Tausend Jahre Kirche in Elberfeld

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Tausend Jahre Kirche in Elberfeld
Hermann-Peter Eberlein
Tausend Jahre Kirche in Elberfeld
Wenn wir in diesem Jahr des vierhundertsten Jubiläums der Stadterhebung Elberfelds
gedenken, werden wir von den Bewohnern anderer Städte vermutlich ein Kopfschütteln ernten. Zwar ist Elberfeld der erste der heutigen
Wuppertaler Stadtteile, der überhaupt Stadtrecht erhielt – aber vierhundert Jahre sind für
eine Stadt sehr wenig, denn die meisten mitteleuropäischen Städte verdanken ihre Stadtrechte der Stauferzeit, der Adel unter ihnen gar
den Römern. Als kontinuierlicher Siedlungsplatz aber ist Wuppertal älter. Seine Stadtteile
sind aus Höfen oder Hofesverbänden hervorgegangen, die ihren Ursprung der langsamen
Besiedlung des Bergischen Landes seit dem
7. Jahrhundert – von Westen her durch Franken, von Osten her durch Sachsen – verdanken; die Siedlungsgrenze zwischen beiden
an der Barmer Landwehr hat in der Mundart
bis heute überlebt. Die greifbare Geschichte
des Wuppertals war von Anbeginn an mit der
christlichen Kirche verbunden; vor allem in
der protestantischen Kirchengeschichte hat die
Stadt seit etwa zweihundert Jahren eine wichtige Rolle gespielt. Wenn ich im Folgenden
tausend Jahre Elberfelder Kirchengeschichte nachzeichne, so kann ich das nur ganz grob
holzschnittartig tun, werde aber vor allem für
die Zeit bis zur Stadterhebung Barmens und
Cronenbergs 1808 auch die übrigen Stadtteile mit in den Blick nehmen, da sie eng mit Elberfeld verbunden sind. Dem protestantischen
Kirchenhistoriker in einer einst protestantischen Hochburg möge man dabei eine gewisse Schwerpunktsetzung bei der eigenen Konfession nachsehen.
1. Mittelalter
Kirchen mittelalterlichen Ursprungs gibt es
auf Wuppertaler Gebiet nur fünf; davon liegen
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die romanische Hofeskapelle Schöller, dem
Hl. Vitus geweiht und 1360 als Pfarrkirche bezeugt, und die Beyenburger Klosterkirche St.
Maria Magdalena von 1485 mit ihrer Vorgängerin nicht im eigentlich urbanen Weichbild
der Stadt. Lange hielt man die Vorgängerin der
heutigen Sonnborner Hauptkirche, dem Heiligen Remigius geweiht, für das älteste Wuppertaler Gotteshaus; die Urkunde von 874, in der
sie Erwähnung findet, ist jedoch längst als Fälschung entlarvt. Diese Kirche, ursprünglich
dem Kanonissenstift Gerresheim zugehörig,
gelangte zu Beginn des 13. Jahrhunderts in den
Besitz des Klosters in Gräfrath; für ein hohes
Alter spricht immerhin ihr Patrozinium, das in
der Merowinger- und Karolingerzeit recht beliebt war. Die Vorgängerin der heutigen Reformierten Kirche in Cronenberg war den beiden
Ewalden geweiht, angelsächsischen Missionaren, die Ende des 7. Jahrhunderts in Westfalen das Martyrium erlitten; wann sie errichtet wurde, ist nicht bekannt. Jedenfalls gehörte
das Kirchspiel Cronenberg im hohen Mittelalter zur Burg Elberfeld, sein Kirchlein war Filialkapelle der Elberfelder Pfarrkirche.
Damit sind wir beim urbanen Kern Wuppertals. Die älteste Vorgängerin der heutigen
Alten reformierten Kirche an der Calvinstraße lässt sich durch archäologische Befunde
recht gut auf die zweite Hälfte des 10. Jahrhunderts datieren; dazu passt ihr LaurentiusPatrozinium, das nach der Schlacht auf dem
Lechfeld 955 überaus verbreitet war. Diese
erste Elberfelder Laurentiuskirche war die Kapelle des Tafelhofes der Kölner Erzbischöfe,
der die Keimzelle der späteren Stadt darstellt.
Der Elberfelder Hof bildete mit den Höfen in
Hilden, Haan und Schwelm eine Art Besitzbrücke zwischen Köln und Westfalen; im Laufe der Zeit wurde aus ihm eine Burg mit kleiner Herrschaft, die mehrfach den Eigentümer
wechselte, bis sie 1430 endgültig in den Besitz
der Herzöge von Berg überging. Die Pfarrkirche, deren erster Priester 1161 bezeugt ist, war
ursprünglich ein kleiner Saalbau mit anschließendem quadratischem Chor; nach Bränden
Mitte des 11. Jahrhunderts, um 1230 und 1536
wurde die Kirche jeweils vergrößert wiederaufgebaut. Die unscheinbare Apsis der romanischen Kirche ist heute verputzt und das
einzige erhaltene mittelalterliche Gebäude Elberfelds. Die Kirche hatte neben dem Hauptaltar noch Nebenaltäre, die der Hl. Jungfrau,
dem Hl. Antonius und der Hl. Katharina geweiht waren; ihnen waren Kapläne zugeordnet, von denen der des Katharinenaltars auch
die Cronenberger Filialkapelle zu bedienen
hatte.
Für die Geistlichen gab es Stiftungen.
So etwa schenkte 1428 Lubbert von Galen,
Pfandbesitzer von Elberfeld, sein Gut auf der
untersten Steinbeck dem Kölner Erzbischof
gegen die Übernahme bestimmter geistlicher
Verpflichtungen durch den Kaplan des Katharinenaltars. Lehnsherr der Elberfelder Kirche
war der Pfarrer von Richrath; zu ihrer Pfarrei gehörte auch das heutige Unterbarmen –
ein Zustand, der bis 1822 andauern sollte. Die
Bewohner Oberbarmens ab dem heutigen Alten Markt – ihre Höfe sind in der Barmer Hofesrolle von 1466 verzeichnet – waren zur
Schwelmer Peterskirche, der Vorgängerin der
heutigen Christuskirche, eingepfarrt. Die Hofschaften im Bereich des heutigen Ronsdorf gehörten zur Pfarrei Lüttringhausen.
2. Reformation und reformierte Orthodoxie
Spätreformation von unten – so hat man
die Reformation in den vereinigten Herzogtümern Jülich-Kleve-Berg einmal charakterisiert: sie erfolgte etwa eine Generation später als in Kursachsen, Preußen, Württemberg
oder Zürich, und sie erfolgte anders als in den
meisten deutschen Territorien nicht durch obrigkeitliche Entscheidung, sondern durch den
Einfluss einzelner Pfarrer oder Lehrer, die in
einem Ort Zulauf fanden und ihre reformatorische Überzeugung verbreiten konnten, oftmals freilich bald vertrieben oder gar, wie der
bergische Reformator Adolf Clarenbach, verbrannt wurden.
Romanische Apsis der Alten reformierten
Kirche, ca. 1910 – Foto: Stadtarchiv Wuppertal.
Clarenbach hat 1527 in einigen Bierhäusern Elberfelds gesprochen, und für das Jahr
1535 sind Treffen reformatorisch Gesinnter vorm Holz belegt. In der zweiten Hälfte
der vierziger Jahre dann soll der Sonnborner
Pfarrer Hermann Wemmers begonnen haben,
evangelisch zu predigen – viel mehr wissen
wir nicht über ihn. So wird zur zentralen Gestalt der Reformation in unserem Tal Peter Lo,
1530 in Elberfeld als Sohn des Ratsschreibers
und Schulmeisters Johann Lo geboren. Auf
dem Gymnasium in Dortmund hat er eine gediegene humanistische Bildung erhalten und
vermutlich auch die Lehre Luthers kennengelernt, vielleicht hat er bei der Lektüre des He-
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bräerbriefes eine Wendung in dessen Richtung
vollzogen – Los Jugend liegt für uns größtenteils im Dunkel. Anders als die bedeutenderen
Reformatoren hat er wohl kein Universitätsstudium absolviert, jedenfalls aber war er zum
Priester geweiht, als er 1552 in seine Vaterstadt
zurückkehrte und mit dem Einverständnis des
Pastors Peter Snuten Kaplan an der Laurentiuskirche und Vikar ihres Katharinenaltars
wurde. Die Berufung eines der reformatorischen Lehre zugeneigten Kaplans neben einen
altgläubigen Pastor hatte in den niederrheinischen Herzogtümern durchaus Vorbilder, tendierte doch der Herzog selbst zu einer Art innerkatholischer Reform in seinen Landen.
