblieben ist.“ (HOCHHOLDINGER-REITERER 1999:15) „Ein zweifelhaftes, aber folgenreiches Verdienst des Theoretikers Jean-Jaques Rousseau ist die Ausarbeitung und systematische Theoretisierung – man könnte beinah sagen die Konstruktion – des ideell ›unschuldigen‹ Kindes.“ (BRAMBERGER 2000: 191) Davor gab es eine eigenständige Lebensphase der Kindheit nicht. „Philippe Ariès vertritt in seinem Werk GESCHICHTE DER KINDHEIT die These, dass sich eine Vorstellung von Kindheit als eigener – von der Erwachsenenwelt strikt getrennter und strikt unterschiedener – Lebenszeit erst relativ spät entwickelt habe. Die Dauer der Kindheit habe sich im Mittelalter nur auf die allererste Lebenszeit beschränkt, sobald ein Kind ohne fremde Hilfe überlebensfähig gewesen sei, sei es bereits vollständig in die Welt der Erwachsenen integriert worden.“ (HOCHHOLDINGER-REITERER 1999:14) Somit müssen wir uns auch von der Vorstellung verabschieden, dass die Unterscheidung zwischen Kindheit und Erwachsensein etwas ‚natürliches’, ‚immer schon da gewesenes’ ist. Ein weiterer dualer Anker, an dem wir unsere Theorien und Vorstellungen über Lolita festmachen wollten, entschwindet. 9 2.4 Femme fatale & Femme fragile Lolita spielt mit den beiden Frauentypen, die wir spätestens aus dem ‚film noir’ kennen, der femme fatale und der femme fragile, die als absolute Gegensätze vorgestellt werden. Die Kindfrau kann sowohl als die eine, verführerisch und stark (im online Wörterbuch sogar als dämonisch bezeichnet – vgl. http://www20.wissen.de/xt/default.do?MENUNAME=Suche&query=femme+fatale) wie auch als die andere, zerbrechlich und unschuldig, charakterisiert werden. „Die Zuordnung zu beiden Topoi [femme fatale und femme fragile] erstaunt auch insofern, als diese beiden Weiblichkeitsentwürfe als gegenläufig und einander ausschließend beschrieben werden. Während die femme fatale leidenschaftliche Sexualität verkörpert, Sexualität ist, zeichnet sich die femme fragile durch ihre mangelnde oder negative Sexualität aus. […] so wird mit der femme enfant eine Figur entworfen, die zudem die Eindeutigkeit dieser Figuren zu relativieren trachtet, indem sie manche ihrer Charakteristika aufnimmt, um sie gegeneinander aufzumischen.“ (BRAMBERGER 2000: 102) Ist ein Vereinen der beiden Frauenbilder nun tatsächlich nur der Kindfrau vorbehalten, oder ist es nicht vielmehr so, dass jede Frau doch beides ist: begehrend und stark, oder nicht begehrend, schwach und kränklich – mal so, mal wieder so und mal ganz anders? Welche Frau ist tatsächlich statisch und ein für alle mal einem bestimmten Typus zuordenbar? Ist es nicht vielmehr so, dass es das Wesen des Menschseins ausmacht, in Bewegung zu sein, sich zu wandeln und zu verändern. Unser Leben ist ein Prozess und kein statisches Konstrukt, in manchen Situationen sind wir schwach und gehen gestärkt daraus hervor oder umgekehrt. Wir verführen und werden verführt oder lehnen auch manchmal beides ab. Wir fühlen uns mächtig, wenn wir agieren und oft ohnmächtig, wenn uns nur die Reaktion auf etwas bleibt, doch wir verharren nie an der selben Stelle, sondern bewegen uns weiter, daher ist m.E. die Zuschreibung einer Position eine rein analytische Momentaufnahme, die nur das augenblickliche Sein berücksichtigt, jedoch den aussagekräftigeren Prozess des Werdens ausklammert. BRAMBERGER gesteht sowohl der femme fatale wie auch der femme fragile Macht zu, die allerdings nur „in ihrer Körperlichkeit und ihrer Sexualität liegt: diese 10 machtvolle Sexualität wird als eine reaktive, von der Position des Mannes aus gedachte dargestellt und beharrt auf die Logik der Ordnung der Geschlechter.“ (BRAMBERGER 2000: 120) Diese Sichtweise schließt ein Begehren der Frau aus und verfällt in die, eigentlich schon überwundenen, Vorstellungen vom triebverhafteten Mann und der diesem Trieb ausgelieferten Frau zurück. Übersehen wird bei dieser Darstellung allerdings, dass diese machtvolle Sexualität nicht nur Reaktion sein muss, sondern ganz bewusst gesetzte Aktion sein kann, die ihre Macht nicht durch die Position des Mannes erhält, sondern und gerade das ist der springende Punkt: aus der Position der Frau, die begehrt und dies machtvoll zum Ausdruck bringt. „Die Kindfrau lässt sich auf keine der angebotenen Frauenrollen (und auch auf keins der möglichen Kinderbilder!) festschreiben, das unterscheidet sie so grundlegend von der femme fragile und der femme fatale.“ (BRAMBERGER 2000: 124) Wie wir feststellen konnten, lässt sich auch keine andere Frau auf eine einzige Rolle festschreiben; diese Erkenntnis sollte uns ermutigen, einen Schritt weg von den engen Frauenbildern und Stereotypen zu machen. 2.5 Dazwischen „Was immer an der Kindfrau bezaubert und fasziniert, erschreckt zugleich. Und diese Ambivalenz ist für sie bezeichnend.“ (BRAMBERGER 2000: 9) BRAMBERGER beschreibt bei ihrem Versuch die Kindfrau zu fassen, immer wieder ambivalente Gefühle (vgl. z.b. 2000:24, 89, 256). Wenn wir uns auf das duale Denken beschränken, ist diese Ambivalenz nicht zu verhindern. Gegensätze, die nicht mit einander vereinbar sind, verschmelzen in der Kindfrau. Obwohl es als unmöglich oder gar krankhaft gilt, entstehen gleichzeitig sich widersprechende Gefühle – im Online Wörterbuch findet man die Ambivalenz sogar als „als Grundeigenschaft des emotionalen Erlebens […] bei der Schizophrenie“ (http://www20.wissen.de/xt/default.do?MENUNAME=Suche&query=Ambivalenz). Ist das Gefühl, dass wir Lolita entgegenbringen nun abnorm – nicht der Norm entsprechend? Wenn Oppositionen die Norm sind, dann ja. Wenn wir allerdings 11 einen anderen, nicht dualen Blick, riskieren, finden wir andere Möglichkeiten der Erklärung, die uns aus dem Unbehagen der ambivalenten Gefühle entlässt. BRAMBERGERs Versuch die Ambivalenzen aufzulösen, führt sie zu einem Ansatz, der ohne Gegensätze auskommt: „Mit der Kindfrau kann das illustriert werden, was Gilles Deleuze als Rhizom theoretisiert, etwas, das ‚nicht aus Einheiten, sondern aus Dimensionen’ (1992, S.34) besteht.“ (BRAMBERGER 2000: 274) Dieser Schritt weg vom dualen Denken ist wichtig, geht aber noch nicht weit genug, da Bramberger zwar weg von Einheiten und hin zu Dimensionen geht, aber es immer noch statisch betrachtet. Folgt man DELEUZE/GUATTARI ist das Rhizom immer in Bewegung, verändert sich, aber reproduziert sich nicht. Es kommt ohne Hierarchien aus und definiert sich alleine durch „die Zirkulation der Zustände“ es handelt sich dabei um ein „Werden aller Art“ (vgl. ebd. 1977:34 f.). Die Betrachtung des Prozesses – das ‚Werden’ – bringt uns m.E. näher an die Erkenntnis des ‚Dazwischen’. Lolita ist nicht statisch, sie bewegt und verändert sich. Nur ganz kurzfristig ist sie starr und unbeweglich, gebannt auf Papier oder auf Film, doch das mit ihr verbundene Gefühl ist individuell und zirkuliert. Auch Aristoteles sah das Ende der Logik, an den Aporien. Er versuchte Ansätze für eine Lösung der Problematik zu finden, indem er eine prozessuale Wahrheitsfindung betonte und für Verstandesentscheidungen plädierte, die sich nach den jeweiligen „Erfordernissen des Augenblicks richteten“ (vgl. ARISTOTELES 1964: 30). Er erkannte, dass, wenn es um Widersprüche geht, die Wahrheit weder statisch ist, noch mit richtig/falsch Entscheidungen zu finden ist, sondern divergiert und nur als Prozess zu fassen ist. Das Wesen des Werdens ist die Veränderung und nur darin können wir das Phänomen der Kindfrau fassen. Sie ist weder in Vladimir Nabokovs Roman (1955), noch in den Verfilmungen von Stanley Kubrick (1962) oder Adrian Lyne (1997) für immer festgeschrieben, sondern entwickelt sich weiter, ist überall und gleichzeitig nirgends zu finden. Um mich Lolita anzunähern, dieses ‚Dazwischen’ ausloten zu können, erscheint mir eine Entdifferenzierung von Virtualität und Realität bzw. eine Diskussion ‚der’ Wahrheit notwendig. MITTERERs (1993) „non-dualistischer Ansatz“, abseits der realistischen und konstruktivistischen Erkenntnistheorien, den auch SCHMIDT (2002) zur Erklärung von „Wirklichkeitskonstruktion“ heranzieht, bietet eine dafür geeignete 12 Sichtweise. „Dieser Ansatz zielt darauf ab, ontologische Annahmen durch systematische Beobachtungsvariation zu ersetzen und er rückt grundsätzlich ab von Ansätzen, die die Existenz von Wirklichkeit entweder behaupten oder leugnen.“ (ebd. 2002: 17) Einigkeit herrscht in dualistischen Denkpositionen darüber, dass Objekte grundsätzlich sprachverschieden sind. Um ein Objekt beschreiben zu können, bedarf es aber sprachlicher Bezeichnungen, die eine vorab konventionell festgelegte, rudimentäre Beschreibung beinhalten. Bei Meinungsübereinstimmung reicht eine dualistische (realistische oder konstruktivistische) Sichtweise aus, da keine Diskursivität entsteht. Schwierig wird es allerdings bei Widersprüchen und dem Versuch die divergenten Beschreibungen auf das Objekt zurückzuführen. Durch eine sprachliche Beschreibung ändert sich das Objekt und kann daher, in logischer Konsequenz, nicht mehr am vorab beschriebenen Objekt auf Wahrheit überprüft werden. (Vgl. MITTERER 1993: 126) „Wie unterscheiden wir zwischen Wahrnehmung und Illusion? Hinsichtlich der Perzeptionen, die wir machen, können wir zwischen Wahrnehmung und Falschnehmung nicht unterscheiden. Erst wenn wir die bisherige Perzeption durch eine neue Perzeption abgelöst haben, können wir von der neuen Perzeption aus die frühere Perzeption als Illusion bestimmen.