Giuseppe Bossi und Goethe

Transcription

Giuseppe Bossi und Goethe
Von Leonardo
fasziniert
Giuseppe
Bossi
und Goethe
Im
Blickfeld
der
Goethezeit
VI
Hermann Mildenberger
Serena Zanaboni
Fernando Mazzocca
Francesca Tasso
Reinhard Wegner
Von Leonardo fasziniert
Giuseppe Bossi
und Goethe
Im Blickfeld
der Goethezeit VI
Antonio Canova, Porträtbüste Giuseppe Bossi, um 1816,
Gips, Höhe 70 cm, Daniel Katz Gallery, London
SAN DSTEI N
lm Blickfeld
Kuratoren der Ausstellung
Die Deutsche Nationalbibliothek
der Goethezeit VI
Hermann Mildenberger,
­verzeichnet diese Publikation in der
Serena Zanaboni
Deutschen Nationalbibliographie;
Klassik Stiftung Weimar
Schiller-Museum
26.8. – 13.11.2016
detaillierte bibliographische Daten
Konzeption und Betreuung der Reihe
»Im Blickfeld der Goethezeit«
Hermann Mildenberger
Katalog
Viola Geyersbach, Jochen Klauß,
Domenico Laurenza, Fernando
­Mazzocca, Christof Metzger, ­Hermann
Mildenberger, Margarete Oppel,
­Francesca Tasso, Reinhard Wegner,
Serena Zanaboni
Mit freundlichem Dank an
unsere Kooperationspartner.
sind im Internet über
http://dnb.ddb.de abrufbar.
6Vorwort
9essays
76katalog
11
85
Serena Zanaboni
»Seine Schönheit erinnert
Dieses Werk einschließlich seiner Teile
ist urheberrechtlich geschützt. Jede Ver-
an diejenige der römisch-­
wertung außerhalb der engen Grenzen
hellenischen Antike«
des Urheberrechts­gesetzes ist ohne
Giuseppe Bossi und die
Zustimmung des Verlages unzulässig
Erwerbungen von
und strafbar. Das gilt insbesondere für
Carl August in Mailand
die ­Vervielfältigung, Übersetzungen,
1817 – 1818: Goethe und
­Mikro­verfilmungen und die Ein­
Redaktion
speicherung und Verarbeitung in elek­
Max Pommer, Serena Zanaboni,
tronischen Systemen.
95
Gemälde von Giuseppe Bossi
Großherzog Carl August
Die Reise nach Mailand und
seine Erwerbungen
98
Serena Zanaboni
Giuseppe Bossi: seine
die spät­klassizistische
Arbeit am »Abendmahl«
­Rezeption in Weimar
207Spätklassizismus
­Hermann Mildenberger,
29
Svenja Gerndt, Margarete Oppel,
Hermann Mildenberger
Inspiration und Nachfolge
Goethe zwischen Leonardo
Viola Geyersbach, Dorothee Proft
in Weimar
und Bossi
Buchhandelsausgabe
Sandstein Verlag
47
Francesca Tasso
Gaetano Cattaneo als inter-
Lektorat
kultureller ­Brückenbauer
Christine Jäger-Ulbricht und
Sina Volk, Sandstein Verlag
zwischen der Lombardei,
Gabriele Drews
­Deutschland und
Ungarn zu Beginn des
Reihenentwurf
19. Jahrhunderts
Nicolaus Ott + Bernard Stein
Die Klassik Stiftung Weimar wird ­gefördert
von der Beauftragten der Bundes­regierung für
Kultur und Medien aufgrund eines B
­ eschlusses
des deutschen B
­ undestages sowie dem
Freistaat Thüringen und der Stadt Weimar.
