Emilia Skalska Hannover, 26.04.2014 Lieder verbinden die

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Emilia Skalska Hannover, 26.04.2014 Lieder verbinden die
Emilia Skalska
Hannover, 26.04.2014
Lieder verbinden die Nationen
Was singen die Polen?
In den letzten Jahren, wie man leider feststellen muss, können wir beobachten, dass
die schöne und nette Tradition des häuslichen Musizierens verschwindet.
Das heutige Leben läuft immer schneller und man rennt den alltäglichen Problemen
hinterher.
Es gibt immer weniger Zeit für Familientreffen oder Gespräche mit Freunden in der
so genannten häuslichen Ruhe. Übrigens, die heutige häusliche Ruhe in den
modernen Hochhäusern oder mehrstöckigen Wohnblocks ist auch eher fraglich.
Nur manchmal, zu großen Feiertagen wie Weihnachten, das immer noch in Polen
traditionell gefeiert wird, zum Namenstag, Geburtstag oder Hochzeit, singt die
polnische Familie ein paar Weihnachtslieder oder einige nette Ständchen, und schon
klopfen die boshaften Nachbarn an die Decke.
Noch nie waren die Generationsunterschiede auf dem Gebiet Gesang und Lied so
groß wie heute. Früher hat die Jugend gesungen, was die Erwachsenen gesungen
haben, und die Erwachsenen haben gern zusammen mit den Jugendlichen
gesungen. Natürlich bevorzugten die jungen Leute die modernen Schlager, die man
im Radio oder von den Schallplatten hören konnte, und die „gutmütigen“ Geräte
haben nicht alle und alles übertönt, was leider heute oft vorkommt.
Die Lieder waren melodisch, einfach und leicht. Man konnte sie singen, summen und
sich gut merken schon nach wenigen Vorträgen. Die Lieder hatten etwas Magisches
in sich, etwas, was verursachte, dass alle Singenden sich zusammen wohl fühlten,
dass sie ein Gefühl der familiären und gesellschaftlichen Einheit entwickelten. Heute
wächst uns eine Generation „der Tauben“ heran, die mit Kopfhörern herumlaufen, die
das, was wir Ihnen heute in diesem Seminar vorstellen wollen, überhaupt nicht mehr
kennen. Es sei denn, ihre Eltern pflegen zu Hause das, was sie von ihren Vätern,
Großvätern und Urgroßvätern gehört haben.
Von meinen Hannoverschen Freunden habe ich gehört, dass die Deutschen meinen,
Polen singen nur patriotische Lieder. Dieser Meinung wollte ich sofort widersprechen,
aber bei der Recherche für das heutige Treffen, nachschlagend in –zig Liederheften
und schließlich in Erinnerungen an meine Kindheit, in der ich sehr viele Lieder und
Gesänge gelernt habe, Lieder, die mein Vater gesungen hat, erst dann habe ich
nachgedacht, ob nicht vielleicht die Recht hatten, die uns so wahrnehmen.
Polen wiederum denken, dass die Deutschen nur Marschlieder singen. Ist das
wirklich so?
Ich hoffe, diese Frage versuchen wir heute alle gemeinsam zu beantworten.
Polen ist ein besonderes Land.
Sein Staatswesen bestand ununterbrochen vom X. bis zum XVIII. Jh., womit sich
kein anderes Land östlich von Deutschland rühmen kann. Jedoch das XIX.
Jahrhundert, in dem sich die Völker in moderner Weise definiert haben, war für uns
die Zeit der Annexion durch die drei Eroberer, die Zeit der Migration, was einen
maßgeblichen Einfluss auf das polnische Kunstschaffen hatte.
In den meisten Ländern haben die nationalen Bande das Staatswesen geschaffen.
Die Polen mussten sich in den Verhältnissen des gerade verlorenen Staatswesens
wieder finden. Die Teilung Polens hat den Prozess der Vereinigung des Volkes
erschwert. Die Staaten, die Polen geteilt hatten, haben eigene Nationalitäten
aufgebaut, was unter anderem auch Germanisierung und Russifizierung des
polnischen Volkes zur Folge hatte.
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In dieser schwierigen Situation sind die ersten polnischen Gesänge entstanden. Sie
waren dem ganzen Volk sehr nah und überlebten bis heute.