Bald nach seiner Berufung begann Lo, das
Abendmahl in beiderlei Gestalt auszuteilen
und setzte damit ein deutliches – zu deutliches
– reformatorisches Signal; in Sonnborn wurde
dieser Schritt erst 1569 vollzogen. Gleichzeitig begann er, in einem Privathaus Bibelstunden abzuhalten. Dies alles führte zu einer Anzeige beim herzoglichen Hof in Düsseldorf. Lo
entzog sich einer Verhaftung durch Flucht auf
Barmer bzw. Beyenburger Gebiet, das zwar
Teil des Herzogtums, aber an die lutherischen
Grafen von Waldeck verpfändet war und daher
nicht unter bergischer Verwaltung stand. Im
Waldecker Grafengeschlecht fand Lo lebenslange Gönner: mittlerweile verheiratet, wurde er bald zum Pfarrvikar in Mengeringhausen im waldeckischen Kernland berufen. Hier
verfasste er im folgenden Jahr als Verteidigungsschrift und zugleich Zusammenfassung
seiner Vorstellungen vom Herrenmahl das
Buch, das allein ihn aus der Phalanx der namenlosen Provinzreformatoren der dritten Generation heraushebt: Eynfeltige bekantniß und
unverfelschter Evangelischer Bericht / der waren Christlichen / Apostolischen unnd alt Catholischen mutter Kirchen / Welcher gestalt
man das heylige Nachtmal unsers herrn Jesu
Christi außteylen und entpfahen solle / Auß
dreien Evangelisten / Paulo und der h. Vättern
Schrifften zusammen getragen / unnd in zwey
teyl verfasset. Von der Sache wie von der Argumentation nicht originell, zeigt es doch einen vor allem in der Kirchenväterliteratur weit
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über das Maß eines Dorfgeistlichen gebildeten
Mann, der ein klassisches Thema der Kontroverstheologie – den Abendmahlsempfang unter beiderlei Gestalt – ganz im lutherischen
Sinne auf immerhin über dreihundert Druckseiten abzuhandeln weiß. Bereits 1558 verließ
Lo Mengeringhausen, um der Grafenfamilie in
mancherlei Geschäften zu dienen; 1565 konnte
er endgültig nach Elberfeld zurückkehren, wo
er zwar kein kirchliches Amt mehr bekleidete, aber an der reformatorischen Umgestaltung
Anteil nahm – wie weit und in welche Richtung ist freilich umstritten. Daneben blieb er
für die Waldecker Grafen tätig und betrieb einen privaten Garnhandel. Im September 1581
ist er an der Pest gestorben; im Chor der Alten
reformierten Kirche liegt er begraben.
Zum Nachfolger des Pfarrers Snuten berief der Kölner Dompropst 1560 den reformatorisch gesinnten Priester Wilhelm Heimbach,
der gemeinsam mit seinem Kaplan Johann
Volmar bis 1588 aus Elberfeld eine reformierte
Gemeinde formte. Auch eine solche Berufung
– heute nicht vorstellbar – war seinerzeit in
den Niederrheinlanden kein Einzelfall; durch
sie sind die evangelischen Gemeinden Elberfelds und Unterbarmens legitime Erben der
mittelalterlichen Laurentius-Pfarrei und eben
nicht die Gemeinde der heutigen katholischen
Laurentiuskirche, die eine völlige Neugründung späterer Zeit darstellt. Versuche zur Rekatholisierung der alten Kirche während des
Dreißigjährigen Krieges scheiterten; es bildete sich bald eine enge Verbindung zwischen
reformierter Kirchengemeinde und weltlichem
Stadtregiment, die bis zum Ende des Ancien
Régime währte. Alle Bürgermeister bis 1808
und bis auf drei auch alle Ratsverwandten
waren reformiert, sie entstammten fast ausschließlich der Schicht der Meistbeerbten, also
der mit Haus und Hof eingesessenen Grundbesitzer. Dazu gehörten neben den Elberfelder
Geschlechtern der Siebel, Carnap oder Teschemacher auch reformierte Barmer Familien wie
die Werth, Wichelhaus oder Wülfing, bildete
doch seit der Verleihung des Bleichmonopols
1527 die Garnnahrung, der zunftmäßige Zusammenschluss der Bleicher und Garnhändler,
das gemeinsame ökonomische Rückgrat der
kirchlich wie wirtschaftlich aufs engste miteinander verflochtenen Orte. Diese geschlossene, miteinander vielfach verwandte und verschwägerte Schicht, durch die man nur durch
Abstammung oder Heirat gehörte, führte fast
zweihundert Jahre lang – und das waren die
entscheidenden Jahrhunderte für den Weg in
die Industriegesellschaft – die Geschicke der
Stadt.
Sonnborn und Cronenberg entwickelten
sich als kleine reformierte Gemeinden daneben eigenständig und unspektakulär weiter,
ebenso die kleine Hofeskapelle in Schöller, wo
die Reformation schon 1530 Einzug gehalten
hatte. Den Rahmen bildete seit der Duisburger Generalsynode von 1610 die synodale Verfassung der Kirche in Jülich, Kleve, Berg und
Mark; unsere Gemeinden gehörten zur Elberfelder Classis der Bergischen Provinzialsynode. Die theologische Richtung der Pastoren lag
im Rahmen der reformierten Orthodoxie der
Zeit. Bis auf den Verfasser der Annales ecclesiastici Werner Teschemacher, der kurzzeitig
1614 bis 1617 die Pfarrstelle seiner Heimatstadt
Elberfeld versah, tritt bis ins 18. Jahrhundert
keiner von ihnen besonders hervor.
Die Barmer Hofschaften hatten als einziges Zentrum die 1579 von der Waldecker Gräfin Maria begründete Amtsschule, die an der
Stelle der heutigen Gemarker Kirche lag. Sie
stand in kommunaler, nicht kirchlicher Trägerschaft, und war zunächst eine evangelische
Schule aller Barmer; relativ bald geriet sie jedoch unter calvinistische Dominanz. Die etwas später (1592) entstandene Elberfelder Lateinschule war hingegen eine Gründung der
reformierten Gemeinde und blieb bis ins
19. Jahrhundert in ihrer Hand; beide Anstalten sind die Vorgängerinnen des heutigen Wilhelm-Dörpfeld-Gymnasiums.
Vorgängerin des heutigen Reformierten
Gemeindestifts an der Blankstraße war das
1677 begründete Reformierte Armenhaus, das
als eines von wenigen Gebäuden den großen
Stadtbrand von 1687 überstand. Ihm fiel auch
die Kirche zum Opfer, die 1688 bis 1690 ihre
jetzige äußere Gestalt erhielt.
Bis 1655 hielten sich auch die Oberbarmer
Reformierten – ungeachtet ihrer Abgabenpflicht gegenüber der lutherisch gewordenen
Schwelmer Kirche – zur Elberfelder Gemeinde; mit Gründung einer eigenen reformierten
Gemeinde in Schwelm wurden sie dorthin
eingepfarrt. Der Wunsch nach einer eigenen Gemeinde wurde endlich 1702 erfüllt:
die Gemarker Kirche wurde gemeinsam mit
der Amtsschule zur institutionellen Keimzelle der späteren Großstadt Barmen. Die Mehrheit der Oberbarmer war durch die Verbindung mit Schwelm lutherisch geworden; die
Ablösung von der Muttergemeinde erfolgte
in Wichlinghausen 1744, in Langerfeld 1766,
in Wupperfeld 1777. In Elberfeld erhielten die
Lutheraner 1694 das Recht zur privaten Religionsausübung, 1752 konnten sie ihre Kirche,
die heutige Alte lutherische Kirche am Kolk,
einweihen – freilich noch ohne die charakteristische Turmzwiebel, die erst 1774 aufgesetzt wurde. Die ersten Jahrzehnte ihrer Gemeindegeschichte waren geprägt von immer
wieder neuen und zermürbenden Auseinandersetzungen mit den Reformierten über ihre
Rechte.
Die wenigen verbliebenen Katholiken in
Elberfeld erhielten 1660 eine provisorische
Kapelle auf dem Söller der Stadtwaage; sie
wurden von Solinger Jesuiten – der missio
montensis – betreut. 1683 folgte der Bau einer eigenen Kapelle, 1737 der einer eigenen
Kirche auf dem Gelände des heutigen Von der
Heydt-Museums; 1778 wurde diese Missionsstation zur Pfarrei erhoben, die sich nun wieder nach dem einstigen Stadtheiligen Laurentius nennen konnte, da die Reformierten das
Patrozinium aufgegeben hatten. Auch in Barmen kam es 1708 zum Bau einer kleinen, St.
Antonius von Padua geweihten Kirche; elf
Jahre später begann die geordnete Seelsorge in Form einer von Neviges aus betreuten
Franziskanermission, die 1804 in eine kanonische Pfarrei überführt wurde. Die Entwicklung auf den Südhöhen war vergleichbar.
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Das durchaus nicht unproblematische Nebeneinander von bis zu drei verschiedenen
Gemeinden mit ihren jeweiligen Wahrheitsansprüchen an einem einzigen Wohnplatz hat jedenfalls unser Tal zu einem Lernfeld der Einübung in praktizierte Toleranz werden lassen.
Dies ist umso bedeutsamer, als es nach dem
Augsburger Religionsfrieden nur am Niederrhein und in der Freien Reichsstadt Augsburg
in größerem Maße solche Lernorte gab; sie
sind quasi Versuchslabors dessen gewesen,
was die großen Toleranzschriften der Aufklärung theoretisch angemahnt haben.
