Wolfgang Amadeus Mozart Die Entführung aus dem Serail

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Wolfgang Amadeus Mozart Die Entführung aus dem Serail
Wolfgang Amadeus Mozart
Die Entführung aus dem Serail
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Opernfreunde!
Meine Einführung in Mozarts Singspiel „Die Entführung aus dem Serail“ möchte ich
wieder mit ein wenig Operngeschichte beginnen. Wenn wir von Oper handeln, vor
allem von der Oper aus dem 18. Jahrhundert, können wir die gesellschaftlichen
Bedingungen, unter denen sie entstanden ist, nicht unberücksichtigt lassen. Wir
können zwar das Werk selbstverständlich geniessen, ohne einen Moment an dessen Geschichte zu denken, aber beim genaueren Hinsehen zeigt es sich immer,
dass Zeit und Epoche der Entstehung konstitutiv sind. So ist es in hohem Masse
auch heute.
Ich möchte Ihnen zuerst etwas sagen zu Mozart als Musiker und als dem Komponisten von Opern. Goethe hat Mozart das Genie schlechthin genannt; dem können
wir ohne weiteres zustimmen. Schon nur der ungeheure Umfang seines Werks ist
einzigartig. Man hat errechnet, dass ein guter Notenabschreiber es nicht fertig
brächte, das Gesamtwerk Mozarts in der gleichen Zeit abzuschreiben, in der es
Mozart komponiert hat! Wenn wir von Mozart sprechen, gelten also die normalen
und herkömmlichen Kategorien nicht. Mozart ist immer einzigartig.
Zum zweiten: Mozart war vielleicht einer der ersten freien Künstler! Er hat sich
aus dem Anstellungsverhältnis mit dem Erzbischof von Salzburg, bei dem er als
Organist angestellt war, gelöst und ist als freier Künstler nach Wien gegangen, um
nur von seiner Musik zu leben. Der Gang nach Wien war aber auch eine Lösung
von der strengen Hand seines Vaters.
Trotz der Freiheit, die er sich genommen hat und die ihn nicht nur frei gemacht
hat in allen Teilen, blieb er – was die Oper betrifft – nicht unabhängig vom „Opernmarkt“ der Zeit. Er war also keineswegs einfach frei, in dem was er komponierte,
er war, wenn Erfolg haben wollte, auch finanziellen, dem verpflichtet, was in der
Operntradition des 18. Jahrhunderts stand.
Die Oper seiner Zeit wurde beherrscht, fast schon versklavt, von der italienischen
Oper. Die im kaiserlichen Wien bestallten Komponisten waren allesamt Italiener;
Salieri ist im Zusammenhang mit Mozart der wohl bekannteste. Mozart hat sich
diesem Geschmack gebeugt, sieben seiner Opern sind Opere Serie, und entstammen im Stil der neapolitanischen Schule. Der Mozart der Opera seria ist also stilistisch gesehen ein Neapolitaner. Die Opera seria ist die Oper des Adels, der Mythologie und der Kastraten. Zwei neapolitanische Opern von Mozart sind bedeutend: der „Idomeneo“ und dann auch seine allerletzte Oper, die „Clemenza di Tito“,
die er schrieb zur Feier der Amtseinsetzung des böhmischen Königs. Aus der Opera
seria schälte sich gleichsam die Opera buffa hinaus, indem man die steife Seria
mit lustigen Intermezzi durchsetzte, die sich dann selbständig machten. Auch in
der Opera buffa hat sich Mozart als einzigartiger Komponist bewiesen. Figaros
Hochzeit, „Cosi fan tutte“ und der „Don Giovanni“ sind Opere buffe, gehen aber –
vor allem der „Don Giovanni“ – bereits weit über diese Gattung hinaus.
Die italienische Oper war alles beherrschend. Langsam wurde aber auch der Ruf
laut nach einer deutschen Oper. Einer Oper, in der das eigenständige Deutsche
zum Ausdruck gebracht werden sollte. Die deutsche Oper hat sich aber in ihrer
Bedeutung nie wirklich durchgesetzt in dieser Zeit. Von einer wirklichen und genuin
deutschen Oper kann man wohl erst bei Richard Wagner sprechen.
Aus England wurde nun eine neue Operngattung eingeführt. Das war das Singspiel.
