Wo befindet sich eigentlich die Verantwortungsstatue?

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Wo befindet sich eigentlich die Verantwortungsstatue?
Wo befindet sich eigentlich die Verantwortungsstatue?
Wer kennt sie nicht! – Erhaben und unübersehbar empfängt sie alle, die sich von der Weite
des Atlantiks den Häfen New Yorks nähern, dem Tor zum Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Mit gekröntem Haupt und goldener Fackel erleuchtet sie Manhattan, New York, Amerika und viele Teile unserer Welt: Libertas – die römische Göttin der Freiheit, Lady Liberty,
La Liberté éclairant le monde. Die Freiheitsstatue, mit zerbrochener Kette zu ihren Füssen
und der Inschriftentafel zur amerikanischen Unabhängigkeitserklärung in ihrer Linken, verankert die Idee der Freiheit in unseren Köpfen und Herzen, wie kein anderes Symbol der
westlichen Welt.
«’Freiheit’ ist das meistgebrauchte Wort unserer Zeit. Was sie sei, scheint allen selbstverständlich. Jeder Staat, jedes Volk, jeder Einzelne will frei sein. Im Anspruch und in der Behauptung der Freiheit scheint alle Welt einig. Aber nichts ist unklarer, vieldeutiger, missbrauchter als ‘Freiheit’», meint Karl Jaspers, Existenzphilosoph des 20. Jh., zum Freiheitsbegriff.
Warum solche Zurückhaltung gegenüber diesem so offensichtlichen Ideal? Wir alle sind doch
stolz auf unsere politischen und religiösen Freiheiten. Wir wollen unsere Meinung frei äussern dürfen. Wir wollen unabhängig sein, selber entscheiden. Wir wollen freie Märkte. Wir
wollen Niederlassungsfreiheit (zumindest für uns). Wir wollen freie Wahlen und freie Berufswahl. Wir wollen freie Arzt- und Spitalwahl. Am liebsten wollten wir Freibier und freie
Fahrt … – wir wollen Freisein. Wir wollen frei sein von Krankheit, von Geld- und anderen
Sorgen, frei von Leid und Ungerechtigkeit, frei von Mühsal und Ängsten, frei vor Unterdrückung und Fremdbestimmung. Und wir wollen staufrei und ungebremst sein. Freie Fahrt für
freie Menschen!
Der Freiheiten gibt es unendlich viele – Gedanken sind frei! Lady Liberty hat gute Gründe,
uns immer wieder daran zu erinnern. Jedoch, Freiheit alleine – grenzenlose Freiheit? Wo
führt sie hin? Ins Paradies, ins Schlaraffenland? Oder in den Abgrund, in die Leere, wovor
wir uns eigentlich am meisten fürchten?
Irgendwie ist es doch klar: Freiheit ist ein Ideal, aber kein absolutes. Sie ist eine tragende
Säule unserer Gesellschaft, unseres Zusammenlebens, unseres Daseins, unserer ganz eigenen Existenz. Sie trägt aber nicht alleine. Die Freiheit hat eine enge Gefährtin.
Diese tritt vielleicht nicht so souverän auf wie Lady Liberty, sie wirkt im Vergleich zu Libertas nicht besonders attraktiv, eher plump und träge, vielleicht sogar etwas abschreckend
und für manche gar erdrückend. Wohl darum steht sie im Schatten der Freiheit und wird
von vielen gar nicht beachtet. Sie kommt oft erst zum Vorschein, wenn Libertas an die
Grenzen ihrer eigenen Möglichkeiten stösst. Und sie entpuppt sich nicht als Göttin
– die Verantwortung.
Wer oder was ist sie dann? Was mag der Grund sein, dass sie nicht vergöttert wird, dass sie
kaum im Rampenlicht steht? Die Menschheit hat für fast alles und jeden eine Göttin oder
einen Gott gefunden: Für die Liebe, den Krieg, die Meere, für die Reisenden, für die Schönheit, ja, sogar für den Wein und die Diebe – aber nicht für die Verantwortung!
Für die Verantwortung gibt es im Lateinischen zudem keinen so wohlklingenden Namen wie
für die Freiheit – die Libertas. Sie wird schlicht und (neben-)sächlich mit `Officium` umschrieben, was unter anderem Verpflichtung, Aufgabe, Beruf oder gar Beamte bedeuten
kann, aber auch Höflichkeit, Gefälligkeit, Dienstfertigkeit. Das klingt doch eher nach Spielverderberin. Offensichtlich verhält es sich mit der Verantwortung komplizierter als mit der
Freiheit, weshalb sie sich nicht so einfach in Gestalt fassen lässt; was aber nichts über ihre
wirkliche Bedeutung besagen soll – im Gegenteil!
Der Wiener Psychiater und Begründer der Logotherapie, Viktor Frankl, belehrte seine amerikanische Zuhörerschaft (bei der er auf viel stärkere Resonanz stiess, als in seiner österreichischen Heimat) gerne, dass es zwar grossartig sei, in New York eine Freiheitsstatue zu
haben. Doch dies sei nur die Hälfte der Wahrheit. Er empfehle ihnen dringend, an der Westküste – zum Beispiel in San Francisco – auch eine Verantwortungsstatue aufzustellen.
Der Vorschlag Frankls erscheint insofern berechtigt, als Freiheit immer auch Verantwortung
bedingt. Freiheit ohne Verantwortung reduziert sich zu Beliebigkeit. Doch lässt sich Verantwortung von Freiheit so klar trennen? Bildet dies nicht wiederum ein polarisierendes Spannungsfeld unseres dualistischen westlichen Weltbildes? Sind Freiheit und Verantwortung
nicht vielmehr eine unzertrennliche Einheit? Hatten die Griechen und Römer daher keinen
eigenen Gott für die Verantwortung?
Die stolze Freiheitsstatue steht – bei genauer Betrachtung – auf einem festen Sockel, einem
tragenden Fundament, das ihr zu wahrer Grösse und Standhaftigkeit verhilft. Im inneren
der Statue stützt eine stabile Verankerung die von aussen zu bewundernde, edle Hülle der
Libertas. Wo Freiheit drauf steht, muss Verantwortung drin stecken. Wahre Freiheit kommt
von innen.
Was wäre die Freiheitsstatue ohne Verantwortung? Eine Mickey Mouse?
Was wäre die Welt ohne Verantwortung? Eine Disney World?
Die ganze Geschichte liesse sich aber auch umdrehen:
Was wäre die Verantwortung ohne Freiheit …?
Hannes Rhiner, Oktober 2013
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Quellen:
Banzhaf, Günter: Philosophie der Verantwortung. Entwürfe, Entwicklungen, Perspektiven. Heidelberg
2002
Frankl, Viktor: Der Mensch auf der Suche nach Sinn. Zur Rehumanisierung der Psychotherapie. Stuttgart 1972
Jaspers, Karl: Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. Politisches Bewusstsein in unserer Zeit.
München 1958
Jaspers, Karl: Denkwege – Ein Lesebuch (Auswahl und Zusammenstellung der Texte von Hans Saner).
München 1983
Wikipedia: Freiheitsstatue. http://de.wikipedia.org/wiki/Freiheitsstatue. Abgerufen am 7.10.2013
Bildquelle: http://www.newyork.citysam.de/ny-reisefuehrer-foto/freiheitsstatue-12.htm
Bildquelle: http://www.jens-stratmann.de/wp-content/uploads/2010/04/acrylglas-foto-mitfreiheitsstatue-minnie-maus.jpg