Die Tragödie der Teilung Polens führte dazu, dass ein Lied, das für Polen eine
einmalige Bedeutung hat, auf einem Gebiet entstand, das nie zu Polen gehörte. Das
Lied der Polnischen Legionen in Italien, die „Mazurek Dąbrowskiego“ (DąbrowskiMazurka) ist heute unsere Nationalhymne.
Die treuesten Beschützer der Freiheit waren natürlich die patriotischen Lieder. Je
mehr man die Polen unter Druck setzte, desto mehr zeigten sie, auch in großer
Gläubigkeit, dass es keine Kraft gibt, die die Freiheit ein für allemal sterben lassen
konnte. Durch das gemeinsame Singen hat man in die Herzen getroffen, und durch
die Herzen ins Vaterland. Diese Haltung hat man mit dem Zitat unterstützt: „ Das
Volk, das zu singen aufhört, hört auf zu leben.“ Das waren die Zeiten, in denen die
literarischen und musischen Werke wie Dynamit wirkten, sie haben die Kanonen
ersetzt.
Über die Mazurkas Chopins sagt man, es sind in Blumen versteckte Kanonen. Den
Dichtern hat man den Rang von Führern der Nation beigemessen.
Auf die Nachricht über das Ausbrechen des November-Aufstands (1830 – 1831) hat
Casimir Delavigne, der Nationaldichter Frankreichs, ein leidenschaftliches Gedicht
„La Varsovienne“ geschrieben. Um seine Solidarität mit den Polen zu manifestieren,
hat Delavigne den Namen „Casimir“ (pol. Kazimierz) angenommen. Dieses Gedicht
hat Karol Sienkiewicz, der Verwandte unseres Nobelpreisträgers Henryk
Sienkiewicz, ins Polnische übersetzt und die Musik hat Karol Kurpinski komponiert;
zu damaligen Zeiten der „musische Aufstandsführer“.
Als am 5. April 1831 die polnische Uraufführung der Warszawianka im National
Theater Warschau stattgefunden hatte, geschah folgendes: nach den Worten: „Steh
auf Polen, zerbreche die Fesseln! Heute Dein Triumph oder Tod“ sprang das
Publikum auf und alle, vom Parterre bis zur Galerie, haben die Worte gesungen:“
Hej, wer Pole ist zum Bajonetten Kampf“…
Die Warszawianka hat das Theater verlassen. Sie war in den Schützengräben und
auf den Barrikaden, auf den Straßen und in den vornehmen Kreisen. In die düstere
Stimmung der Stadt traf sie wie ein Blitz des Enthusiasmus und der romantischen
Begeisterung. Sie war hochmütig, stolz und kämpferisch! Sie war die Apotheose des
Heroismus, sie forderte zur Tat auf.
1918 hat Polen die Unabhängigkeit wieder gewonnen und die Warszawianka war ein
„Kandidat“, Nationalhymne zu werden, und in der Zwischenkriegszeit waren ihre
Takte das Signal des II. Polnischen Radios.
Lied: „Warszawianka“
Und hier ein anderes Lied, mit einer ähnlichen Bedeutung: Rota.
Die Inspiration zur Entstehung des Liedes waren die Kämpfe gegen die
Germanisierung und vor allem die Empörung wegen der Verfolgungen in dem von
Preußen annektierten Gebiet. Seit 1901 sollte nicht nur der Unterricht, sondern
auch Religion nur in Deutsch gelehrt werden. Diese Maßnahmen haben den
Widerstand der Polen noch verstärkt und im April 1901 kam es zu dem bekannten
Protest in Wrzesnia (eine Stadt ca. 50 km östlich von Posen entfernt) der Schulstreik
in Wreschen.
Die Kinder haben sich solidarisch und entschlossen geweigert, auf Deutsch zu beten,
und die verordneten Repressionen gegen Kinder waren nicht nur in den polnischen
Gebieten bekannt.