Also letztlich ein Schauspiel, das mit Musik angereichert wird. Oder umgekehrt,
eine Oper mit gesprochenen Zwischentexten. Der Ruf nach einer deutschen Oper
war auch eine Art Vorbote der gesellschaftlichen Umwälzungen. Wir reden von der
Wolfgang Amadeus Mozart: Die Entführung aus dem Serail
Zeit der französischen Revolution! Das Singspiel sollte antihöfisch sein, antiwelsch,
bürgerlich und auch patriotisch sein! Musikalisch kam es jedoch nicht aus ohne das
italienische Vorbild. Die italienischen Arien der Buffa und der Seria bestimmen auch
die Musik des Singspiels. Deutsche Oper im 18. und frühen 19. Jahrhundert ist
immer ein Flickwerk. Auch hier hat Mozart fast Endgültiges geleistet mit eben der
„Entführung aus dem Serail“ und dann natürlich mit der Zauberflöte. Sie sehen,
Mozart war trotz seines freien Künstlertums ganz eingebettet in die Oper und die
Opernanforderung seiner Zeit.
Das Singspiel heute Abend zeigt das in besonderem Masse. Schon nur in seiner
Entstehungsgeschichte. Kaiser Joseph II. beauftragte Mozart zu diesem Singspiel.
Der Kaiser trug sich mit der Absicht, aus dem Burgtheater gleichsam eine Nationaloper zu machen. Ein Opernhaus also, in dem der deutschen Oper zum Durchbruch verholfen werden sollte. Joseph II. war ein aufgeklärter Herrscher, der zahlreiche Reformen, wie die Abschaffung der Folter, die Milderung der Zensur verwirklicht hat. Vor allem wollte er aber im Habsburgerreich Deutsch als Staatssprache einführen, daher sah er im Theater und in der Oper eine wichtige Funktion.
Wichtig war aber auch noch etwas Zweites: Hundert Jahre vorher hatten die deutschen Heere die Türken vor Wien besiegt. Dieses für Europa äusserst wichtigste
Ereignis galt es zu feiern. Ich werde darauf zurückkommen.
Im kaiserlichen Auftrag erhielt Mozart von Gottlieb Stefanie, einem der damals
erfolgreichsten Autoren Wiens, ein Textbuch, das jener aber einem bereits existierenden Libretto von einem Friedrich Bretzner entnommen hatte, nämlich der Operette „Bellmont und Konstanze oder die Entführung aus dem Serail“.
Mozart machte sich mit ungeheurem Eifer an die Arbeit. Innerhalb von drei Wochen
stellte er den 1. Akt fertig, wobei er bereits einige Änderungen im Libretto vornahm, in erster Linie wegen der Sänger, die ihm zur Verfügung standen und die
zu den Spitzen des Hofopern-Ensembles gehörten.
Die Eile, mit der Mozart ans Werk ging, war begründet: er hoffte, die Oper würde
zum Empfang des Großfürsten von Rußland in Wien uraufgeführt werden. Dazu
kam es aber nicht. Mozart nutzte die dadurch gewonnene Zeit, um bis in Details
hinein am Libretto Umstellungen und Änderungen vorzunehmen, um auch vom
Text her Individuen anstatt Typen zu schaffen und selbstverantwortetes Handeln
anstelle von schicksalhaft vorgegebenem Tun auf die Bühne zu bringen. Aus den
Briefen an seinen Vater ergibt sich ein deutliches Bild, wie sehr Mozart am Text
beteiligt ist: "Bey einer opera muss schlechterdings die Poesie der Musick gehorsame Tochter seyn......um so mehr muß Ja eine opera gefallen wo der Plan des
Stücks gut ausgearbeitet; die Wörter aber nur blos für die Musick geschrieben sind,
und nicht hier und dort einem Elenden Reime zu gefallen...." (13. Oktober 1781).
Und überdeutlich wird klar, wie sehr Mozart sich vom üblichen Klischee entfernt,
wenn seine Musik zum Ausdruck von Empfindungen wird: " Auch darauf müssen
wir noch kommen.
Ende Mai 1782 ist die Komposition beendet. Die Uraufführung findet am 16. Juli
1782 statt mit grossem Erfolg, sicher der größte, den Mozart zu seinen Lebzeiten
in Wien erleben konnte. Die Oper wurde erst nach 15 Wiederholungen abgesetzt.
Innerhalb von drei Jahren haben zahlreiche Opernhäuser in Europa "Die Entführung aus dem Serail" in ihren Spielplan aufgenommen, und heute ist sie fester
Bestandteil im Repertoire aller großen Bühnen der Welt.
Was geschieht nun in diesem Singspiel in drei Akten? Ich erzähle Ihnen kurz den
Inhalt und weise Sie zugleich an der jeweiligen Stelle auf die Musik hin.