3. Pietismus und Erweckung
Wie sehr ein zivilisiertes Miteinander eingeübt werden musste, zeigen die Vorgänge um
die Ellerianische „Sekte“ und die Gründung
Ronsdorfs. Der Kaufmann und Bandwirker
Elias Eller stiftete um 1726 in Elberfeld eine
radikalpietistisch-chiliastische Gemeinschaft
– die Philadelphische Sozietät –, in deren Mittelpunkt die junge Anna vom Büchel als Prophetin und „Zionsmutter“ stand. Die Offenbarungen der Anna vom Büchel, die Eller nach
dem Tode seiner Frau heiratete, bezogen sich
vornehmlich auf die Endzeit und die Errichtung des himmlischen Jerusalem, das zunächst
in der Person der Prophetin selbst verkörpert
gedacht, dann in Ellers Heimatort Ronsdorf
lokalisiert wurde; die Geburt eines gemeinsamen Sohnes wurde von der Mutter apokalyptisch, wenn nicht gar messianisch gedeutet. Die Gruppe fand in Stadt und reformierter
Gemeinde glühende Anhänger (darunter den
Pfarrer Daniel Schleiermacher, den Großvater
des großen Berliner Gelehrten und Begründers des Neuprotestantismus), stieß aber auch
auf radikale Ablehnung. So begann 1737 der
Auszug der Ellerianer in die kleine Hofschaft
Ronsdorf. Bereits vier Jahre später wurde der
Gemeinschaft die freie Religionsausübung als
reformierte Gemeinde zugestanden, 1745 erhielt Ronsdorf Stadtrechte. Die Gemeinde,
der heutige Psychologen eine autoritäre Struktur und pathologische Züge wohl nicht absprechen würden, war lokal wahrscheinlich um
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eine „Stiftshütte“ orientiert und wurde von Eller autokratisch geleitet. Noch zu seinen Lebzeiten allerdings kam es zu scharfen Konflikten; nach Ellers Tod 1750 steuerte Pfarrer
Petrus Wülfing die Gemeinde in die Separation: von 1751 bis 1765 blieb sie – wiewohl vom
toleranten Preußenkönig Friedrich II. privilegiert – von den Synoden ausgeschlossen. In
dieser Zeit entstanden – mehrheitlich aus der
Feder Wülfings – die Grundtexte der Gemeinde, die ihre quasi-kanonische Geltung bei den
Ursprungsfamilien weit über das Ende der
Separation hinaus behalten haben: ein eigener Katechismus, ein Gesangbuch, Ronsdorfs
göttliches ABC. Die Stadt wurde dank Ellers
Organisationstalent für zwei Jahrhunderte ein
blühender Ort der Textilindustrie.
Das Beispiel Ronsdorfs zeigt den Einfluss,
den Strömungen des radikalen Pietismus im
Wuppertal gewinnen konnten. Es war vor allem der aus den Niederlanden und vom Niederrhein her einwirkende reformierte Pietismus, der hier auf fruchtbaren Boden fiel. So
bildete sich um den von Gerhard Tersteegen
tief beeindruckten Barmer Kaufmann Johann
Engelbert Evertsen ab Mitte der vierziger Jahre des 18. Jahrhunderts ein Freundeskreis, der
von dem großen Mystiker gepflegt und zu einem Epizentrum seiner Ausstrahlung wurde
– ja man hat gesagt, die ganze Gemeinde Gemarke habe zeitweise eine tersteegenianische
Prägung gehabt. Mehr von den schwäbischen
Vätern des Pietismus, Bengel und Oetinger,
aber auch von Leibniz‘ Theodicée beeinflusst war der Arzt Samuel Collenbusch, der
aus Wichlinghausen stammte und dessen mystisch-spiritistischer Pietismus bis in die Erlanger Schule hinein wirken sollte. Ein weiteres über die lokalen Grenzen hinausweisendes
Beispiel pietistischen Einflusses und gleichzeitig Bindeglied zur Erweckungsbewegung des
frühen 19. Jahrhunderts ist Goethes Straßburger Freund Johann Heinrich Jung-Stilling. Von
1772 bis 1778 praktizierte er als Augenarzt in
Elberfeld und schrieb hier nebenbei seine Jugendgeschichte „Henrich Stillings Jugend“.
Das Manuskript nahm Goethe bei seinem einzigen Besuch in Elberfeld im Juli 1774 an sich,
brachte es heraus und machte so den Autor berühmt; für den Sprachkünstler Nietzsche gehört das Buch zu den ganz wenigen Klassikern
deutscher Prosa. Jung-Stillings Verhältnis zur
Kleingeisterei des bergischen Pietismus freilich war – trotz ähnlicher Grundgestimmtheit
– gespannt; im vierten Teil seiner Lebensgeschichte, Henrich Stillings häusliches Leben
von 1789, beschreibt er seine Elberfelder Jahre. Mit diesem Buch betritt Elberfeld erst eigentlich die literarische Bühne.
Jung-Stilling starb 1817 in Karlsruhe – just
zu der Zeit, da im Wuppertal die große Zeit der
Erweckungspredigt begann. Sie verbindet sich
zunächst mit dem Namen der Pfarrerdynastie Krummacher. Gottfried Daniel Krummacher war nach einer längeren Wirksamkeit in
Wülfrath von 1816 bis 1837 Pfarrer der Reformierten Gemeinde Elberfeld. „Er predigte mit
Kraft und Feuer die freie Gnade in Christo Jesu
als den einzigen Trost im Leben und im Sterben und hat wohl unter allen Predigern, die an
der Gemeinde gewirkt haben, ihr am meisten
das Gepräge aufgedrückt“, schreibt sein Großneffe über ihn. Viele seiner Predigten wurden
gedruckt und in Sammlungen zusammengetragen, die bis heute wiederaufgelegt werden:
Jacobs Kampf und Sieg; Die Wanderungen Israels durch die Wüste nach Kanaan; Tägliches
Manna für Pilger durch die Wüste; Wahrheit
zur Gottseligkeit – um nur einige zu nennen.
Gottfried Daniels Neffe Friedrich Wilhelm,
Sohn des bekannten Duisburger Professors
und Parabeldichters Friedrich Adolf Krummacher, war der vielleicht wirkmächtigste Prediger überhaupt, der in unserer Stadt gewirkt
hat. Goethe empfand seine Predigten als narkotisch, der junge Friedrich Engels karikierte ihn in seinen Briefen aus dem Wuppertal. Als junger Mann hatte sich Krummacher
in Jena feuerköpfig der Burschenschaft angeschlossen, 1825 ging er nach Gemarke. Seine
Gottesdienste waren selbst an Werktagen so
überfüllt, dass man gelegentlich sogar die Kirchenfenster aushing, damit die Außenstehenden etwas hören konnten. Der Kultusminister
ließ ihn überwachen, gegenüber dem preußischen Kronprinzen trat er anlässlich von des-
sen Besuch im Wuppertal 1833 sehr selbstbewusst auf. 1835 wechselte er nach Elberfeld,
1847 nahm er einen Ruf an die Dreifaltigkeitskirche nach Berlin an, sechs Jahre später berief ihn der einstige Kronprinz, nun König
Friedrich Wilhelm IV., zu seinem Hofprediger
in Potsdam. Seine Predigten über Elia – noch
heute hinreißend zu lesen – haben Mendelssohn Bartholdy zu seinem gleichnamigen Oratorium angeregt. Bar jeder historischen Kritik
leben Krummachers Predigten von ihrem rhetorischen Schwung: einem grandiosen Erzähltalent, einer ungemein plastischen Darstellung
und formvollendeten Schönheit der Sprache.
Unter den heute noch gelesenen Ausgaben
nenne ich neben Elias dem Thisbiter: Salomo
und Sulamith, Blicke in das Reich der Gnade
und Die Sabbatglocke.
Innige Freundschaft verband Friedrich Wilhelm Krummacher mit seinem lutherischen
Kollegen Immanuel Friedrich Sander, der sich
schon in seiner Leipziger Studienzeit als wortgewaltiger Gegner jedweden theologischen
Rationalismus’ erwiesen hatte. 1830 wurde er
Pfarrer in Wichlinghausen, 1838 in Elberfeld,
1854 wechselte er als Predigerseminardirektor
nach Wittenberg. Seine Schriften zeigen einen
weitherzigen, prophetisch geprägten Theologen mit apokalyptischem Einschlag.
Eine Generation vor Sander hatte die Lutherische Gemeinde Elberfeld in Gerhard Friedrich Abraham Strauß und Carl August Döring
bereits zwei hervorragende Erweckungsprediger gewinnen können. Strauß, vom Geiste
Tersteegens berührt und in Heidelberg mit dem
Kreis der Romantiker bekannt geworden, kam
1814 nach Elberfeld, 1822 ging er als Hofprediger und Professor für Praktische Theologie
nach Berlin. Döring, der stark missionarisch
ausgerichtet war und auch als Liederdichter
bekannt wurde, trat sein Amt in Elberfeld zwei
Jahre nach Strauß an und blieb bis zu seinem
Tode 1844. Auch er war wie Strauß und Gottfried Daniel Krummacher auf einen Ausgleich
zwischen den Konfessionen auf der gemeinsamen Grundlage eines biblizistischen Konservativismus bedacht, der im Kanzeltausch zwi-
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schen beiden Kirchen wie in der gemeinsamen
Arbeit in christlichen Vereinen seinen äußeren
Ausdruck fand.
um der reformierten Gemeinde. Ob solcherart
ökumenische Zeichen heute selbstverständlich
wären?