Die Schriftstellerin und Dichterin Maria Konopnicka hat sofort gegen die preußische
Gewalt protestiert. Sie hat für Großpolen (Wojewodschaft in Polen – A. v. Ü.) ein
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pathetisches Gedicht geschrieben, das dank der herrlichen Musik von Feliks
Nowowiejski zu dieser Zeit zur zweiten Nationalhymne geworden ist. Obwohl in den
patriotischen Liedern vor allem der Text am wichtigsten ist, hat eben die Musik von
Nowowiejski verursacht, dass das bekannte Gedicht „unter das Volk gegangen ist“,
ein höheres Herzklopfen bei allen Polen verursachend, die in den annektierten Teilen
von Polen gelebt haben.
Rota wurde zum ersten Mal in Krakau aufgeführt, während der Enthüllung des
Grünwald- Denkmals im Jahre 1910, zum 500. Jahrestag der Schlacht bei
Grünwald. Es war eine riesige Manifestation, und Nowowiejski dirigierte einen
gigantischen Chor, der aus tausend Sängern und Sängerinnen bestand, die aus
ganz Polen gekommen waren.
Dieses Lied hat die Polen noch lange Jahre begleitet, in den schwierigsten und in
den schönsten Momenten der Geschichte. Man konnte es 1918 in Posen auf den
Barrikaden hören, während der schlesischen Aufstände, bei dem Soldaten-Appell vor
der Schlacht im II. Weltkrieg. Es wurde die Hymne der polnischen Pfadfinder, und
auch das Turm-Lied der Stadt Wilna.
Es wurde in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts, während des Kriegszustands,
gesungen. Einige Jahrzehnte war Rota das Rufsignal des Posener Fernsehens. Es
war auch kein Wunder, dass im Januar 1946, als Feliks Nowowiejski gestorben war,
sich der Leichenzug mit seinem Sarg in Bewegung setzte vom Alten Markt in
Richtung der Posener Skalka (Ehrenfriedhof – A. v. Ü.), um den großen Polen und
Künstler an dem Ort beizusetzen, an dem auch Jozef Wybicki seine letzte Ruhe
gefunden hatte – der Autor der polnischen Nationalhymne.
Lied: „Rota“
Am 3. Mai 1791 hat man die erste neuzeitliche Verfassung in Europa in Polen
verabschiedet, sie war die zweite in der Welt nach der amerikanischen. Die größte
Popularität von allen Liedern, die zu Ehren dieses Ereignisses entstanden sind, hat
Mazurek Trzeciego Maja (die Mazurka des 3. Mai) erlangt. Der Text wurde während
des November-Aufstands von einem Teilnehmer, Rajnold Suchodolski, geschrieben,
aber der Komponist der Musik ist unbekannt. In einer historischen Quelle steht, dass
der Schöpfer der Melodie Frederik Chopin ist, was die Titelseite des in Warschau
gedruckten Liedes (1831) bestätigt und die Ähnlichkeit der Melodie mit bestimmten
Fragmenten von Chopins Mazurkas aus der Warschauer Periode unterstreicht diese
Annahme. Nach der Niederlage des Aufstands hat Richard Wagner die Melodie der
Mazurka als Motiv für die Ouvertüre „Polonia“ verwendet.
Lied: „Hymne 3. Mai: Sei gegrüßt, Morgenröte“
Alle Kulturbewegungen entstehen auf einer gewissen Grundlage. Diese natürliche
Grundlage, auf der die Bewegung der Sangesfreunde gewachsen ist, war die sehr
große Liebe des polnischen Volkes zum Singen, um Gefühle auszudrücken:
Freude, Schmerz, Trauer und Hoffnung, eben mit Hilfe des Liedes. Auf der Suche
nach allen möglichen Wegen des Kampfes um die Muttersprache, um das nationale
Bewusstsein in den Zeiten der Teilung Polens zu bewahren, soll man auch nach
Quellen der Gesangsbewegung suchen. In Großpolen waren die
Gesangsbewegungen am stärksten.
Die Hauptgrundlage der gesellschaftlichen Gesangsbewegung waren
Gesangstreffen, bei denen auch Polonias-Chöre aus Deutschland, vorwiegend aus
Nordrhein-Westfallen, Frankreich, Tschechien, Bulgarien, Russland und der Ukraine
präsent waren.
