Schuld ohne Sühne Eine Frauenfantasie? - Edu-Uni-Klu

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Schuld ohne Sühne Eine Frauenfantasie? - Edu-Uni-Klu
Schuld ohne Sühne
Lo. Li. Ta.
Eine Frauenfantasie?
Von:
LV:
Leiterin :
Datum:
Bettina Pirker (Matr. Nr.: 9960771)
180.853 Seminar zur Medienpädagogik und
Kommunikationskultur: Medien-Fantasien
Brigitte Hipfl
Klagenfurt, 28.08.2003
„Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden.
Meine Sünde, meine Seele. Lo-li-ta: die Zungenspitze
macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei
Drei gegen die Zähne.
Lo. Li. Ta. Sie war Lo, kurz Lo, am Morgen, 1,50
m groß in einem Söckchen. Sie war Lola in Hosen.
Sie war Dolly in der Schule. Sie war Dolores von
amtswegen. Aber in meinen Armen war sie immer
Lolita.“ (Nabokov 1976:12)
1
Inhalt
1.
Warum Lo. Li. Ta.?
3
2.
Wider der Dualität
3
2.1
Kultur : Natur
4
2.2
Frau : Mann
6
2.3
Kind : Erwachsene/r
8
2.4
Femme fatale & Femme fragile
10
2.5
Dazwischen
11
3.
Reale Fantasien
14
4.
Die Suche nach Lo. Li. Ta.
15
4.1
Als künstlerisches Konstrukt?
16
4.2
Im männlichen Blick?
18
4.3
Ein Klischee?
20
4.4
Ein Mythos?
21
4.5
In meiner Erinnerung?
23
4.6
Eine (reale) Frauenfantasie?
24
5.
Lo. Das Gefühl
26
5.1
Begehren
27
5.2
Macht
28
5.3
Reflexivität von „public fantasies“
29
6.
Li. Die Verführung
30
6.1
Moral, Ethik und Logik
31
6.2
Wer verführt wen?
33
6.3
Kindliche Sexualität und der Pädophilie-Diskurs
34
7.
Ta. Die Lesart
35
8.
Schuld ohne Sühne – Resümee
37
Literatur
38
Internet
40
Anhang
Text: Grönemeyer „Kinder an die Macht“
Text: Bush “The man with the child in his eyes”
Lolita-Fantasien I, II
Tabelle: Auswertung der Erinnerungsarbeiten
41
2
1. Warum Lo. Li. Ta.?
Als Mythos spukt sie durch unsere Welt, mit vielen Klischees ist sie behaftet: Lolita,
die Kindfrau. Sie räumt auf mit den dualen Denkweisen und zwingt uns mit Aporien
umzugehen. Sie ist eine Zuschreibung, ein literarisches Konstrukt, Opfer männlichen
Begehrens und durchtriebene Meisterin der Verführung. Gibt es sie nur, weil Männer
sie erschaffen, oder hat sie auch einen Platz in unserer Realität? Das Aussprechen
ihres Namens beflügelt schon die Fantasie: bei ‚Lo’ ist die Zunge ganz weit hinten –
ein, noch unbestimmtes Gefühl kommt auf, ‚Li’ wird am Gaumen ausgesprochen –
ein verführerisches Kitzeln ist dabei zu spüren, das ‚Ta’ ist schon ganz vorne an den
Zähnen, die Zunge verlässt fast das innere und kommt beinahe mit der Außenwelt in
Kontakt.
Ich begebe mich auf die Suche nach diesem faszinierenden Wesen. Wo ist sie
einzuordnen in unserer dualen Welt, ist sie Fakt oder Fiktion. Existiert sie nur als
Mythos oder als Klischee? Ist sie ein literarisches Konstrukt oder eine männliche
Wunschvorstellung? Ein unbestimmtes Gefühl überkommt mich, wenn ich an Lolita
denke – als könnte ich mich an sie erinnern. Was hat ein Männerphantasma mit mir
zu tun? Gibt es eine Lolita-Fantasie auch bei anderen Frauen und wenn ja, was hat
eine Fantasie mit der Realität zu tun? Jede Frage über Lolita wirft eine weitere auf, in
den logischen Strukturen unserer Welt ist sie nicht einzuordnen. Ist sie nur eine
Utopie – etwas das im Hier und Jetzt keinen Platz hat? Sie ist im Diskurs, wir glauben
sie zu kennen und doch wissen wir nicht wo wir sie finden können. Sich auf die
Kindfrau einzulassen bedarf der Fantasie – und genau dort werde ich sie suchen.
2. Wider der Dualität
Lolita, die Kindfrau, provoziert alleine schon durch die Bezeichnung ‚Kindfrau’ eine
Beschäftigung mit unserem dualen Denken. Jemand kann entweder Kind oder Frau
sein, aber nicht beides – dies widerspricht doch jeglicher ‚natürlichen’ Logik! So
3
lange Zeit haben wir das richtig/falsch Denken praktiziert und kultiviert, dass es für
uns natürlich wirkt. Alles, was nicht in dieses Schema passt, wird schnell als
abnormal bezeichnet, nicht unserer dualen Norm entsprechend, oder auch als
unnatürlich, da es nicht der dualisierenden Kultur entspricht, die für uns zur Natur
geworden ist. Und schon sind wir mitten drin in der ‚dualen Falle’. Wenn es Natur
gibt, gibt es sie nur im Gegensatz zu Kultur? Gibt es Frau nur im Gegensatz zum
Mann, groß nur weil es klein gibt, arm nur weil es reich gibt, lang kann etwas nur
sein, weil was anderes kurz ist,…? Zu allem und jedem gibt es ein Gegenstück,
Oppositionen sind das, woraus unsere Welt gemacht ist. Liegt es in der Natur der
Dinge nur mit ihren Gegenstücken gemeinsam aufzutreten? Gibt es tatsächlich nur
entweder/oder, wie steht es dabei mit dem ‚und’? Wenn wir diesen Gedanken
weiterführen, geraten wir schnell an die Grenzen der Dualität. Wie sieht es zum
Beispiel aus mit ‚rot’? Dazu gibt es kein Gegenteil, ‚rot zu nicht-rot’ kann wohl kaum
die Alternative sein. Wie steht es mit so einfachen Dingen wie dem Tisch, gibt es den
Tisch nur im Gegensatz zum Nicht-Tisch? Auch diese Aufzählung könnte lange
weitergeführt werden und lässt uns, wenn auch zaghaft, Abstand nehmen vom
dualen Denken.
Lolita zeigt uns ein Gegenstück zu den Oppositionen, sie ist
irgendwo dazwischen und dieses ‚Dazwischen’ gilt es zu fassen um so
möglicherweise eine neue Art des Denkens zu ‚kultivieren’.
2.1 Kultur : Natur
Wie wenig hilfreich Oppositionen für das Verstehen verschiedener Phänomene sind,
möchte ich anhand des Gegensatzes von Kultur und Natur klar machen, um mich so
dem ‚Dazwischen’, der Erkenntnis abseits des dualen Denkens, anzunähern.
Stellen wir uns folgende Situation vor: wir befinden uns in der freien Natur, an einem
kleinen Waldsee, dem Forstsee, in Kärnten; er ist nur zu fuß zu erreichen. Die
schönsten Buchten findet man nach einem kurzen Marsch durch den Wald. Nackt,
‚wie Gott mich schuf’, ‚im Eva-Kostüm’, mache ich es mir auf einem Felsen bequem
4
und genieße diese Situation – im ‚Einklang mit der Natur’. Obwohl wir uns in der
Aufklärung von der Teleologie verabschiedet haben, sehen wir die Natur gerne noch
als ‚gottgegeben’. So und nicht anders ist es und war es auch schon immer, wir
nehmen es hin und hinterfragen nichts. Wenn wir uns nun allerdings die Fakten, im
Gegensatz zu den Fiktionen, näher ansehen, stellen wir fest, dass die Natürlichkeit
des idyllischen Sees nichts anderes ist, als eine Fiktion. Das Wasser wird im Winter
abgelassen, die hohen Strommasten im Wald weisen auf das nahe gelegene
Kraftwerk hin, das vom Wasser dieses Sees gespeist wird. Inmitten der Bäume
entdecken wir öffentliche Toiletten und neben dem kleinen Trampelpfad, der sicher
auch nicht von alleine, natürlich, entstanden ist, leuchtet uns in auffälligem rot ein
Cola-Automat entgegen. Die vereinsamte Telefonzelle erweckt im Handy-Zeitalter
ein nostalgisches Gefühl. Auch die Natürlichkeit des nackten Körpers hält einer
näheren Betrachtung nicht stand. Sowohl der Nagellack, die Haarfarbe, als auch die
rasierten Beine oder die wohlduftende Sonnenschutzcreme sind nichts anderes als
Kulturprodukte.
KULTUR
NATUR
FAKTEN
FIKTIONEN
nackt,
wie Gott mich schuf,
im Eva-Kostüm...
am Forstsee (Kärnten),
...mit Nagellack, rasierten
Beinen,
Sonnenschutzcreme...
... wird im Winter abgelassen,
Toiletten, Cola-Automat, StromMast, Telefonzelle...
Dieses Beispiel zeigt, dass Kultur etwas ist, das so lange bearbeitet und internalisiert
wurde, bis es für uns natürlich wirkt und diese Natur im Grunde nichts anderes ist als
eine kulturelle Illusion. Die Fakten werden zu Fiktionen und umgekehrt, die
5
Schnittstelle zeigt das ‚Dazwischen’ und macht die Differenzierung von Kultur : Natur,
Fakten : Fiktionen nicht länger haltbar, der Dualismus scheint seine Gültigkeit zu
verlieren. Daher macht es auch wenig Sinn, Lolita, die Kindfrau, als Fakt oder Fiktion
bzw. als natürlich entstanden oder kulturell produziert, festzumachen. Konventionelle
Kategorien sind zu eng um sie fassen zu können.
2.2 Frau : Mann
„Die
Kindfrau
materialisiert
einen
radikalen
Bruch
mit
traditionellen,
abendländischen Dualismen, und sie ist ein Phänomen des 20. Jahrhunderts, einer
Zeit also, in der ebendiese Dualismen in Frage gestellt werden. Mit ihr werden
scheinbar Manifeste abendländischen Denkens erschüttert, nämlich die scheinbaren
›Tatsächlichkeiten‹ der Gegensätze von Mann-Frau, Erwachsener-Kind, Opfer-Täter,
und diese Gegensätze werden an jener Differenzierung, die sie gemeinsam haben,
nämlich
am
Geschlecht,
gebrochen.“
(BRAMBERGER
2000:
273)
Die
Unterscheidung der Geschlechter scheint etwas zu sein, dass eine duale Sichtweise
bestätigen könnte. Schon kleine Kinder beschäftigt die Frage, wer ist ein Mann, wer
ist eine Frau bzw. wer ein Junge und wer ein Mädchen ist und auch zu welcher Sorte
man selbst gehört. Offenbar liegt hier eine ‚natürliche’ Dualität vor, die an Vagina
und Penis festzumachen ist und die es daher ‚immer schon gab’? Doch auch diese
Unterscheidung und klare Trennung der Geschlechter entstand erst im Zuge der
Etablierung der Bürgerlichen Gesellschaft im 18. Jahrhundert (vgl. MAIHOFER:
1995:29). „Davor existierte seit der Antike das, was Laquer das Ein-GeschlechtModell nennt. Die Geschlechtsteile wurden als gleichförmig beschaffen angesehen:
Frauen und Männer haben dieselben Genitalien, nur einmal nach innen, das andere
Mal nach außen gestülpt, wobei allerdings die männliche Morphologie als Norm
gradueller Unterschiede fungiert: die Vagina wird als innerer Penis gesehen, nicht
etwa umgekehrt. Kurz: es gab einen Körper, und der war männlich.“ (ebd. 1995:29)
6
Seit
über
zwei
Jahrhunderten
internalisieren
und
kultivieren
wir
die
Zweigeschlechtlichkeit, daher ist diese Unterscheidung für uns ‚natürlich’. Wir lernen
wie wir uns als Frau bzw. als Mann zu benehmen haben; Geschlechtsspezifische
Darbietungsregeln sind die ersten, umfassendsten und folgenreichsten Regeln, die
uns im Lauf unseres Lebens vorgegeben werden; diese spezifischen Gender-Scripts
vervollständigen die umfassende Genderisierung des gesamten körpersprachlichen
Repertoires. (vgl. MÜHLEN ACHS 1993:85) Diese Verhaltensregeln lernen wir, oft
unbewusst, im Laufe unserer Sozialisation – so lange bis wir sie verinnerlicht haben
um sowohl bei der Beobachtung anderer, als auch bei eigenen Handlungen darauf
bezug nehmen. MAIHOFER vertritt die These „dass wir nicht nur zu Männern und
Frauen ‚gemacht’ werden, sondern dass wir dies […] dann auch (geworden) sind
(ebd. 1995: 16).“
Das
duale
Konstrukt
der
Geschlechtertrennung
sorgte
dafür,
dass
eine
„eigenständige Entwicklung als Subjekt“ für die Frau unmöglich wird, da es sie nur
im
Gegensatz
zum
Mann
gibt.