“ (MITTERER 1999:126) Wenn wir also Lolita als eine Kindfrau sehen, die „einen erwachsenen Mann ins Verderben reißt“ (GROTTER 2003:20), wie ein 15jähriges Mädchen in der Kronenzeitung beschrieben wird, ist es für uns wahr, dass es ein Mädchen gibt, dass in der Lage ist, einen Mann dazu zu bringen, für sie Straftaten zu begehen. Erst wenn wir zu einer anderen Auffassung gelangen, ist die neue Auffassung für uns wahr und wir können erst im Nachhinein die für uns davor gültige ‚Wahrheit’ als falsch bezeichnen. „In einer nichtdualistischen Philosophie des Wandels werden Auffassungen nicht vertreten, weil sie wahr sind. Die Wahrheit ist anspruchslos. Auffassungen sind wahr, weil und solange wir sie vertreten und sie sind falsch, weil und solange wir sie nicht vertreten. Die Funktionen von Begriffen wie Wahrheit und Falschheit beschränkt sich auf die Abgrenzung zwischen Auffassungen, die wir vertreten und Auffassungen, die wir nicht vertreten.“ (MITTERER 1999:149) Diese Verwendung des Wahrheitsbegriffs, das gleiche gilt auch für den Realitätsbegriff, macht es möglich, Lolita von einer anderen Seite zu betrachten. Es gilt nicht die 13 Frage, ob es Kindfrauen gibt oder nicht, sondern in welcher Form mit Lolita umgegangen wird und wie sich dieser Prozess weiterentwickelt. 3. Reale Fantasien Fantasiebegriff Sinn Zukunft Utopien Ermächtigung Fantasie Bruno BETTELHEIM sieht die wichtigste Aufgabe der Erziehung, darin Kindern zu helfen, einen Sinn im Leben zu finden (vgl. 1980:9). Seiner Ansicht nach helfen Märchen dabei, die Fantasie anzuregen um dadurch Verstandeskräfte entwickeln zu können und Emotionen abzuklären (vgl. ebd. 1980:11) Bei Fantasien geht es nicht um rationales Erfassen, sondern um ein Vertrautwerden mit dem Unbewussten (vgl. ebd. 1980:13). Dieser Umgang mit unbewusst wahrgenommenen Inhalten, nicht nur von Märchen, führt zu bewussten Fantasien und dies gilt sicher auch bei Erwachsenen. Der Kontakt mit dem Unbewussten und die dadurch entstehenden bewussten Fantasien, arbeiten Vergangenes auf und helfen bei der Suche nach dem Lebenssinn. BETTELHEIM nennt dies eine „Erkenntnis des Lebens von Innen her“ (1980:31) Die fantastischen Vorstellungen sind utopisch, d.h. sie haben im Hier und Jetzt keinen Platz, sie können sehr wohl aber ihren Raum in der Zukunft haben. Diese Utopie der Zukunft kann dem eigenen Leben den Sinn verleihen, der dazu ermächtigt der Utopie einen Platz zu verschaffen, sie real werden zu lassen, indem Lösungsmodelle entwickelt, Ängste verarbeitet und Stärken hervorgehoben werden. 14 Diese Einheit aus Fantasie und Realität konstruiert, formt, stärkt, macht Identität. Fantasien müssen nicht, um eine ermächtigende Komponente zu haben, der eigenen Kreativität entspringen, sondern sie können – und dies ist häufig der Fall – durch kulturelle Produkte inspiriert sein. Tania MODLESKY macht darauf aufmerksam, dass nicht nur die Hochkultur, sondern vor allem auch die Populärkultur eine wichtige Aufgabe bei der Entwicklung von Fantasien erfüllt (vgl. 1982:26). Die „massproduced fantasies“ ermöglichen, auch ihrer Ansicht nach, Vorstellungen einer utopischen Welt (vgl. ebd. 1982:30). Bei der Rezeption von populärkulturellen Produkten entsteht eine komplexe Dynamik zwischen Fantasie und Realität, RezipientIn und Rezipiertes überschneiden sich (vgl. WALKERDINE 1986:168). Diese Schnittstelle macht das aus, was als psychische Realität bezeichnet wird (vgl. z.b. ANG 1985:47, DE LAURETIS 1999:307, WALKERDINE 1986:183). DE LAURETIS bezieht sich auf Gramsci, wenn sie über den Umgang mit populärkulturellen Produkten und deren Verarbeitung in der Fantasie sagt, es sei „something deeply felt and experienced“ (1999:304). Etwas, das gefühlt und erfahren wird, ist ein Teil Realität. WALKERDINE nennt das, was ich ‚Dazwischen’ nenne, die Schnittstelle, das Abseits der Dualität von Fakten und Fiktionen, „fantasy space“ (1986: 195). Es ist die Fantasie, als fundamentale menschliche Aktivität (vgl. DE LAURETIS 1999:306), die Realität konstituiert und wahr macht, und es ist die Utopie, die die Zukunft konstruiert und somit als machtvolles Instrument zur Gestaltung der Wirklichkeit begriffen werden muss. 4. Die Suche nach Lo. Li. Ta. „Ein weibliches Wesen, das sich in einem Stadium zwischen Kind und Frau befindet und in diesem Zwischenstadium verhaftet bleibt – solcherart ließe sich der kleinste gemeinsame Nenner der Kindfrauen-Konstrukte umschreiben. Das ‚Wesen’ der Kindfrau ist Stagnation, nicht Regression.“ (HOCHHOLDINGER-REITERER 1999:4). Ist es nicht ein Widerspruch in sich, dass die Kindfrau einerseits auf so verschiedene Art und Weise zu finden ist und andererseits soll sie Stagnation bedeuten? Ist sie ein 15 Mythos oder ein Klischee? Gibt es sie nur im männlichen Blick, braucht sie das begehrende männliche Gegenüber, wie es BRAMBERGER beschreibt (vgl. 2000:9 f.)? Obwohl ich als Kind weder Buch noch Film kannte, wuchs ich mit einer Vorstellung von Lolita auf und wurde selbst als solche bezeichnet. In meiner Erinnerung bin ich selbst die Kindfrau – sie war und ist ein Teil von mir. Bin ich eine Ausnahme oder, wenn ich mich an die sie erinnere, gibt es da vielleicht Parallelen in den Erinnerungen von anderen Frauen? Meine Suche nach Lolita beginnt dort, wo Andrea BRAMBERGER aufhörte. Im letzten Satz ihrer Arbeit ist zu spüren, dass es da noch eine, m.E. wichtigste, Komponente der Kindfrau gibt – eine phantastische Vorstellung, auf die man sich einzulassen wagen sollte. „Der theorieverhaftete Blick auf die Kindfrau verbleibt ein Blick aus einem ›Fenster‹, von einem ›luftigen‹ Standpunkt aus, ein Blick aus der Sicherheit verlässlicher Strukturen in eine Weite von Unsicherheiten, aber faszinierenden Möglichkeiten, die zu ›sehen‹, zu ›hören‹, zu denken jenen offen stehen, die dieser Verführung, die sich mit der Kindfrau verknüpft, folgen…“ (ebd. 2000: 274f.) Ich verlasse die konventionellen Strukturen, begebe mich in die unsicheren Gefilde der Erinnerungen und (realen) Fantasien. 4.1 Als künstlerisches Konstrukt? Da sich die Kindfrau sowohl in der Literatur, im Film, Fernsehen, Werbung, Malerei… finden lässt, scheint mir der Begriff ‚künstlerisches Konstrukt’ am besten geeignet um die Vielfältigkeit ihrer Materialisierungen in kulturellen Produkten darstellen zu können. Intensiv HOCHHOLDINGER-REITERER mit (1999) der und Kindfrau Andrea haben sich BRAMBERGER Beate (2000) beschäftigt, beide kamen zu dem Schluss, dass Lolita ein literarisches Konstrukt – und nur das – ist, dass angefangen von den griechischen Mythen über den Roman von Nabokov und dessen Verfilmungen, bis hin zur systematischen Vermarktung des Kindfrauen-Images in der Werbung reicht. „Neben der Vielzahl an Übersetzungen des Romans trug selbstverständlich auch das Massenmedium Film zu einer Popularisierung des Begriffs ‚Lolita’ Bei. Mit dem einen Namen, so scheint es, geht 16 aber auch eine endgültige Aufweichung der Inhalte einher. Symptomatisch ist die Verwendung des Wortes für nun schon beinahe alle Lebensbereiche. Es gibt ‚die Lolita’, nur sieht sie immer anders aus, es gibt den Lolita-Komplex, auch einen neuen, wie jüngst zu lesen war, es gibt natürlich auch Lolita-Pornos, Lolita-Mode, Lolita-Modells, Lolita-Möbel und…“ (HOCHHOLDINGER-REITERER 1999:157) Ohne Zweifel finden wir immer wieder die künstlerische Form der Kindfrau, doch warum ist sie ungebrochen im Diskurs? Warum werden junge Frauen oder Mädchen so bezeichnet? In der Kronenzeitung (GROTTER 2003) wird sofort auf Lolita verwiesen, wenn es um eine Beziehung zwischen einem älteren Mann und einem Mädchen geht. Am Buchumschlag von „sagt Lila“ (CHIMO 1997), wird die Protagonistin des Romans als „Lolita der Vorstadt“ bezeichnet, obwohl es in dieser Geschichte nicht um einen älteren Mann und eine Zwölfjährige, sondern um die Fantasien eines Jugendlichen und ein sechzehnjähriges Mädchen geht. „Es scheint, dass sich die heutige Modernität der Kindfrau nur über ihre Beziehung zur Literatur und zu den darstellenden Künsten erklären lässt. Von diesen Künsten ausgehend, eroberte sie – populär geworden – vielfältigste Bereiche. Besondere Bedeutung kommt dabei dem Film als dem Medium zu, das die Kindfrau offenbar so wunderbar zu konservieren versteht.“ (HOCHHOLDINGER-REITERER 1999:6) Unbeachtet bleibt hierbei aber der kulturelle Kreislauf, die Interaktion zwischen Text und RezipientIn. Es geht gerade nicht um die Konservierung einer Bedeutung, sondern um den Umgang damit. Die Zirkulation eines Produktes findet in der diskursiven Form statt. Der Diskurs muss übersetzt, in gesellschaftliche Praktiken umgewandelt werden. Wenn es keine Bedeutung gibt, kann es keine Aufnahme geben. Wenn sich die Bedeutung nicht in der Praxis artikuliert, zeigt sie keine Wirkung. (vgl. HALL 1999:93) Gäbe es nur die literarische Vorlage ohne Übersetzung in die kulturelle Praxis, hätte Lolita keine Bedeutung. Erst durch die Verarbeitung der RezipientInnen gelangt sie in den Diskurs, sie wird aufgenommen, verändert, zurückgespiegelt, taucht verschiedenartigst wieder auf – sie zirkuliert und erst diese Bewegung macht ihre Bedeutung aus. 17 BRETON nimmt Melusine, eine Meerfrau der altfranzösischen Sage, als Beispiel einer Kindfrau in der Literatur. Auch er sieht die Interaktion zwischen literarischem Konstrukt und dessen RezipientInnen. „Die Poesie und die Kunst werden stets eine Schwäche für alles haben, was den Menschen in die Verklärung dieser verzweifelten, unbeugsamen Forderung emporhebt, die er gelegentlich an das Leben stellt, so lächerlich die Aussicht auf ihre Erfüllung auch sein mag.