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1/3 Grundlagen Entstehung des Tourismus Factsheet 1 Reisen in der vorindustriellen Zeit In der vorchristlichen Zeit waren die ersten Reisenden Händler, die Waren zwischen verschiedenen Marktorten austauschten. Im Römischen Reich entwickelte sich erstmals ein reger Reiseverkehr, nachdem ein grosses Strassennetz von der Nordsee bis in die Sahara gebaut worden war. Nach und nach folgte der private Reiseverkehr, der allerdings nur für eine k leine Minderheit der oberen Volksschicht erschwinglich war. Nach dem Untergang des Römischen Reichs versiegten die Reiseströme. Durch das Christentum wurden sie später in Europa wieder angeregt: Den Kreuzzügen folgten die Pilgerreisen zu heiligen Stätten. Während der Renaissance und dem Zeitalter der Aufklärung verloren Pilgerfahrten an Bedeutung und individuelle Gründe reichten aus, um eine Reise zu rechtfertigen. Mit der Herausbildung des freien Bürgertums und dank den Fortschritten in Wissenschaft und Te chnik reisten nun vermehrt reiche Kaufleute, Politiker, Forscher und Künstler. Obschon das Reisen im 18. und 19. Jahrhundert oftmals beschwerlich war, zog es Menschen in die Ferne. Den meisten blieb das Reisen aber weiterhin aus Kostengründen verwehrt. 2 Entwicklung von Reisen und Freizeit im Laufe der Industrialisierung Lebenserwartung eines Einjährigen 1850: 40J 1920: 60J 1950: 69J 1990: 77J 2008: 82 J (f: 84 J, m: 80 J) Arbeitszeit Tatsächliche Jahresarbeitszeit (Vollerwerb) 1850: 4'500 1920: 2'450 1950: 2'250 1990: 1'900 2007: 1'900 Std Std Std Std Std Wohlstand Jahreseinkommen (Vollzeiterwerb) 1850: 6'000.1920: 10'000.1950: 20'000.1991: 57'500.2008: 70’000.- Freizeit und Tourismus Verstädterung Anteil städt. an ständiger Wohnbevölkerung 1850: -1920: 35% 1950: 43% 1990: 58% 1995: 69% 2000: 73.3% Arbeits- und Wohnort Anteil Pendler an Erwerbsbevölkerung 1850: -1920: 10% 1950: 20% 1990: 52% 1995: -2000: 57.8% Motorisierung Anzahl PW pro 1000 Einwohner 1850: -1920: 2.3 1950: 26 1990: 439 1995: 456 2000: 492 Abbildung 1: Entwicklung von Freizeitrahmenbedingungen in der Schweiz. Quellen: Müller (2008): Freizeit und Tourismus. S. 14 und Hasler & Egli (2010): Geographie – Wissen und Verstehen, S. 217 Mit der aufkommenden Industrialisierung wurde die Arbeit und damit auch die Arbeitszeit immer stärker dem Takt der Maschinen unterworfen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren in den Fabriken tägliche Arbeitszeiten von 16 bis 18 Stunden für Männer und 14 Stunden für Frauen und Kinder (inkl. Sonntagsarbeit) die Regel. Bei diesen enormen Arbeitspensen blieb der Masse der I n- E-Dossier Tourismus: Grundlagen PHBern 2011, www.phbern.ch 2/3 dustriebeschäftigten kaum Zeit fürs Essen und Schlafen. Arbeiten war in den Augen der herrschenden Klasse das einzige wahre Mittel gegen den Müssiggang, der als „aller Laster Anfang“ bezeichnet wurde. Freizeit für die Arbeiterschaft war ein Fremdwort. Unter dem Druck gewerkschaftlicher Organisationen, aber auch aufgrund der wirtschaftlichen Ineffiz ienz von übermüdeten Arbeitskräften, sowie wegen des von Seiten des Militärs beklagten schlechten Gesundheitszustands der Rekruten, begannen die unmenschlichen Arbeitszeiten im Verlauf der zwe iten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu sinken. In der Schweiz wurden vor allem als Ergebnis des Gener alstreiks von 1918 die 48 Stunden Wochenarbeitszeit sowie der Anspruch auf eine Ferienwoche vera nkert. Der Gewinn an erwerbsarbeitsfreier Zeit kam damals neben erholungsorientierten Beschäftigungen vor allem auch dem Bereich der Bildung und dem politischen Engagement zu. Nach dem 1. Weltkrieg zeichnete sich dann eine Entpolitisierung der Freizeit ab, verbunden mit vermehrtem Konsum. Zur Individualisierung und Kommerzialisierung der Freizeit breiter Bevölkerungsschichten kam es aber erst nach dem 2. Weltkrieg (vgl. Abbildung 2). Aber auch die gestiegene Lebenserwartung, der materielle Wohlstand und die fortschreitende Tre nnung von Wohn- und Arbeitsort haben dazu beigetragen, dass sich die Freizeit im 20. Jahrhundert zu einer eigenständigen Grösse entwickeln konnte. Wie