„Die
ihr
zugewiesenen
gesellschaftlichen
Existenzweisen erweisen sie stets als durch den Mann definiert, in ihrem
gesellschaftlichen Status von diesem abhängig. Die Frau ist Horkheimer und Adorno
zufolge – ähnlich wie dies später auch Luce Irigaray betont – entweder Hetäre
[Geliebte], Prostituierte, Ehefrau oder Mutter, nie ist sie einfach nur Frau.“
(MAIHOFER: 1995:116). Gegen diese, vom Mann abhängige, Definition verwehrt
sich die Kindfrau. Sie vermittelt Jungfräulichkeit und schließt so schon ein Dasein als
Geliebte oder Prostituierte aus. Kindliche Ehefrauen sind zwar in anderen
Kulturkreisen immer noch üblich, aber bei uns undenkbar, was eine Vorstellung von
Lolita als Ehefrau auch nicht aufkommen lässt. Die körperliche Unreife – die
Kindlichkeit, wie auch die konnotierte Virginität lässt keine Gedanken an Mutterschaft
aufkommen (vgl. HOCHHOLDINGER-REITERER 1995:5). Lolita hält sich an das
Gender Script, alle Geschlechtsattributionen verweisen auf ihre Weiblichkeit,
dennoch verhindert sie die Zuweisung einer weiblichen Rolle. BRETON setzt die
Kindfrau zwar nicht der „anderen Frau“ [obwohl er sie als andere bezeichnet]
entgegen, meint aber, „dass in ihr und nur in ihr im Zustand völliger Transparenz das
andere Paradigma vorhanden ist, das zur Kenntnis zu nehmen man sich hartnäckig
7
weigert, weil es ganz anderen Gesetzen gehorcht, deren Verbreitung der männliche
Despotismus um jeden Preis verhindern muss“ (1993:66). BRAMBERGER hält daran
fest, dass die Kindfrau, weil sie eine Frau ist, „aus einer geschlechterorientierten
Position gedacht werden muss, dass sie eine ›Frau zum Mann‹ werden, dass sie
begehrt werden muss, um überhaupt wahrgenommen werden zu können, dass sie
über dieses Begehren definiert sein muss“ (2000: 89). Übersehen wird dabei
allerdings die Möglichkeit, dass sie selbst begehren könnte! Lolita lässt sich nicht mit
binären Codes festmachen, sie ist weder Gegenstück zum Mann, aber auch kein
Spiegelbild der Frau. Sie ist tatsächlich ein Anzeichen für ein anderes Paradigma, das
den Konventionen dualen Denkens nicht gehorchen will. Sie ist nicht ein
‚Entweder/Oder’, sie ist das ‚Dazwischen’, wie auch das ‚Und’.
2.3 Kind : Erwachsene/r
„Sie [die Kindfrau] ist das Ergebnis eines besonderen Zusammenspiels zweier
Themenkomplexe, die zur Jahrhundertwende enthusiastisch diskutiert wurden: die
Geschlechterfrage und die Generationenfrage. Ihre ungebrochene Aktualität verweist
auf Problembereiche innerhalb jener Diskussionen, die spannungsgeladen und
ungelöst geblieben sind.“ (BRAMBERGER 2000: 10) Auch dieser weiteren dualen
Unterscheidung zwischen Erwachsenen und Kindern stellt sich die Kindfrau entgegen.
Bemerkenswert erscheint mir bei dieser Gegenüberstellung, dass hierbei auf die fein
säuberliche Trennung von Frau und Mann verzichtet wird. Plötzlich, und sei es nur
um auf Dualitäten zu beharren, sind beide Geschlechter als Erwachsene im
Gegensatz zu Kindern, die ebenfalls nicht nach Geschlechtern differenziert werden,
zusammengefasst. So sehr alleine schon die Formulierung der Gegenüberstellung
Inkonsequenzen aufweist, könnte doch in diesem Fall eine Dualisierung berechtigt
sein. „Historisch gesehen gilt dasjenige Kind, dessen ›Erfindung‹ mit dem 18.
Jahrhundert kultiviert wurde, nicht nur als etwas Anderes zum Erwachsenen, sondern
mitunter auch als etwas Besonderes. Es verfügt, so die Annahme, über Fähigkeiten,
die der Erwachsene entbehrt.“ (BRAMBERGER 2000: 183) In Kindern lässt sich
8
scheinbar eine ‚Natürlichkeit’ festmachen, sie leben außerhalb der festgeschriebenen
Konventionen und betrachten die Welt mit ‚unschuldigen’ Augen. Denken wir nur an
das Lied von Herbert Grönemeyer „Kinder an die Macht“ (1986 auf der LP
"Sprünge"). Das kindliche Gemüt, ihre Unschuld und Unvoreingenommenheit wird
verherrlicht, wenn sie an der Macht wären, gäbe es weder Gewalt, Krieg noch
Ungerechtigkeit (vgl. Liedtext im Anhang). Dies will uns zumindest der Liedtext
glauben machen und deckt sich mit der allgemeinen Vorstellung von der Kindheit als
‚natürlicher’
Lebensphase
abseits
von
Schuld
und
Lasterhaftigkeit
der
Erwachsenenwelt. „Erst seit der Romantik, darüber herrscht in der Forschung
durchwegs Einigkeit, lässt sich im deutschsprachigen Raum jene weitgehende
kontinuierliche Idolisierung feststellen, die für die im 20. Jahrhundert vorherrschende
Einschätzung von Kindheit bedeutsam geblieben ist.“ (HOCHHOLDINGER-REITERER
1999:15)
„Ein zweifelhaftes, aber folgenreiches Verdienst des Theoretikers Jean-Jaques
Rousseau ist die Ausarbeitung und systematische Theoretisierung – man könnte
beinah sagen die Konstruktion – des ideell ›unschuldigen‹ Kindes.“ (BRAMBERGER
2000: 191) Davor gab es eine eigenständige Lebensphase der Kindheit nicht.
„Philippe Ariès vertritt in seinem Werk GESCHICHTE DER KINDHEIT die These, dass
sich eine Vorstellung von Kindheit als eigener – von der Erwachsenenwelt strikt
getrennter und strikt unterschiedener – Lebenszeit erst relativ spät entwickelt habe.
Die Dauer der Kindheit habe sich im Mittelalter nur auf die allererste Lebenszeit
beschränkt, sobald ein Kind ohne fremde Hilfe überlebensfähig gewesen sei, sei es
bereits
vollständig
in
die
Welt
der
Erwachsenen
integriert
worden.“
(HOCHHOLDINGER-REITERER 1999:14) Somit müssen wir uns auch von der
Vorstellung verabschieden, dass die Unterscheidung zwischen Kindheit und
Erwachsensein etwas ‚natürliches’, ‚immer schon da gewesenes’ ist. Ein weiterer
dualer Anker, an dem wir unsere Theorien und Vorstellungen über Lolita festmachen
wollten, entschwindet.
9
2.4 Femme fatale & Femme fragile
Lolita spielt mit den beiden Frauentypen, die wir spätestens aus dem ‚film noir’
kennen, der femme fatale und der femme fragile, die als absolute Gegensätze
vorgestellt werden. Die Kindfrau kann sowohl als die eine, verführerisch und stark
(im
online
Wörterbuch
sogar
als
dämonisch
bezeichnet
–
vgl.
http://www20.wissen.de/xt/default.do?MENUNAME=Suche&query=femme+fatale)
wie auch als die andere, zerbrechlich und unschuldig, charakterisiert werden. „Die
Zuordnung zu beiden Topoi [femme fatale und femme fragile] erstaunt auch
insofern, als diese beiden Weiblichkeitsentwürfe als gegenläufig und einander
ausschließend beschrieben werden. Während die femme fatale leidenschaftliche
Sexualität verkörpert, Sexualität ist, zeichnet sich die femme fragile durch ihre
mangelnde oder negative Sexualität aus. […] so wird mit der femme enfant eine
Figur entworfen, die zudem die Eindeutigkeit dieser Figuren zu relativieren trachtet,
indem sie manche ihrer Charakteristika aufnimmt, um sie gegeneinander
aufzumischen.“ (BRAMBERGER 2000: 102) Ist ein Vereinen der beiden Frauenbilder
nun tatsächlich nur der Kindfrau vorbehalten, oder ist es nicht vielmehr so, dass jede
Frau doch beides ist: begehrend und stark, oder nicht begehrend, schwach und
kränklich – mal so, mal wieder so und mal ganz anders? Welche Frau ist tatsächlich
statisch und ein für alle mal einem bestimmten Typus zuordenbar? Ist es nicht
vielmehr so, dass es das Wesen des Menschseins ausmacht, in Bewegung zu sein,
sich zu wandeln und zu verändern. Unser Leben ist ein Prozess und kein statisches
Konstrukt, in manchen Situationen sind wir schwach und gehen gestärkt daraus
hervor oder umgekehrt. Wir verführen und werden verführt oder lehnen auch
manchmal beides ab. Wir fühlen uns mächtig, wenn wir agieren und oft ohnmächtig,
wenn uns nur die Reaktion auf etwas bleibt, doch wir verharren nie an der selben
Stelle, sondern bewegen uns weiter, daher ist m.E. die Zuschreibung einer Position
eine rein analytische Momentaufnahme, die nur das augenblickliche Sein
berücksichtigt, jedoch den aussagekräftigeren Prozess des Werdens ausklammert.
BRAMBERGER gesteht sowohl der femme fatale wie auch der femme fragile Macht
zu, die allerdings nur „in ihrer Körperlichkeit und ihrer Sexualität liegt: diese
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machtvolle Sexualität wird als eine reaktive, von der Position des Mannes aus
gedachte dargestellt und beharrt auf die Logik der Ordnung der Geschlechter.“
(BRAMBERGER 2000: 120) Diese Sichtweise schließt ein Begehren der Frau aus und
verfällt in die, eigentlich schon überwundenen, Vorstellungen vom triebverhafteten
Mann und der diesem Trieb ausgelieferten Frau zurück. Übersehen wird bei dieser
Darstellung allerdings, dass diese machtvolle Sexualität nicht nur Reaktion sein muss,
sondern ganz bewusst gesetzte Aktion sein kann, die ihre Macht nicht durch die
Position des Mannes erhält, sondern und gerade das ist der springende Punkt: aus
der Position der Frau, die begehrt und dies machtvoll zum Ausdruck bringt.
„Die Kindfrau lässt sich auf keine der angebotenen Frauenrollen (und auch auf keins
der möglichen Kinderbilder!) festschreiben, das unterscheidet sie so grundlegend von
der femme fragile und der femme fatale.“ (BRAMBERGER 2000: 124) Wie wir
feststellen konnten, lässt sich auch keine andere Frau auf eine einzige Rolle
festschreiben; diese Erkenntnis sollte uns ermutigen, einen Schritt weg von den engen
Frauenbildern und Stereotypen zu machen.
2.5 Dazwischen
„Was immer an der Kindfrau bezaubert und fasziniert, erschreckt zugleich. Und diese
Ambivalenz ist für sie bezeichnend.“ (BRAMBERGER 2000: 9)
BRAMBERGER
beschreibt bei ihrem Versuch die Kindfrau zu fassen, immer wieder ambivalente
Gefühle (vgl. z.b. 2000:24, 89, 256). Wenn wir uns auf das duale Denken
beschränken, ist diese Ambivalenz nicht zu verhindern. Gegensätze, die nicht mit
einander vereinbar sind, verschmelzen in der Kindfrau. Obwohl es als unmöglich
oder gar krankhaft gilt, entstehen gleichzeitig sich widersprechende Gefühle – im
Online Wörterbuch findet man die Ambivalenz sogar als „als Grundeigenschaft des
emotionalen
Erlebens
[…]
bei
der
Schizophrenie“
(http://www20.wissen.de/xt/default.do?MENUNAME=Suche&query=Ambivalenz).
Ist das Gefühl, dass wir Lolita entgegenbringen nun abnorm – nicht der Norm
entsprechend? Wenn Oppositionen die Norm sind, dann ja. Wenn wir allerdings
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einen anderen, nicht dualen Blick, riskieren, finden wir andere Möglichkeiten der
Erklärung, die uns aus dem Unbehagen der ambivalenten Gefühle entlässt.