“ (ebd. 1993:19) Kulturelle Produkte werden in der Fantasie umgesetzt, sie sind der Ort an dem Hoffnungen, Utopien und Vorstellungen sich vereinen und bieten die Basis für die Gestaltung der eigenen Identität und der Lebenswelt. Die Kunst ist nach BRETON nur ein Wegbereiter der Kindfrau für das „Eindringen in die gesamte Sphäre des Wahrnehmbaren“ (1993:64). 4.2 Im männlichen Blick? BRAMBERGER hebt in ihrer Arbeit klar hervor, dass die Kindfrau um überhaupt existieren zu können, „die Wahrnehmung eines begehrenden Gegenübers“ (2000:9) braucht. Sie spiegelt sich im männlichen Blick, „als personifizierte Männerfantasie“ (2000:93) und nur durch sein Begehren ist sie da. Eine Bestätigung dafür erhält man durch die Eingabe ‚Lolita’ in die Suchmaschine „Google“ (http://www.google.at): ungefähr 9,440,000 Treffer in 0.29 Sekunden. Der Großteil der Seiten beinhaltet pornographische Darstellungen in allen erdenklichen Variationen, vereinzelt findet sich dazwischen eine Film- oder Buchrezension, doch der Großteil der Seiten wendet sich an erwachsene Männer mit einer sexuellen Vorliebe für kindliche oder zumindest sehr jung anmutende Frauen. In seinen Erinnerungen beschreibt Fritz WITTELS das 17jährige, aus dem Proletariat der Vororte stammende, Mädchen Irma als ein Werk von Kraus, „eine leere Schale, gefüllt mit Sätzen aus der Fackel“ (1996:78). Er bezeichnet sie auch als „dionysisches Mädchen, das mehrere tausend Jahre zu spät geboren war“ (ebd. 1996:77). Dionysos war in der griechischen Mythologie der Gott des Weins und der 18 Fruchtbarkeit, dessen „orgiastischer Kult […] die Frauen geradezu verrückt gemacht“ hatte (FINK 1994:92). Die männlichen Fantasien machten das Mädchen zu dem, was es in ihren Augen dann auch war – ein „Kindweib […] von äußerst sexueller Anziehungskraft, die so früh zu Tage trat, dass sie sich gedrängt sah, ihr Sexualleben zu beginnen, während sie in jeder anderen Hinsicht noch ein Kind war. Ihr ganzes Leben lang bleibt sie, was sie ist: Unersättlich und unfähig, die zivilisierte Welt der Erwachsenen zu verstehen. Und auch die Welt versteht sie nicht.“ (WITTELS 1996:79 f.) Die Kindfrau ist aus diesem männlichen Blickwinkel wohl auch nicht zu verstehen, da es sich um reine Projektionen männlicher Begierden auf ein Mädchen handelt. Verhielt sie sich so, wie es den Vorstellungen entsprach, wurde sie als leere Hülle bezeichnet, tat sie das nicht, warf man ihr vor, die Welt nicht zu verstehen. WITTELS sagt dazu selbst: „Wir waren nicht tolerant genug, die Frauen in Ruhe zu lassen: sie mussten alle so sein und sich so verhalten, wie wir es diktierten.“ (1996:83) Ja, die Kindfrau ist mit Sicherheit ein Objekt männlicher Begierde, ein fantastisches Konstrukt der Männer, doch ist sie das ausschließlich, oder gibt es noch andere Möglichkeiten ihrer Existenz? „Bei einem psychoanalytischen Verständnis der Phantasien wird davon ausgegangen, dass das Subjekt an einem Szenarium teilhat und es wiedererstehen lässt, und sich dabei mit verschiedenen Positionen identifizieren kann. Hier wird keine direkte Verbindung zwischen ‚männlichen’ bzw. ‚weiblichen’ Positionen und der Geschlechtsidentität der Personen, die diese Positionen einnehmen, unterstellt. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass das Unbewusste zwar den Geschlechtsunterschied strukturiert, aber selbst nicht geschlechtlich strukturiert ist.“ (HIPFL, 1997, S.151) Meine eigenen Gefühle, Vorstellungen und Fantasien über Lolita, die mich seit Jahren diffus begleiten, sind Grund genug, mich nicht damit abzufinden, dass Lolita nur ein Produkt männlichen Begehrens ist, sondern als (möglicherweise auch machtvolle) Fantasie ebenfalls bei Frauen zu finden ist. 19 4.3 Ein Klischee? Kindliche Frauen und frauliche Kinder, mit langen Haaren – vorzugsweise Löckchen oder Zöpfe, großen Kulleraugen, Schmollmund, kleine feste Brüste, keine oder zumindest nur als Flaum erkennbare Körperbehaarung, jungfräuliches Gehabe und sexuelle Neugier, das sind die Attribute einer Kindfrau – das Lolita-Klischee. „Heute ist die Kindfrau nur mehr eine Frage der Figur. Alles läuft darauf hinaus, die einzige, die richtige, die beste körperliche und altersgereichte Repräsentantin der Lolita zu finden.“ (HOCHHOLDINGER-REITERER 1999:157) Ob am Laufsteg, im Kino, in Pornos oder auf Werbeplakaten, mit der ‚richtigen’ Lolita kann alles verkauft werden. „In der Zeit des Letternsatzes verstand man unter Klischee ein Wort oder eine Phrase, die die Drucker als Ganzes gesetzt ließen – daher die Bedeutung des französischen Wortes cliché -, weil sie wussten, dass solche Wörter oder Phrasen sehr häufig benutzt werden. Es ist folglich nicht angemessen, Klischees als Zeichen eines faulen Denkens oder eines Fehlens von sprachlicher Kreativität abzuqualifizieren. Eher sollte man fragen, warum diese Worte oder Phrasen so häufig von bestimmten ‚Leuten’ zu bestimmten Zeitpunkten verwendet werden. Was haben sie an sich, das sie so populär macht? Klischees verkörpern den Common Sense, die Alltags- Artikulationen der dominanten Ideologie.“ (FISKE 1997:77) Der Mädchenname Lolita beinhaltet so viele Konnotationen, wir hören oder lesen nur den Namen und schon haben wir ein exaktes Bild vor unserem inneren Auge, wir sind uns darüber großteils einig, wie die Kindfrau auszusehen hat, und was wir von ihr zu erwarten haben, wir wissen wofür Lolita steht und haben teil am Common Sense. Wenn in der Talkshow „Vera“ (vom 22.08.2003, 12 – 13.00 Uhr auf Sat 1) ein Mädchen von der Mutter verstoßen wird, weil sie als Vierzehnjährige den Stiefvater ‚verführt’ hat, ist dem Großteil des Publikums klar, dass sie eine Lolita ist und der arme Mann ihr schutzlos ausgeliefert war. Auch Andeutungen der Moderatorin, dass es sich hierbei auch um Kindesmissbrauch handeln könnte, ändern nicht viel an dieser Einstellung. Die dominante Ideologie spricht den Mann frei und hält fest an den internalisierten Vorstellungen, Fantasien, von der Macht der Kindfrau. Die Sendung endet damit, 20 dass der Stiefvater in Erwägung zieht, der mittlerweile Neunzehnjährigen zu verzeihen, die Mutter will weiterhin nichts mehr mit ihr zu tun haben. 4.4 Ein Mythos? Der Mythos ist dem Klischee nicht ganz unähnlich. „Im Mythos […] kann der Begriff sich durch eine große Ausdehnung von Bedeutendem ausbreiten. Zum Beispiel kann ein ganzes Buch das Bedeutende für einen einzigen Begriff abgeben, und umgekehrt kann eine winzige Form (ein Wort, eine Geste, selbst eine beiläufige, vorausgesetzt, dass sie bemerkt wird) als Bedeutendes für einen mit einer reichen Geschichte angefüllten Begriff dienen.“ (BARTHES 2003:100) Für Roland BARTHES, in seiner semiologischen Auseinandersetzung, ist der Mythos eine Aussage (vgl. 2003:85). Er ist kein „Objekt, kein Begriff oder eine Idee“ sondern „eine Weise des Bedeutens, eine Form“ (ebd. 2003:85). „Diese Aussage ist eine Botschaft. Sie kann deshalb sehr wohl auch anders als mündlich sein, sie kann aus Geschriebenem oder aus Darstellungen bestehen. Der geschriebene Diskurs, der Sport, aber auch die Photographie, der Film, die Reportage, Schauspiel und Reklame, all das kann Träger der mythischen Aussage sein.“ (BARTHES 2003:86) Theresa DE LAURETIS nennt dominante kulturelle Erzählungen, wie z.b. Homer oder die Bibel, „public fantasies“ (vgl. 1999:307). Diese Mythen überdauern, in sich ändernder Form, auch Jahrhunderte und sind in verschiedensten Kulturprodukten wieder zu finden. Die RezipientInnen dieser Mythen sehen zwar dasselbe, aber sie produzieren dazu verschiedene Fantasien (vgl. ebd. 1999:327). Kindfrauen tauchen in Geschichten und Überlieferungen als Sirenen, Meerjungfrauen und Nymphen auf, oder als Image bei Björk, Brittney Spears und Kate Bush. Kulturelle Produkte können als Spiegel der jeweiligen Zeit gesehen werden, waren es früher Erzählungen, sind es heute Filme und Magazine die sich mit dem Kindfrauen beschäftigen. Lolita geht über die Zeit hinweg und findet immer wieder einen Weg über populäre Kulturprodukte, kollektive und private Fantasien miteinander zu verbinden (vgl. DE LAURETIS 1999:304). 