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Der erste Akt spielt vor dem Palast des Bassa Selim, am Ufer des Meeres. Konstanze ist in die Gewalt des Bassa Selim geraten und wird von ihm gefangen gehalten. Belmonte hat ihren Aufenthalt entdeckt und sucht nach einer günstigen
Gelegenheit, Konstanze zu befreien. Er singt die Arie: "Hier soll ich Dich nun sehen". Er sucht sich in Verbindung zu setzen mit Pedrillo, einem ehemaligen Diener,
der nun aber beim Bassa Anstellung gefunden hat. Vor dem Palast trifft er auf den
dicken Haremswärter Osmin, dieser ist ganz versunken in die Frage der Beziehungen zu den Frauen. Er singt: "Wer ein Liebchen hat gefunden". Er kann die Christen
nicht leiden und weist Belmonte, der nun Näheres wissen will, barsch ab. Belmonte
bedrängt ihn jedoch mit seinen Fragen, was Osmin schliesslich sehr verärgert. Er
macht sich Pedrillo gegenüber Luft mit der Arie "Solche hergelaufne Laffen". Endlich können Belmonte und Pedrillo sich treffen und Pedrillo erzählt Belmonte die
Hintergründe. Konstanze, deren Zofe Blonde und er selbst sind von Seeräubern
ergriffen worden und wurden von Bassa Selim als Sklaven gekauft. Der Bassa wirbt
um die Liebe der Konstanze, will sie aber nicht zur Liebe zwingen. Konstanze erwidert jedoch diese Liebe keineswegs, sie erklärt sich dem Bassa mit der Arie:
"Ach ich liebte, war so glücklich!"
Osmin, der Liebling des Bassa, stellt Blonde nach, die aber natürlich die geliebte
Pedrillos ist. Belmonte offenbart seinen Plan. Er hat im Hafen ein Schiff liegen, mit
dem alle fliehen sollen. Da kommt der Bassa selbst mit Konstanze und grossem
Gefolge. Begleitet wird er vom Janitscharenchor.
Mozart baut hier gleichsam türkische Musik ein, allerdings hätte ein Türke damals
diese Musik nicht als türkisch erkannt. Mozart ahmt immer an den Stellen, an denen die Handlung eine Wendung nimmt, türkische Musik nach. Er baut sie allerdings interessanterweise nicht ins Orchester ein, sondern die Türkenmusiker oder
Janitscharen bilden eine Art Kapelle für sich: Becken, grosse Trommel, Pikkoloflöte
und Triangel. Diese verwirklichen dann die türkische Musik.
Bassa Selim wirbt vergebens um die Liebe der Konstanze. Sie erzählt ihm von ihrer
Liebe zu Belmonte und kehrt in den Palast zurück. Pedrillo stellt nun Belmonte dem
Bassa als Baumeister vor. Dieser ist bereit, Belmonte in seine Dienste zu nehmen.
Osmin will ihn aber trotzdem nicht in den Palast einlassen. Es folgt das Terzett:
"Marsch! Trollt euch fort!"
Zweiter Akt: Osmin stellt Blonde nach, diese lässt sich, als freie Engländerin, nicht
beeindrucken mit der Arie: "Durch Zärtlichkeit und Schmeicheln". Osmin lässt von
ihr ab, warnt sie aber mit den Worten. "Ich gehe, doch rate ich dir"
Der Bassa ist nun aber seiner ewigen Werbungen überdrüssig. Er stellt Konstanze
eine Frist bis Morgen, in der sie sich zur Liebe zu entschliessen habe, da er sie
sonst foltern werde. Konstanze erklärt ihm jedoch leidenschaftlich, dass ihr das
keinen Eindruck mache. Sie singt zwei Arien nacheinander: "Traurigkeit ward mir
zum Lose " und "Martern aller Arten". Man hat Mozart diese Häufung von zwei
Arien vorgeworfen. Aber hier zeigt sich, dass auch Mozart auf die Sängerinnen und
Sänger und ihr Können achten musste. Er schreibt seinem Vater, die Sängerin, die
für die Konstanze vorgesehen sein, habe eine "geläufige Gurgel". Deshalb die beiden Koloraturarien.
Pedrillo hat für Blonde gute Nachrichten. Heute Nacht schon soll die Flucht gelingen, vorher wollen sich alle aber noch im Park treffen, um alles genau zu besprechen. Blonde ist begeistert: "Welche Wonne, welche Lust". Pedrillo macht Osmin
betrunken, was ihm sehr gut gelingt, da Osmin ja als Muslime den Wein nicht
gewohnt ist. "Vivat Bacchus, Bacchus lebe!"