BRAMBERGERs Versuch die Ambivalenzen aufzulösen, führt sie zu einem Ansatz, der
ohne Gegensätze auskommt: „Mit der Kindfrau kann das illustriert werden, was
Gilles Deleuze als Rhizom theoretisiert, etwas, das ‚nicht aus Einheiten, sondern aus
Dimensionen’ (1992, S.34) besteht.“ (BRAMBERGER 2000: 274) Dieser Schritt weg
vom dualen Denken ist wichtig, geht aber noch nicht weit genug, da Bramberger
zwar weg von Einheiten und hin zu Dimensionen geht, aber es immer noch statisch
betrachtet. Folgt man DELEUZE/GUATTARI ist das Rhizom immer in Bewegung,
verändert sich, aber reproduziert sich nicht. Es kommt ohne Hierarchien aus und
definiert sich alleine durch „die Zirkulation der Zustände“ es handelt sich dabei um
ein „Werden aller Art“ (vgl. ebd. 1977:34 f.). Die Betrachtung des Prozesses – das
‚Werden’ – bringt uns m.E. näher an die Erkenntnis des ‚Dazwischen’. Lolita ist nicht
statisch, sie bewegt und verändert sich. Nur ganz kurzfristig ist sie starr und
unbeweglich, gebannt auf Papier oder auf Film, doch das mit ihr verbundene Gefühl
ist individuell und zirkuliert. Auch Aristoteles sah das Ende der Logik, an den Aporien.
Er versuchte Ansätze für eine Lösung der Problematik zu finden, indem er eine
prozessuale Wahrheitsfindung betonte und für Verstandesentscheidungen plädierte,
die sich nach den jeweiligen „Erfordernissen des Augenblicks richteten“ (vgl.
ARISTOTELES 1964: 30). Er erkannte, dass, wenn es um Widersprüche geht, die
Wahrheit weder statisch ist, noch mit richtig/falsch Entscheidungen zu finden ist,
sondern divergiert und nur als Prozess zu fassen ist. Das Wesen des Werdens ist die
Veränderung und nur darin können wir das Phänomen der Kindfrau fassen. Sie ist
weder in Vladimir Nabokovs Roman (1955), noch in den Verfilmungen von Stanley
Kubrick (1962) oder Adrian Lyne (1997) für immer festgeschrieben, sondern
entwickelt sich weiter, ist überall und gleichzeitig nirgends zu finden.
Um mich Lolita anzunähern, dieses ‚Dazwischen’ ausloten zu können, erscheint mir
eine Entdifferenzierung von Virtualität und Realität bzw. eine Diskussion ‚der’
Wahrheit notwendig. MITTERERs (1993) „non-dualistischer Ansatz“, abseits der
realistischen und konstruktivistischen Erkenntnistheorien, den auch SCHMIDT (2002)
zur Erklärung von „Wirklichkeitskonstruktion“ heranzieht, bietet eine dafür geeignete
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Sichtweise.
„Dieser Ansatz zielt darauf ab, ontologische Annahmen durch
systematische Beobachtungsvariation zu ersetzen und er rückt grundsätzlich ab von
Ansätzen, die die Existenz von Wirklichkeit entweder behaupten oder leugnen.“ (ebd.
2002: 17) Einigkeit herrscht in dualistischen Denkpositionen darüber, dass Objekte
grundsätzlich sprachverschieden sind. Um ein Objekt beschreiben zu können, bedarf
es aber sprachlicher Bezeichnungen, die eine vorab konventionell festgelegte,
rudimentäre Beschreibung beinhalten. Bei Meinungsübereinstimmung reicht eine
dualistische
(realistische
oder
konstruktivistische)
Sichtweise
aus,
da
keine
Diskursivität entsteht. Schwierig wird es allerdings bei Widersprüchen und dem
Versuch die divergenten Beschreibungen auf das Objekt zurückzuführen. Durch eine
sprachliche Beschreibung ändert sich das Objekt und kann daher, in logischer
Konsequenz, nicht mehr am vorab beschriebenen Objekt auf Wahrheit überprüft
werden. (Vgl. MITTERER 1993: 126) „Wie unterscheiden wir zwischen Wahrnehmung
und Illusion? Hinsichtlich der Perzeptionen, die wir machen, können wir zwischen
Wahrnehmung und Falschnehmung nicht unterscheiden. Erst wenn wir die bisherige
Perzeption durch eine neue Perzeption abgelöst haben, können wir von der neuen
Perzeption aus die frühere Perzeption als Illusion bestimmen.“ (MITTERER 1999:126)
Wenn wir also Lolita als eine Kindfrau sehen, die „einen erwachsenen Mann ins
Verderben reißt“ (GROTTER 2003:20), wie ein 15jähriges Mädchen in der
Kronenzeitung beschrieben wird, ist es für uns wahr, dass es ein Mädchen gibt, dass
in der Lage ist, einen Mann dazu zu bringen, für sie Straftaten zu begehen. Erst wenn
wir zu einer anderen Auffassung gelangen, ist die neue Auffassung für uns wahr und
wir können erst im Nachhinein die für uns davor gültige ‚Wahrheit’ als falsch
bezeichnen.
„In
einer
nichtdualistischen
Philosophie
des
Wandels
werden
Auffassungen nicht vertreten, weil sie wahr sind. Die Wahrheit ist anspruchslos.
Auffassungen sind wahr, weil und solange wir sie vertreten und sie sind falsch, weil
und solange wir sie nicht vertreten. Die Funktionen von Begriffen wie Wahrheit und
Falschheit beschränkt sich auf die Abgrenzung zwischen Auffassungen, die wir
vertreten und Auffassungen, die wir nicht vertreten.“ (MITTERER 1999:149) Diese
Verwendung des Wahrheitsbegriffs, das gleiche gilt auch für den Realitätsbegriff,
macht es möglich, Lolita von einer anderen Seite zu betrachten. Es gilt nicht die
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Frage, ob es Kindfrauen gibt oder nicht, sondern in welcher Form mit Lolita
umgegangen wird und wie sich dieser Prozess weiterentwickelt.
3. Reale Fantasien
Fantasiebegriff
Sinn
Zukunft
Utopien
Ermächtigung
Fantasie
Bruno BETTELHEIM sieht die wichtigste Aufgabe der Erziehung, darin Kindern zu
helfen, einen Sinn im Leben zu finden (vgl. 1980:9). Seiner Ansicht nach helfen
Märchen dabei, die Fantasie anzuregen um dadurch Verstandeskräfte entwickeln zu
können und Emotionen abzuklären (vgl. ebd. 1980:11) Bei Fantasien geht es nicht
um rationales Erfassen, sondern um ein Vertrautwerden mit dem Unbewussten (vgl.
ebd. 1980:13). Dieser Umgang mit unbewusst wahrgenommenen Inhalten, nicht nur
von Märchen, führt zu bewussten Fantasien und dies gilt sicher auch bei
Erwachsenen. Der Kontakt mit dem Unbewussten und die dadurch entstehenden
bewussten Fantasien, arbeiten Vergangenes auf und helfen bei der Suche nach dem
Lebenssinn. BETTELHEIM nennt dies eine „Erkenntnis des Lebens von Innen her“
(1980:31) Die fantastischen Vorstellungen sind utopisch, d.h. sie haben im Hier und
Jetzt keinen Platz, sie können sehr wohl aber ihren Raum in der Zukunft haben.
Diese Utopie der Zukunft kann dem eigenen Leben den Sinn verleihen, der dazu
ermächtigt der Utopie einen Platz zu verschaffen, sie real werden zu lassen, indem
Lösungsmodelle entwickelt, Ängste verarbeitet und Stärken hervorgehoben werden.
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Diese Einheit aus Fantasie und Realität konstruiert, formt, stärkt, macht Identität.
Fantasien müssen nicht, um eine ermächtigende Komponente zu haben, der eigenen
Kreativität entspringen, sondern sie können – und dies ist häufig der Fall – durch
kulturelle Produkte inspiriert sein. Tania MODLESKY macht darauf aufmerksam, dass
nicht nur die Hochkultur, sondern vor allem auch die Populärkultur eine wichtige
Aufgabe bei der Entwicklung von Fantasien erfüllt (vgl. 1982:26). Die „massproduced fantasies“ ermöglichen, auch ihrer Ansicht nach, Vorstellungen einer
utopischen Welt (vgl. ebd. 1982:30). Bei der Rezeption von populärkulturellen
Produkten entsteht eine komplexe Dynamik zwischen Fantasie und Realität,
RezipientIn und Rezipiertes überschneiden sich (vgl. WALKERDINE 1986:168). Diese
Schnittstelle macht das aus, was als psychische Realität bezeichnet wird (vgl. z.b.
ANG 1985:47, DE LAURETIS 1999:307, WALKERDINE 1986:183). DE LAURETIS
bezieht sich auf Gramsci, wenn sie über den Umgang mit populärkulturellen
Produkten und deren Verarbeitung in der Fantasie sagt, es sei „something deeply felt
and experienced“ (1999:304). Etwas, das gefühlt und erfahren wird, ist ein Teil
Realität. WALKERDINE nennt das, was ich ‚Dazwischen’ nenne, die Schnittstelle, das
Abseits der Dualität von Fakten und Fiktionen, „fantasy space“ (1986: 195). Es ist
die Fantasie, als fundamentale menschliche Aktivität (vgl. DE LAURETIS 1999:306),
die Realität konstituiert und wahr macht, und es ist die Utopie, die die Zukunft
konstruiert und somit als machtvolles Instrument zur Gestaltung der Wirklichkeit
begriffen werden muss.
4. Die Suche nach Lo. Li. Ta.
„Ein weibliches Wesen, das sich in einem Stadium zwischen Kind und Frau befindet
und in diesem Zwischenstadium verhaftet bleibt – solcherart ließe sich der kleinste
gemeinsame Nenner der Kindfrauen-Konstrukte umschreiben. Das ‚Wesen’ der
Kindfrau ist Stagnation, nicht Regression.“ (HOCHHOLDINGER-REITERER 1999:4).
Ist es nicht ein Widerspruch in sich, dass die Kindfrau einerseits auf so verschiedene
Art und Weise zu finden ist und andererseits soll sie Stagnation bedeuten? Ist sie ein
15
Mythos oder ein Klischee? Gibt es sie nur im männlichen Blick, braucht sie das
begehrende männliche Gegenüber, wie es BRAMBERGER beschreibt (vgl. 2000:9
f.)? Obwohl ich als Kind weder Buch noch Film kannte, wuchs ich mit einer
Vorstellung von Lolita auf und wurde selbst als solche bezeichnet. In meiner
Erinnerung bin ich selbst die Kindfrau – sie war und ist ein Teil von mir. Bin ich eine
Ausnahme oder, wenn ich mich an die sie erinnere, gibt es da vielleicht Parallelen in
den Erinnerungen von anderen Frauen? Meine Suche nach Lolita beginnt dort, wo
Andrea BRAMBERGER aufhörte. Im letzten Satz ihrer Arbeit ist zu spüren, dass es da
noch eine, m.E. wichtigste, Komponente der Kindfrau gibt – eine phantastische
Vorstellung, auf die man sich einzulassen wagen sollte. „Der theorieverhaftete Blick
auf die Kindfrau verbleibt ein Blick aus einem ›Fenster‹, von einem ›luftigen‹
Standpunkt aus, ein Blick aus der Sicherheit verlässlicher Strukturen in eine Weite von
Unsicherheiten, aber faszinierenden Möglichkeiten, die zu ›sehen‹, zu ›hören‹, zu
denken jenen offen stehen, die dieser Verführung, die sich mit der Kindfrau
verknüpft, folgen…“ (ebd. 2000: 274f.) Ich verlasse die konventionellen Strukturen,
begebe mich in die unsicheren Gefilde der Erinnerungen und (realen) Fantasien.
4.1 Als künstlerisches Konstrukt?
Da sich die Kindfrau sowohl in der Literatur, im Film, Fernsehen, Werbung,
Malerei… finden lässt, scheint mir der Begriff ‚künstlerisches Konstrukt’ am besten
geeignet um die Vielfältigkeit ihrer Materialisierungen in kulturellen Produkten
darstellen
zu
können.
Intensiv
HOCHHOLDINGER-REITERER
mit
(1999)
der
und
Kindfrau
Andrea
haben
sich
BRAMBERGER
Beate
(2000)
beschäftigt, beide kamen zu dem Schluss, dass Lolita ein literarisches Konstrukt –
und nur das – ist, dass angefangen von den griechischen Mythen über den Roman
von Nabokov und dessen Verfilmungen, bis hin zur systematischen Vermarktung des
Kindfrauen-Images in der Werbung reicht. „Neben der Vielzahl an Übersetzungen
des Romans trug selbstverständlich auch das Massenmedium Film zu einer
Popularisierung des Begriffs ‚Lolita’ Bei. Mit dem einen Namen, so scheint es, geht
16
aber auch eine endgültige Aufweichung der Inhalte einher. Symptomatisch ist die
Verwendung des Wortes für nun schon beinahe alle Lebensbereiche. Es gibt ‚die
Lolita’, nur sieht sie immer anders aus, es gibt den Lolita-Komplex, auch einen
neuen, wie jüngst zu lesen war, es gibt natürlich auch Lolita-Pornos, Lolita-Mode,
Lolita-Modells, Lolita-Möbel und…“ (HOCHHOLDINGER-REITERER 1999:157)
Ohne Zweifel finden wir immer wieder die künstlerische Form der Kindfrau, doch
warum ist sie ungebrochen im Diskurs? Warum werden junge Frauen oder Mädchen
so bezeichnet? In der Kronenzeitung (GROTTER 2003) wird sofort auf Lolita
verwiesen, wenn es um eine Beziehung zwischen einem älteren Mann und einem
Mädchen geht. Am Buchumschlag von „sagt Lila“ (CHIMO 1997), wird die
Protagonistin des Romans als „Lolita der Vorstadt“ bezeichnet, obwohl es in dieser
Geschichte nicht um einen älteren Mann und eine Zwölfjährige, sondern um die
Fantasien eines Jugendlichen und ein sechzehnjähriges Mädchen geht.