21 Semiologisch betrachtet ist der Mythos „insofern ein besonderes System, als er auf einer semilogischen Kette aufbaut, die bereits vor ihm existiert; er ist ein sekundäres semiologisches System“ (BARTHES 2003:92) 1. Bedeutendes Sprache MYTHOS 2. Bedeutetes 3. Zeichen I. BEDEUTENDES II. BEDEUTETES III. ZEICHEN (Quelle: BARTHES 2003:93) Der Mythos ist eine Metasprache, „weil er eine zweite Sprache darstellt, in der man von der ersten spricht“ (ebd. 2003:93). Das Zeichen im Sprachsystem, als assoziative Gesamtheit von Bedeutendem und Bedeutetem, ist gleichzeitig der Ausgangspunkt, das Bedeutende, des Mythos (vgl. ebd. 2003:95 f.). BARTHES sagt in diesem Zusammenhang, „dass die Bedeutung des Mythos durch ein unaufhörliches Kreisen gebildet wird, bei dem der Sinn des Bedeutenden und seine Form, eine Objektsprache und eine Metasprache, ein rein bedeutendes Bewusstsein und ein rein bilderschaffendes miteinander abwechseln; dieses Alternieren wird gewissermaßen durch den Begriff zusammengehalten, der sich seiner wie eines doppeldeutigen Bedeutenden bedient, das zugleich verstandesmäßig und imaginär ist, willkürlich und natürlich“ (2003:104). Diese Gleichzeitigkeit von Bewusstem und Unbewussten wird für die, die sich auf den Mythos einlassen und von der dualisierenden Redeweise Abstand nehmen (vgl. MITTERER 1993 und 1999), wie schon weiter oben beschrieben, zur realen Fantasie – zur psychischen Realität. Ein Mythos, wie es auch die Kindfrau ist, kann nicht mit den logischen Kriterien von wahr/falsch beurteilt werden, sondern nur nach seiner Verwendung. „Die Menschen stehen zum Mythos nicht in einer Beziehung der Wahrheit, sondern des Gebrauchs.“ (BARTHES 2003:133) 22 4.5 In meiner Erinnerung? Es waren vor allem Frauen, meine Mutter, deren Freundinnen und meine Schwester, die mich im Alter von zwölf als Lolita bezeichneten. In ihren Augen, dem weiblichen (!) Blick, war ich eine Kindfrau, ohne dass sexuelles Begehren dahinter gestanden hätte. Eine Bewunderung stand in ihrem Blick und sie machte mich stark. Lolita zu sein, machte mich zu etwas besonderem und das vermittelte mir ein Gefühl der Macht. Ich kannte weder den Roman „Lolita“, noch hatte ich den Film gesehen. Meine Vorstellung war eine Fantasie – erst die der Frauen, die mich „Kindfrau“ nannten, dann, im Laufe der Zeit, meine eigene. Mit der Methode der Erinnerungsarbeit kann „das Spannungsfeld zwischen Film und ZuschauerInnen zum Untersuchungsgegenstand werden […], das sich als Adressierung und Konkretisierung, Bedeutungskonstruktionen oder Fantasieerfahrungen beschreiben lässt. […] Die Zuschauerinnen sind die Protagonistinnen, die in diesen Szenarien aktiv werden und sie mit Material aus ihren Alltagserfahrungen füllen. Mit den Texten aus der Erinnerungsarbeit wird es gleichzeitig möglich, der Frage nachzugehen, welche Rolle den Fantasien und damit der ‚psychischen Realität’ für die Subjektkonstruktion der Zuschauerinnen zukommt. “ (HIPFL 1995:171) In meinem Fall füllte das Material aus dem Film und den Buch „Lolita“ meine Lebenswelt. Die Frauen, die sich mit der medialen Aufbereitung der Kindfrau beschäftigt hatten, füllten das gesehene und gelesene mit ihren Alltagserfahrungen auf und nahmen die so entstandenen Bedeutungen mit. Die Fantasien, die sie dabei hatten, übertrugen sie auf mich, ich nahm sie an und füllte sie mit eigenen Erfahrungen an, sie wurden teil meiner Welt und so zu realen Fantasien – zur psychischen Realität. Obwohl ich keine Rezipientin des Lolita-Stoffes war, hatten die daraus entstandenen Fantasien – sowohl die der Frauen, die sie weitergaben, wie auch meine eigenen – eine wichtige Rolle für meine Subjektkonstruktion, die Kindfrauenfantasie wurde Bestandteil meiner Identität. In meiner Fantasie war Lolita ein mächtiges Wesen, was immer sie begehrte, konnte sie bekommen. Die kindlich-unschuldige Seite sprach sie frei von Verantwortung – was immer sie tat, sie trug nicht die Schuld daran. Es war nicht ein begehrender Blick 23 anderer, der ihr die Macht verschaffte, sondern die Stärke des eigenen Begehrens ohne belastende Schuld. Die, der Kindfrau zugesprochene Wirkung auf Männer, beflügelte meine sexuellen Fantasien. Meine Stärke lag im Gedanken an die Macht, jeden Mann begehren zu können, ohne dass er sich wehren könnte. Diese Wehrlosigkeit der Männer gab mir ein Allmachtsgefühl. Ich müsste nur mit dem Finger schnippen und meine Wünsche würden erfüllt werden. Gerade die patriarchalen Ideologien von Männern als mächtige Täter und Frauen in der ohnmächtigen Opferrolle trugen zu meinen Ermächtigungsfantasien bei. Dadurch, dass ich begehrte und die Fantasie hatte, meine Wünsche jederzeit umsetzen zu können, wurde ich zur mächtigen Täterin und die Männer wurden in die ohnmächtige Rolle eines Objekts meiner Begierde versetzt. Durch die herrschenden dominanten Diskurse über kindliche Unschuld und ohnmächtige Frauen, konnte ich nicht zur Verantwortung gezogen werden, da in diesem Konstrukt, die Schuld ohne Zweifel den Männern zugeschrieben werden würde. Sexuelles Begehren hatte immer den Beigeschmack der Schuld, doch meine Fantasien verlangten nach keiner Sühne, die patriarchalen Strukturen stärkten meine subversive Macht. 4.6 Eine (reale) Frauenfantasie? Nachdem die Lolita-Fantasie eine bedeutende Rolle bei der Konstituierung meiner Identität hatte, frage ich mich ob diese, wie weiter oben schon dargelegte, „public fantasy“ auch eine Rolle in der Geschichte anderer Frauen hat. Um die ganz privaten Fantasien von Frauen, die „psychische Realität“ im Zusammenhang mit der Kindfrau, empirisch fassbar zu machen, erscheint mir die von Frigga HAUG entwickelte Methode der Erinnerungsarbeit ein geeignetes Instrument zu sein. „Erinnerungsarbeit liegt u.a. die Annahme zugrunde, dass die Persönlichkeit ein Gedächtnis hat. Damit meine ich, dass die einzelnen Menschen im Laufe ihrer Geschichte ihre Persönlichkeiten so bauen, dass eine Art stimmiger Identität für sie entsteht. Dafür wählen sie aus der Fülle des Erlebten einzelnes aus, bewerten es als bedeutungsvoll, verdrängen und vergessen anderes. Dieser Vorgang geschieht nicht so freiwillig und 24 beliebig, wie das hier klingt. In den vorhandenen Strukturen gibt es Nahelegungen, Hindernisse, Unmöglichkeiten, die diese Selektion begünstigen.“ (HAUG 1990:42) Per E-Mail bat ich einige Kolleginnen mir eine kurze Geschichte, Fantasie, Vorstellung oder Begegnung von/mit Lolita in der 3. Person anonym unter Verwendung eines Pseudonyms zu schreiben. Als Anregung oder Einstieg in das Thema gab ich den Absatz aus Nabokovs Buch, den ich auch anstatt eines Vorwortes zu dieser Arbeit verwendet habe, mit, zumal diese paar Zeilen mir selbst beim Lesen ‚ein leichtes Kribbeln’ machten. „Für das Schreiben […] genügen einige wenige Hinweise, die am besten theoretisch begründet werden, wie überhaupt der gesamte Prozess einfach und überprüfbar gehalten werden sollte, damit er von allen getragen werden kann, die Einzelnen handlungsfähiger macht und es vermeidet, ein Arrangement entstehen zu lassen, in dem allwissende Experten einer unwissenden Gemeinde Anweisungen erteilen.“ (HAUG 1999:202) Um meine Kolleginnen nicht im Dunkeln zu lassen, was ich mit diesen Geschichten vorhatte, schrieb ich: „Unter dem Arbeitstitel: Schuld ohne Sühne; Lo. Li. Ta. Eine Frauenfantasie? entsteht eine Arbeit, mit der ich, entgegen der üblichen Mainstream-Ansicht, die Kindfrau nicht als literarisches Konstrukt oder Spiegelung im männlichen Blick, sondern als psychische Realität in Frauenfantasien suchen möchte.“ Weder wie lange der Text sein sollte, noch sonstige Anweisungen oder Ratschläge gab ich mit. Ganz bewusst wollte ich nicht den Film oder andere Repräsentationen der Kindfrau als Ausgangspunkte für die Erinnerungsarbeiten vorgeben, da es mir mehr um das Aufspüren der kollektiven Fantasie, dem Mythos, dem Klischee von der Kindfrau in den privaten Fantasien von Frauen ging und nicht um den Umgang mit einem speziellen Medienprodukt. Zwei Kolleginnen waren sofort bereit, mir solche Szenen zu schreiben, die anderen lehnten dies mit der Begründung ab, zu diesem Thema nichts Wesentliches zu sagen zu haben oder auch nichts öffentlich sagen zu wollen. „Schreiben ist eine Grenzüberschreitung in viele Bereiche. aus der Privatheit bloß individueller Erfahrungen scheren wir aus und machen öffentlich, was uns geschieht. aus der bescheidenen Unwesentlichkeit treten wir in einen Raum, in dem wir uns selber ernst nehmen. Statt den Alltag bewusstlos hinzunehmen, holen wir ihn noch einmal hervor, um die Punkte zu finden, an denen wir uns wehren können.“ (HAUG 1990:49) An 25 dieser Stelle danke ich den beiden Frauen die den Schritt über die Grenzen gewagt haben und mir ihre privaten Fantasien in schriftlicher Form zur Verfügung gestellt haben. Die von HAUG geforderte Bearbeitung der Erinnerungsgeschichten im Kollektiv (vgl. 1990:45) wurde in dieser Arbeit nur ansatzweise eingehalten. Nachdem ich die Geschichten erhalten hatte, trafen wir uns und sprachen darüber in einem eher zufälligen Rahmen. Da die mündlichen Stellungnahmen der Frauen im Gegensatz zu ihren Geschichten standen, möchte ich diesem Phänomen besondere Aufmerksamkeit schenken und Erklärungsversuche dazu anstellen. 5. Lo. Das Gefühl „In unserer Kultur sind es insbesondere die Medien, die uns eine Vielzahl an Phantasieszenarien zur Verfügung stellen. Die Geschichten, die uns dort angeboten werden, sind nach Laplanche & Pontalis unendliche Variationen, in denen mit Material aus dem Alltagsleben die thematisch begrenzten Primärphantasien durchgearbeitet werden. Es sind immer wieder dieselben Geschichten, die zirkulieren – Geschichten über Identität, die Beziehung zu anderen, das Verhältnis zu Regeln und Gesetz, deren Inszenierung es möglich macht, dass wir mit unseren Wünschen darin Platz finden.