Die Verbrüderungs-Idee hat einen allgemeinen Ruf gewonnen. Die Begegnungen
waren zu authentischen Manifestationen der nationalen Gefühle geworden, sie
ermöglichten den Repertoire-Austausch und gaben den Sängern die Möglichkeit, die
geistige Kultur von Seelenverwandten kennen zu lernen. Zwischen den Chören sind
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starke Bindungen entstanden und herzliche Freundschaften geschlossen worden.
Die Chöre in Großpolen haben vor allem Volkslieder gesungen und zwar mit
patriotischen Inhalten, über die Sehnsucht nach dem Vaterland, aber auch
Soldatenlieder.
Die preußischen Behörden haben viele dieser Lieder verboten, manchmal auch die
„ganz unschuldigen“, bis sogar die politische Abteilung der Königlichen
Polizeidirektion in Posen eine Liste der verbotenen Lieder veröffentlicht hat. Auf der
Liste waren schon heute erwähnte Lieder: Jeszcze Polska nie zginęła (Noch ist
Polen nicht verloren), Mazurek 3. Maja (Die Mazurka des 3. Mai) und Piękna nasza
Polska cała (Wunderschön unser ganzes Polen) von Wincenty Pol, mit Musik von
Józef Sierosławski.
Lied: „Wunderschön unser ganzes Polen“
„Das altpolnische Lied“, das ist eine riesige Sammlung von adligen und bürgerlichen,
lyrischen und frivolen, satirischen, Stadt-, Dorf- und Liebesliedern. Das alles hatte
auch litauische, tschechische, deutsche, italienische, wie auch türkische und
tatarische Grundlagen.
Eins davon ist ein bekanntes Jägerlied adliger Herkunft, Pojedziemy na łów (Wir
fahren auf die Jagd). Stanisław Moniuszko hat es in den III. Akt der sog. „adligen“
Oper „Hrabina“ (Die Gräfin) eingefügt. Höchstwahrscheinlich stammt es aus dem
XVII. Jh.
Lied: „Wir fahren auf die Jagd“
Ich möchte jetzt ein paar Worte eben diesem Stanislaw Moniuszko widmen.
Er war ein Komponist, Dirigent, Pädagoge, Organist, Lied-, Oper-, Operetten- und
Ballettautor. Nach Chopin war er der berühmteste Vertreter des nationalen Stils in
der polnischen Musik, aber auch der Schöpfer der nationalen Oper. Er war nicht nur
Musiker sondern auch ein hervorragender Humanist und Literatur- und
Poesiekenner. Zur gleichen Zeit, als Chopin seine Werke in der damaligen
Hauptstadt der Welt – Paris, schaffte, komponierte Moniuszko in seinem Land in sehr
schwierigen Verhältnissen und in einem Milieu, das musikalisch rückschrittlich war.
Chopin hat weltmännisch komponiert, Moniuszko baute sehr geduldig von Grund auf
„das Gebäude“ der polnischen Musik für die Bedürfnisse des Volkes. Der
bescheidene Komponist aus dem ukrainischen Ubiel hat Werke mit unvergesslicher
Bedeutung hinterlassen. Zu den berühmtesten gehören: „Halka“, „Straszny dwór”,
„Paria”, „Hrabina”. Es ist zu erwähnen, die Oper „Straszny dwór” hat Moniuszko
während des Januar-Aufstands beendet. Ihr Vorspiel knüpft an die Ereignisse des
Jahres 1863 an.
Es war kein Wunder, dass die Uraufführung der Oper ein Anlass zur politischen
Demonstration war, und die Zensur hat die weiteren Aufführungen schnell gestoppt.
Zu den beliebtesten Werken gehört ein Zyklus von 12 Liederbänden, in einem das
„Śpiewnik domowy“ (das Hausliederbuch). Es gibt dort ca. 300 Lieder mit den Texten
verschiedener polnischer und fremder Autoren. Lieder, die wir so sehr lieben. Eins
davon ist Pieśń wieczorna (Das Abendlied), mit dem Text von Wladyslaw
Syrokomla.
Lied: „Das Abendlied“
Die wichtigste Zeit in der Geschichte Polens, und zugleich die tragischste des XIX.
Jhs., sind die zwei Aufstände: Novemberaufstand 1831 und Januaraufstand 1863.