Strenger Biblizismus, Ablehnung des Rationalismus und der aufkommenden historischen Kritik, Übernahme der Grundanliegen der jeweiligen konfessionellen Orthodoxie
bei gleichzeitiger Relativierung der konfessionellen Unterscheidungslehren, vor allem
aber persönliche Glaubenserfahrung machen
den Geist der Erweckung jener Epoche aus –
man kann auch sagen: Pietismus und Orthodoxie schließen sich in der Erweckung gegen
den Geist der Aufklärung zusammen. Letzte bedeutende Prediger dieser Richtung in Elberfeld waren Hermann Friedrich Kohlbrügge und Paul Geyser, der von 1861 bis 1882 in
der reformierten Gemeinde wirkte und dessen
Gesammelte Schriften in den Zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ediert wurden.
Ein bewusstes, wenn auch reflektiertes Ignorieren der historischen Frage in der Theologie,
wie es die Predigten dieser beiden noch bezeugen, war seither immer schwerer intellektuell
zu vermitteln.
Oberrhé hatte jedenfalls Weitblick bewiesen. Bald lag die Kirche nicht mehr außerhalb,
sondern mitten in der Stadt. Die Einwohnerzahl Elberfelds hatte Ende des 17. Jahrhunderts bei etwa 3000 Seelen gelegen, ein Jahrhundert später bei etwa 12.000. Nun begann
ein atemberaubender Anstieg: gegen Ende
der Franzosenzeit knapp 19.000, zur Jahrhundertmitte etwa 40.000, zur Reichsgründung
über 70.000, vor dem ersten Weltkrieg über
170.000. Um 1850, also vor dem Aufstieg des
Ruhrgebiets, waren die Wupperstädte mit gemeinsam über 100.000 Einwohnern nach Berlin und Breslau die drittgrößte Agglomeration
Preußens und die fünftgrößte auf dem Gebiet
des späteren Deutschen Reiches. Hamburg
und München waren größer, alle übrigen Städte wie Köln, Dresden, Frankfurt, Leipzig, Bremen, Hannover, Stuttgart zum Teil deutlich
kleiner.
4. Soziale Frage und Vereinswesen
Die architektonisch zweifellos bedeutendste Kirche Wuppertals ist die neue katholische Laurentiuskirche, in den Jahren 1828
bis 1835 nach Plänen des Schinkel-Schülers
Adolph von Vagedes errichtet; der ihr vorgelagerte Laurentiusplatz ist das einzige schöne
Platzensemble der Stadt. Als Pfarrer Oberrhé
gegen den Willen seiner Gemeinde den Bauplatz für die neue Kirche erwarb, weil die alte
am Turmhof zu klein und zudem baufällig geworden war, lag dieser noch unerschlossen vor
den Toren Elberfelds. Wegen Zahlungsschwierigkeiten wäre der Rohbau beinahe zwangsversteigert worden; eine Spende des Königs
von 5000 Talern und Beiträge der Protestanten von bald 14.000 Talern ermöglichten die
Fertigstellung. Zur ersten Messe sang der nur
aus Protestanten bestehende Städtische Singverein, die Leuchter stiftete das Presbyteri-
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Die meisten Zuwanderer waren Handwerker, Fabrikarbeiter in der galoppierend expandierenden Textilindustrie oder Dienstmägde.
Elberfeld und Barmen wurden zu Fabrikstädten, in denen sich früher als anderswo in
Deutschland die beiden Seiten des Kapitalismus: die Anhäufung immensen Reichtums und
die Verelendung der großen Massen des Proletariats, studieren ließen. Daneben blieb der Zuzug einer bürgerlichen Mittelschicht, etwa von
höheren Beamten, Ärzten oder Künstlern, gering. Zudem veränderte die Bevölkerungsexplosion den konfessionellen Proporz: die meisten Zuwanderer kamen aus lutherischen oder
katholischen Gebieten; der reformierte Bevölkerungsanteil, Ende des 18. Jahrhunderts bei
über Dreivierteln gelegen, sank bis zum Ersten Weltkrieg auf unter ein Drittel – wobei die
absoluten Zahlen natürlich trotzdem angestiegen waren.
Die Gemeinden reagierten zunächst mit
der Errichtung neuer Kirchen und Pfarreien.
Die reformierte Gemeinde wuchs bis zum ers-
ten Weltkrieg von drei auf zehn Pfarrstellen,
die lutherische von zwei auf zwölf, wobei –
anders als sonst üblich – die Gemeinden nicht
geteilt wurden, sondern sich zu den größten
Konfessionsgemeinden Deutschlands, ja vielleicht der Welt aufblähten. Die reformierte
Gemeinde errichtete 1858 durch den Kölner
Dombaumeister Zwirner die Neue Kirche (Sophienkirche), 1898 die Friedhofskirche, dazu
entstanden zwei Kapellen, drei Gemeindehäuser und zwei neue Friedhöfe (an der Hochstraße 1842, in der Varresbeck 1902). Die lutherische Gemeinde konnte 1850 die Kreuzkirche
einweihen, 1878 die Trinitatiskirche, 1902 die
Christuskirche; dazu kamen auch hier zwei
neue Friedhöfe (an der Hochstraße 1842, am
Bredtchen 1881) und drei Gemeindehäuser, die
später zu Kirchen aufgewertet wurden. Beide
Gemeinden waren seit 1822 auf das eigentliche Elberfelder Stadtgebiet beschränkt, nachdem sich unter maßgeblicher Beteiligung des
Fabrikanten Johann Caspar Engels die Reformierten und die Lutheraner Unterbarmens gegen den erbitterten Widerstand ihrer Muttergemeinden 1822 zur Vereinigt-evangelischen
Gemeinde Unterbarmen, der ersten unierten
im Tal, zusammengeschlossen hatten. Von der
Pfarrei St. Laurentius spalteten sich nacheinander St. Marien, Herz Jesu (beide 1888), St.
Suitbertus (1902) und St. Joseph (1913) ab; ihr
Friedhof an der Hochstraße wurde 1845 eingeweiht, der im Uellendahl 1877.
Doch die äußere Expansion änderte nichts
am sozialen Elend der Massen. Es blieb Einzelnen vorbehalten, hier Phantasie zu entwickeln und Projekte zu starten, die sich dann
meist in Vereinsform weiterentwickelten. So
gründete der katholische Lehrer Johann Gregor Breuer 1846 einen katholischen Jünglingsund Gesellenverein, in dem junge Männer
Geselligkeit pflegen und sich bilden konnten. Ein Jahr später übernahm der junge Kaplan an St. Laurentius Adolph Kolping, einst
selbst Schuhmachergeselle, die geistliche Leitung des Vereins, den er später von Köln aus
zu einer deutschlandweiten Einrichtung machte, aus der sich dann das heute in mehr als
60 Ländern aktive internationale Kolpingwerk
entwickeln sollte. Kolping wurde 1991 seliggesprochen. Hinzu kamen Ordensgemeinschaften, die vorwiegend im sozial-karitativen
Bereich engagiert waren: Borromäerinnen aus
Trier versorgten das 1856 auf Betreiben von
Breuer errichtete St. Josef-Krankenhaus (im
Volksmund bald Kapellchen genannt); Dominikanerinnen gründeten 1899 das Marienheim
an der Hardtstraße. 1905 gründeten die Armen
Schulschwestern Unserer Lieben Frau die St.
Anna-Schule, das einzige katholische Mädchenlyzeum der Stadt. 1885 wurde im Uellendahl ein Waisen- und Erziehungshaus gebaut;
1912 entstand mit dem Augustinusstift im Ostersiepen ein Heim für Mütter mit unehelichen
Kindern (heute Alten- und Pflegeheim).
Die Vereinsgründungen der Protestanten
hatten aus der Erweckung heraus zunächst
missionarische Ziele: 1799 entstand die Elberfelder Missionsgesellschaft, eine der Vorgängerinnen der heutigen Vereinten Evangelischen
Mission, 1814 die Bergische Bibelgesellschaft,
es folgen 1826 die Bergische Gefängnis-Gesellschaft, die Wuppertaler Traktatgesellschaft und 1848 die Evangelische Gesellschaft
für Deutschland. Der im selben Jahr begründete und erst jüngst in einem größeren Ganzen aufgegangene Elberfelder Erziehungsverein etablierte das Kindergartenwesen,
zahlreiche Jünglings- und Jungfrauenvereine,
Enthaltsamkeitsvereine, Nähschulen, Armenund Frauenvereine entstanden. Sie – theologisch biblizistisch-konservativ geprägt – wurden zur Heimat für Tausende von Menschen,
deren Bildungs- und Aufstiegschancen gering
waren und die mit dem dialektischen Materialismus der Arbeiterbildungsvereine nichts anzufangen wussten. 1860 bekamen viele dieser
Vereine im Evangelischen Vereinshaus an der
Kasinostraße eine Heimat; in den Außenbezirken entstanden in Eigeninitiative das Vereinshaus am Katernberg und die Kapelle an
der Kohlstraße. „Tante“ Hanna Faust, Ehefrau
eines Trinkers und Betreiberin eines kleinen
Kaffeehandels, kümmerte sich im Elendstal
um die Ärmsten der Armen und wurde zu einer Art moralischem Gewissen der Stadt. Die
lutherische Gemeinde gründete 1846 ein Ar-
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menhaus und Gemeindestift und 1860 ein Rettungshaus, die Vorgängerinnen des heutigen
Lutherstifts. Der Gefängnispfarrer Karl Heinersdorff eröffnete 1891 ein Zufluchtshaus für
Prostituierte und strafentlassene Frauen und
Mädchen, die zugleich geschützt wie umerzogen werden sollten; hieraus ist die Bergische
Diakonie Aprath hervorgegangen. Die Wuppertaler Festwochen und der Elberfelder Kirchentag 1851 stärkten das Gemeinschaftsgefühl.