Alle treffen sich im Park, Belmonte und Konstanze fallen sich in die Arme. Hier fügt
nun Mozart ein Quartett ein, das auf den ersten Blick nicht passt. Beide Männer
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fragen sich nämlich, ob ihnen die Frauen auch treu geblieben seien. Konstanze
beantwortet die Frage mit stummen Tränen, Blonde gibt Pedrillo eine schallende
Ohrfeige. Dieses Quartett ist eine erstaunliche Einfügung! Es kommt in der Vorlage
nicht vor und wir können davon ausgehen, dass Mozart es gewünscht hat. Sie
haben ja, meine Damen und Herren, gemerkt, dass die Handlung der "Entführung"
ziemlich simpel ist. Böser Bassa, zwei Liebespaare, ein polternder Haremswächter
und eine Flucht. Das war Mozart wohl eindeutig zu flach. Im Quartett wird die
Handlung völlig angehalten. alles ist plötzlich offen. Die Eifersucht und das Misstrauen schleichen sich ein und bedrohen die simple Handlung, Mozart zeigt, dass
alles auch ganz anders sein könnte. Er nimmt darin bereits ein wenig das Thema
der „Cosi fan tutte“ voraus. Doch die Paare finden sich wieder. Die Fragen werden
geklärt und man kann flüchten.
Im dritten Akt gibt Pedrillo mit einem Ständchen das Zeichen zur Flucht. Das
Ständchen – "In Mohrenland gefangen war" – ist eine eigenartige Form, das Zeichen zu einer Flucht zu geben. Pedrillo hebt die Handlung, und damit auch uns,
für einen Moment aus der Singspielatmosphäre hinaus.
Zuerst läuft alles gut, doch dann wird die Flucht entdeckt. Osmin bietet die Wachen
auf – "Ha, wie will ich triumphieren!" - und lässt die Fliehendem dem Bassa vorführen, in der Hoffnung natürlich, dass diese zuerst geköpft und dann noch gehängt werden.
Der Bassa hält nun eine Art Gericht. Er findet heraus, dass Belmonte der Sohn
seines ärgsten Feindes ist! Konstanze und Belmonte geben jede Hoffnung auf Rettung auf und nehmen mit " Welche ein Geschick! O Qual der Seele" Abschied vom
Leben. Der Bassa jedoch übt Gnade, weil er nicht in die Fussstapfen von Belmontes
Vater treten will. Er lässt alle frei mit dem Auftrag, dem Todfeind zu sagen, dass
„ich dich frei gelassen, um ihm sagen zu können, es wäre ein weit grösser Vergnügen eine erlittene Ungerechtigkeit durch Wohltaten zu vergelten, als Laster mit
Lastern zu tilgen“.
Osmin schäumt vor Wut, doch alle huldigen dem Bassa und seiner Grossmut. Auch
dieser Schluss ist von Mozart. Im Original erkennt der Bassa in Belmonte seinen
eigenen Sohn, den er natürlich frei lässt.
Es kommt nicht von ungefähr, dass der Kaiser einen Türkenstoff vertont haben
wollte für sein deutsches Nationaltheater. Das Türkische war gross in Mode und
man bereitete sich darauf vor, hundert Jahre Sieg gegen die Türken in der Belagerung von Wien zu feiern. Joseph II. hat später mit dem russischen Grossfürsten
die Türken endgültig aus Europa vertrieben. Die Türken oder auch einfach der
Orient waren sehr in Mode, bis in die Kleidermode hinein. Es soll in Wien schick
gewesen sein, Türkenkleider zu tragen, oder was man dafür hielt. Die Türkenmode
hatte mehrere Gründe. Die Belagerung von Wien muss für die Wiener ein Alptraum
gewesen sein. Die riesige Türkenangst war hundert Jahre später gebannt, das Osmanische Reich, das ganz Nordafrika umfasst hatte, war weitgehend aufgelöst. Die
Angst war dem Spott gewichen. Es entstanden unzählige Türkenstücke, welche die
Türken stets als Tröpfe darstellten, die man übertölpeln konnte. Das naheliegendste und heute hier bekannteste Beispiel für uns ist Rossinis „Italienerin in
Algier“, in der der türkische Herrscher als echter Trottel hingestellt wird. Solche
Stücke gab es zu Hauf. Oder die Türken wurden als grausame Despoten dargestellt, die den Christen gegenüber keinerlei Gnade kannten. Osmin bei Mozart ist
ein Stück weit noch eine solche Figur. Trotz allem Spott ging aber vom Orient auch
eine grosse Faszination aus. Die Farbenpracht des Orients verfehlte ihre Wirkung
nicht. Vor allem aber über die vermeintlichen erotischen Freiheiten im Harem
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konnte sich die Männerwelt lüstern entrüsten, und die Frauen fanden in den Despoten Grund genug, die Schlechtigkeit der Männerwelt zu beklagen. Nicht von ungefähr sind die meisten der Türkenstücke eben Entführungen aus den Harems.