Reprographie
Jana Neumann, Sandstein Verlag
© Klassik Stiftung Weimar
und Sandstein Verlag
Printed in Europe
ISBN
978-3-95498-242-4
246
Serena Zanaboni
Rekonstruktion der
Erwerbungen 1817 – 1818
269Literatur
283Bildnachweis
55
Satz und Gestaltung
Annett Stoy, Sandstein Verlag
245anhang
Abbildungen auf dem Umschlag
Vorderseite: Kat. 7, Giuseppe Bossi,
Kopie der Kopfstudie zum Christus
aus dem Abendmahl, um 1807
Rückseite: Kat. 4, Giuseppe Bossi,
Selbstporträt mit Gaetano Cattaneo,
Giuseppe Taverna und Carlo Porta
(Cameretta Portiana), 1809 – 1810,
Öl auf Leinwand, Pinacoteca di Brera,
Mailand
Abbildungen Schmutztitel
Antonio Canova Porträtbüste
Giuseppe Bossi, um 1816,
Gips, Höhe 70 cm, Daniel Katz
Gallery, London
Fernando Mazzocca
Giuseppe Bossi – ein
rastloser Wegbereiter
des Neoklassizismus
zwischen Mailand und
Rom
65
Reinhard Wegner
Mailand und die Folgen
für das klassizistische Bild
284Dank
Serena Zanaboni
»Seine Schönheit erinnerte an diejenige der
römisch-hellenischen Antike«
giuseppe bossi und die erwerbungen von
carl august in mailand 1817 – 1818:
goethe und die spätklassizistische rezeption
in weimar
»Die Frauen schätzten ihn; so sehr, dass sobald er einen Raum betrat, die Ehemänner knurrten wie argwöhnische Hunde. Er war schön, seine Schönheit erinnerte an diejenige der römisch-hellenischen Antike […]. Seine langen, dichten,
dunkelbraunen Haare [waren] […] lockig und legten sich malerisch in Strähnen
um seine Stirn […], als ob Phidias daran gearbeitet hätte. Seine außergewöhnliche
Schönheit wurde von der – vielleicht bewussten – Nachlässigkeit, die er seiner
Frisur entgegenbrachte, noch betont. [...] Sein Geist und seine Haltungen waren
so außerordentlich wandelbar, dass sie einen Großteil seiner vornehmen Individualität ausmachten. Nach Leonardo da Vinci nahm er [...] seinen Platz im Kreis
der exzellentesten und berühmtesten Italiener ein.« 1
Giuseppe Bossi war ein genialer und rastloser Künstler, ein revolutionärer
Kunsttheoretiker, Museumsleiter und Autor (Abb. 1). Er vernachlässigte seine
Gesundheit, um sich seiner Leidenschaft zu widmen: dem theoretischen und
praktischen Studium und dem aufopfernden Forschen in allen Kunst- und Kultur­
bereichen. Selbst als sich sein Gesundheitszustand dramatisch verschlechterte,
setzte er eifrig seine Studien fort. Als er mit nur 37 Jahren an Schwindsucht
starb, gehörte er zu einem der europaweit bedeutendsten Gelehrten seiner Zeit.
Er lebte ein äußerst intensives Leben: Sein Geist vereinte in sich die widersprüchlichsten Extreme. Mutig und rebellisch war er auch: Er wagte es, sich
öffentlich gegen die damals von der napoleonischen Regierung verfochtenen kulturellen Ideologien und gegen Napoléons absolutistisches Regime zu stellen.
Zugleich war er der Star der mondänen Salons und Feste in Mailand, das damals
die Hauptstadt Italiens war. Bossi war schön, groß und charmant. Die Frauen
liebten ihn und er erwiderte leidenschaftlich diese Liebe. Er heiratete nie, stattdessen sammelte er Liebhaberinnen, unter denen sich zahlreiche der schönsten
Frauen seiner Zeit fanden.2
Sein unruhiger, rastloser Geist war und ist extrem modern – dennoch ist
Giuseppe Bossi ein Name, der heute zu Unrecht dem breiten Publikum unbeAbb. 1
Giuseppe Bossi, Selbstporträt, um 1814,
Öl auf Leinwand, Florenz, Uffizien
10
kannt ist und selbst in der Forschung ein Nischendasein fristet. Wenn man sich
mit dieser höchst komplexen Figur auseinandersetzt, wird deutlich, was ihn im
21. Jahrhundert noch relevant macht.
11
Mein herzlicher Dank gilt meinen Kolleginnen und
­Kollegen der Klassik Stiftung Weimar und des Thüringischen Staatsarchivs für die Unterstützung und für die
fachlichen Anregungen, vor allem Prof. Hermann
­Mildenberger, Margarete Oppel, Dorothee Proft, Viola
Geyersbach, Svenja Gerndt und Max Pommer sowie
Dr. Bernhard Post, Volker Graupner, Dr. Ingrid Arnhold,
Cornelia Feldermann, Petra Krause, Matthias Hageböck, Uwe Golle und Thomas Degner. Danken möchte
ich auch Dr. Sandra Sicoli und Anna Torterolo für ihre
Unterstützung. Für ihre konstruktive Kritik und die wissenschaftlichen Anregungen möchte ich mich herzlich
bei Dr. Markus Schwerin, Prof. Dr. Martin Büchsel und
vor allem Andreas Rausch bedanken. Mein persönlicher
Dank gilt Fritz Grandi, Tom Wirkus, Diana di Maria und
Dr. Karl Philipp Ellerbrock für die Anregungen sowie für
die Bereitschaft zur Diskussion, mit denen sie meine
Studie bereichert haben.