“ (HIPFL, 1997, S.149) Auch WALKERDINE beschreibt, wie ein Film sie, durch die darin verwobenen Gefühle, auf der Ebene der Fantasie ansprach; Identifikationen sind für sie in der Fantasie verankerte Fiktionen (vgl. 1986:169 f.). Bei der Auswertung der beiden Erinnerungsarbeiten unterteilte ich in der Tabelle die Spalte „Das Gefühl“ in „Begehren“, „Macht“ und „public fantasies“, da mir diese drei Kategorien als bezeichnend für die mit Lolita verbunden Gefühle scheinen. Diese Trennung dient ausschließlich der Analyse, die einzelnen Bereiche gehen ineinander über und bedingen sich gegenseitig. 26 5.1 Begehren BRAMBERGER besteht in ihrer Arbeit darauf, dass die Kindfrau selbst nicht begehrt und alle Gefühle in bezug auf Lolita nicht ohne die männliche Perspektive möglich sind. „Welche Gefühle man der Kindfrau auch entgegenbringen mag: All die Variationen ihrer Existenz bedürfen der Wahrnehmung eines begehrenden Gegenübers, das sie erschafft und beschreibt. Sie erweist sich denn auch als ein Phantasma, als eine Figur männlichen Begehrens, die dahingehend angelegt ist, diesem Begehren unermüdlich zu entweichen, es aber gerade durch diese Subversion zu schüren.“ (BRAMBERGER 2000: 9f.) Die Analyse der Erinnerungsarbeiten der beiden Frauen zeigt etwas anderes: die Lolita-Fantasie macht die Männer zu Figuren weiblichen Begehrens. Die Subversion bezieht sich mehr auf eine Umverteilung der Macht, als um eine Abwehr des männlichen Begehrens. Die Identifikation mit Lolita findet bei beiden Frauen statt, doch nicht als Objekt der Begierde sondern als starkes, begehrendes Subjekt. Es ist der bewusste Umgang mit der eigenen Wirkung auf die Männer, die spielerisch eingesetzt wird um die Vorgänge zu steuern, den Ablauf genau bestimmen zu können. Die Lust des Mannes ist nicht da um abgewehrt zu werden, sondern um die Frau zu stärken und zu beflügeln, als Spiegel der eigenen Attraktivität. BRAMBERGER nimmt in ihrer Arbeit Kate Bush als Beispiel für die Herstellung einer „Korrespondenz zwischen einem vermeintlichen Wissen um männliches Begehren nach der Kindfrau und naivster Demonstration von Kindweiblichkeit“ (2000:127). Bush schrieb „The man with the child in his eyes“ im Alter von vierzehn. Wäre Bramberger nicht nur auf die Inszenierung des Videos sondern auch auf den Text des Liedes (siehe Anhang) eingegangen, hätte sie den darin enthaltenen Ausdruck weiblichen Begehrens feststellen können. Es geht im Text des Liedes um ein Mädchen, das einen Mann liebt, sich aber nicht sicher ist, ob sie von ihm geliebt wird. Sie begehrt ihn und sieht sich in seinen Augen gespiegelt; sie findet sich selbst, indem sie ihn begehrt – und nicht umgekehrt, wie es Bramberger darzustellen versucht. Die weibliche Lolita-Fantasie ist nicht eine Inszenierung um auf das andere Geschlecht einzugehen, sondern eine Möglichkeit, den eigenen Wünschen und 27 Begierden einen Platz zu verschaffen. Es ist, wie es DE LAURETIS mit Gramscis Worten ausdrückt: „something deeply felt and experienced“ (1999:303) oder wie es in Geschichte II beschrieben wird: „den Rausch der Sinne bis aufs letzte genießen“. Der Autorin dieser Lolita-Fantasie war es wichtig mir im Gespräch klarzumachen, dass sie keine „Schlampe“ sei und ich ihre Geschichte nicht falsch verstehen solle. Der dominante Diskurs spricht vom begehrenden Mann und der Frau, die seinem Blicken ausgesetzt ist. Die den Frauen zugesprochene Tugendhaftigkeit passt nicht zum starken sexuellen Begehren in der Fantasie. Auch der Kindheitsdiskurs, der Kindern Sexualität abspricht, steht im Gegensatz zu dieser Erinnerungsarbeit. Anonym über weibliches Begehren zu schreiben fällt offenbar leichter, als öffentlich und laut dieses Begehren zu äußern um damit gegen die Zuschreibungen der Geschlechterrollen anzugehen. 5.2 Macht Die Lolita-Fantasie zeichnet sich durch ein Gefühl der Macht aus. In der Erinnerungsarbeit I ist bei der Beschreibung des Films von Adrian Lyne von einer „übermächtigen Faszination“ die Rede, der zwei Menschen ausgesetzt sind. Also eine Faszination der sie sich nicht entziehen können und die sie, ohne eigenes Zutun zum Handeln bewegt. Männer, den weiblichen Reizen ausgeliefert, werden für weibliche Zwecke benutzt. Das männliche Begehren selbst wird zum Werkzeug seiner Unterwerfung, seine Lust wird zur Qual und Lolita spielt mit diesem Wissen. Die ursprüngliche Ohnmacht des Mädchens wird im Lauf der eigenen Geschichte zur Macht der Frau. Die Wut über die erlebte Macht des Mannes wird zur Stärke, die Fantasie ermächtigt die Frau, sie dreht den Spieß um – sie benützt, anstatt benützt zu werden. Das Erlebte, das Wissen der Kindfrau, wird zum mächtigen Instrument der Frau. Sie bestimmt wann etwas geschieht und wie dies zu geschehen hat. Die Erinnerung an das beherrscht werden ermächtigt dazu, die Ohnmacht gegen Macht zu tauschen, vom passiven Opfer zur aktiven Täterin zu werden. Die Fantasien führen zu einem Gefühl der Stärke, das dem Individuum reale Macht verleiht. Aus den 28 Wünschen in der Fantasie wird ein Wollen, das in ein Tun umgesetzt werden kann. Der Einsatz dieser Macht in Lolita-Fantasie I wird als „Spiel“ bezeichnet, ein lustvoller Umgang ohne den Beigeschmack von Schuld und Unrecht. Im Gespräch über die Geschichte kamen Rechtfertigungen auf, ich solle sie jetzt nicht für einen schlechten Menschen halten, der Macht einfach so einsetzen würde. Der Einsatz von Macht wird bei der Geschlechterkonstruktion den Männern als positiv, den Frauen hingegen als negative Eigenschaft zugeschrieben. „Ein durchgehender „Doppelstandard“ sorgt dafür, dass jeder Geste, jeder Verhaltensweise je nach Geschlecht der Person, die sie vollzieht, unterschiedliche Bedeutungen unterlegt werden, so dass selbst identische Verhaltensweisen letztlich unterschiedlich bewertet werden.“ (MÜHLEN-ACHS 1993:54) Diese internalisierten Verhaltensweisen führen auch dazu, dass der Einsatz von Macht in der anonym und alleine geschriebenen Geschichte positiv, im Gespräch darüber jedoch eher negativ bewertet wird. Die Kraft, die aus der Fantasie geschöpft werden könnte, scheitert zum Teil an der Anpassung an die dominanten patriarchalen Strukturen. 5.3 Reflexivität von „public fantasies“ Kulturelle Produkte, Mythen, Klischees sind alle Teile von kollektiven Fantasien. Wir projizieren private Fantasien in die kollektiven, genauso wie sich Effekte der „public fantasies“ in der Subjektivität niederschlagen (vgl. DE LAURETIS 1999:320). Antony GIDDENS spricht über eine grundlegende Reflexivität des Lebens in der modernen Gesellschaft: soziale Praktiken werden ständig im Hinblick auf einlaufende Informationen über ebendiese Praktiken überprüft und verbessert, wodurch sich ihr Charakter grundlegend ändert (vgl. 1995: 54). Für die Kindfrau bedeutet dies, dass auch sie dieser Reflexivität ausgesetzt ist und immer wieder überprüft und verändert wird. Wir erhalten Informationen über Lolita aus den Medien, verbessern dieses Wissen in unserer Fantasie, so dass es für unser Leben brauchbar wird, also in soziale Praktiken umgesetzt werden kann. Durch diese Umsetzung dringt die nun veränderte Kindfrau in die kollektive Vorstellung ein und wird wiederum via Medien 29 als kulturelles Produkt, im Film, Fernsehsendung, Zeitungsbericht uvm., in veränderter Form zurückgespiegelt – was wiederum zu neuen Reflexionen und Fantasien führt. Der Diskurs über die Kindfrau ist deshalb schwer zu festzumachen, da der Diskurs selbst, den Diskurs verändert. In den beiden Erinnerungsarbeiten finden sich Bruchstücke der „public fantasies“ über die Kindfrau. In der Lolita-Fantasie I wird auf die Verfilmung von Adrian Lyne eingegangen, wobei diese Darstellung als „pervertiert und verdreht“ bezeichnet wird. Auch das dargestellte „Frauen- bzw. Mädchenbild“ passt nicht zu den Vorstellungen der Autorin. Sie bezieht sich zwar auf die mediale Aufbereitung der Thematik, nimmt jedoch in ihrer Fantasie davon abstand – sie entwickelt eine andere Vorstellung, die für ihr Leben mehr Bedeutung hat. Von einem Kollegen wurde sie als „Lolita-Typ“ bezeichnet, lange bevor sie den Film gesehen hatte, diese auf sie projizierte Fantasie deutete und veränderte sie so, dass sie sich damit identifizieren konnte, bzw. die Identifizierung als Lolita durch andere, für sie in Ordnung war. Die Fantasie, die sie dazu entwickelte, deckte sich nicht mit der Darstellung im Film, daher lehnt sie diese auch ab und ändert sie. In der Geschichte II ist kein Hinweis auf den Roman oder eine Verfilmung zu finden, aber das Lolita-Klischee wird klar herausgearbeitet: ein kurzes Kleidchen, kindliche sonnengebräunte Beine, rhythmischer Hüftschwung und gleichzeitige Unbeholfenheit. Das alles sind die Attribute, die in der kollektiven Fantasie, dem Lolita-Mythos, zu finden sind; die Autorin greift sie auf und verarbeitet sie in ihrer ganz privaten Fantasie weiter, so dass ihre Wünsche und Vorstellungen darin einen Platz haben. 6. Li. Die Verführung „Lolita vereint die Position des männlichen Opfers und der kindlich-weiblichen Verführung mit der Position des kindlichen Opfers und des männlichen Vergewaltigers. Innerhalb des Textes dient die gleichzeitige Existenz der unterschiedlichen Positionen einer subtilen Darstellung der Ambivalenz dieser 30 Thematik, welche die Kindfrau schafft.