Die organisierte Armenpflege lag bis 1799
ausschließlich bei den Kirchengemeinden; in
den beiden evangelischen Gemeinden waren
jeweils drei Provisoren – für Stadt, Kirchspiel
und Unterbarmen – für sie zuständig. Zur materiellen Versorgung trat eine strikte moralische Überwachung: man sah Armut oft genug als Folge mangelnden Arbeitswillens oder
schwachen Glaubens an – dabei bezog 1850
etwa jeder fünfte Einwohner Leistungen aus
einer Armenkasse. 1853 trat schließlich das
Elberfelder System der kommunalen Armenfürsorge in Kraft, das sich wegen seiner dezentralen Organisation als höchst effizient erwies und bald weltweit (bis nach Russland,
Japan und in die USA) übernommen wurde.
Die reformierte Gemeinde reagierte darauf
1857 mit einem eigenen Organisationsplan für
kirchliche Armenpflege, der wieder stark moralische Zucht und Besserung in den Mittelpunkt rückte.
5. Freikirchen und kleinere Gemeinschaften
Zu den ersten freikirchlichen Gemeindebildungen in Elberfeld kam es durch den Widerstand gegen die 1817 von König Friedrich
Wilhelm III. verkündete Union zwischen Lutheranern und Reformierten in Preußen sowie
die vom König entworfene Agende. Solcher
Widerstand verband sich in beiden Konfessionen mit einer dezidiert konservativen, antiliberalen theologischen Grundhaltung.
In der reformierten Gemeinde bildete sich
1835 ein Kreis um Daniel und Carl von der
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Heydt sowie Louis Frowein, der die staatliche Einflussnahme auf die Gemeinde durch
Verweigerung von Amtshandlungen und die
Organisation eigener Versammlungen boykottierte. Sie fand Kontakt zu dem niederländischen Theologen Hermann Friedrich Kohlbrügge, der aus der Erweckungsbewegung
kam und eine christologische Auslegung des
Alten Testamentes vertrat, darüber hinaus
starke Einflüsse Luthers und Calvins zu einer ganz eigenartigen Theologie verband, die
die Radikalität der Sünde wie die Rechtfertigung gleichermaßen betonte. Seit 1846 wirkte Kohlbrügge in Elberfeld, 1847 wurde die
Gemeinde durch königliches Patent unter dem
Namen Niederländisch-reformierte Gemeinde
toleriert, 1849 eine Kirche in der Deweerthstraße erbaut, die 1943 den Bomben zum Opfer fiel. Der Friedhof der Gemeinde an der Katernberger Straße, in dessen Kapelle heute die
Gottesdienste stattfinden, besticht durch die
schlichte, gleichförmige Anlage der Gräber. Im 20. Jahrhundert hat vor allem Pfarrer Alfred de Quervain, nebenamtlich Dozent
an der Kirchlichen Hochschule, die Gemeinde geprägt, deren Beziehung zur Landeskirche
jetzt sehr eng ist.
In der lutherischen Gemeinde sammelten
sich die Gegner von Union und Liberalismus
um den Pfarrer Ludwig Feldner, der 1858 aus
der Landeskirche austrat und gemeinsam mit
etwa 200 Anhängern die altlutherische Gemeinde in Elberfeld begründete (heute St. Petri-Gemeinde). Sie fand ihr Domizil an der
jetzigen Paradestraße, wo auch heute Kirche,
Pfarrhaus und Friedhof vereinigt sind.
Der Abstand zum vermeintlichen volkskirchlichen Liberalismus konnte sich auch jenseits konfessioneller Positionierung Ausdruck
verleihen. So gründete 1850 Hermann Heinrich Grafe gemeinsam mit dem Lehrer Carl
Brockhaus, dem Weber Johann Lindermann,
Carl Wilhelm Neviandt und Julius Köbner den
Evangelischen Brüderverein mit dem Ziel, das
Evangelium über alle Konfessionsgrenzen hinweg zu verbreiten. Doch in der Konsequenz lag
die Bildung eigener Gemeinden: 1852 grün-
dete Köbner die erste Baptistengemeinde in
Westdeutschland, die 1894 geteilt wurde und
1900 ihre Kapelle in der Rolandstraße einweihen konnte. 1854 traten Grafe und andere aus
der reformierten Gemeinde aus und begründeten die Freie evangelische Gemeinde Elberfeld-Barmen, die gegen Ende des Jahrhunderts
etwa 300 Mitglieder zählte. Brockhaus, Mitinitiator des Elberfelder Erziehungsvereins und
Initiator der sehr wortgetreuen Elberfelder Bibelübersetzung, begründete 1852 die Elberfelder Brüdergemeinde und trat 1856 aus der Landeskirche aus. Um Lindermann scharte sich ab
1860 eine Getaufte Christengemeinde, aus der
schließlich eine adventistische Gemeinde wurde (heute in der Platzhoffstraße).
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts fassten
verstärkt Denominationen aus dem angelsächsischen Bereich im Wuppertal Fuß; Erweckung
und Biblizismus, gelegentlich apokalyptische
Stimmungen waren die verbindenden Momente. So wurde Barmen 1876 Keimzelle der Katholisch-apostolischen Gemeinde, in Elberfeld
entstand ab 1889 eine neuapostolische Gemeinde. Die Elberfelder methodistische Gemeinde
bekam 1888 ihre Selbständigkeit; ihre Kirche
an der Nevigeser Straße ist freilich weit weniger bekannt als das danebengelegene, vom
Diakoniewerk dieser Kirche getragene Bethesda-Krankenhaus. Heute pflegt die Evangelisch-methodistische Kirche gute Kanzel- und
Abendmahlsgemeinschaft mit der Landeskirche. Seit 1890 arbeitet die Heilsarmee in Elberfeld, während die Quäker, wiewohl schon 1831
im Tal bezeugt, erst 1919 eine Gemeinde bilden
konnten. Seit 1894 gibt es Ernste Bibelforscher
(Jehovas Zeugen) im Wuppertal, die heute Königreichssäle in der Aue und in der Kieselstraße
unterhalten. Die ersten Wuppertaler Mormonen
(Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten
Tage) wurden 1899 getauft; seit 1902 kann man
von einer Gemeinde sprechen. 1907 wurden die
ersten Gottesdienste im Geiste von Christian
Science gehalten.
Die Auflistung ist sicher nicht vollständig. Sie wird aber deutlich machen, wieso man
vom Wuppertal nicht nur als von einem Mu-
ckertal, sondern auch von der Stadt mit der
größten Sektendichte Deutschlands spricht –
und wie beides zusammengehört. Wobei der
Begriff Sekte, aus volkskirchlicher Perspektive und pejorativ gebraucht, wenig hilfreich
ist. Die Menschen des Tales brauchten überschaubare Gemeinschaften zur geistigen, sozialen und religiösen Beheimatung; sie schauten
auf das Kleine, die Differenzen, und gleichzeitig auf das Große und Eine, auf Gott, und
es spielt dabei wenig eine Rolle, ob dieses Bedürfnis innerhalb oder außerhalb landeskirchlicher Strukturen Erfüllung fand. Typisch neuzeitlich ist dabei der subjektivistische Ansatz
beim einzelnen gläubigen Individuum, das
sich mit anderen Individuen gleicher religiöser Überzeugung zu einer Gemeinschaft verbindet: So kann in unserer Stadt Vereinshaus
heißen, was der Funktion nach eine Kirche
ist. Dieser Subjektivismus, der in der akademischen Theologie etwa bei Schleiermacher
und gerade in der liberalen Theologie begegnet, will zu dem strengen Offenbarungspositivismus der Gruppen schlecht passen.