„Es scheint, dass sich die heutige Modernität der Kindfrau nur über ihre Beziehung
zur Literatur und zu den darstellenden Künsten erklären lässt. Von diesen Künsten
ausgehend, eroberte sie – populär geworden – vielfältigste Bereiche. Besondere
Bedeutung kommt dabei dem Film als dem Medium zu, das die Kindfrau offenbar so
wunderbar zu konservieren versteht.“ (HOCHHOLDINGER-REITERER 1999:6)
Unbeachtet bleibt hierbei aber der kulturelle Kreislauf, die Interaktion zwischen Text
und RezipientIn. Es geht gerade nicht um die Konservierung einer Bedeutung,
sondern um den Umgang damit. Die Zirkulation eines Produktes findet in der
diskursiven Form statt. Der Diskurs muss übersetzt, in gesellschaftliche Praktiken
umgewandelt werden. Wenn es keine Bedeutung gibt, kann es keine Aufnahme
geben. Wenn sich die Bedeutung nicht in der Praxis artikuliert, zeigt sie keine
Wirkung. (vgl. HALL 1999:93) Gäbe es nur die literarische Vorlage ohne
Übersetzung in die kulturelle Praxis, hätte Lolita keine Bedeutung. Erst durch die
Verarbeitung der RezipientInnen gelangt sie in den Diskurs, sie wird aufgenommen,
verändert, zurückgespiegelt, taucht verschiedenartigst wieder auf – sie zirkuliert und
erst diese Bewegung macht ihre Bedeutung aus.
17
BRETON nimmt Melusine, eine Meerfrau der altfranzösischen Sage, als Beispiel einer
Kindfrau in der Literatur. Auch er sieht die Interaktion zwischen literarischem
Konstrukt und dessen RezipientInnen. „Die Poesie und die Kunst werden stets eine
Schwäche für alles haben, was den Menschen in die Verklärung dieser verzweifelten,
unbeugsamen Forderung emporhebt, die er gelegentlich an das Leben stellt, so
lächerlich die Aussicht auf ihre Erfüllung auch sein mag.“ (ebd. 1993:19) Kulturelle
Produkte werden in der Fantasie umgesetzt, sie sind der Ort an dem Hoffnungen,
Utopien und Vorstellungen sich vereinen und bieten die Basis für die Gestaltung der
eigenen Identität und der Lebenswelt. Die Kunst ist nach BRETON nur ein
Wegbereiter der Kindfrau für das „Eindringen in die gesamte Sphäre des
Wahrnehmbaren“ (1993:64).
4.2 Im männlichen Blick?
BRAMBERGER hebt in ihrer Arbeit klar hervor, dass die Kindfrau um überhaupt
existieren zu können, „die Wahrnehmung eines begehrenden Gegenübers“ (2000:9)
braucht. Sie spiegelt sich im männlichen Blick, „als personifizierte Männerfantasie“
(2000:93) und nur durch sein Begehren ist sie da. Eine Bestätigung dafür erhält man
durch die Eingabe ‚Lolita’ in die Suchmaschine „Google“ (http://www.google.at):
ungefähr 9,440,000 Treffer in 0.29 Sekunden. Der Großteil der Seiten beinhaltet
pornographische Darstellungen in allen erdenklichen Variationen, vereinzelt findet
sich dazwischen eine Film- oder Buchrezension, doch der Großteil der Seiten wendet
sich an erwachsene Männer mit einer sexuellen Vorliebe für kindliche oder zumindest
sehr jung anmutende Frauen.
In seinen Erinnerungen beschreibt Fritz WITTELS das 17jährige, aus dem Proletariat
der Vororte stammende, Mädchen Irma als ein Werk von Kraus, „eine leere Schale,
gefüllt mit Sätzen aus der Fackel“ (1996:78).
Er bezeichnet sie auch als
„dionysisches Mädchen, das mehrere tausend Jahre zu spät geboren war“ (ebd.
1996:77). Dionysos war in der griechischen Mythologie der Gott des Weins und der
18
Fruchtbarkeit, dessen „orgiastischer Kult […] die Frauen geradezu verrückt gemacht“
hatte (FINK 1994:92). Die männlichen Fantasien machten das Mädchen zu dem,
was es in ihren Augen dann auch war – ein „Kindweib […] von äußerst sexueller
Anziehungskraft, die so früh zu Tage trat, dass sie sich gedrängt sah, ihr Sexualleben
zu beginnen, während sie in jeder anderen Hinsicht noch ein Kind war. Ihr ganzes
Leben lang bleibt sie, was sie ist: Unersättlich und unfähig, die zivilisierte Welt der
Erwachsenen zu verstehen. Und auch die Welt versteht sie nicht.“
(WITTELS
1996:79 f.) Die Kindfrau ist aus diesem männlichen Blickwinkel wohl auch nicht zu
verstehen, da es sich um reine Projektionen männlicher Begierden auf ein Mädchen
handelt. Verhielt sie sich so, wie es den Vorstellungen entsprach, wurde sie als leere
Hülle bezeichnet, tat sie das nicht, warf man ihr vor, die Welt nicht zu verstehen.
WITTELS sagt dazu selbst: „Wir waren nicht tolerant genug, die Frauen in Ruhe zu
lassen: sie mussten alle so sein und sich so verhalten, wie wir es diktierten.“
(1996:83)
Ja, die Kindfrau ist mit Sicherheit ein Objekt männlicher Begierde, ein fantastisches
Konstrukt der Männer, doch ist sie das ausschließlich, oder gibt es noch andere
Möglichkeiten ihrer Existenz? „Bei einem psychoanalytischen Verständnis der
Phantasien wird davon ausgegangen, dass das Subjekt an einem Szenarium teilhat
und es wiedererstehen lässt, und sich dabei mit verschiedenen Positionen
identifizieren kann. Hier wird keine direkte Verbindung zwischen ‚männlichen’ bzw.
‚weiblichen’ Positionen und der Geschlechtsidentität der Personen, die diese
Positionen einnehmen, unterstellt. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass das
Unbewusste zwar den Geschlechtsunterschied strukturiert, aber selbst nicht
geschlechtlich strukturiert ist.“ (HIPFL, 1997, S.151) Meine eigenen Gefühle,
Vorstellungen und Fantasien über Lolita, die mich seit Jahren diffus begleiten, sind
Grund genug, mich nicht damit abzufinden, dass Lolita nur ein Produkt männlichen
Begehrens ist, sondern als (möglicherweise auch machtvolle) Fantasie ebenfalls bei
Frauen zu finden ist.
19
4.3 Ein Klischee?
Kindliche Frauen und frauliche Kinder, mit langen Haaren – vorzugsweise Löckchen
oder Zöpfe, großen Kulleraugen, Schmollmund, kleine feste Brüste, keine oder
zumindest nur als Flaum erkennbare Körperbehaarung, jungfräuliches Gehabe und
sexuelle Neugier, das sind die Attribute einer Kindfrau – das Lolita-Klischee. „Heute
ist die Kindfrau nur mehr eine Frage der Figur. Alles läuft darauf hinaus, die einzige,
die richtige, die beste körperliche und altersgereichte Repräsentantin der Lolita zu
finden.“ (HOCHHOLDINGER-REITERER 1999:157) Ob am Laufsteg, im Kino, in
Pornos oder auf Werbeplakaten, mit der ‚richtigen’ Lolita kann alles verkauft werden.
„In der Zeit des Letternsatzes verstand man unter Klischee ein Wort oder eine Phrase,
die die Drucker als Ganzes gesetzt ließen – daher die Bedeutung des französischen
Wortes cliché -, weil sie wussten, dass solche Wörter oder Phrasen sehr häufig
benutzt werden. Es ist folglich nicht angemessen, Klischees als Zeichen eines faulen
Denkens oder eines Fehlens von sprachlicher Kreativität abzuqualifizieren. Eher sollte
man fragen, warum diese Worte oder Phrasen so häufig von bestimmten ‚Leuten’ zu
bestimmten Zeitpunkten verwendet werden. Was haben sie an sich, das sie so
populär macht? Klischees verkörpern den Common Sense, die Alltags- Artikulationen
der dominanten Ideologie.“ (FISKE 1997:77) Der Mädchenname Lolita beinhaltet so
viele Konnotationen, wir hören oder lesen nur den Namen und schon haben wir ein
exaktes Bild vor unserem inneren Auge, wir sind uns darüber großteils einig, wie die
Kindfrau auszusehen hat, und was wir von ihr zu erwarten haben, wir wissen wofür
Lolita steht und haben teil am Common Sense. Wenn in der Talkshow „Vera“ (vom
22.08.2003, 12 – 13.00 Uhr auf Sat 1) ein Mädchen von der Mutter verstoßen wird,
weil sie als Vierzehnjährige den Stiefvater ‚verführt’ hat, ist dem Großteil des
Publikums klar, dass sie eine Lolita ist und der arme Mann ihr schutzlos ausgeliefert
war. Auch Andeutungen der Moderatorin, dass es sich hierbei auch um
Kindesmissbrauch handeln könnte, ändern nicht viel an dieser Einstellung. Die
dominante Ideologie spricht den Mann frei und hält fest an den internalisierten
Vorstellungen, Fantasien, von der Macht der Kindfrau. Die Sendung endet damit,
20
dass der Stiefvater in Erwägung zieht, der mittlerweile Neunzehnjährigen zu
verzeihen, die Mutter will weiterhin nichts mehr mit ihr zu tun haben.
4.4 Ein Mythos?
Der Mythos ist dem Klischee nicht ganz unähnlich. „Im Mythos […] kann der Begriff
sich durch eine große Ausdehnung von Bedeutendem ausbreiten. Zum Beispiel kann
ein ganzes Buch das Bedeutende für einen einzigen Begriff abgeben, und umgekehrt
kann eine winzige Form (ein Wort, eine Geste, selbst eine beiläufige, vorausgesetzt,
dass sie bemerkt wird) als Bedeutendes für einen mit einer reichen Geschichte
angefüllten Begriff dienen.“ (BARTHES 2003:100) Für Roland BARTHES, in seiner
semiologischen Auseinandersetzung, ist der Mythos eine Aussage (vgl. 2003:85). Er
ist kein „Objekt, kein Begriff oder eine Idee“ sondern „eine Weise des Bedeutens,
eine Form“ (ebd. 2003:85). „Diese Aussage ist eine Botschaft. Sie kann deshalb sehr
wohl auch anders als mündlich sein, sie kann aus Geschriebenem oder aus
Darstellungen bestehen. Der geschriebene Diskurs, der Sport, aber auch die
Photographie, der Film, die Reportage, Schauspiel und Reklame, all das kann Träger
der mythischen Aussage sein.“ (BARTHES 2003:86) Theresa DE LAURETIS nennt
dominante kulturelle Erzählungen, wie z.b. Homer oder die Bibel, „public fantasies“
(vgl. 1999:307). Diese Mythen überdauern, in sich ändernder Form, auch
Jahrhunderte und sind in verschiedensten Kulturprodukten wieder zu finden. Die
RezipientInnen dieser Mythen sehen zwar dasselbe, aber sie produzieren dazu
verschiedene Fantasien (vgl. ebd. 1999:327). Kindfrauen tauchen in Geschichten
und Überlieferungen als Sirenen, Meerjungfrauen und Nymphen auf, oder als Image
bei Björk, Brittney Spears und Kate Bush. Kulturelle Produkte können als Spiegel der
jeweiligen Zeit gesehen werden, waren es früher Erzählungen, sind es heute Filme
und Magazine die sich mit dem Kindfrauen beschäftigen. Lolita geht über die Zeit
hinweg und findet immer wieder einen Weg über populäre Kulturprodukte, kollektive
und private Fantasien miteinander zu verbinden (vgl. DE LAURETIS 1999:304).