“ (BRAMBERGER 2000: 24) Folgt man dem Mainstream hat Verführung immer etwas von Täterschaft und verführt werden mit Opferpositionen zu tun. Die Werbung lockt zwar mit dem „verführerischen Aroma“ des Kaffees oder dem „verführenden Duft“ irgendeines Parfümerieproduktes, doch sobald es nicht mehr um den Konsum und Genuss von Waren geht, sondern um soziale Interaktionen, wird der Diskurs um die Verführung von moralischen Wertvorstellungen geprägt. Christliche Konnotationen sind immer noch die Grundlage für unsere ethischen Wertungen, die in logischen gut/böse, richtig/falsch Kategorien konzipiert sind. Kindliche Sexualität wird in ähnlicher Weise diskutiert und mit Lolita finden wir uns schnell mitten im Pädophilie-Diskurs wieder. 6.1 Moral, Ethik und Logik Der Begriff Ethik stammt aus der griechischen Philosophie (ethos = Weideplatz), es geht dabei um die Lehre vom menschlichen Handeln, um Sitten und Gebräuche. Der Ausdruck Moral kommt aus dem Latein und beschäftigt sich mit eingelebten Bräuchen und Sitten der gesellschaftlichen Praxis, von der Tischsitte bis zum Tötungsverbot. Soziale Normen, deren Gebote und Verbote werden im Sozialisierungsprozess erlernt. Werte sind nicht festgeschrieben, es sind Wegweiser ohne Anleitung, Vorstellungen von Wünschenswertem und zentral zur Orientierung in verschiedenen Kulturen. Diese Werte sind prozesshaft zu verstehen – sie sind ständigen Veränderungen unterworfen. Wir unterscheiden zwischen Kann- (Bräuche), Soll- (Sitten mit quasi rechtlichem Anspruch) und Mussnormen (gesetzlich festgeschrieben). Die christlichen zehn Gebote finden wir im Strafgesetzbuch (nicht töten, nicht stehlen, nicht begehren) im Generationenvertrag (Vater und Mutter ehren) und in den Menschenrechten (den Nächsten lieben) wieder (vgl. KRAINER 2002) Gerade bei ethischen Fragen sind wir oft mit widersprüchlichen Ansichten konfrontiert, die nicht nach logischen Kriterien für richtig oder falsch erklärt werden können. Die Aristotelische Logik spricht davon, dass wenn zwei Dinge sich widersprechen, zumindest eines falsch sein muss, aber auch ARISTOTELES (1964) 31 erkannte, dass Widersprüche sich nicht nach den Kriterien der Logik lösen lassen, sondern einer richtigen Maßsetzung, einem Mittelweg, bedürfen. Die Diskussion um Lolita ist gespickt mit tradierten Moralvorstellungen, doch erweist sie sich äußerst schwierig, da es sich bei der Kindfrau um einen personifizierten Widerspruch in sich handelt und so unmöglich mit den logischen gut/schlecht Maßstäben messen lässt, was so die ethischen Wertsetzungen einer ganzen Gesellschaft über den Haufen werfen kann (vgl. BRAMBERGER 2000: 15). Wurde im 19. Jahrhundert nur die rein körperliche Schädigung von Kindern sexualstrafrechtlich geschützt, befand man im 20. Jahrhundert, dass auch die geistig-sittliche Gefährdung langfristig negative Folgen für die Sittlichkeit der Gesellschaft haben könnte (vgl. SCHETSCHE 1994:204 zitiert nach BRAMBERGER 2000:15). Auch in den beiden Erinnerungsarbeiten kommen die internalisierten moralischen Wertvorstellungen zum Ausdruck. In der Geschichte I werden der Protagonist und Lolita im Film als „zwei Menschen, die nicht füreinander bestimmt sind“ bezeichnet. Die in der Sozialisierung erlernte Vorstellung davon wer füreinander bestimmt ist, wer zusammenpasst, kommt hier zum tragen. Ein älterer Mann, der ein junges Mädchen begehrt, wird mit Worten wie „abscheulich“ bewertet. Die Autorin spricht in diesem Zusammenhang von sich „ekeln“ und „Wut“. Die Verfasserin der Geschichte II geht nicht auf eigene Wertvorstellungen ein, sondern bezieht sich mehr auf die moralische Einstellung der anderen. Sie formuliert keine wertenden Aussagen, sondern Fragen: „Was würden die Eltern sagen?“ oder „Wenn jemand kam?“. Durch diese Fragen wird klar, dass sie sich mit der konventionellen Moral der Gesellschaft beschäftigt, denn sonst hätte sie diese Fragen nicht aufgeworfen. In ihrer Fantasie werden die Normen nicht eingehalten und dies hätte, würden andere davon erfahren, Konsequenzen und wenn schon nicht gesetzliche, dann doch zumindest gesellschaftliche Sanktionen zur Folge. 32 6.2 Wer verführt wen? Eine Frage, die uns nicht nur im Zusammenhang mit der Kindfrau beschäftigt, ist immer wieder die Frage wer wen verführt. Im Zuge einer auf christlichen Wurzeln aufbauenden Sozialisation haben wir gelernt, dass der/die VerführerIn mit Schuld, der/die Verführt/e mit Unschuld gleichzusetzen ist. Die Schlange hat im Paradies dafür gesorgt, dass Verbote nicht eingehalten wurden, der Teufel versucht uns mit allerlei Lockungen zum Bösen zu verführen – beide machen sich über Unschuldige her, sie sind die Täter denen die Opfer widerstehen müssen. Eva, die Verführerin und Maria, die unschuldige Jungfrau, beide vereinen sich in der Kindfrau. „Die Kindfrau ist stets Ausdruck einer Grenzüberschreitung im Bereich der Sexualität. Ihre Sexualisierung irritiert, wobei nie klar, nie eindeutig artikulierbar ist, was denn die Irritation ausmacht, wo genau welche Grenze überschritten wird, wer wen verführt.“ (BRAMBERGER 2000: 162f.) Wenn wir nicht sagen können, wer wen verführt, fällt es uns auch schwer einzuordnen, wer gut und wer böse ist, denn so haben wir es gelernt: die VerführerInnen sind die Schlechten gegen die sich die Guten mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu wehren haben – sich auf die Verführung einlassen würde auch die Guten schlecht machen. Verführung ist eine Sünde, die gesühnt werden muss. Die Werbung spielt mit diesen Fantasien: wir können der Verführung nachgeben ohne dafür sühnen zu müssen. Die Eiscremesorte Magnum wirbt diesen Sommer ganz offen mit christlichen Konnotationen: die sieben Todsünden Wollust, Faulheit, Völlerei, Habgier, Neid, Rache und Eitelkeit sind die Namen der „limited edition“ (vgl. http://www.7suenden.at/site/start.php). Wir begehen eine Sünde und die Werbung spricht uns davon frei, denn wir wurden verführt und obwohl wir das Eis essen, verlieren wir dabei nicht unsere Unschuld. Es scheint moralisch vertretbar zu sein, der Verführung eines sündig beworbenen Nahrungsmittels nachzugeben und es zu genießen, sexueller Genuss hingegen wird offenbar immer noch nach christlichen Maßstäben bewertet. Virginität ist das Zeichen für Unschuld, gegen sexuelle Verführungen muss man sich demnach wehren. Sich nur dem Genuss der Verführung hinzugeben ohne ein Gefühl der Schuld, weil man sich nicht wehrte, ist etwas, dass die Jungfrau schnell zur Hure werden lässt. Die Lolita-Fantasie II beschreibt einen sexuellen Genuss, gegen den sich die Autorin 33 „nicht wehrte, im Gegenteil“. Im Gespräch darüber, wollte sie jedoch klar stellen, dass sie sehr wohl jemand wäre, die sich normalerweise wehren würde. Die christlichen Werte sind tief verankert, so dass sexuellen Verführungen nur in ganz privaten Fantasien nachgegeben werden darf – oder wie es hier der Fall war, nur in anonym geschriebenen Geschichten. 6.3 Kindliche Sexualität und der Pädophilie-Diskurs Wenn es um die Diskussion kindlicher Sexualität geht, in die man mit der Kindfrau unweigerlich gerät, ist es nur ein kleiner Schritt bis zum Pädophilie-Diskurs, da den Kindern keine Sexualität zugeschrieben wird. In beiden Erinnerungsarbeiten wird das Thema Pädophilie aufgegriffen. In der Geschichte I wird die filmische Darstellung als pädophil bezeichnet, in Geschichte II heißt es: „ es würde ihm besonders gefallen, weil’s verboten ist“. „Es ist ein Stück der populären Meinung über den Geschlechtstrieb, dass er der Kindheit fehle und erst in der als Pubertät bezeichneten Lebensperiode erwache. allein dies ist ein folgenschwerer Irrtum, da er hauptsächlich unsere gegenwärtige Unkenntnis der grundlegenden Verhältnisse des Sexuallebens verschuldet.“ (FREUD 1972: 81) HAUG bezieht sich auf Foucault, wenn sie über das „familiäre Sexualdispositiv“ spricht; es geht dabei „um die Weise, wie Ordnung im Sexuellen gestiftet wird und wie der Bereich Sexualität im gleichen Zug erst konstituiert wird“ (1997:122). Der Auftrag der Familie ist es, kindliche Sexualität zu verhindern, Onanie zu verbieten und zu pathologisieren – „Sex als Grund von Fehlentwicklung, Krankheit etc. anzusehen“ (ebd. 1997:123). „In Wahrheit bringt das Neugeborene Sexualität mit auf die Welt, gewisse Sexualempfindungen begleiten seine Entwicklung durch die Säuglings- und Kinderzeiten, und die wenigsten Kinder dürften sexuellen Betätigungen und Empfindungen vor ihrer Pubertät entgehen.“ (FREUD 1972:163) Die Negation kindlicher Sexualität erschwert den Umgang damit und macht auch eine Diskussion fast unmöglich, denn wer ‚Kinder’ und ‚Sexualität’ in gleichen Atemzug erwähnt, gerät schnell in die ‚Missbrauch-Ecke’. Damit will ich keinesfalls der Pädophilie den Weg ebnen, sondern im Gegenteil: ein offener 34 Umgang mit kindlicher Sexualität würde den Mantel des Schweigens von diesem Thema nehmen und so auch den Kindesmissbrauchern die Sicherheit dieses Schweigens nehmen. Was Kindern gefällt, gut tut oder auch nicht, wird nicht nur in sexueller Hinsicht nicht oder nur selten wahrgenommen oder in erzieherische Entscheidungen mit einbezogen. „Gewalt zwischen Erwachsenen besteht darin, dass jemand einen anderen daran hindert, sich einer Situation zu entziehen und ihm so seinen Willen aufzwingt. Gegenüber Kindern kann dies jedoch legitim sein, wenn es dem ‚Wohl des Kindes’ dient. Was den Zwang, den ein ‚Missbraucher’ auf ein Kind ausübt, vom allgemeinen ‚pädagogischen Zwang’ unterschiedet, ist deshalb nicht, dass er gegen den Willen des Kindes geschieht oder vom Kind als unangenehm erlebt wird.