6. Kirchenkampf und kirchlicher Widerstand
Die Ablehnung liberaler, die als biblische
Offenbarung zersetzend empfundener theologischer Gedanken geschah ausgerechnet angesichts zweier konfessioneller Großgemeinden, die Horte biblisch-konservativer Theologie
darstellten – vielleicht war gerade diese innere Nähe die Voraussetzung für die Entstehung
derart vieler, noch extremerer kleiner Gruppierungen. Jedenfalls zeigen die Lebensläufe
sowohl der reformierten wie der lutherischen
Pfarrer eine gemeinsame, seinerzeit positiv genannte theologische Grundeinstellung. Viele
Elberfelder Pfarrer an der Wende zum 20. Jahrhundert fühlten sich konservativen und vom Pietismus beeinflussten Lehrern wie Martin Kähler oder Adolf Schlatter verpflichtet. Nicht von
ungefähr fand 1893 die kurz zuvor in Bonn gegründete Evangelistenschule Johanneum im
Wuppertal ihre dauernde Heimstatt. Daneben
blieb die konfessionelle Prägung wichtig: 1904
endlich erlangte die reformierte Gemeinde die
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Erlaubnis zur Gründung eines eigenen Kandidatenstifts zur praktischen Vorbildung reformierter Theologen, das 1929 in Reformiertes
Predigerseminar umbenannt wurde und einen
der Vorgänger des heutigen Seminars für pastorale Aus- und Fortbildung darstellt. Hauptinitiator und erster Leiter war Pfarrer Heinrich
Ernst Calaminus, als langjähriger Hauptschriftleiter der Reformierten Kirchenzeitung und
Moderator des Reformierten Bundes einer der
herausragenden Theologen der Gemeinde neben Carl Krafft, dem überaus gelehrten Regionalhistoriker und Mitbegründer des Bergischen
Geschichtsvereins, oder dem Calvin-Forscher
Wilhelm Kolfhaus. Krafft vermachte der Gemeinde seine wertvolle Bibliothek, die heute als
Bestandteil der Historischen Bibliothek im Kirchenkreis Wuppertal ein wichtiges Erbe darstellt. Neben das Kandidatenstift trat 1928 als
propädeutische Anstalt die Theologische Schule. Die lutherische Gemeinde, obwohl größer,
baute keine derart eigenständige theologische
Infrastruktur auf, hatte aber auch einige herausragende Pfarrer wie Georg Hafner, der während
des Ersten Weltkrieges Präses der Rheinischen
Provinzialsynode war, oder den international
wirkenden Heinrich Niemöller.
Kehrseite dieser von vielen als geistliche
Blüte erlebten Zeit war eine immer größere Distanz kirchlicher Kreise zur zeitgenössischen Kultur. Der groteske Streit um den Jubiläumsbrunnen auf dem Neumarkt 1901 oder
der jahrelang schwelende Kampf um das Theater, von der Kanzel herab als Sündenpfuhl
verdammt, wurden von Außenstehenden nur
noch als Auswüchse christlicher Bigotterie zur
Kenntnis genommen. In den Zwanziger Jahren
änderte sich das nicht grundlegend, im Gegenteil: die Gemeinden bzw. ihre Repräsentanten
fühlten sich bedroht durch Liberalismus, Sozialismus, Katholizismus und Judentum, und sie
verstiegen sich in einen Abwehrkampf etwa
gegen das Frauenwahlrecht und die konfessionsfreie Schule. Hier stand die katholische
Kirche an ihrer Seite.
Zu Beginn der nationalsozialistischen
Herrschaft war der politisch, sozial wie theo-
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logisch konservative Charakter der Elberfelder Gemeinden unübersehbar. Viele suchten
Verbündete im rechten Spektrum: Im Evangelischen Vereinshaus an der Casinostraße
redeten Hugenberg und Hitler; 1933 zog die
Gestapo hier ein.
Das kleine Denkmal auf dem Barmer
Werth, das an die Sternstunde der Wuppertaler
Kirchengeschichte, die Bekenntnissynode von
1934 erinnert, macht sinnfällig, was nach der
Machtergreifung 1933 gerade im Wuppertaler
Protestantismus aufeinanderprallte: Da steht
auf der einen Seite eine Mehrheit, den Arm
zum Hitlergruß erhoben, und blickt in dieselbe
Richtung; da versammelt sich auf der anderen
Seite eine Minderheit um ein aufgeschlagenes
Buch, das ihr Führer zu und Quelle der Wahrheit ist. Zwei unterschiedliche Totalansprüche
gehen nicht zusammen – jedenfalls für Menschen nicht, die überhaupt bereit sind, einen
Absolutheitsanspruch gelten zu lassen.
Einen solchen formulierten die Verfasser der Barmer Theologischen Erklärung von
1934 überdeutlich mit ihrer ersten These: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift
bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir
zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu
vertrauen und zu gehorchen haben. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung
außer und neben diesem einen Worte Gottes
auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“
Damit wird eine ganze theologische Tradition beiseitegeschoben, die den deutschen Protestantismus reich gemacht und die deutsche
Kultur über zwei Jahrhunderte ungemein befruchtet hat: die der Aufklärung und der Romantik, des Idealismus und des Liberalismus.
Übrig bleibt der Offenbarungspositivismus
des Hauptverfassers der Erklärung Karl Barth
und eines damit kompatiblen „positiven“ Luthertums. Immerhin hat die Erklärung in diesem Abgrenzungswillen und mit ihrem Ausschließlichkeitsanspruch der Bekennenden
Kirche den Maßstab ihres Widerstandes an die
Hand geben können – auch heute berufen sich
gerade Kirchen in einer besonderen Kampfsituation auf sie. Jedenfalls war die Barmer Bekenntnissynode von 1934 kein nur lokales Ereignis. Sie markiert den einzigen Punkt, an
dem die Wuppertaler Kirchengeschichte weltweite, ökumenische Bedeutung hat – und es
gereicht unserer Stadt zur Ehre, dass eine ihrer Gemeinden Gastgeberin sein durfte.
Auch in Elberfeld begann der eigentliche
Kirchenkampf mit den Kirchenwahlen vom
Juli 1933. Anders als etwa Gemarke stellten
die Elberfelder Gemeinden keine Gegenliste
zu der der Deutschen Christen auf, die Protestantismus und Nationalsozialismus ideologisch
zu verbinden suchten. In der Folge verlor Hermann Klugkist Hesse, Pfarrer der reformierten Gemeinde und durch Monographien und
Aufsätze als Regionalhistoriker von Rang ausgewiesen, die Schriftleitung des von ihm seit
1925 herausgegebenen Reformierten Wochenblattes. Daraufhin begründete er gemeinsam
mit dem Barmer Pfarrer Karl Immer das Wochenblatt Unter dem Wort als Organ der sich
formierenden Bekennenden Kirche, das 1936
verboten wurde. Im selben Jahr wurde als Versammlungsort der Bekenntnisgemeinde das
Gemeindehaus an der Hopfenstraße errichtet.
Hesse wurde im März 1934 in den einstweiligen Ruhestand versetzt, arbeitete jedoch weiter – unter anderem als Dozent an der 1935 begründeten illegalen Kirchlichen Hochschule
– und wurde als versöhnungsbereiter Repräsentant des gemäßigteren Teiles der reformierten Bekenntnisgemeinde nach dem Kriege Superintendent.
Die wohl wichtigste Gestalt der Bekennenden Kirche in Elberfeld war Klugkist Hesses
Amtsbruder Hermann Albert Hesse, Moderator des Reformierten Bundes und des Dreimännerkollegiums, das Friedrich von Bodelschwingh als Reichsbischof vorschlug. Hesse,
führend an der Barmer Synode beteiligt und
gelegentlich als reformierter Papst tituliert,
lehnte auch nach 1940, anders als Klugkist
Hesse und der ebenfalls gemaßregelte Pfar-
rer Gotthold Lesser, jeden Kompromiss ab
und isolierte sich damit zunehmend innerhalb
der Bekennenden Kirche. Die reformierte Bekenntnisgemeinde zerfiel. Nachdem Hermann
Albert Hesse die Barmer Bombennacht vom
Mai 1943 nach heilsgeschichtlichem Modell
als Strafgericht und Bußruf Gottes bezeichnet hatte, wurde er in den Ruhestand versetzt
und kam gemeinsam mit seinem Sohn Helmut
Ende 1943 nach Dachau. Nach dem Krieg hat
er kein positives Verhältnis mehr zur reformierten Gemeinde gefunden. Sein Sohn Helmut, vom Vater illegal ordiniert, gehört zu den
wenigen auch in der Bekennenden Kirche, die
zur Verfolgung der Juden nicht geschwiegen
haben. „Die Judenfrage ist eine evangelische
und keine politische Frage. Die Kirche hat jedem Antisemitismus in der Gemeinde zu widerstehen“, predigte er 1943; er starb in Dachau an Krankheit und Entkräftung.
War der kirchliche Widerstand bei den Reformierten stark durch die Wort-Gottes-Theologie Karl Barths geprägt, so besann sich der
Bekenntnisflügel der lutherischen Gemeinde
auf die lutherische Tradition und Liturgie. Seine bedeutendsten Repräsentanten waren Peter Brunner und Heinrich Schlier. Brunner,
bis zu seiner Absetzung Privatdozent in Gießen, wurde 1936 Dozent an der Kirchlichen
Hochschule und seit 1940 Pfarrer der lutherischen Bekenntnisgemeinde in Elberfeld mit
einer großen Nähe zur Hochkirchlichen Bewegung und einem beinahe orthodox anmutenden Gottesdienstverständnis. Heinrich Schlier,
einst Privatdozent in Jena und Marburg, wirkte gleichzeitig mit Brunner an Hochschule und
Bekenntnisgemeinde; nach dem Krieg konvertierte er zum Katholizismus.
Zu den prominentesten Vertretern der
Deutschen Christen in Elberfeld gehörte Fritz
Beckmann, Verfasser einer Deutschen Christenfibel und seit 1934 Pfarrer der lutherischen
Gemeinde am Hombüchel. Noch im März
1945 veröffentlichte er im General-Anzeiger
Durchhalteparolen; bei seinen Gemeindegliedern war der promovierte Theologe wegen seiner Volkstümlichkeit sehr beliebt.