Der Orient konnte auch herhalten als Folie für die Kritik an den gesellschaftlichen
Zuständen in Europa. Der französische Philosoph und Schriftsteller Montesquieu
beschreibt in den „lettres persannes“ kritisch die Zustände in Frankreich, er tut es
durch die Brille zweier Perser, die durch Frankreich reisen und dabei ganz sachlich
die französische Gesellschaft beschreiben und sich höchlich erstaunen über gewisse Dinge. So war es Montesquieu möglich, gleichsam getarnt und gefahrlos
seinem Land einen orientalischen Spiegel vorzuhalten.
All diese Beweggründe für die Türkenmode sind in Mozarts „Entführung“ vorhanden. Es gibt die Türkenverspottung, vor allem in der Figur des Osmin, diesem
sturen Möchtegerndespoten, der aber am Schluss klein beigeben muss. Auch die
erotische Faszination durch den Harem fehlt keineswegs. Besonders im Quartett
am Schluss des zweiten Aktes, in dem die Männer plötzlich Zweifel äussern an der
Treue ihrer Geliebten.
Aber Mozart geht über all das hinaus. Es gibt noch eine andere Sicht auf den Orient! Es ist die Sicht, wie sie Gotthold Ephraim Lessing in „Nathan dem Weisen“
gültig und exemplarisch dargestellt hat. Es ist die Sicht der Aufklärung. Sie erinnern sich: Der Sultan fragt den Juden Nathan, welche der drei Religionen – Christentum, Islam oder Judentum – die richtige sei. Nathan antwortet ihm mit der
Ringparabel und sagt, dass dem Menschen die absolute Wahrheit verschlossen sei.
Kein Mensch könne die letzte Wahrheit ergründen, aber jeder Mensch müsse sich
immer bemühen, nach dieser Wahrheit zu suchen. Eingedenk dessen kann keine
Religion die richtige sein, weil keine die Wahrheit kennt. In diesem Bemühen, diesem Trieb nach Wahrheit, zu handeln, ist die edelste Aufgabe des Menschen! Und
sie ist jedem Menschen gestellt, sei er nun Jude, Muselman oder Christ. Das Klischee vom orientalischen Despoten wird damit durchbrochen und er erscheint als
ein vernünftiger und edler Mensch, wie der Bassa Selim am Schluss des Singspiels.
Diese aufklärerische Sicht auf die Türken ist die Sicht Mozarts. Diese Sicht wollte
er verwirklichen im Stück, vor allem aber in der Musik. Mozart hat aus diesem
Grund Einfluss genommen auf die Gestalt des Textbuches. Stefanie musste abändern in diesem Sinne, soweit es eben in diesem eher simplen Stück überhaupt
ging. Vor allem den Schluss wollte Mozart anders. In der Vorlage zeigt es sich am
Schluss, dass Belmonte der Sohn des Bassa ist. Er lässt diesen natürlich dann frei,
grossen Edelmut braucht es ja dazu nicht. Mozart verlangte, dass Belmonte zum
Sohn des Todfeindes des Bassa umgewandelt wird. Dadurch wird die Grossmut
exemplarisch möglich, der Bassa wird zum edlen Türken, zum aufgeklärten Menschen. Doch das sind Äusserlichkeiten. Mozart setzt seine aufklärerische Grundhaltung vor allem um in seiner Musik. Er wird in den beiden Singspielen, die er
geschaffen hat, bereits zum Vollender dieser Gattung. Goethe, der sich eingehend
mit dem Singspiel als deutsche Oper befasst hat, erkennt dies, indem er sagt, dass
Mozarts „Entführung“ alle anderen Singspiel-Bemühungen, auch seine eigenen,
niedergeschlagen habe. Dieser Musik wollen wir uns zum Schluss zuwenden.