“ (HARTEN 1997:108) Das Konstrukt der Kindheit, von dem schon in einem gesonderten Kapitel die Rede war, zwingt Kinder in eine recht- und machtlose Position. Weil ihnen völlige Unschuld zugeschrieben wird, müssen sie – und dies auch mit Zwang – in dieser unschuldigen Rolle so lange wie möglich gehalten werden. Entscheidungsmacht wird ihnen so gut wie nicht zuerkannt, ein kindliches „Nein“ hat nur dann Bedeutung, wenn es mit der elterlichen Entscheidung übereinstimmt. Dies soll nicht heißen, ich mich für Sex zwischen Kindern und Erwachsenen stark mache und dies gutheiße, wenn sich die Kinder dabei wohl fühlen, sondern ich will damit auf die Vielschichtigkeit der Problematik hinweisen. „Irgendwie geht es nicht einfach um Schuld, Tatbestände, Herrschaft und Macht und im Gegenzug um Gesetze, Einsperrung und Sühne – die Problematik ist tiefer, widersprüchlicher, grundlegender ins Gesellschaftsganze, in die Konstruktionen von Familie, Sexualität, Kindheit und Jurisdiktion eingelassen“ (HAUG, 1997:122). 7. Ta. Die Lesart Die Tatsache, dass die Auffassungen in den anonym geschriebenen Lolita-Fantasien der beiden Frauen von den Standpunkten, die sie im persönlichen Gespräch über 35 die Geschichten vertraten recht abweichend waren, bringt mich darauf mich mit den von HALL (1999), in Bezug auf das Fernsehen, diskutierten Lesarten zu beschäftigen. „Jede Gesellschaft bzw. Kultur neigt mit variierenden Graden der Geschlossenheit dazu, ihre jeweiligen Klassifizierungen der gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Welt durchzusetzen. Diese bilden eine dominante kulturelle Ordnung, die allerdings weder einhellig akzeptiert noch unumstritten ist.“ (1999:103) Lolita ist ein Konstrukt innerhalb dieser Ordnung, die weiter oben besprochenen Klischees und der Mythos über die Kindfrau sind der common sense. Wer die gängigen Diskurse über Lolita übernimmt agiert innerhalb des dominanten Kodes. Diese dominante Lesart ist eine mächtige, denn es bedarf einiger Macht eine bestimmte Auffassung zur herrschenden, dominierenden zu machen. Auch die oppositionelle Lesart, die gegen diese herrschenden Bedeutungen antritt, ist – sofern sie öffentlich gemacht wird – mit einiger Macht verbunden, wir sprechen dann vom „Kampf um Bedeutung“ und ein Kampf ist immer mit Macht verbunden, nur wer die nötige Kraft hat, kann gegen die dominant-hegemoniale Bedeutung angehen. Die ausgehandelte Lesart muss nicht unbedingt mit Macht und Kämpfen verbunden sein, die Bedeutung wird verhandelt und nicht ausgekämpft, man stellt sich nicht völlig gegen den herrschenden Diskurs, sondern richtet es sich so ein, dass man gut damit leben kann. (Vgl. HALL 1999: 106 ff.) Durch die Erinnerungsarbeiten bin ich auf eine weitere Lesart gestoßen, die anders ist, als die drei von HALL beschriebenen. In den Gesprächen mit den beiden Frauen nahmen sie eine ausgehandelte Position ein, sie hielten mit ihren Ansichten großteils am dominanten Diskurs fest, machten aber auch dem widersprechende Aussagen. In ihren Texten hingegen nahmen sie eine ganz andere Position in bezug auf Lolita ein, diese Fantasien erschienen ihnen aber im Gespräch als nicht angebracht, angemessen oder ‚stubenrein’. Diesen Umgang mit den Fantasien, bezeichne ich als „geheime Lesart“, sie gelangt nicht in den Diskurs, weil sie nur geheim, anonym, im Stillen, ganz privat und intim geäußert wird, öffentlich ausgesprochen wird nur eine ausgehandelte Lesart. Möglicherweise ist die geheime Lesart dominant, weil viele die dominanten Diskurse im Geheimen anders lesen. Sie kann aber keinesfalls hegemonial werden, wenn sie nicht in den Diskurs gelangt. Es gilt auf alle Fälle Wege zu finden um die machtvolle Komponente der psychischen 36 Realität, die (noch) nur im geheimen formuliert wird, an die Oberfläche, in den herrschenden Diskurs zu bringen, denn nur so können wir ihn in unserem Sinn verändern und alte unbrauchbare Strukturen auflösen. 8. Schuld ohne Sühne – Resümee Die Beschäftigung mit Lolita weist uns einen Weg, abseits dualer Strukturen, zu einer anderen Art des Denkens. Sie ist kein ‚entweder/oder’, sie ist das ‚Und’, das ‚Dazwischen’. Als Mythos ist sie ein Teil der „public fantasy“ der reflektiv in ganz privaten Fantasien Eingang findet, sich verändert und zurück gespiegelt wird. Als männliches Phantasma ist sie im common sense, nur da um die Begierden der Männer zu befriedigen. In den (realen) Fantasien von Frauen, ihrer psychischen Realität, ist sie eine ermächtigende Vorstellung, ein stärkendes Gefühl, das mit den patriarchalen Strukturen von der Macht der Männer und der Ohnmacht der Frauen abrechnen könnte. Zwar nehmen Frauen öffentlich eine ausgehandelte Position in Bezug auf Lolita ein, doch gibt es in der Fantasie noch eine andere Position, die ‚geheime Lesart’ der Kindfrau. Allerdings sind die dominanten Strukturen und Machtverhältnisse so sehr internalisiert, dass diese äußerst mächtige Position (noch) nicht in den hegemonialen Diskurs eingedrungen ist. Es sollten Wege gefunden werden, diese Macht zu nutzen um die konventionellen, für uns Frauen unpassenden, Strukturen aufzubrechen und den herrschenden Diskurs zu verändern. Die Lolita-Fantasie weist uns den Weg, wenn wie den Schritt wagen und das Geheime öffentlich werden lassen, uns von Schuld befreien ohne dafür sühnen zu müssen, die dualen Muster über Bord werfen und uns dem ‚Dazwischen’ öffnen, kann die Utopie in der Zukunft ihren Raum einnehmen. 37 Literatur ANG, Ien (1985): Watching Dallas: Soap Opera and the Melodramatic Imagination. London: Methuen ARISTOTELES (1964): Nikomachische Ethik. Berlin: Akademie Verlag BARTHES, Roland (1989): Mythen des Alltags. Frankfurt am Main: Suhrkamp BRAMBERGER, Andrea (2000): Die Kindfrau. Lust. Provokation. Spiel. München: Matthes & Seitz BRETON, André (1993): Arkanum 17. München: Matthes & Seitz CHIMO (1997): sagt Lila. Stuttgart: Engelhorn DE LAURETIS, Teresa (1999): Popular culture, Public and Private Fantasies: Feminity and Fetishism in David Croneberg’s M Butterfly. In: Signs: Journal of Women in culture and society, vol. 24, no. 2, 303-334 FINK, Gerhard (1994): Who’s who in der antiken Mythologie. München: dtv FISKE, John (1997): Populäre Texte, Sprache und Alltagskultur. In: HEPP, Andreas/WINTER, Rainer: Kultur – Medien – Macht; Cultural Studies und Medienanalyse. Opladen: Westdeutscher Verlag, 65 - 84 FREUD, Sigmund (1972): Studienausgabe, Band V, Sexualleben. Frankfurt am Main: Fischer GIDDENS, Anthony (1995): Konsequenzen der Moderne. Frankfurt a. M. Suhrkamp GROTTER, Peter (2003): Überfälle aus Liebe zu einer 15-Jährigen. In: Kronen Zeitung, Kärnten, vom Samstag, 31. Mai 2003, S. 20 HALL, Stuart (1999): Kodieren/Dekodieren. In Bromley, Roger, Udo Göttlich und Carsten Winter, Hrsg. Cultural Studies, Grundlagentexte zur Einführung. Lüneburg: zu Klampen, 92 – 110 38 HARTEN, Hans-Christian (1997): Zur Zementierung der Geschlechterrollen als mögliche Ursache für sexuellen missbrauch – Sozialisationstheoretische Überlegungen zur Missbrauchsforschung. In: AMANN, Gabriele/WIPPLINGER, Rudolf (Hg.): Sexueller Missbrauch. Überblick zur Forschung, Beratung und Therapie. Ein Handbuch. Tübingen: Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie, 106 - 120 HAUG, Frigga (1990): Erinnerungsarbeit. Hamburg: Argument HAUG, Frigga (1997): Sexualität und Macht. Nützliche Lehren von Michel Foucault für die Debatte um sexuellen Missbrauch. In: AMANN, Gabriele/WIPPLINGER, Rudolf (Hg.): Sexueller Missbrauch. Überblick zur Forschung, Beratung und Therapie. Ein Handbuch. 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Wien: Passagen-Verlag MITTERER, Josef (1999): Die Flucht aus der Beliebigkeit. Klagenfurt: Drava 39 MÜHLEN ACHS, Gitta (1993): Wie Katz und Hund – Die Körpersprache der Geschlechter; München: Frauenoffensive NABOKOV, Vladimir (1976): Lolita. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt SCHMIDT, Siegfried J. (2002): Was heißt „Wirklichkeitskonstruktion“? In: BAUM, Achim/SCHMIDT, Siegfried J. (Hg.): Fakten und Fiktionen. Über den Umgang mit Medienwirklichkeiten. Konstanz: UVK Verlag, 17-30 WALKERDINE, Valerie (1986): Video Replay: Families, Films and Fantasy. In: BURGIN, Victor/DONALD, James/KAPLAN, Cora (Hg): Formations of Fantasy. London/New York: Methuen, 167 - 199 WITTELS, Fritz (1996): Freud und das Kindweib: die Erinnerungen von Fritz Wittels/hrsg. von TIMMS, Edward. Wien: Böhlau Internet: Herbert Grönemeyer: „Kinder an die Macht“ (18.08.2003) http://www.metrolyrics.com/lyrics/93231/Herbert_Gr%C3%B6nemeyer/Kinder_An_Die_Macht/ Internet Suchmaschine (22.08.2003) http://www.google.at Kate Bush: „The man with the child in his eyes“(18.08.2003) http://www.purelyrics.com/index.php?lyrics=nmljftaw Magnum-Eis special edition (22.08.2003) (http://www.7suenden.at/site/start.php) Online Lexikon (18.08.2003) http://www20.wissen.de/xt/default.do?MENUNAME=Suche&query=femme+fatale http://www20.wissen.de/xt/default.do?MENUNAME=Suche&query=Ambivalenz 40 Herbert Grönemeyer (1986): „Kinder an die Macht“ (http://www.metrolyrics.com/lyrics/93231/Herbert_Gr%C3%B6nemeyer/Kinder_An_Die_Macht/ ) Die Armeen aus Gummibärchen die Panzer aus Marzipan Kriege werden aufgegessen einfacher Plan kindlich genial Es gibt kein Gut es gibt kein Böse es gibt kein Schwarz es gibt kein Weiß es gibt Zahnlücken statt zu unterdrücken gibt's Erdbeereis auf Lebenszeit immer für'ne Überraschung gut Gebt den Kindern das Kommando sie berechnen nicht was sie tun Die Welt gehört in Kinderhände dem Trübsinn ein Ende wir werden in Grund und Boden gelacht Kinder an die Macht. Sie sind die wahren Anarchisten lieben das Chaos räumen ab kennen keine Rechte keine Pflichten noch ungebeugte Kraft massenhaft ungestümer Stolz Gebt den Kindern das Kommando sie berechnen nicht was sie tun Die Welt gehört in Kinderhände dem Trübsinn ein Ende wir werden in Grund und Boden gelacht Kinder an die Macht. 41 Kate Bush (1978): “The man with the child in his eyes” (http://www.purelyrics.com/index.php?lyrics=nmljftaw) I hear him, before I go to sleep And focus on the day that's been. I realise he's there, When I turn the light off and turn over. Nobody knows about my man. They think he's lost on some horizon. And suddenly I find myself Listening to a man I've never known before, Telling me about the sea, All his love, 'til eternity. Ooh, he's here again, The man with the child in his eyes. Ooh, he's here again, The man with the child in his eyes. He's very understanding, And he's so aware of all my situations. And when I stay up late, He's always waiting, but I feel him hesitate. Oh, I'm so worried about my love. They say, 'No, no, it won't last forever.' And here I am again, my girl, Wondering what on Earth I'm doing here. Maybe he doesn't love me. I just took a trip on my love for him. Ooh, he's here again, The man with the child in his eyes. Ooh, he's here again, The man with the child in his eyes. 42 Lolita-Fantasien I. (Frau, 24 Jahre) Lolita, da dachte Luna an die Verfilmung von Adrian Lyne. Eine Geschichte über eine Beziehung zweier Menschen, die ganz eindeutig nicht füreinander bestimmt sind und die trotzdem eine übermächtige Faszination verbindet. Lolita ein jungen Mädchen, dass einerseits als Opfer und andererseits als Strategin, die bewusst ihre weiblichen Reize als Machtausübung einsetzt, dargestellt wird. Als Luna über diesen Film nachdachte, kam sie zu dem Schluss, dass sie vielmehr mit Lolita verbindet, als den Namen eines Filmes oder eines Mädchens. Lolita stellt für Luna eine Subjektposition, eine Zuschreibung und Wertung dar. Die filmische Darstellungsweise empfindet Luna, als pervertiert und verdreht. Da der Film ein Frauen bzw. Mädchenbild vermittelt, dass zwischen Jungfrau und Hure unterteilt und eine männliche Sichtweise beschreibt, von der ausgehend das Mädchen Lolita von der Macht und Ohnmacht des älteren Verehrer beherrscht wird und das Thema der Pädophilie, das in dem Film angesprochen wird, verbindet Luna nicht mit dem Begriff Lolita. Es ist schon länger her, dass Luna diesen Film gesehen hat, und damals als sie ihn sah, schrieb sie ihm sicherlich nicht derartige Bedeutungen zu. Als Luna in einem Cafe als Kellnerin angestellt war, hatte sie einen Kollegen, der sie immer als einen Lolita- Typ bezeichnete. Sie machte sich damals keine Vorstellung darüber, was dies eigentlich zu bedeuten habe. Sie wusste nur, dass sie mit einer bestimmten Art und Weise manche Männer verführen konnte. Sie konnte dadurch mit ihnen spielen. Spielen, in dem sie bewusst über ihre Ausstrahlung verfügte, um bestimmte Dinge steuern zu können. Sie konnte die Männer beherrschen, nicht die Männer sie. Ein anderes Erlebnis, das Luna dazu einfällt, handelt von einem älteren Mann, der Luna verführen wollte. Er wollte sie mit teuren und schönen Kleidern beschenken, sie ausführen, um anschließend mit ihr eine Nacht zu verbringen. Diese Geschichte war ganz abscheulich für Luna. Bis zu diesem Zeitpunkt hätte sich Luna niemals vorstellen können, dass ein älterer Mann sexuelle Absichten für sie hegen könnte. Sie ekelte sich und könnte die Intention dieses Mannes nicht nachvollziehen. Damals war sie 43 wütend und zugleich stärkte sie diese Wut. Denn heute würde sich Luna nicht mehr hilflos fühlen, wenn ihr eine derartige Geschichte wiederfahren würde. Heute spielt Luna mit ihrem Wissen. Heute empfindet Luna Macht, wenn sie gezielt die Lolita in ihr nützt, um Männer das machen zu lassen, was sie will. Eventuell durch ein LolitaSpiel zu ihrem Ziel zu gelangen. Einen Mann für ihre Zwecke zu benützen, wie sie damals der ältere Mann benützen wollte. II. (Frau, 33 Jahre) Langsam schritt sie am Haus vorbei. Das Kleid wie immer kurz. Die kindlichen Beine, von der Sonne haselnussbraun, schimmerten in der Sonne. Holzsandalen. Die Hüften wippten rhythmisch zum Schritt. Das klappern der Schuhe müsste ihn eigentlich aus dem Haus locken – oder wenigstens ans Fenster. Carla blieb stehen und blinzelte in Richtung Fenster. Ungeschickt und unbeholfen nestelte sie ein wenig an ihrer Schultasche herum. Zeit sollte vergehen. Vielleicht sollte sie, falls er sich am Fenster blicken lassen würde, einfach den Weg Richtung Heuspeicher einschlagen und ihn mit einem verführerischen Zwinkern zum Mitkommen bewegen. Vielleicht sollte sie einfach hingehen und er würde schon dort sein. Und arbeiten. Und sie würden sich anstarren. Lange. Carla würde die Schultasche langsam aus ihren Händen zu Boden gleiten lassen. Ganz langsam. Den Blick nie von ihm nehmend. Und auch er würde sie nicht aus den Augen lassen. Und irgendwann würde er sein Arbeitsgerät einfach fallen lassen und nahe kommen. Sehr nahe kommen. Sie würde seinen Atem auf ihren Lippen spüren und seine Hand zwischen ihren Schenkeln. Sie würde sich nicht wehren. Im Gegenteil. Noch ein wenig breiter würde sie sich hinstellen um der Hand den Weg zu erleichtern. 44 Er würde seinen Mund auf ihre Lippen pressen und im Hand um dreh'n hätte seine Zunge ihren gesamten Mundraum ausgefüllt. Es würde ihm gefallen. Es würde ihm besonders gefallen, weil’s verboten war. Sie würde ihre Zunge dieselben Spiele spielen lassen und, den eigenen Leib eng an den seinen gedrückt, spüren, wie das Begehren in ihm hochkam. Wie es immer heftiger wurde und er sich kaum mehr zurückhalten konnte. Noch nicht. Nein. Ein wenig musste er sich noch gedulden. Ein wenig wollte sie noch die aufkommende Lust für ihn zur Qual werden lassen. Und dann. Wenn sie es wollte, sollten sie ins weiche, frisch eingebrachte Gras fallen und es tun. Zuerst schnell und ungestüm. Alles auf einmal. Jetzt und Hier. Sofort... Und dann langsam. Ruhig. Den Rausch der Sinne bis aufs letzte genießen. Bis auf den letzten Tropfen. Seine Hose unten an den Knien. Ihr Kleidchen soweit hinauf geschoben, dass der Bauchnabel frei wurde. Das Höschen lag neben ihrem Gesicht im grünen Gras. Schnell musste es gehen. Wenn jemand kam? Und sie entdeckte? Was würden die Eltern sagen? Was sein Sohn, der während dem Unterricht rechts hinter ihr saß... 45 II. Frau 33 Jahre I. Frau 24 Jahre Begehren eigene Verbundenheit mit Lolita; Männer verführen; mit ihnen spielen; bewusst über Ausstrahlung verfügen; Dinge steuern können; Männer beherrschen können; sich anstarren, lange; Blick nie von ihm nehmend; er würde sie nie aus den Augen lassen; sehr nahe kommen Atem auf ihren Lippen spüren; Hand zwischen ihren Schenkeln; sein Mund auf ihren Lippen; es würde ihm gefallen; ihre Zunge spielen lassen; spüren wie das Begehren in ihm hochkam; schnell und ungestüm; Langsam, ruhig; Rausch der Sinne genießen Das Gefühl Macht übermächtige Faszination; weibliche Reize als Machtausübung; von Macht und Ohnmacht des älteren Verehrers beherrscht; Stärke durch Wut; keine Hilflosigkeit; Spiel mit dem Wissen; Macht – Lolita in sich nützen um Männer das machen zu lassen, was sie will; Lolita-Spiel zum Ziel; Mann für ihre Zwecke benützen; nicht Männer sie das Klappern müsste ihn locken; er musste sich gedulden; die Lust für ihn zur Qual werden lassen; wenn sie es wollte, sollten sie es tun public fantasies Moral, Ethik, Logik Verfilmung: Lyne; Geschichte; Subjektposition; Zuschreibung; pervertiert und verdreht; Frauen- bzw. Mädchenbild; Kollege sagt Lolita-Typ 2 Menschen nicht für einander bestimmt; Wertung; älterer Mann: abscheulich, ekeln, Intention des Mannes nicht nachvollziehen, wütend kurzes Kleid; kindliche Beine von der Sonne haselnussbraun; Hüften wippen rhythmisch; ungeschickt und unbeholfen; wenn jemand kam? Und sie entdeckte? Was würden die Eltern sagen? Was sein Sohn? Die Verführung Schuld & Unschuld Pädophilie Lolita: Opfer und Strategin; Jungfrau und Hure; älterer Mann will sie verführen: Geschenke, Nacht verbringen Pädophilie im Film; selbst keine Verbindung mit Pädophilie; sexuelle Absichten eines älteren Mannes; älterer Mann wollte sie benützen verführerisches Zwinkern; nicht wehren, im Gegenteil es würde ihm besonders gefallen, weil’s verboten war 46