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Neben den Beispielen aus der Pfarrerschaft
sei auch etwa an Georg Maus erinnert, Lehrer
am Hindenburg-Realgymnasium (heute Gymnasium Bayreuther Straße), der 1943 nach
Idar-Oberstein versetzt wurde und durch seine
Betonung der ausschließlichen Autorität der
Bibel aneckte. Er wurde 1944 verhaftet und
verurteilt und starb 1945 auf einem Gefangenentransport.
Sichtbares fortdauerndes Ergebnis des Kirchenkampfes in Wuppertal ist die Kirchliche
Hochschule, die nach der Dahlemer Synode
1935 unter maßgebender Beteiligung des Studieninspektors am Reformierten Predigerseminar Wilhelm Niesel begründet wurde und
zunächst als Abteilung der Theologischen
Schule in der Alemannenstraße firmierte; sie
konnte ihre illegale Tätigkeit am Ort bis 1937,
an wechselnden Orten bis 1941 fortführen.
In den katholischen Pfarrgemeinden Elberfelds gab es aufgrund der hierarchischen Organisationsstruktur keinen den evangelischen
Gemeinden analogen Kirchenkampf. Aber
auch hier regte sich bei Einzelnen Widerstand.
Am bekanntesten für unseren Bereich dürfte
der aus Barmen stammende Bandwirker Bernhard Letterhaus sein. Schon 1931 hatte er als
Vizepräsident des Katholikentages und Abgeordneter des Zentrums im Preußischen Landtag vor dem Nationalsozialismus gewarnt, seit
1942 war er Hauptmann beim Oberkommando der Wehrmacht mit Kontakten zu den Verschwörern um Beck und Goerdeler. Nach dem
gescheiterten Attentat auf Hitler wurde er verurteilt und im November 1944 in Plötzensee
gehängt.
Bereits 1940 musste das St. Anna-Lyzeum geschlossen werden; hier zog der Caritasverband unter seinem Leiter Hans Carls ein,
der zuvor Kaplan an St. Laurentius gewesen
war. Gemeinsam mit seiner Sekretärin Maria
Husemann half er dabei, die Predigten des
Münsteraner Bischofs Clemens August Graf
von Galen gegen das Euthanasie-Programm
der Nazis heimlich zu verbreiten und bezog
auch öffentlich Stellung. Carls wurde nach
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Dachau, Husemann nach Ravensbrück deportiert, beide überlebten. 1943 kam der französische Jesuitenpater Victor Dillard, getarnt als
Elektriker und unter falschem Namen, nach
Elberfeld, um französischen Zwangsarbeitern
vor Ort Beistand leisten zu können; heimlich
las er die Messe, organisierte Vorträge und
Fußballturniere, brachte Kranke zur Behandlung ins St. Josef-Krankenhaus. Wegen antideutscher Propaganda wurde er 1944 verhaftet und nach Dachau deportiert, wo er an den
Folgen einer Operation starb. Besonders unter
dem Regime zu leiden hatten auch die Ernsten
Bibelforscher (Zeugen Jehovas), von denen ab
1936 viele verhaftet und misshandelt wurden.
Ihre Tapferkeit und Hilfsbereitschaft anderen
Gefangenen gegenüber war vorbildhaft.
7. Wiederaufbau, Ökumene
und Strukturwandel
Als die alliierten Truppen in Wuppertal
einrückten, lag die Stadt in Trümmern. Von
den großen Kirchen Elberfelds waren zerstört:
St. Laurentius, Herz Jesu, St. Marien, St. Suitbertus, die Alte reformierte und die Alte lutherische Kirche, Trinitatiskirche und Christuskirche, dazu eine große Anzahl Pfarr- und
Gemeindehäuser, das Ev. Vereinshaus an der
Kasinostraße, das Reformierte Gemeindestift,
die altlutherische und die niederländisch-reformierte Kirche; die lutherische Gemeinde hatte ihr gesamtes Archiv verloren. Übergangsweise wurden Gottesdienste in erhalten
gebliebenen Gemeinderäumen, Schul- und
Friedhofskapellen gefeiert; erste Aufgabe war
der Wiederaufbau. Dabei wurde – anders als
in Barmen – keine der großen Kirchen völlig
abgetragen, jedoch erfolgte die Wiederherstellung meist in einfacheren Formen, zumal man
mit dem Historismus als Stilepoche nun nichts
mehr anzufangen wusste. Viele Provisorien wurden auf Dauer beibehalten (Gemeindehäuser Steinbeck, Hahnerberg, Vogelsangstraße); die lutherische Gemeinde benannte in der
Konsequenz einige ausgebaute Gemeindehäuser in Kirchen um (Thomaskirche, Lutherkirche, Lukaskirche).
Neben den äußeren Wiederaufbau trat der
innere. Er erfolgte bei den Reformierten auf
dem Fundament einer konservativ verstandenen Wort-Gottes-Theologie im Gefolge Karl
Barths. In der lutherischen Gemeinde wurde die stark liturgisch-konservative Ausrichtung, die sie durch Schlier und Brunner erfahren hatte, fortgeführt. Dadurch entfernten sich
beide Gemeinden in den Formen ihres Gottesdienstes voneinander; hatte die Lutherische
Gemeinde doch zuvor eine beinahe reformierte Schlichtheit in Kultus und Kirchraum gepflegt. Dafür näherte man sich dem an, was in
den lutherischen Gegenden Nord-, Mittel- und
Ostdeutschlands üblich war, wodurch die vielen Heimatvertriebenen Vertrautes wiederfanden.
Mit der Erschließung neuer Wohngebiete auf dem Hahnerberg, dem Nützenberg, im
Uellendahl und auf dem Katernberg wurde
ab Mitte der Fünfziger Jahre für alle Konfessionen die Errichtung neuer Kirchen und Gemeindehäuser nötig. So entstanden die Johanneskirche und St. Hedwig im Süden sowie
Michaels-, Stephanus- und Dorpkirche im
Westen. Am erheblichsten war die Bautätigkeit im Norden: Auferstehungs-, Matthäus-,
Erlöser- und Philippuskirche, Christ-König,
St. Michael, St. Stephanus und St. Johannes
(Roncallizentrum), das Martin-Luther-KingHaus, die Gemeindezentren Röttgen und Am
Eckbusch. Bei den Katholiken entstanden
aus den Filialkirchen bald neue, selbständige
Pfarrgemeinden; die beiden riesigen evangelischen Gemeinden wurden 1964 durch landeskirchliches Gesetz aufgeteilt. Aus der reformierten Gemeinde wurden drei (Nord, Mitte,
Süd), aus der lutherischen sechs (Kolk, Kreuzkirche, Trinitatiskirche, Christuskirche, Thomaskirche, Auferstehungskirche), die sich zu
zwei Gemeindeverbänden zusammenschlossen, um gemeinsame Aufgaben (Friedhöfe,
Verwaltung) zu erfüllen und ihre spezifische
Tradition zu erhalten.
Doch die veränderten theologischen und
kirchenpolitischen Verhältnisse Ende der sechziger Jahre ließen die innerprotestantischen
konfessionellen Prägungen vor allem in den
Neubaugebieten unwichtig werden: Die beiden Südstadtgemeinden vereinigten sich 1970,
bald folgte man im Uellendahl. Die rapide Abnahme des reformierten Bevölkerungsanteils
gegenüber denen, die sich als evangelisch bezeichneten und den evangelisch-lutherischen
Gemeinden zugeschlagen wurden, führte
schließlich 1981 zum Zusammenschluss der
übriggebliebenen Konfessionsgemeinden und
zur Bildung von fünf neuen, von denen drei
(Nord, Ost und West) reformierte Anteile in
sich bargen. Die Konfession wurde nun an Gemeindebezirke gebunden, die Gemeindeverbände und Verwaltungen fusioniert, Satzungen sicherten die paritätische Besetzung von
Gremien und konfessionelle Reservatrechte.
Jeder Gemeindebezirk hatte eine eigene Pfarrstelle und ein eigenes Gotteshaus. Auf kreiskirchlicher Ebene wurde das Diakonische
Werk zu einem Großanbieter sozialer Leistungen ausgebaut. Man meinte, nun dauerhafte
Lösungen gefunden zu haben.
Doch dieser Eindruck täuschte. Mitte der
achtziger Jahre kippten die demographischen
und finanziellen Verhältnisse. Statt Neubau war
nun Verkauf, Abriss oder Umnutzung angesagt.
Als die Dorpkirche 1982 verschenkt wurde, war
man traurig; bei der Schließung des Martin-Luther-King-Hauses 1994 und erst recht beim Verkauf der Trinitatiskirche 1999 hagelte es Proteste – seither sind fast alle Kleinkirchen und
Neubauten der Nachkriegszeit wieder aufgegeben worden und es hat sich Resignation breitgemacht. Zur Aufgabe von Gebäuden und Einrichtungen kam ein erheblicher Abbau von Personal
auf jeder Ebene; von den 35 Pfarrstellen im Gemeindeverband Elberfeld 1981 sind heute noch
11 vorhanden; sie verteilen sich auf die vier Gemeinden, die nach mehreren Fusionen noch geblieben sind: Elberfeld-West, -Nord, -Südstadt
und Uellendahl-Ostersbaum. Statt konfessioneller Prägungen spielen heute kirchenpolitische Präferenzen eine Rolle (die Haltung zur
Feministischen Theologie, zur Segnung gleichgeschlechtlicher Paare, zum Judentum), will
man eine Gemeinde als eher konservativ oder
eher progressiv einschätzen.