21
Semiologisch betrachtet ist der Mythos „insofern ein besonderes System, als er auf
einer semilogischen Kette aufbaut, die bereits vor ihm existiert; er ist ein sekundäres
semiologisches System“ (BARTHES 2003:92)
1. Bedeutendes
Sprache
MYTHOS
2. Bedeutetes
3. Zeichen
I. BEDEUTENDES
II. BEDEUTETES
III. ZEICHEN
(Quelle: BARTHES 2003:93)
Der Mythos ist eine Metasprache, „weil er eine zweite Sprache darstellt, in der man
von der ersten spricht“ (ebd. 2003:93). Das Zeichen im Sprachsystem, als assoziative
Gesamtheit von Bedeutendem und Bedeutetem, ist gleichzeitig der Ausgangspunkt,
das Bedeutende, des Mythos (vgl. ebd. 2003:95 f.). BARTHES sagt in diesem
Zusammenhang, „dass die Bedeutung des Mythos durch ein unaufhörliches Kreisen
gebildet wird, bei dem der Sinn des Bedeutenden und seine Form, eine
Objektsprache und eine Metasprache, ein rein bedeutendes Bewusstsein und ein rein
bilderschaffendes miteinander abwechseln; dieses Alternieren wird gewissermaßen
durch den Begriff zusammengehalten, der sich seiner wie eines doppeldeutigen
Bedeutenden bedient, das zugleich verstandesmäßig und imaginär ist, willkürlich und
natürlich“ (2003:104). Diese Gleichzeitigkeit von Bewusstem und Unbewussten wird
für die, die sich auf den Mythos einlassen und von der dualisierenden Redeweise
Abstand nehmen (vgl. MITTERER 1993 und 1999), wie schon weiter oben
beschrieben, zur realen Fantasie – zur psychischen Realität. Ein Mythos, wie es auch
die Kindfrau ist, kann nicht mit den logischen Kriterien von wahr/falsch beurteilt
werden, sondern nur nach seiner Verwendung. „Die Menschen stehen zum Mythos
nicht in einer Beziehung der Wahrheit, sondern des Gebrauchs.“ (BARTHES
2003:133)
22
4.5 In meiner Erinnerung?
Es waren vor allem Frauen, meine Mutter, deren Freundinnen und meine Schwester,
die mich im Alter von zwölf als Lolita bezeichneten. In ihren Augen, dem weiblichen
(!) Blick, war ich eine Kindfrau, ohne dass sexuelles Begehren dahinter gestanden
hätte. Eine Bewunderung stand in ihrem Blick und sie machte mich stark. Lolita zu
sein, machte mich zu etwas besonderem und das vermittelte mir ein Gefühl der
Macht. Ich kannte weder den Roman „Lolita“, noch hatte ich den Film gesehen.
Meine Vorstellung war eine Fantasie – erst die der Frauen, die mich „Kindfrau“
nannten, dann, im Laufe der Zeit, meine eigene. Mit der Methode der
Erinnerungsarbeit kann „das Spannungsfeld zwischen Film und ZuschauerInnen zum
Untersuchungsgegenstand
werden
[…],
das
sich
als
Adressierung
und
Konkretisierung, Bedeutungskonstruktionen oder Fantasieerfahrungen beschreiben
lässt. […] Die Zuschauerinnen sind die Protagonistinnen, die in diesen Szenarien
aktiv werden und sie mit Material aus ihren Alltagserfahrungen füllen. Mit den Texten
aus der Erinnerungsarbeit wird es gleichzeitig möglich, der Frage nachzugehen,
welche Rolle den Fantasien und damit der ‚psychischen Realität’ für die
Subjektkonstruktion der Zuschauerinnen zukommt. “ (HIPFL 1995:171) In meinem
Fall füllte das Material aus dem Film und den Buch „Lolita“ meine Lebenswelt. Die
Frauen, die sich mit der medialen Aufbereitung der Kindfrau beschäftigt hatten,
füllten das gesehene und gelesene mit ihren Alltagserfahrungen auf und nahmen die
so entstandenen Bedeutungen mit. Die Fantasien, die sie dabei hatten, übertrugen
sie auf mich, ich nahm sie an und füllte sie mit eigenen Erfahrungen an, sie wurden
teil meiner Welt und so zu realen Fantasien – zur psychischen Realität. Obwohl ich
keine Rezipientin des Lolita-Stoffes war, hatten die daraus entstandenen Fantasien –
sowohl die der Frauen, die sie weitergaben, wie auch meine eigenen – eine wichtige
Rolle für meine Subjektkonstruktion, die Kindfrauenfantasie wurde Bestandteil meiner
Identität.
In meiner Fantasie war Lolita ein mächtiges Wesen, was immer sie begehrte, konnte
sie bekommen. Die kindlich-unschuldige Seite sprach sie frei von Verantwortung –
was immer sie tat, sie trug nicht die Schuld daran. Es war nicht ein begehrender Blick
23
anderer, der ihr die Macht verschaffte, sondern die Stärke des eigenen Begehrens
ohne belastende Schuld. Die, der Kindfrau zugesprochene Wirkung auf Männer,
beflügelte meine sexuellen Fantasien. Meine Stärke lag im Gedanken an die Macht,
jeden Mann begehren zu können, ohne dass er sich wehren könnte. Diese
Wehrlosigkeit der Männer gab mir ein Allmachtsgefühl. Ich müsste nur mit dem
Finger schnippen und meine Wünsche würden erfüllt werden.
Gerade die
patriarchalen Ideologien von Männern als mächtige Täter und Frauen in der
ohnmächtigen Opferrolle trugen zu meinen Ermächtigungsfantasien bei. Dadurch,
dass ich begehrte und die Fantasie hatte, meine Wünsche jederzeit umsetzen zu
können, wurde ich zur mächtigen Täterin und die Männer wurden in die
ohnmächtige Rolle eines Objekts meiner Begierde versetzt. Durch die herrschenden
dominanten Diskurse über kindliche Unschuld und ohnmächtige Frauen, konnte ich
nicht zur Verantwortung gezogen werden, da in diesem Konstrukt, die Schuld ohne
Zweifel den Männern zugeschrieben werden würde. Sexuelles Begehren hatte immer
den Beigeschmack der Schuld, doch meine Fantasien verlangten nach keiner Sühne,
die patriarchalen Strukturen stärkten meine subversive Macht.
4.6 Eine (reale) Frauenfantasie?
Nachdem die Lolita-Fantasie eine bedeutende Rolle bei der Konstituierung meiner
Identität hatte, frage ich mich ob diese, wie weiter oben schon dargelegte, „public
fantasy“ auch eine Rolle in der Geschichte anderer Frauen hat. Um die ganz privaten
Fantasien von Frauen, die „psychische Realität“ im Zusammenhang mit der Kindfrau,
empirisch fassbar zu machen, erscheint mir die von Frigga HAUG entwickelte
Methode der Erinnerungsarbeit ein geeignetes Instrument zu sein. „Erinnerungsarbeit
liegt u.a. die Annahme zugrunde, dass die Persönlichkeit ein Gedächtnis hat. Damit
meine ich, dass die einzelnen Menschen im Laufe ihrer Geschichte ihre
Persönlichkeiten so bauen, dass eine Art stimmiger Identität für sie entsteht. Dafür
wählen sie aus der Fülle des Erlebten einzelnes aus, bewerten es als bedeutungsvoll,
verdrängen und vergessen anderes. Dieser Vorgang geschieht nicht so freiwillig und
24
beliebig, wie das hier klingt. In den vorhandenen Strukturen gibt es Nahelegungen,
Hindernisse, Unmöglichkeiten, die diese Selektion begünstigen.“ (HAUG 1990:42)
Per E-Mail bat ich einige Kolleginnen mir eine kurze Geschichte, Fantasie,
Vorstellung oder Begegnung von/mit Lolita in der 3. Person anonym unter
Verwendung eines Pseudonyms zu schreiben. Als Anregung oder Einstieg in das
Thema gab ich den Absatz aus Nabokovs Buch, den ich auch anstatt eines Vorwortes
zu dieser Arbeit verwendet habe, mit, zumal diese paar Zeilen mir selbst beim Lesen
‚ein leichtes Kribbeln’ machten. „Für das Schreiben […] genügen einige wenige
Hinweise, die am besten theoretisch begründet werden, wie überhaupt der gesamte
Prozess einfach und überprüfbar gehalten werden sollte, damit er von allen getragen
werden kann, die Einzelnen handlungsfähiger macht und es vermeidet, ein
Arrangement entstehen zu lassen, in dem allwissende Experten einer unwissenden
Gemeinde Anweisungen erteilen.“ (HAUG 1999:202) Um meine Kolleginnen nicht
im Dunkeln zu lassen, was ich mit diesen Geschichten vorhatte, schrieb ich: „Unter
dem Arbeitstitel: Schuld ohne Sühne; Lo. Li. Ta. Eine Frauenfantasie? entsteht eine
Arbeit, mit der ich, entgegen der üblichen Mainstream-Ansicht, die Kindfrau nicht als
literarisches Konstrukt oder Spiegelung im männlichen Blick, sondern als psychische
Realität in Frauenfantasien suchen möchte.“ Weder wie lange der Text sein sollte,
noch sonstige Anweisungen oder Ratschläge gab ich mit. Ganz bewusst wollte ich
nicht den Film oder andere Repräsentationen der Kindfrau als Ausgangspunkte für
die Erinnerungsarbeiten vorgeben, da es mir mehr um das Aufspüren der kollektiven
Fantasie, dem Mythos, dem Klischee von der Kindfrau in den privaten Fantasien von
Frauen ging und nicht um den Umgang mit einem speziellen Medienprodukt. Zwei
Kolleginnen waren sofort bereit, mir solche Szenen zu schreiben, die anderen lehnten
dies mit der Begründung ab, zu diesem Thema nichts Wesentliches zu sagen zu
haben oder auch nichts öffentlich sagen zu wollen. „Schreiben ist eine
Grenzüberschreitung in viele Bereiche. aus der Privatheit bloß individueller
Erfahrungen scheren wir aus und machen öffentlich, was uns geschieht. aus der
bescheidenen Unwesentlichkeit treten wir in einen Raum, in dem wir uns selber ernst
nehmen. Statt den Alltag bewusstlos hinzunehmen, holen wir ihn noch einmal hervor,
um die Punkte zu finden, an denen wir uns wehren können.“ (HAUG 1990:49) An
25
dieser Stelle danke ich den beiden Frauen die den Schritt über die Grenzen gewagt
haben und mir ihre privaten Fantasien in schriftlicher Form zur Verfügung gestellt
haben. Die von HAUG geforderte Bearbeitung der Erinnerungsgeschichten im
Kollektiv (vgl. 1990:45) wurde in dieser Arbeit nur ansatzweise eingehalten.
Nachdem ich die Geschichten erhalten hatte, trafen wir uns und sprachen darüber in
einem eher zufälligen Rahmen. Da die mündlichen Stellungnahmen der Frauen im
Gegensatz zu ihren Geschichten standen, möchte ich diesem Phänomen besondere
Aufmerksamkeit schenken und Erklärungsversuche dazu anstellen.
5. Lo. Das Gefühl
„In unserer Kultur sind es insbesondere die Medien, die uns eine Vielzahl an
Phantasieszenarien zur Verfügung stellen. Die Geschichten, die uns dort angeboten
werden, sind nach Laplanche & Pontalis unendliche Variationen, in denen mit
Material aus dem Alltagsleben die thematisch begrenzten Primärphantasien
durchgearbeitet werden. Es sind immer wieder dieselben Geschichten, die zirkulieren
– Geschichten über Identität, die Beziehung zu anderen, das Verhältnis zu Regeln
und Gesetz, deren Inszenierung es möglich macht, dass wir mit unseren Wünschen
darin Platz finden.“ (HIPFL, 1997, S.149) Auch WALKERDINE beschreibt, wie ein
Film sie, durch die darin verwobenen Gefühle, auf der Ebene der Fantasie ansprach;
Identifikationen sind für sie in der Fantasie verankerte Fiktionen (vgl. 1986:169 f.).
Bei der Auswertung der beiden Erinnerungsarbeiten unterteilte ich in der Tabelle die
Spalte „Das Gefühl“ in „Begehren“, „Macht“ und „public fantasies“, da mir diese
drei Kategorien als bezeichnend für die mit Lolita verbunden Gefühle scheinen.
Diese Trennung dient ausschließlich der Analyse, die einzelnen Bereiche gehen
ineinander über und bedingen sich gegenseitig.
26
5.1 Begehren
BRAMBERGER besteht in ihrer Arbeit darauf, dass die Kindfrau selbst nicht begehrt
und alle Gefühle in bezug auf Lolita nicht ohne die männliche Perspektive möglich
sind. „Welche Gefühle man der Kindfrau auch entgegenbringen mag: All die
Variationen ihrer Existenz bedürfen der Wahrnehmung eines begehrenden
Gegenübers, das sie erschafft und beschreibt. Sie erweist sich denn auch als ein
Phantasma, als eine Figur männlichen Begehrens, die dahingehend angelegt ist,
diesem Begehren unermüdlich zu entweichen, es aber gerade durch diese
Subversion
zu
schüren.“
(BRAMBERGER
2000:
9f.)