Zu dieser Zeit haben die Lieder, die voll von Entschlossenheit und großer Liebe zum
Vaterland waren, nicht nur begabte und bekannte Dichter geschaffen, sondern auch
anonyme Autoren. Die Melodien zu den Liedern hatten verschiedene Quellen, aber
vor allem aus den zu der Zeit sehr populären Opern und Komischen Opern (Weber,
Bellini, Rossini, Kurpinski). Zum häufigsten Text-Leitfaden gehörten: der Abschied
von dem geliebten Mädel mit der Hoffnung auf die glückliche Rückkehr aus dem
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Krieg, oder das hingebungsvolle Verhalten der Polinnen dem Vaterland gegenüber.
In den Texten aus der Zeit des Novemberaufstands mangelt es nicht an politischen
Anspielungen und satirischen Akzenten. Ein oft gesungenes Lied davon ist
Pożegnanie (Der Abschied). Das Lied wurde zur Melodie eines Kujawiak gesungen,
gewidmet „den Frauen – Polinnen“. Die Autoren des Liedes sind unbekannt, aber
man weiß, dass es schon am Anfang des Novemberaufstands entstanden ist. Es war
auch während des Januaraufstands sehr populär.
Lied: „Der Abschied“
Die Freiheitsbewegung hat ihre Reflexion in den Soldatenliedern der
Aufstandsteilnehmer aus dem Jahre 1863 gefunden, aber auch in anderen
Kompositionen und musischen Publikationen, die hauptsächlich im Ausland gedruckt
waren: in Frankreich, London, Leipzig und Prag. Sie glorifizierten Freiheit und
Völkerbruderschaft, den Kampf mit dem verhassten Zarentum, sie waren auch
humorvoll und voller Soldaten-Galanterie, haben sich auch über die Kriegsstrapazen
lustig gemacht.
Ostatni Mazur (Die letzte Mazurka), das ist ein wunderschönes und allgemein
bekanntes Lied. Die Melodie wird auch Chopin zugeschrieben. Den Text hat Ludwik
Łubiński geschrieben, und es ist eine schöne Erinnerung an den Ball vor dem
Aufstandskampf, als man morgens früh die „weiße Mazurka“ getanzt hatte.
Lied: „Die letzte Mazurka“
Lieder und Volkslieder bilden eine überreiche Schatzkammer an Melodien und
Texten, und in sie hineingeschriebener menschlicher Gefühle und Berührungen. In
den ersten Nachkriegsjahren sind, wie Pilze nach dem Regen, neue Volksmusik- und
Tanzgruppen erschienen, die äußerst gern unsere Mazurkas, Kujawiaks, Obereks,
Krakowiaks und Räubertänze gesungen haben. Den größten Ruhm genossen die
professionellen Ensembles wie „Mazowsze“ und „Śląsk“.
Ihr Repertoire haben sie dem Gesamtwerk (24 Bände) von Oskar Kolberg
entnommen. Er hat über 10 Tausend Werke gesammelt. In der Weltgeschichte der
Folkloristik ist es eine einmalige Sammlung. Was wir seit Jahren „auf die
Volksweise“ singen, ist ein bescheidener Teil der Juwelen der VolksmusikSchatzkammer.
Płynie Wisła, płynie (Fließt die Weichsel, fließt…), es ist eins von den lustigen und
deswegen so gern gesungenen Liedern, im Rhythmus eines Krakowiaks. Den Text
hat Edmund Wasilewski und die Musik Kazimierz Hoffman geschrieben. Es hat eine
große Rolle in den Zeiten der Gefangenschaft und Besatzung aber auch in den
späteren Jahren des Kommunismus gespielt.
Lied: „Fließt die Weichsel, fließt…“
Und noch ein Lied, das man heute mit dem Repertoire des Ensembles „Śląsk”
assoziiert, das aber viel älter ist und wahrscheinlich aus Tschechien kommt.
Es ist das populäre Szła dzieweczka do laseczka (Ein Mädel ging in das
Wäldchen). Auf den verschiedenen internationalen Jugendtreffen singen auch die
das Lied, die sonst nicht so gern singen. „Das fröhliche Mädel“ gehört zu den drei
meistgesungenen Volksliedern mit geselligem Charakter.