1 Rovani 1868, S. 276 – 277. Von der Verfasserin aus
dem Italienischen übersetzt.
2 Vgl. zu Bossis Biographie: Bossi-Nenci 2004,
S. IX – XX; Tosi Brunetto 1983. Bossis erster Biograph
war Gaetano Cattaneo, vgl. Bossi-Casati 1885.
Ein großer Teil von Bossis Korrespondenz wurde von
­Roberto Paolo Ciardi veröffentlicht, vgl. Ciardi, 1982,
Bd. 1 – 2. Weitere Briefe von Bossi finden sich in: Nenci
1997, S. 401 – 465; Cassanelli 1995, S. 105 – 121. Bossi
schrieb zwischen 1807 und 1815 ein Tagebuch; es
wurde 1925 von Giorgio Nicodemi veröffentlicht und
kürzlich von Chiara Nenci in einer revidierten Auflage
publiziert. Vgl. Bossi-Nenci 2004; Bossi-Nicodemi
1925.
I
Giuseppe Bossi wurde 1777 in Busto Arsizio, nahe Mailand, in eine wohlhabende
Familie geboren. Er studierte Malerei an der Accademia di Brera, der Brera­Kunstakademie in Mailand. Sein Talent wurde von seinen Lehrern früh erkannt:
1795 bekam er ein dreijähriges Stipendium von der Akademie, um seine Fertigkeiten in Rom perfektionieren zu können. Dort entwickelte er sein Talent als
Kopist, indem er antike Skulpturen nach Vorlagekopien im Museum Pio Clementino und nach Werken Michelangelo Buonarrotis (1475 – 1564) und Raffaello
Santis (1483 – 1520) in den Vatikanischen Museen anfertigte. Um die Menschen
und deren Anatomie in seiner Kunst realistisch darzustellen, führte er Naturstudien durch; hierzu gehörte insbesondere das Sezieren von Leichen. In diesen
Jahren begann er auch, Kunst zu sammeln. Er knüpfte Kontakte und Freundschaften zu einigen der einflussreichsten Künstler, Sammler und Intellektuellen
seiner Zeit und baute damit ein Netzwerk auf, das ihm persönlich und professionell lebenslang von Nutzen war.3
Nach seiner Rückkehr nach Mailand arbeitete er weiter als Künstler – in einer
Zeit der politischen Unruhen in Italien. Oberitalien war seit 1706 der österreichischen Herrschaft der Habsburger unterworfen, 1796 eroberte Napoléon Bonaparte
(1769 – 1821) Oberitalien blitzschnell im Laufe der Italienischen Kampagnen
(1796 – 1797) und beendete das bestehende fast 100-jährige österreichische monarchische Regime in Italien. Die Cispadanische Republik wurde in den eroberten
Gebieten gegründet und im Juni 1797 in Cisalpinische Republik (1797 – 1799)
umbenannt. 1799 marschierte das österreichische Regiment wieder in Oberitalien
ein, die französischen beziehungsweise napoleonischen Truppen mussten Italien
verlassen und die habsburgische Regierung wurde wieder eingesetzt; dennoch
gaben Napoléon und das französische Regime ihre Pläne, Italien zu erobern, nicht
3 Bossis Lehrer waren Giuliano Traballesi (1728 – 1812),
Martino Knoller (1725 – 1804), Andrea Appiani
(1754 – 1817) und Giuseppe Franchi (1731 – 1806). Vgl.