Die
Analyse
der
Erinnerungsarbeiten der beiden Frauen zeigt etwas anderes: die Lolita-Fantasie
macht die Männer zu Figuren weiblichen Begehrens. Die Subversion bezieht sich
mehr auf eine Umverteilung der Macht, als um eine Abwehr des männlichen
Begehrens. Die Identifikation mit Lolita findet bei beiden Frauen statt, doch nicht als
Objekt der Begierde sondern als starkes, begehrendes Subjekt. Es ist der bewusste
Umgang mit der eigenen Wirkung auf die Männer, die spielerisch eingesetzt wird um
die Vorgänge zu steuern, den Ablauf genau bestimmen zu können. Die Lust des
Mannes ist nicht da um abgewehrt zu werden, sondern um die Frau zu stärken und
zu beflügeln, als Spiegel der eigenen Attraktivität.
BRAMBERGER nimmt in ihrer Arbeit Kate Bush als Beispiel für die Herstellung einer
„Korrespondenz zwischen einem vermeintlichen Wissen um männliches Begehren
nach der Kindfrau und naivster Demonstration von Kindweiblichkeit“ (2000:127).
Bush schrieb „The man with the child in his eyes“ im Alter von vierzehn. Wäre
Bramberger nicht nur auf die Inszenierung des Videos sondern auch auf den Text des
Liedes (siehe Anhang) eingegangen, hätte sie den darin enthaltenen Ausdruck
weiblichen Begehrens feststellen können. Es geht im Text des Liedes um ein
Mädchen, das einen Mann liebt, sich aber nicht sicher ist, ob sie von ihm geliebt
wird. Sie begehrt ihn und sieht sich in seinen Augen gespiegelt; sie findet sich selbst,
indem sie ihn begehrt – und nicht umgekehrt, wie es Bramberger darzustellen
versucht. Die weibliche Lolita-Fantasie ist nicht eine Inszenierung um auf das andere
Geschlecht einzugehen, sondern eine Möglichkeit, den eigenen Wünschen und
27
Begierden einen Platz zu verschaffen. Es ist, wie es DE LAURETIS mit Gramscis
Worten ausdrückt: „something deeply felt and experienced“ (1999:303) oder wie es
in Geschichte II beschrieben wird: „den Rausch der Sinne bis aufs letzte genießen“.
Der Autorin dieser Lolita-Fantasie war es wichtig mir im Gespräch klarzumachen,
dass sie keine „Schlampe“ sei und ich ihre Geschichte nicht falsch verstehen solle.
Der dominante Diskurs spricht vom begehrenden Mann und der Frau, die seinem
Blicken ausgesetzt ist. Die den Frauen zugesprochene Tugendhaftigkeit passt nicht
zum starken sexuellen Begehren in der Fantasie. Auch der Kindheitsdiskurs, der
Kindern Sexualität abspricht, steht im Gegensatz zu dieser Erinnerungsarbeit.
Anonym über weibliches Begehren zu schreiben fällt offenbar leichter, als öffentlich
und laut dieses Begehren zu äußern um damit gegen die Zuschreibungen der
Geschlechterrollen anzugehen.
5.2 Macht
Die Lolita-Fantasie zeichnet sich durch ein Gefühl der Macht aus. In der
Erinnerungsarbeit I ist bei der Beschreibung des Films von Adrian Lyne von einer
„übermächtigen Faszination“ die Rede, der zwei Menschen ausgesetzt sind. Also eine
Faszination der sie sich nicht entziehen können und die sie, ohne eigenes Zutun zum
Handeln bewegt. Männer, den weiblichen Reizen ausgeliefert, werden für weibliche
Zwecke benutzt. Das männliche Begehren selbst wird zum Werkzeug seiner
Unterwerfung, seine Lust wird zur Qual und Lolita spielt mit diesem Wissen. Die
ursprüngliche Ohnmacht des Mädchens wird im Lauf der eigenen Geschichte zur
Macht der Frau. Die Wut über die erlebte Macht des Mannes wird zur Stärke, die
Fantasie ermächtigt die Frau, sie dreht den Spieß um – sie benützt, anstatt benützt zu
werden. Das Erlebte, das Wissen der Kindfrau, wird zum mächtigen Instrument der
Frau. Sie bestimmt wann etwas geschieht und wie dies zu geschehen hat. Die
Erinnerung an das beherrscht werden ermächtigt dazu, die Ohnmacht gegen Macht
zu tauschen, vom passiven Opfer zur aktiven Täterin zu werden. Die Fantasien führen
zu einem Gefühl der Stärke, das dem Individuum reale Macht verleiht. Aus den
28
Wünschen in der Fantasie wird ein Wollen, das in ein Tun umgesetzt werden kann.
Der Einsatz dieser Macht in Lolita-Fantasie I wird als „Spiel“ bezeichnet, ein lustvoller
Umgang ohne den Beigeschmack von Schuld und Unrecht. Im Gespräch über die
Geschichte kamen Rechtfertigungen auf, ich solle sie jetzt nicht für einen schlechten
Menschen halten, der Macht einfach so einsetzen würde. Der Einsatz von Macht wird
bei der Geschlechterkonstruktion den Männern als positiv, den Frauen hingegen als
negative Eigenschaft zugeschrieben. „Ein durchgehender „Doppelstandard“ sorgt
dafür, dass jeder Geste, jeder Verhaltensweise je nach Geschlecht der Person, die sie
vollzieht, unterschiedliche Bedeutungen unterlegt werden, so dass selbst identische
Verhaltensweisen letztlich unterschiedlich bewertet werden.“ (MÜHLEN-ACHS
1993:54) Diese internalisierten Verhaltensweisen führen auch dazu, dass der Einsatz
von Macht in der anonym und alleine geschriebenen Geschichte positiv, im
Gespräch darüber jedoch eher negativ bewertet wird. Die Kraft, die aus der Fantasie
geschöpft werden könnte, scheitert zum Teil an der Anpassung an die dominanten
patriarchalen Strukturen.
5.3 Reflexivität von „public fantasies“
Kulturelle Produkte, Mythen, Klischees sind alle Teile von kollektiven Fantasien. Wir
projizieren private Fantasien in die kollektiven, genauso wie sich Effekte der „public
fantasies“ in der Subjektivität niederschlagen (vgl. DE LAURETIS 1999:320). Antony
GIDDENS spricht über eine grundlegende Reflexivität des Lebens in der modernen
Gesellschaft: soziale Praktiken werden ständig im Hinblick auf einlaufende
Informationen über ebendiese Praktiken überprüft und verbessert, wodurch sich ihr
Charakter grundlegend ändert (vgl. 1995: 54). Für die Kindfrau bedeutet dies, dass
auch sie dieser Reflexivität ausgesetzt ist und immer wieder überprüft und verändert
wird. Wir erhalten Informationen über Lolita aus den Medien, verbessern dieses
Wissen in unserer Fantasie, so dass es für unser Leben brauchbar wird, also in
soziale Praktiken umgesetzt werden kann. Durch diese Umsetzung dringt die nun
veränderte Kindfrau in die kollektive Vorstellung ein und wird wiederum via Medien
29
als kulturelles Produkt, im Film, Fernsehsendung, Zeitungsbericht uvm., in
veränderter Form zurückgespiegelt – was wiederum zu neuen Reflexionen und
Fantasien führt. Der Diskurs über die Kindfrau ist deshalb schwer zu festzumachen,
da der Diskurs selbst, den Diskurs verändert.
In den beiden Erinnerungsarbeiten finden sich Bruchstücke der „public fantasies“
über die Kindfrau. In der Lolita-Fantasie I wird auf die Verfilmung von Adrian Lyne
eingegangen, wobei diese Darstellung als „pervertiert und verdreht“ bezeichnet wird.
Auch das dargestellte „Frauen- bzw. Mädchenbild“ passt nicht zu den Vorstellungen
der Autorin. Sie bezieht sich zwar auf die mediale Aufbereitung der Thematik, nimmt
jedoch in ihrer Fantasie davon abstand – sie entwickelt eine andere Vorstellung, die
für ihr Leben mehr Bedeutung hat. Von einem Kollegen wurde sie als „Lolita-Typ“
bezeichnet, lange bevor sie den Film gesehen hatte, diese auf sie projizierte Fantasie
deutete und veränderte sie so, dass sie sich damit identifizieren konnte, bzw. die
Identifizierung als Lolita durch andere, für sie in Ordnung war. Die Fantasie, die sie
dazu entwickelte, deckte sich nicht mit der Darstellung im Film, daher lehnt sie diese
auch ab und ändert sie. In der Geschichte II ist kein Hinweis auf den Roman oder
eine Verfilmung zu finden, aber das Lolita-Klischee wird klar herausgearbeitet: ein
kurzes Kleidchen, kindliche sonnengebräunte Beine, rhythmischer Hüftschwung und
gleichzeitige Unbeholfenheit. Das alles sind die Attribute, die in der kollektiven
Fantasie, dem Lolita-Mythos, zu finden sind; die Autorin greift sie auf und verarbeitet
sie in ihrer ganz privaten Fantasie weiter, so dass ihre Wünsche und Vorstellungen
darin einen Platz haben.
6. Li. Die Verführung
„Lolita vereint die Position des männlichen Opfers und der kindlich-weiblichen
Verführung mit der Position des kindlichen Opfers und des männlichen
Vergewaltigers.
Innerhalb
des
Textes
dient
die
gleichzeitige
Existenz
der
unterschiedlichen Positionen einer subtilen Darstellung der Ambivalenz dieser
30
Thematik, welche die Kindfrau schafft.“ (BRAMBERGER 2000: 24) Folgt man dem
Mainstream hat Verführung immer etwas von Täterschaft und verführt werden mit
Opferpositionen zu tun. Die Werbung lockt zwar mit dem „verführerischen Aroma“
des Kaffees oder dem „verführenden Duft“ irgendeines Parfümerieproduktes, doch
sobald es nicht mehr um den Konsum und Genuss von Waren geht, sondern um
soziale Interaktionen, wird der Diskurs um die Verführung von moralischen
Wertvorstellungen geprägt. Christliche Konnotationen sind immer noch die
Grundlage für unsere ethischen Wertungen, die in logischen gut/böse, richtig/falsch
Kategorien konzipiert sind. Kindliche Sexualität wird in ähnlicher Weise diskutiert und
mit Lolita finden wir uns schnell mitten im Pädophilie-Diskurs wieder.
6.1 Moral, Ethik und Logik
Der Begriff Ethik stammt aus der griechischen Philosophie (ethos = Weideplatz), es
geht dabei um die Lehre vom menschlichen Handeln, um Sitten und Gebräuche. Der
Ausdruck Moral kommt aus dem Latein und beschäftigt sich mit eingelebten
Bräuchen und Sitten der gesellschaftlichen Praxis, von der Tischsitte bis zum
Tötungsverbot.
Soziale
Normen,
deren
Gebote
und
Verbote
werden
im
Sozialisierungsprozess erlernt. Werte sind nicht festgeschrieben, es sind Wegweiser
ohne Anleitung, Vorstellungen von Wünschenswertem und zentral zur Orientierung in
verschiedenen Kulturen. Diese Werte sind prozesshaft zu verstehen – sie sind
ständigen Veränderungen unterworfen. Wir unterscheiden zwischen Kann- (Bräuche),
Soll- (Sitten mit quasi rechtlichem Anspruch) und Mussnormen (gesetzlich
festgeschrieben). Die christlichen zehn Gebote finden wir im Strafgesetzbuch (nicht
töten, nicht stehlen, nicht begehren) im Generationenvertrag (Vater und Mutter
ehren) und in den Menschenrechten (den Nächsten lieben) wieder (vgl. KRAINER
2002) Gerade bei ethischen Fragen sind wir oft mit widersprüchlichen Ansichten
konfrontiert, die nicht nach logischen Kriterien für richtig oder falsch erklärt werden
können. Die Aristotelische Logik spricht davon, dass wenn zwei Dinge sich
widersprechen, zumindest eines falsch sein muss, aber auch ARISTOTELES (1964)
31
erkannte, dass Widersprüche sich nicht nach den Kriterien der Logik lösen lassen,
sondern einer richtigen Maßsetzung, einem Mittelweg, bedürfen.
Die Diskussion um Lolita ist gespickt mit tradierten Moralvorstellungen, doch erweist
sie sich äußerst schwierig, da es sich bei der Kindfrau um einen personifizierten
Widerspruch in sich handelt und so unmöglich mit den logischen gut/schlecht
Maßstäben messen lässt, was so die ethischen Wertsetzungen einer ganzen
Gesellschaft über den Haufen werfen kann (vgl. BRAMBERGER 2000: 15). Wurde im
19. Jahrhundert nur die rein körperliche Schädigung von Kindern sexualstrafrechtlich
geschützt, befand man im 20. Jahrhundert, dass auch die geistig-sittliche
Gefährdung langfristig negative Folgen für die Sittlichkeit der Gesellschaft haben
könnte (vgl. SCHETSCHE 1994:204 zitiert nach BRAMBERGER 2000:15).