Lied: „Ein Mädel ging in das Wäldchen“
Und noch ein beliebtes Goralen-Lied, das aus dem Drama „Karpaten Goralen“ von
Jozef Korzeniowski, aus dem Jahre 1843, stammt. Czerwony pas (Roter Gürtel),
war ein Lied der Huzulen aus Ostkarpaten (heutige Ukraine). Es ist bei uns ein
Lieblingslied geworden, das beim fröhlichen Beisammensein gern gesungen wird,
am Tisch oder z.B. am Lagerfeuer.
Die hier erwähnte Kolomyja, das ist eine Stadt in den Karpaten, und die Lieder, die
die Huzulen singen, nennt man „Kolomyjken“. Prut und Czeremosz sind Flüsse in
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den Ostkarpaten in der Ukraine. Dieses Huzulen-Lied ist schon über 150 Jahre alt. In
den tiefsten kommunistischen Zeiten war es verboten. Jetzt gehört es zu den
geselligen Liedern.
Lied: „Roter Gürtel“
Weihnachten.
Am Heiligabend setzen sich polnische Familien beim ersten Stern am Himmel an den
Tisch. Alle mit allen teilen die Oblate. Auf dem mit weißer Decke bedeckten Tisch
stehen die traditionellen Speisen. Der Brauch wird bis heute gepflegt. So steht da ein
geschmückter Tannenbaum, unter der Decke liegt ein bisschen Heu und am Tisch
befindet sich immer ein freier Platz für jemanden, der an dem Tag weit weg von der
Familie ist oder jemanden, den es nicht mehr unter den Lebenden gibt. Man singt
die rührenden Weihnachtslieder, die am Tisch am Heiligen Abend alle vereinen.
Die bekannten und am liebsten gesungenen Lieder gibt es Hunderte, oder vielleicht
sogar Tausende! Es ist schwierig, sie alle zu zählen. Die jungen Leute, die oft die
alten Volks- und National-Lieder missachten, verfallen an Heiligabend dem Zauber
von Weihnachten. Auf diese Weise singt der Opa mit dem Enkel und die
Generationsunterschiede werden verwischt.
Seltsam sind das polnische Weihnachtslied und das polnische Sternsingen.
Seltsam, aber auch begeisternd.
Wer das Neue Testament nicht kennt, und möchte sich gern ein Bild von der
Herkunft der Heiligen Familie anhand der polnischen Weihnachtslieder machen, der
könnte feststellen, dass „der kleine Jesus“ irgendwo in Polen auf die Welt kam, und
die Heilige Maria und der Heilige Josef Polen waren.
In unseren Weihnachtsliedern findet man Spuren der bekannten Madrigale
(Hirtenlieder – A.v.Ü.), manchmal hört man da die Musik von Vivaldi, und manchmal
Menuett, Gavotte und Sarabande. Fast alle bekannten polnischen Weihnachtslieder
sind anonym. Das betrifft den Text wie auch die Musik, aber in allen hört man unsere
polnischen Volkstänze. Und genau in einem Polonaise-Rhythmus ist das
Weihnachtslied Bóg się rodzi (Gott wird geboren).
Lied: „Gott wird geboren“
Nach der Niederlage des Januaraufstandes ist die Muse der polnischen
Soldatenlieder schweigsam geworden. Neu geboren wurde sie erst in der Zeit der
Legionen in den Jahren 1914 – 1918. Die Legionenlieder sind während des
Marschierens, in Quartieren, beim Schanzen und in den Lagern entstanden, infolge
der Erlebnisse an der Front und bei der Beobachtung des Soldatenlebens.
Der Sinn für Humor, oft bissig, war eine Grundlage des Legionenliedes. Bei ihrer
Popularität hat vor allem der Text eine entscheidende Rolle gespielt. Er war meistens
witzig, seltener lyrisch oder sentimental. Zu diesen Liedern gehört ohne Zweifel
Przybyli ułani pod okienko (Da kamen die Ulanen ans Fensterchen), am
häufigsten gesungen in der IV. Ulanen- Schwadron. Es ist ein national allgemein
gesungenes Lied geworden; gesungen auf Feldbühnen, am Lagerfeuer, im
Pfadfinderlager.