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Der Zwang zur Umstrukturierung ging
auch an den katholischen Gemeinden nicht
vorbei – aus finanziellen Gründen und durch
den akuten Priestermangel. Doch hier versucht man, die geweihten Kirchen zu erhalten:
nur die St. Stephanus-Kapelle am Katernberg
wurde aufgegeben und abgerissen. Die einzelnen Gemeinden wurden zunächst zu Verbünden zusammengefasst; in ihnen wurden aus
Pfarrern, Pastoral- und Gemeindereferenten
Seelsorgeteams gebildet; Kirchenvorstände
und Pfarrgemeinderäte konnten die gemeindliche Identität fortführen. Mittlerweile mussten die Pfarrverbände zu Gemeinden fusionieren, die unter der Leitung eines leitenden
Pfarrers stehen, dem Pfarrvikare und Laientheologen zugeordnet sind. So existieren seit
2010 in Elberfeld nurmehr zwei katholische
Gemeinden: St. Laurentius und Herz-Jesu. Die
Dekanate Barmen und Elberfeld wurden – wie
auch die beiden evangelischen Kirchenkreise
– zusammengelegt. Größter Schatz der katholischen Kirche im Tal sind die fremdsprachlichen Gemeinden: die italienische, polnische,
kroatische und die spanische. Die größte ist die
polnische; die italienische erreicht über 4000
Gläubige. Ihre jährlich stattfindende Karfreitagsprozession vom Deweerthschen Garten
bis zur Hardt mit bis zu 10.000 Teilnehmern
ist mittlerweile das größte regelmäßige religiöse Ereignis der Stadt und findet überregional
Beachtung, wie denn überhaupt die Medienpräsenz der katholischen Kirche auch auf lokaler Ebene die der Protestanten übertrifft.
ausgerichteten. Bereits 1965 konnte die Pfingstgemeinde den Wunderbau erwerben, eines der
ältesten steinernen Gebäude der Stadt. Die Filadelfia-Gemeinde kaufte 1984 das ehemalige
reformierte Gemeindehaus Nordwest auf dem
Ölberg; aus dem Jesus-Zentrum der Achtziger
Jahre wurde 1990 die Andreas-Murray-Kirche
an der Briller Straße. Andere Gruppen, wie die
Christus-Gemeinde, die Gemeinde der Christen Ecclesia oder der Missionsbund zur Ausbreitung urchristlichen Evangeliums haben ihren Sitz in Barmen. Zu den protestantischen
Gemeinden fremder Sprache und Herkunft,
die in Elberfeld Gottesdienste feiern, gehören
die Assemblée de Dieu, die Church of Peace,
die Jesus Family Evangelical and Revival Mission, die Koreanische Missionsgemeinde oder
World Alive Ministries. So wie die Menschen,
die aus anderen Ländern zu uns kommen, unsere Stadt bereichern, bereichern sie auch ihr
religiöses Spektrum. Fast alle Kirchen und Gemeinschaften pflegen ökumenische Kontakte
und sind Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft
christlicher Kirchen und Gemeinden (letzterer Namenszusatz bezieht sich auf die besonderen Wuppertaler Gegebenheiten). Speziell
das Verhältnis der beiden Volkskirchen zueinander ist – innerhalb der Grenzen, die durch
das unterschiedliche Kirchenverständnis vorgegeben sind – auf lokaler Ebene in der Regel
entspannt und kooperativ. Verbindende Funktion haben auf innerevangelischer Seite auch
die Wuppertaler Stadtmission und die Landeskirchliche Gemeinschaft.
Durch Migration aus Griechenland und
Osteuropa fasste die orthodoxe Kirche in unserer Stadt Fuß: 1963 wurde die griechisch-orthodoxe Gemeinde Zoodochos Pigi gegründet,
die 1967 die ehemalige reformierte Kapelle an
der Uellendahler Straße erwerben konnte; die
Serbisch-Orthodoxen kauften 1997 die ehemalige Lutherkirche auf dem Hombüchel; die
russisch-orthodoxen Christen haben ihr Zentrum in der ehemaligen Krankenhauskapelle
St. Anna der früheren Landesfrauenklinik.
Die evangelische Landeskirche hat im
Zuge von Zentralisierungsmaßnahmen auf der
Hardt, dem Heiligen Berg, Ausbildungseinrichtungen zusammengezogen und sie mit Gebäuden der Vereinten Evangelischen Mission zum
Theologischen Zentrum verbunden. Wichtigste Einrichtung bleibt die nun mit ihrer Betheler Schwester fusionierte Kirchliche Hochschule, die einigen wichtigen Theologen der
Nachkriegszeit (Wolfhart Pannenberg, Jürgen
Moltmann, Hans Walter Wolff) als Karrieresprungbrett gedient hat; sie hat im Bereich der
Feministischen Theologie, des jüdisch-christlichen Dialogs, vor allem aber mit ihrem Bib-
Neben die alten Kirchen treten die ganz
neuen, meist pfingstlerisch oder charismatisch
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lisch-archäologischen Institut ein eigenes Profil in der Fakultätenlandschaft gewonnen.
Seit Ende der achtziger Jahre befindet sich
unsere Stadt in einem wirtschaftlichen, demographischen, sozialen und politischen Niedergang, der sich immer mehr beschleunigt und
auch die Kirchen nicht verschont. Eindeutiger
Verlierer ist dabei die evangelische Landeskirche, deren Gemeinden die Stadt einst dominierten. Zur Zeit sind etwa ein Drittel der
Wohnbevölkerung evangelisch und ein Viertel katholisch. Der Anteil der Muslime wird
auf etwa 8 Prozent geschätzt, liegt aber in Elberfeld sicher höher. Der Rest verteilt sich auf
andere Religionsgemeinschaften oder ist konfessionslos. Bei weiterhin rapide abnehmender
Bevölkerungszahl wird der evangelische Anteil weiter sinken, der muslimische und der der
Konfessionslosen wachsen. Von Menschen mit
Migrationshintergrund muslimischen Glaubens etwa aber wird man nicht erwarten können, dass sie sich mit den christlichen Traditionen ihrer neuen Heimatstadt identifizieren,
zumal eine Identifikation mit deren vorindustrieller Vergangenheit überhaupt in der breiten Masse der Bevölkerung nicht stattfindet.
Was Wuppertal fehlt, ist ein Wahrzeichen wie
es etwa die Dresdner Frauenkirche, der Kölner
Dom oder der Hamburger Michel darstellen,
das die kirchliche Prägung der Stadt repräsentiert. Es könnte Menschen ohne religiöse Bindung oder mit Migrationshintergrund helfen,
sich, indem sie sich mit ihrer Stadt identifizieren, auch mit deren religiöser Geschichte zumindest dadurch zu identifizieren, dass sie sie
als Teil der Stadtgeschichte adoptieren. Ohne
eine solche Adoption aber wird die Kirchengeschichte unserer Stadt in weiterer Zukunft zu
einer marginalen, die evangelische speziell zu
einer paläontologischen Disziplin mutieren.
Eberlein, Hermann-Peter (Hg.): Album ministrorum der Reformierten Gemeinde Elberfeld.
Prediger und Pastoren seit 1552, Bonn 2003
(SVRKG 163).
Eberlein, Hermann-Peter (Hg.): 444 Jahre Evangelische Kirche in Elberfeld. Vorträge anläßlich
der Eröffnung der historischen Bibliothek im
Kirchenkreis Elberfeld im Sommer 1996, Köln
1998 (SVRKG 127).
Engels, Sylvia und Hermann-Peter Eberlein (Hg.):
Die tausendjährige Geschichte der Alten reformierten Kirche. Prisma der Stadt- und Kirchengeschichte Elberfelds, Kamen 2009.
Goebel, Klaus und Andreas Knorr (Hg.): Kirchen
und Gottesdienststätten in Elberfeld, Düsseldorf 1999 (Kirchen und Gottesdienststätten in
Wuppertal, Bd. 1).
Helmich, Hans: Die Wuppertaler Gemeinden von
1918-1933, Köln 1992 (SVRKG 106).
Helmich, Hans: Nach dem Kirchenkampf. Die
evangelischen Gemeinden Wuppertals von
1945 bis 1949, Bonn 2004 (SVRKG 164).
Schrader, Ulrike: Bekenntnis und Verrat. Ein
Stadtführer zur Wuppertaler Kirchengeschichte in der Zeit des Nationalsozialismus, Wuppertal 2009
Vorländer, Herwart: Kirchenkampf in Elberfeld
1933-1945. Ein kritischer Beitrag zur Erforschung des Kirchenkampfes in Deutschland,
Göttingen 1968.
Übersichtsliteratur
(mit weiterführenden Angaben)
Christenn, Ulrich T.: Atlas der christlichen Glaubensgemeinschaften in Wuppertal, Wuppertal
2007.
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