Auch in den beiden Erinnerungsarbeiten kommen die internalisierten moralischen
Wertvorstellungen zum Ausdruck. In der Geschichte I werden der Protagonist und
Lolita im Film als „zwei Menschen, die nicht füreinander bestimmt sind“ bezeichnet.
Die in der Sozialisierung erlernte Vorstellung davon wer füreinander bestimmt ist, wer
zusammenpasst, kommt hier zum tragen. Ein älterer Mann, der ein junges Mädchen
begehrt, wird mit Worten wie „abscheulich“ bewertet. Die Autorin spricht in diesem
Zusammenhang von sich „ekeln“ und „Wut“. Die Verfasserin der Geschichte II geht
nicht auf eigene Wertvorstellungen ein, sondern bezieht sich mehr auf die moralische
Einstellung der anderen. Sie formuliert keine wertenden Aussagen, sondern Fragen:
„Was würden die Eltern sagen?“ oder „Wenn jemand kam?“. Durch diese Fragen
wird klar, dass sie sich mit der konventionellen Moral der Gesellschaft beschäftigt,
denn sonst hätte sie diese Fragen nicht aufgeworfen. In ihrer Fantasie werden die
Normen nicht eingehalten und dies hätte, würden andere davon erfahren,
Konsequenzen und
wenn schon nicht gesetzliche, dann doch zumindest
gesellschaftliche Sanktionen zur Folge.
32
6.2 Wer verführt wen?
Eine Frage, die uns nicht nur im Zusammenhang mit der Kindfrau beschäftigt, ist
immer wieder die Frage wer wen verführt. Im Zuge einer auf christlichen Wurzeln
aufbauenden Sozialisation haben wir gelernt, dass der/die VerführerIn mit Schuld,
der/die Verführt/e mit Unschuld gleichzusetzen ist. Die Schlange hat im Paradies
dafür gesorgt, dass Verbote nicht eingehalten wurden, der Teufel versucht uns mit
allerlei Lockungen zum Bösen zu verführen – beide machen sich über Unschuldige
her, sie sind die Täter denen die Opfer widerstehen müssen. Eva, die Verführerin und
Maria, die unschuldige Jungfrau, beide vereinen sich in der Kindfrau. „Die Kindfrau
ist stets Ausdruck einer Grenzüberschreitung im Bereich der Sexualität. Ihre
Sexualisierung irritiert, wobei nie klar, nie eindeutig artikulierbar ist, was denn die
Irritation ausmacht, wo genau welche Grenze überschritten wird, wer wen verführt.“
(BRAMBERGER 2000: 162f.) Wenn wir nicht sagen können, wer wen verführt, fällt es
uns auch schwer einzuordnen, wer gut und wer böse ist, denn so haben wir es
gelernt: die VerführerInnen sind die Schlechten gegen die sich die Guten mit allen
zur Verfügung stehenden Mitteln zu wehren haben – sich auf die Verführung
einlassen würde auch die Guten schlecht machen. Verführung ist eine Sünde, die
gesühnt werden muss. Die Werbung spielt mit diesen Fantasien: wir können der
Verführung nachgeben ohne dafür sühnen zu müssen. Die Eiscremesorte Magnum
wirbt diesen Sommer ganz offen mit christlichen Konnotationen: die sieben
Todsünden Wollust, Faulheit, Völlerei, Habgier, Neid, Rache und Eitelkeit sind die
Namen der „limited edition“ (vgl. http://www.7suenden.at/site/start.php). Wir
begehen eine Sünde und die Werbung spricht uns davon frei, denn wir wurden
verführt und obwohl wir das Eis essen, verlieren wir dabei nicht unsere Unschuld. Es
scheint moralisch vertretbar zu sein, der Verführung eines sündig beworbenen
Nahrungsmittels nachzugeben und es zu genießen, sexueller Genuss hingegen wird
offenbar immer noch nach christlichen Maßstäben bewertet. Virginität ist das Zeichen
für Unschuld, gegen sexuelle Verführungen muss man sich demnach wehren. Sich
nur dem Genuss der Verführung hinzugeben ohne ein Gefühl der Schuld, weil man
sich nicht wehrte, ist etwas, dass die Jungfrau schnell zur Hure werden lässt. Die
Lolita-Fantasie II beschreibt einen sexuellen Genuss, gegen den sich die Autorin
33
„nicht wehrte, im Gegenteil“. Im Gespräch darüber, wollte sie jedoch klar stellen,
dass sie sehr wohl jemand wäre, die sich normalerweise wehren würde. Die
christlichen Werte sind tief verankert, so dass sexuellen Verführungen nur in ganz
privaten Fantasien nachgegeben werden darf – oder wie es hier der Fall war, nur in
anonym geschriebenen Geschichten.
6.3 Kindliche Sexualität und der Pädophilie-Diskurs
Wenn es um die Diskussion kindlicher Sexualität geht, in die man mit der Kindfrau
unweigerlich gerät, ist es nur ein kleiner Schritt bis zum Pädophilie-Diskurs, da den
Kindern keine Sexualität zugeschrieben wird. In beiden Erinnerungsarbeiten wird das
Thema Pädophilie aufgegriffen. In der Geschichte I wird die filmische Darstellung als
pädophil bezeichnet, in Geschichte II heißt es: „ es würde ihm besonders gefallen,
weil’s verboten ist“. „Es ist ein Stück der populären Meinung über den
Geschlechtstrieb, dass er der Kindheit fehle und erst in der als Pubertät bezeichneten
Lebensperiode erwache. allein dies ist ein folgenschwerer Irrtum, da er hauptsächlich
unsere gegenwärtige Unkenntnis der grundlegenden Verhältnisse des Sexuallebens
verschuldet.“ (FREUD 1972: 81) HAUG bezieht sich auf Foucault, wenn sie über das
„familiäre Sexualdispositiv“ spricht; es geht dabei „um die Weise, wie Ordnung im
Sexuellen gestiftet wird und wie der Bereich Sexualität im gleichen Zug erst
konstituiert wird“ (1997:122). Der Auftrag der Familie ist es, kindliche Sexualität zu
verhindern, Onanie zu verbieten und zu pathologisieren – „Sex als Grund von
Fehlentwicklung, Krankheit etc. anzusehen“ (ebd. 1997:123). „In Wahrheit bringt
das Neugeborene Sexualität mit auf die Welt, gewisse Sexualempfindungen begleiten
seine Entwicklung durch die Säuglings- und Kinderzeiten, und die wenigsten Kinder
dürften sexuellen Betätigungen und Empfindungen vor ihrer Pubertät entgehen.“
(FREUD 1972:163) Die Negation kindlicher Sexualität erschwert den Umgang damit
und macht auch eine Diskussion fast unmöglich, denn wer ‚Kinder’ und ‚Sexualität’
in gleichen Atemzug erwähnt, gerät schnell in die ‚Missbrauch-Ecke’. Damit will ich
keinesfalls der Pädophilie den Weg ebnen, sondern im Gegenteil: ein offener
34
Umgang mit kindlicher Sexualität würde den Mantel des Schweigens von diesem
Thema nehmen und so auch den Kindesmissbrauchern die Sicherheit dieses
Schweigens nehmen.
Was Kindern gefällt, gut tut oder auch nicht, wird nicht nur in sexueller Hinsicht nicht
oder nur selten wahrgenommen oder in erzieherische Entscheidungen mit
einbezogen. „Gewalt zwischen Erwachsenen besteht darin, dass jemand einen
anderen daran hindert, sich einer Situation zu entziehen und ihm so seinen Willen
aufzwingt. Gegenüber Kindern kann dies jedoch legitim sein, wenn es dem ‚Wohl
des Kindes’ dient. Was den Zwang, den ein ‚Missbraucher’ auf ein Kind ausübt, vom
allgemeinen ‚pädagogischen Zwang’ unterschiedet, ist deshalb nicht, dass er gegen
den Willen des Kindes geschieht oder vom Kind als unangenehm erlebt wird.“
(HARTEN 1997:108) Das Konstrukt der Kindheit, von dem schon in einem
gesonderten Kapitel die Rede war, zwingt Kinder in eine recht- und machtlose
Position. Weil ihnen völlige Unschuld zugeschrieben wird, müssen sie – und dies
auch mit Zwang – in dieser unschuldigen Rolle so lange wie möglich gehalten
werden. Entscheidungsmacht wird ihnen so gut wie nicht zuerkannt, ein kindliches
„Nein“ hat nur dann Bedeutung, wenn es mit der elterlichen Entscheidung
übereinstimmt. Dies soll nicht heißen, ich mich für Sex zwischen Kindern und
Erwachsenen stark mache und dies gutheiße, wenn sich die Kinder dabei wohl
fühlen, sondern ich will damit auf die Vielschichtigkeit der Problematik hinweisen.
„Irgendwie geht es nicht einfach um Schuld, Tatbestände, Herrschaft und Macht und
im Gegenzug um Gesetze, Einsperrung und Sühne – die Problematik ist tiefer,
widersprüchlicher, grundlegender ins Gesellschaftsganze, in die Konstruktionen von
Familie, Sexualität, Kindheit und Jurisdiktion eingelassen“ (HAUG, 1997:122).
7. Ta. Die Lesart
Die Tatsache, dass die Auffassungen in den anonym geschriebenen Lolita-Fantasien
der beiden Frauen von den Standpunkten, die sie im persönlichen Gespräch über
35
die Geschichten vertraten recht abweichend waren, bringt mich darauf mich mit den
von HALL (1999), in Bezug auf das Fernsehen, diskutierten Lesarten zu beschäftigen.
„Jede Gesellschaft bzw. Kultur neigt mit variierenden Graden der Geschlossenheit
dazu, ihre jeweiligen Klassifizierungen der gesellschaftlichen, kulturellen und
politischen Welt durchzusetzen. Diese bilden eine dominante kulturelle Ordnung, die
allerdings weder einhellig akzeptiert noch unumstritten ist.“ (1999:103) Lolita ist ein
Konstrukt innerhalb dieser Ordnung, die weiter oben besprochenen Klischees und
der Mythos über die Kindfrau sind der common sense. Wer die gängigen Diskurse
über Lolita übernimmt agiert innerhalb des dominanten Kodes. Diese dominante
Lesart ist eine mächtige, denn es bedarf einiger Macht eine bestimmte Auffassung zur
herrschenden, dominierenden zu machen. Auch die oppositionelle Lesart, die gegen
diese herrschenden Bedeutungen antritt, ist – sofern sie öffentlich gemacht wird – mit
einiger Macht verbunden, wir sprechen dann vom „Kampf um Bedeutung“ und ein
Kampf ist immer mit Macht verbunden, nur wer die nötige Kraft hat, kann gegen die
dominant-hegemoniale Bedeutung angehen. Die ausgehandelte Lesart muss nicht
unbedingt mit Macht und Kämpfen verbunden sein, die Bedeutung wird verhandelt
und nicht ausgekämpft, man stellt sich nicht völlig gegen den herrschenden Diskurs,
sondern richtet es sich so ein, dass man gut damit leben kann. (Vgl. HALL 1999:
106 ff.) Durch die Erinnerungsarbeiten bin ich auf eine weitere Lesart gestoßen, die
anders ist, als die drei von HALL beschriebenen. In den Gesprächen mit den beiden
Frauen nahmen sie eine ausgehandelte Position ein, sie hielten mit ihren Ansichten
großteils am dominanten Diskurs fest, machten aber auch dem widersprechende
Aussagen. In ihren Texten hingegen nahmen sie eine ganz andere Position in bezug
auf Lolita ein, diese Fantasien erschienen ihnen aber im Gespräch als nicht
angebracht, angemessen oder ‚stubenrein’. Diesen Umgang mit den Fantasien,
bezeichne ich als „geheime Lesart“, sie gelangt nicht in den Diskurs, weil sie nur
geheim, anonym, im Stillen, ganz privat und intim geäußert wird, öffentlich
ausgesprochen wird nur eine ausgehandelte Lesart. Möglicherweise ist die geheime
Lesart dominant, weil viele die dominanten Diskurse im Geheimen anders lesen. Sie
kann aber keinesfalls hegemonial werden, wenn sie nicht in den Diskurs gelangt. Es
gilt auf alle Fälle Wege zu finden um die machtvolle Komponente der psychischen
36
Realität, die (noch) nur im geheimen formuliert wird, an die Oberfläche, in den
herrschenden Diskurs zu bringen, denn nur so können wir ihn in unserem Sinn
verändern und alte unbrauchbare Strukturen auflösen.