Abbildung 1 zeigt, haben die Freizeitrahmenbedingungen „Arbeitszeit“, „Wohlstand“, „Trennung von Wohn- und Arbeitsort“ sowie „Lebenserwartung“ seit Mitte des letzten Jahrhunderts gewaltige Veränderungen erfahren. Abbildung 2: Entwicklung der Anzahl Ankünfte von Touristinnen und Touristen nach Regionen der Welt. Quelle: UNWTO (2010), http://unwto.org/facts/menu.html (Zugriff 17.09.2010) 3 Der moderne (Alpen-)Tourismus Als eigentliche Wiege des modernen Tourismus mit seinem Erholungs- und Erlebnischarakter gilt die Zeit des 18. Jahrhunderts. Naturwissenschafter wie Albrecht von Haller oder Jean -Jacques Rousseau entdeckten und beschrieben die Alpen als Naturphänomen. Dem rousseauschen Ruf „Zurück zur Natur“ folgte eine ständig wachsende Zahl von Reisenden, unter ihnen zahlreiche bekannte Schriftsteller, aber auch viele Engländer als Entdecker des Alpinismus (siehe dazu z. B. SF-Beitrag „Pioniere der Alpen“, Tageschau vom 23.06.2007, einsehbar im Kapitel Zermatt -> Video). Erst mit dem Ausbau des Eisenbahnnetzes ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden aber die technischen Voraussetzungen für den Transport einer grösseren Zahl von Reisenden geschaffen. Mit dem Bau der grossen Alpenbahnen Gotthard (1882), Simplon (1906) und Lötschberg (1913) erlebten der Alpentourismus und vor allem die schweizerische Hotellerie eine Blütezeit ( Belle Epoque). Mit Bergbahnen wurden nun auch höhere Regionen der Alpen für den Tourismus erschlossen. D er Tourismus konzentrierte sich zu dieser Zeit allerdings noch ausschliesslich auf den Sommer. Die Belle Epoque fand mit dem 1. Weltkrieg ein jähes Ende. Obwohl die Zahl der Reisenden bis zum 2. Weltkrieg wieder kontinuierlich anstieg, waren es erst die wirtschaftlichen Boomjahre der Nachkriegszeit, die in den E-Dossier Tourismus: Grundlagen PHBern 2011, www.phbern.ch 3/3 Industrieländern zur Freizeitmobilität der Massen führte. Der Schwerpunkt des Massentourismus b egann sich in den Alpen auf den Winter zu verlagern. Hauptsächliche Faktoren (auch Boomfaktoren genannt), die das massenhafte Reisen erst möglich gemacht und ausgelöst haben, sind: Der wachsende Wohlstand in Form zunehmender Einkommen und damit auch die Erhöhung der frei verfügbaren Einkommensanteile. Die zunehmende Verstädterung und der damit verbundene Verlust von Natur und sozialen Netzwerken sowie die fortschreitende Reglementierung, Funktionalisierung und Technisierung der Alltagswelt. Der zunehmende Stress am Arbeitsplatz sowie die Banalisierung der Erwerbsarbeit. Die Abnahme der Erwerbsarbeitszeit resp. die Zunahme der Freizeit vor allem in Form von längeren Wochenenden, längeren Ferien, späteren Eintritten ins Erwerbsleben und Frühpe nsionierungen. Die Perfektionierung und Verbilligung der Verkehrssysteme, die explosionsartige Motorisi erung und die damit verbundene private Mobilität. Zu den Antriebsmotoren des heutigen Tourismus zählt auch das mit Reisen verbundene soziale Ans ehen: In die Ferien zu verreisen gehört zur Lebensform der westlichen Zivilisation, die Beteiligung mö glichst breiter Volksschichten am Tourismus ist zu einem sozialpolitischen Anliegen geworden. Erholung und Ferien werden vielfach mit Tourismus gleichgesetzt und in den Ferien wegzufahren, gilt als normales Verhalten. Diese beschriebene Entwicklung des Tourismus trifft vorwiegend auf sogenannte Industrieländer zu. Für Menschen aus ärmeren Regionen – und damit für die Mehrheit der Weltbevölkerung - sind Freizeitreisen aus finanziellen und zeitlichen Gründen nicht möglich. Touristin oder Tourist sein zu können, ist weltweit gesehen also nach wie vor ein Privileg. Quellen: Müller, Hansruedi (2008): Freizeit und Tourismus – Eine Einführung in Theorie und Praxis. 11. Auflage. Bern: Forschungsinstitut für Freizeit und Tourismus der Universität Bern Hasler, Martin und Egli, Hans-Rudolf (Hrsg.) (2010): Geografie – Wissen und Verstehen. 2. Auflage. Bern: h.e.p. verlag ag UNWTO – World Tourism Organisation: Facts an figures, historical perspective of world tourism, http://unwto.org/facts/menu.html (Zugriff 17.09.2010) E-Dossier Tourismus: Grundlagen PHBern 2011, www.phbern.ch