Lied: „Da kamen die Ulanen ans Fensterchen“
Der bekannte Literat Kazimierz Wroczynski und der Komponist Mieczyslaw KozarSłobódzki haben zusammen 1918 ein inniges und schönes Lied geschrieben Białe
róże (Weiße Rosen). Es wurde während der verschiedenen Feierlichkeiten aus
Anlass der Unabhängigkeit aufgeführt. In dem Lied trauert ein junges, einsames
Mädel, nachdem sie den geliebten Johannes verloren hat, der in den Krieg gegangen
und nie heimgekehrt ist. Wie die meisten Lieder, die die Polnischen Soldaten in der
20-jährigen Zwischenkriegszeit gesungen haben, ist dieses Lied auch nach einem
alten Volkslied entstanden.
Lied: „Weiße Rosen”
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Der II. Weltkrieg und die Naziokkupation sind historische Ereignisse, die immer noch
sehr lebendig im Gedächtnis der Polen sind. Schöne und stolze Partisanenlieder, die
„die Jungs aus dem Wald“ in den Jahren 1939 - 1945 gesungen haben. An die hat
man sich noch lange in den Nachkriegsjahren erinnert. Nicht alle sind nach Hause zu
ihren Nächsten zurückgekehrt. Viele Lieder sind verloren gegangen, zusammen mit
denen, die sie gesungen haben. Vor allem fehlen uns die Lieder aus den polnischen
östlichen Gebieten, wo es viele Partisanenabteilungen gab. Das, was wir singen,
stammt aus den zentralen Gebieten Polens.
Dziś do ciebie przyjść nie mogę (Heute kann ich zu dir nicht kommen), bekannt
auch als „Waldgutenachtlied“ gehört zu den rührendsten Partisanenliedern. Es wurde
für die Mitglieder des Widerstands 1942/1943 komponiert. Es gehört heute zu den
bekanntesten und beliebtesten Partisanenliedern. Es ist wegen des nachdenklichen
und wahren Textes und der sanften, leicht ins Ohr gehenden Melodie berühmt.
Lied: „Heute kann ich zu dir nicht kommen“
Ein anderes populäres Lied der polnischen Partisanen aus dem II. Weltkrieg ist
„Rozszumiały się wierzby płaczące” (Es rauschen die Trauerweiden). Den Text
hat Roman Ślęzak geschrieben, zu einem russischen Marsch, und die Musik Wasyl
Agapin. Das Lied wurde zusammen mit den sowjetischen Soldaten gesungen, als
ein Lied „der Freundschaft und Bruderschaft“.
Lied: „Es rauschen die Trauerweiden und die Mädels weinen“
Und endlich das Lied „Serce w plecaku“ (Das Herz im Rucksack) aus dem Jahre
1933. Es hat Michachał Zieliński, ein Berufsmusiker und Leutnant im Polnischen
Heer geschrieben. Während des II. Weltkrieges haben es Polen an allen Fronten im
In- und Ausland gesungen, im Heer und in den Partisanenabteilungen, sogar in den
Gefängnissen und Konzentrationslagern. Bekannt war es auch in manchen
Kriegsgefangenenlagern, in die es mit Teilnehmern am Warschauer Aufstand
gekommen ist.
Lied: „Das Herz im Rucksack“
Einen separaten Platz im Repertoire der Soldatenlieder verdient das Lied
„Czerwone maki“ (Rote Mohnblumen), das mit dem Krieg um Monte Cassino
verbunden ist. Der Autor knüpft an die Blumen an, die während des Kampfes auf den
durchwühlten Hügeln geblüht haben. Aber vielleicht hat sich der Autor inspirieren
lassen durch die Erinnerungen der Soldaten, die die Farbe der blühenden Blumen
mit dem Blut der Gefallenen verglichen haben.
Das Lied ist in der Nacht vom 17. auf den 18. Mai 1944 entstanden, ein paar
Stunden vor der Eroberung des Klosters. Der Textautor, Feliks Konarski, hat von
weitem das Donnern der kommenden polnischen Artillerie gehört und hat schnell die
Worte geschrieben, und Alfred Schulz, auch ein Soldat des 2. Korps, ein paar
Stunden später die Musik. Als die Soldaten des 2. Korps am 18. Mai das Kloster
erobert haben, haben sie während des Festaktes aus diesem Anlass das Lied zum
ersten Mal gesungen.