8. Schuld ohne Sühne – Resümee
Die Beschäftigung mit Lolita weist uns einen Weg, abseits dualer Strukturen, zu einer
anderen Art des Denkens. Sie ist kein ‚entweder/oder’, sie ist das ‚Und’, das
‚Dazwischen’. Als Mythos ist sie ein Teil der „public fantasy“ der reflektiv in ganz
privaten Fantasien Eingang findet, sich verändert und zurück gespiegelt wird. Als
männliches Phantasma ist sie im common sense, nur da um die Begierden der
Männer zu befriedigen. In den (realen) Fantasien von Frauen, ihrer psychischen
Realität, ist sie eine ermächtigende Vorstellung, ein stärkendes Gefühl, das mit den
patriarchalen Strukturen von der Macht der Männer und der Ohnmacht der Frauen
abrechnen könnte.
Zwar nehmen Frauen öffentlich eine ausgehandelte Position in Bezug auf Lolita ein,
doch gibt es in der Fantasie noch eine andere Position, die ‚geheime Lesart’ der
Kindfrau. Allerdings sind die dominanten Strukturen und Machtverhältnisse so sehr
internalisiert, dass diese äußerst mächtige Position (noch) nicht in den hegemonialen
Diskurs eingedrungen ist. Es sollten Wege gefunden werden, diese Macht zu nutzen
um die konventionellen, für uns Frauen unpassenden, Strukturen aufzubrechen und
den herrschenden Diskurs zu verändern. Die Lolita-Fantasie weist uns den Weg,
wenn wie den Schritt wagen und das Geheime öffentlich werden lassen, uns von
Schuld befreien ohne dafür sühnen zu müssen, die dualen Muster über Bord werfen
und uns dem ‚Dazwischen’ öffnen, kann die Utopie in der Zukunft ihren Raum
einnehmen.
37
Literatur
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http://www20.wissen.de/xt/default.do?MENUNAME=Suche&query=femme+fatale
http://www20.wissen.de/xt/default.do?MENUNAME=Suche&query=Ambivalenz
40
Herbert Grönemeyer (1986): „Kinder an die Macht“
(http://www.metrolyrics.com/lyrics/93231/Herbert_Gr%C3%B6nemeyer/Kinder_An_Die_Macht/ )
Die Armeen aus Gummibärchen
die Panzer aus Marzipan
Kriege werden aufgegessen
einfacher Plan
kindlich genial
Es gibt kein Gut
es gibt kein Böse
es gibt kein Schwarz
es gibt kein Weiß
es gibt Zahnlücken
statt zu unterdrücken
gibt's Erdbeereis auf Lebenszeit
immer für'ne Überraschung gut
Gebt den Kindern das Kommando
sie berechnen nicht
was sie tun
Die Welt gehört in Kinderhände
dem Trübsinn ein Ende
wir werden in Grund und Boden gelacht
Kinder an die Macht.
Sie sind die wahren Anarchisten
lieben das Chaos räumen ab
kennen keine Rechte
keine Pflichten
noch ungebeugte Kraft
massenhaft
ungestümer Stolz
Gebt den Kindern das Kommando
sie berechnen nicht
was sie tun
Die Welt gehört in Kinderhände
dem Trübsinn ein Ende
wir werden in Grund und Boden gelacht
Kinder an die Macht.
41
Kate Bush (1978): “The man with the child in his eyes”
(http://www.purelyrics.com/index.php?lyrics=nmljftaw)
I hear him, before I go to sleep
And focus on the day that's been.
I realise he's there,
When I turn the light off and turn over.
Nobody knows about my man.
They think he's lost on some horizon.
And suddenly I find myself
Listening to a man I've never known before,
Telling me about the sea,
All his love, 'til eternity.
Ooh, he's here again,
The man with the child in his eyes.
Ooh, he's here again,
The man with the child in his eyes.
He's very understanding,
And he's so aware of all my situations.
And when I stay up late,
He's always waiting, but I feel him hesitate.
Oh, I'm so worried about my love.
They say, 'No, no, it won't last forever.'
And here I am again, my girl,
Wondering what on Earth I'm doing here.
Maybe he doesn't love me.
I just took a trip on my love for him.
Ooh, he's here again,
The man with the child in his eyes.
Ooh, he's here again,
The man with the child in his eyes.
42
Lolita-Fantasien
I.
(Frau, 24 Jahre)
Lolita, da dachte Luna an die Verfilmung von Adrian Lyne. Eine Geschichte über eine
Beziehung zweier Menschen, die ganz eindeutig nicht füreinander bestimmt sind und
die trotzdem eine übermächtige Faszination verbindet. Lolita ein jungen Mädchen,
dass einerseits als Opfer und andererseits als Strategin, die bewusst ihre weiblichen
Reize als Machtausübung einsetzt, dargestellt wird. Als Luna über diesen Film
nachdachte, kam sie zu dem Schluss, dass sie vielmehr mit Lolita verbindet, als den
Namen eines Filmes oder eines Mädchens. Lolita stellt für Luna eine Subjektposition,
eine Zuschreibung und Wertung dar. Die filmische Darstellungsweise empfindet
Luna, als pervertiert und verdreht. Da der Film ein Frauen bzw. Mädchenbild
vermittelt, dass zwischen Jungfrau und Hure unterteilt und eine männliche Sichtweise
beschreibt, von der ausgehend das Mädchen Lolita von der Macht und Ohnmacht
des älteren Verehrer beherrscht wird und das Thema der Pädophilie, das in dem Film
angesprochen wird, verbindet Luna nicht mit dem Begriff Lolita. Es ist schon länger
her, dass Luna diesen Film gesehen hat, und damals als sie ihn sah, schrieb sie ihm
sicherlich nicht derartige Bedeutungen zu. Als Luna in einem Cafe als Kellnerin
angestellt war, hatte sie einen Kollegen, der sie immer als einen Lolita- Typ
bezeichnete. Sie machte sich damals keine Vorstellung darüber, was dies eigentlich
zu bedeuten habe. Sie wusste nur, dass sie mit einer bestimmten Art und Weise
manche Männer verführen konnte. Sie konnte dadurch mit ihnen spielen. Spielen, in
dem sie bewusst über ihre Ausstrahlung verfügte, um bestimmte Dinge steuern zu
können. Sie konnte die Männer beherrschen, nicht die Männer sie. Ein anderes
Erlebnis, das Luna dazu einfällt, handelt von einem älteren Mann, der Luna verführen
wollte. Er wollte sie mit teuren und schönen Kleidern beschenken, sie ausführen, um
anschließend mit ihr eine Nacht
zu verbringen. Diese Geschichte war ganz
abscheulich für Luna. Bis zu diesem Zeitpunkt hätte sich Luna niemals vorstellen
können, dass ein älterer Mann sexuelle Absichten für sie hegen könnte. Sie ekelte
sich und könnte die Intention dieses Mannes nicht nachvollziehen. Damals war sie
43
wütend und zugleich stärkte sie diese Wut. Denn heute würde sich Luna nicht mehr
hilflos fühlen, wenn ihr eine derartige Geschichte wiederfahren würde. Heute spielt
Luna mit ihrem Wissen. Heute empfindet Luna Macht, wenn sie gezielt die Lolita in
ihr nützt, um Männer das machen zu lassen, was sie will. Eventuell durch ein LolitaSpiel zu ihrem Ziel zu gelangen. Einen Mann für ihre Zwecke zu benützen, wie sie
damals der ältere Mann benützen wollte.
II.
(Frau, 33 Jahre)
Langsam schritt sie am Haus vorbei.
Das Kleid wie immer kurz.
Die kindlichen Beine, von der Sonne haselnussbraun, schimmerten in der Sonne.
Holzsandalen.
Die Hüften wippten rhythmisch zum Schritt. Das klappern der Schuhe müsste ihn
eigentlich aus dem Haus locken – oder wenigstens ans Fenster.
Carla blieb stehen und blinzelte in Richtung Fenster. Ungeschickt und unbeholfen
nestelte sie ein wenig an ihrer Schultasche herum. Zeit sollte vergehen. Vielleicht
sollte sie, falls er sich am Fenster blicken lassen würde, einfach den Weg Richtung
Heuspeicher einschlagen und ihn mit einem verführerischen Zwinkern zum
Mitkommen bewegen.
Vielleicht sollte sie einfach hingehen und er würde schon dort sein. Und arbeiten.
Und sie würden sich anstarren. Lange. Carla würde die Schultasche langsam aus
ihren Händen zu
Boden gleiten lassen. Ganz langsam. Den Blick nie von ihm nehmend. Und auch er
würde sie nicht aus den Augen lassen. Und irgendwann würde er sein Arbeitsgerät
einfach fallen lassen und nahe kommen. Sehr nahe kommen. Sie würde seinen Atem
auf ihren Lippen spüren und seine Hand zwischen ihren Schenkeln. Sie würde sich
nicht wehren. Im Gegenteil. Noch ein wenig breiter würde sie sich hinstellen um der
Hand den Weg zu erleichtern.
44
Er würde seinen Mund auf ihre Lippen pressen und im Hand um dreh'n hätte seine
Zunge ihren gesamten Mundraum ausgefüllt. Es würde ihm gefallen. Es würde ihm
besonders gefallen, weil’s verboten war. Sie würde ihre Zunge dieselben Spiele
spielen lassen und, den eigenen Leib eng an den seinen gedrückt, spüren, wie das
Begehren in ihm hochkam. Wie es immer heftiger wurde und er sich kaum mehr
zurückhalten konnte.
Noch nicht. Nein. Ein wenig musste er sich noch gedulden. Ein wenig wollte sie noch
die aufkommende Lust für ihn zur Qual werden lassen. Und dann. Wenn sie es
wollte, sollten sie ins weiche, frisch eingebrachte Gras fallen und es tun.
Zuerst schnell und ungestüm. Alles auf einmal. Jetzt und Hier. Sofort...
Und dann langsam. Ruhig. Den Rausch der Sinne bis aufs letzte genießen. Bis auf
den letzten Tropfen.
Seine Hose unten an den Knien. Ihr Kleidchen soweit hinauf geschoben, dass der
Bauchnabel frei wurde. Das Höschen lag neben ihrem Gesicht im grünen Gras.
Schnell musste es gehen. Wenn jemand kam? Und sie entdeckte? Was würden die
Eltern sagen? Was sein Sohn, der während dem Unterricht rechts hinter ihr saß...
45
II. Frau 33 Jahre
I. Frau 24 Jahre
Begehren
eigene Verbundenheit mit
Lolita;
Männer verführen;
mit ihnen spielen;
bewusst über Ausstrahlung
verfügen;
Dinge steuern können;
Männer beherrschen
können;
sich anstarren, lange;
Blick nie von ihm
nehmend;
er würde sie nie aus den
Augen lassen;
sehr nahe kommen
Atem auf ihren Lippen
spüren;
Hand zwischen ihren
Schenkeln;
sein Mund auf ihren
Lippen;
es würde ihm gefallen;
ihre Zunge spielen lassen;
spüren wie das Begehren in
ihm hochkam;
schnell und ungestüm;
Langsam, ruhig;
Rausch der Sinne genießen
Das Gefühl
Macht
übermächtige Faszination;
weibliche Reize als
Machtausübung;
von Macht und Ohnmacht
des älteren Verehrers
beherrscht;
Stärke durch Wut;
keine Hilflosigkeit;
Spiel mit dem Wissen;
Macht – Lolita in sich
nützen um Männer das
machen zu lassen, was sie
will;
Lolita-Spiel zum Ziel;
Mann für ihre Zwecke
benützen; nicht Männer sie
das Klappern müsste ihn
locken;
er musste sich gedulden;
die Lust für ihn zur Qual
werden lassen;
wenn sie es wollte, sollten
sie es tun
public fantasies
Moral, Ethik, Logik
Verfilmung: Lyne;
Geschichte;
Subjektposition;
Zuschreibung;
pervertiert und verdreht;
Frauen- bzw. Mädchenbild;
Kollege sagt Lolita-Typ
2 Menschen nicht für
einander bestimmt;
Wertung;
älterer Mann: abscheulich,
ekeln, Intention des
Mannes nicht
nachvollziehen, wütend
kurzes Kleid;
kindliche Beine von der
Sonne haselnussbraun;
Hüften wippen rhythmisch;
ungeschickt und
unbeholfen;
wenn jemand kam?
Und sie entdeckte?
Was würden die Eltern
sagen?
Was sein Sohn?
Die Verführung
Schuld & Unschuld
Pädophilie
Lolita: Opfer und
Strategin;
Jungfrau und Hure;
älterer Mann will sie
verführen: Geschenke,
Nacht verbringen
Pädophilie im Film;
selbst keine
Verbindung mit
Pädophilie;
sexuelle Absichten
eines älteren Mannes;
älterer Mann wollte sie
benützen
verführerisches Zwinkern;
nicht wehren, im
Gegenteil
es würde ihm
besonders gefallen,
weil’s verboten war
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