Wenn Sie Mozart hören, sei es ein Klavierkonzert, eine Sinfonie, welche Gedanken und Bilder gehen Ihnen da durch den Kopf? Vielleicht so etwas wie
Vollendung, Ruhe, vielleicht ist es einfach nur ein Gefühl der Entspannung, ein
Gefühl, dass da etwas im Raume ist, dem man "irgendwie" vertrauen kann,
das Gefühl, es ist so und kann nicht anders sein. "Wäre ich ein Komponist, ein
Musiker, dann hätte ich diese und keine andere Musik geschrieben!", denken
Sie sich vielleicht, natürlich nicht so explizit, wie ich es hier sage, aber in einem
Gefühl und in einem Zustand des .Aufgehobenseìns'' in dieser Musik. Das ist
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es wohl: Man ist in Mozarts Musik aufgehoben, sie umfängt einen in einer Vollkommenheit, die man nicht mehr zu hinterfragen versucht ist. Sie ist keineswegs ohne Dramatik, aber die Probleme sind in ihr aufgehoben, in jenem dreifachen Wortsinn: Aufgehoben im Sinne von "nicht mehr vorhanden", aufgehoben im Sinne von "auf eine höhere Ebene gehoben", aufgehoben im Sinne
von "bewahrt".
In Mozarts Musik steht ein Mensch im Mittelpunkt, der Bewusstsein hat von sich
selbst! Der bewusste Mensch, der sich seines Verstandes bedient und autonom
geworden ist. Der Mensch als Individuum.
Und so wie der Mensch sich selbst genügt, genügt sich auch Mozarts Musik. Sie
braucht nichts mehr, das von aussen kommt. Form und Inhalt decken sich, Gehalt
und Gebäude sind identisch.
Form und Inhalt decken sich, und beide zusammen sind deckungsgleich mit den
musikalischen Mitteln. Der Mensch, der Bewusstsein hat von sich selbst und sich
selbst genügt, findet sich vollkommen und ohne Rest aufgenommen in den musikalischen Mitteln, in der Tonalität, im Orchesterklang, im Klavierklang und im Zusammenspiel der Instrumente. Das ist höchste Klassik:
Das Ätherische, Verwehende und Vergängliche des Tones wird
gebannt in ein motivisches Gebilde, in eine feste Form. Dieses
Gebilde ist absolut und souverän, es deutet nichts aus, es geht
nicht über sich hinaus sondern genügt sich selbst. Die Intention
des klassischen Komponisten wird ohne Rest in die Gestalt überführt.
Mozarts Musik ist immer eine Musik der Brüderlichkeit und der Autonomie! Das ist
auch um besonderen Masse heute Abend im Singspiel so. Und weil es so ist, hat
Mozart mit seinen beiden Singspielen diese Gattung gleichsam geadelt und abgeschlossen, es gibt keine Singspiele, die mit diesen beiden Singspielen vergleichbar
wären. Beide sind Opern, ja fast schon Musikdramen. Die Musik ist nicht einfach
eine Unterstützung der Handlung, des Schauspiels, wie es im Singspiel normalerweise üblich ist. Die Musik ist die zentrale Aussage. Und eigentlich geht ja auch
die Handlung weit über das Singspiel hinaus. Die unerfüllte Liebe und die Grossmut
des Bassa passen nicht in die Komödie, nicht in das Singspiel. Mozart hat dieses
Problem auf ganz besondere Art gelöst. Der Bassa Selim ist nämlich gar kein Sänger, sondern er ist eine Sprechrolle. Dies ist zwar im Singspiel nicht unbedingt
ungewöhnlich, aber dass die Hauptfigur nicht singt, ist doch erstaunlich. Auch der
Schluss der Oper, der doch die Grossmut und den geistigen Adel des Bassa zeigt,
nennt Mozart ein "Vaudeville"; er wählt die musikalische Form des Gassenhauers,
also eine eher anspruchslose Melodie. Darin zeigt sich Mozarts Genialität, aber
auch sein Sinn für das dramatisch Überzeugende. Der aufgeklärte Mensch lässt
sich nicht von seinen Emotionen leiten, sondern von der Vernunft. Hätte Mozart
die Schlussszene in Musik gesetzt, dann wäre sie nicht anders als höchst emotional
möglich gewesen. Und der Schlusschor wäre ohne grosses Pathos nicht ausgekommen. Mozart nimmt das zurück: Der Bassa ist eine Sprechrolle und der Schlusschor
– plakativ gesagt – ein Gassenhauer.
Samstag, 17. Januar 2015
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