So erinnern sich die Autoren an diesen Moment: „Als wir zum ersten Mal „Rote
Mohnblumen“ am Fuß des Klosterbergs gesungen haben, haben wir alle geweint,
auch die Soldaten. Die roten Mohnblumen, die in der Nacht erblüht sind, sind zu
einem Symbol der Bruderschaft und der Hingabe geworden, und zu einer Huldigung
der Lebenden an die Gefallenen, die durch die Freiheitsliebe für die Freiheit der
Anderen gefallen sind.“
Lied: „Der Rote Mohn auf dem Monte Cassino
Die vorgeführten Lieder sind nur ein kleiner Teil der Werke, die die Polen lieben, und
die jeder junge Pole kennen sollte. Eine besondere Rolle haben diese Lieder in der
Geschichte unseres Landes gespielt.
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Sie haben die Landsleute vereint, vor dem Kampf die Soldaten ermutigt, die
Hoffnung der Emigranten geweckt, die Jugend erzogen, und in der uns näheren
kommunistischen Zeit waren sie zu Waffen im Kampf gegen die Zensur,
Propaganda, aber auch gegen Polizeiknüppel, Wasserkanonen und scharfe Waffen
geworden.
Diese Werke sind unser Erbe!
Zum Schluss sind uns nur fröhliche, leichte, einfache und gesellige Lieder geblieben.
Ja, die singen wir auch gern.
Eins davon ist das Lied „Sto lat“ (Hundert Jahre soll er/sie leben), das wir beim
Gratulieren singen. Ohne das Lied kann man sich eine Hochzeit, Geburtstag oder
Namenstag nicht vorstellen. „Sto lat“ ist eine Form der herzlichen Wünsche. Die
Redewendung „sto lat“ wird verwendet als „Alles-Gute-Wunsch“. In der Geschichte
des Liedes kann man eine charakterliche Wandlung feststellen. Es ist aus dem
Repertoire der geselligen Lieder in das der politischen übergegangen. Mit diesem
Lied werden auch Staatsmänner begrüßt.
Lied: „100 Jahre sollst du leben“
Mit einer Gitarre, am Lagerfeuer, singen wir gerne Pfadfinderlieder über brennendes
Feuer und rauschenden Urwald und der Gruppenführer erzählt über die alten Zeiten.
Bei diesen Liedern erscheint oft ein Kanon, den man zu zwei oder drei Stimmen
singen kann, wie z. B. „Płonie ognisko w lesie” (Im Wald flackert das Lagerfeuer).
Lied: „Im Wald flackert das Lagerfeuer“
In einer großen Anzahl der Lieder findet man auch solche, die klingen auf Polnisch
genauso wie auf Deutsch. Wir alle kennen diese Melodien und können sie bestimmt
zusammen singen,
z. B. „Jak to miło w wieczór bywa“ (Oh wie wohl ist mir am Abend).
Lied: „Oh wie wohl ist mir am Abend“
Aber es gibt da ein Lied, auf das ich Ihre Aufmerksamkeit besonders richten möchte.
Es singen die Deutschen, kennen aber vor allem Posener. Das Lied hat Simon
Krannig komponiert. Er hat die Musik zu einem schönen Gedicht von Martha MüllerGrählert geschrieben.
In unserer Stadt hat die Melodie ganz neue Worte bekommen und der Titel heißt:
„ Sen o Poznaniu“ (Ein Traum von Posen). Meine Generation hat es obligatorisch in
der Schule lernen müssen. Der Text ist wahrscheinlich aus der Sehnsucht nach der
Stadt der Kindheit entstanden und lobt ihre schönsten Plätze.
Wie ich schon erwähnte, die Worte der oben genannten Lieder sind ganz
verschieden, aber hat das irgendeine Bedeutung?
Wichtig ist, dass Lieder unsere Völker verbinden, dessen schönster Beweis ist die
heutige Begegnung.
Lied: „Ein Traum von Posen“
„Wo die Ostseewellen“
Übersetzung: Elzbieta Skowrońska (Poznań 2014)
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