Samek Ludovici 1971, S. 314 – 319. Vgl. zu Bossis in
Rom geknüpften Freundschaften mit Künstlern, darunter mit Angelica Kauffmann (1741 – 1807), Gaetano
Cattaneo (1771 – 1841), Felice Giani (1759 – 1823),
Vincenzo Camuccini (1771 – 1844): Tosi Brunetto
1983, S. 14 – 15. Besonders wichtig war die Freundschaft, die ihn mit dem Bildhauer Antonio Canova
(1758 – 1822) verband: Sie hielt bis zu Bossis Tod an,
und die zwei bereicherten sich gegenseitig in ihrer
Kunsttätigkeit durch Meinungsaustausch und Ratschläge, die ihr jeweiliges Œuvre fruchtbar beeinflussten und prägten (ebenda). Vgl. zu Bossis Naturstudien
an Leichen: Salvi 1996, S. 41 – 47, hier S. 45. Vgl. hierzu auch: Carli 2004, S. 73. Während seiner römischen
Studienzeit fing er an, Kunst zu sammeln, die er von
den dort kennengelernten etablierten Sammlern erwerben konnte. Vgl. zu Bossis Kontakt mit Sammlern
in Rom und zum Anfang seiner Sammlertätigkeit:
Sciolla 1992, S. 208 – 216; vgl. zu diesem Thema auch
die Lugt–Nummer 281 zu Giuseppe Bossi, vgl. Lugt 281.
auf. Die Schlacht bei Marengo am 14. Juni 1800 ermöglichte Napoléons Rückkehr
und die österreichische Herrschaft wurde erneut vom italienischen Territorium
verbannt. Ein großer Teil der Bevölkerung feierte die französische Regierung als
Befreier vom Joch der Österreicher, der veralteten Staatsform des Kaisertums und
als Überbringer der Republik. Die Cisalpinische Republik wurde provisorisch wie-
Abb. 2
Leonardo da Vinci, Vitruvianischer Mensch, um 1490, Feder und Tinte auf Papier,
Venedig, Gallerie dell’ Accademia, G
­ abinetto dei Disegni, aus Bossis Besitz
dererrichtet, bekannt zunächst als Zweite Cisalpinische Republik (1800 – 1802),
die 1802 in die Italienische Republik (1802 – 1805) umbenannt wurde; Bonaparte
trat seit 1802 als Präsident der Republik in Erscheinung.
Giuseppe Bossi war ein begeisterter Anhänger republikanischer und jako-
(Direktor) der Brera ein.5 Während seiner gesamten Amtszeit als Sekretär der
binischer Ideen: Damit war er der rechte Mann am rechten Ort in der republi-
Brera reüssierte er zugleich in weiteren Bereichen, dichtete, verfasste Kunst-
kanischen Phase.
traktate und widmete sich zudem tiefgründigen Studien der verschiedensten
4
Die Kunst wurde von den Herrschern durch Aufträge gefördert – vor allem,
Themen aus dem Kunst- und Kulturbereich. Er sammelte Bücher und wertvolle
um sie für Regierungspropaganda zu nutzen und einen Konsens herzustellen.
Manuskripte für seine persönliche Bibliothek und Kunst für seine Kunstsamm-
Die napoleonische Obrigkeit in Mailand schrieb am 28. März 1801 einen Kunst-
lung. Die von ihm angeschafften Kunstwerke waren so zahlreich und so ansehn-
wettbewerb für das beste Gemälde zum Thema »Die Dankbarkeit der Cisalpi-
lich, dass sie den Kernbestand von zwei verschiedenen Museen bildeten: des
nischen Republik gegenüber Napoléon« aus. Bossi wurde als Preisträger gekrönt
archäologischen Museums in Mailand und der Graphischen Sammlungen der
und dieser Sieg trug ihm am 21. Mai 1801 die Ernennung zum dritten Sekretär
Venezianer Gallerie dell’Accademia (Abb. 2).6
12
13
4 Pillepich 2001, S. 128; Melzi d’Eril 1991, S. 95. Vgl.
zum Italienfeldzug und zu den verschiedenen Schlachten: Ellis 2003; Rimoldi 1983. Vgl. zur Herrschaft der
Habsburger in Oberitalien: Ingrao 2000. Vgl. zur Cispadanischen Republik: Rombaldi 1997. Vgl. zur Ersten
und zur Zweiten Cisalpinischen Republik: Zaghi 1992.
Vgl. zur Italienischen Republik: Mailand 2002; Guerri
2001, S. 21 – 30. Vgl. zu Napoléon: Roberts 2014. Vgl. zu
den napoleonischen Jahren in Mailand: Pillepich 2001.
5 Mazzocca 1999, S. 63 – 83. Vgl. zur napoleonischen
Propaganda: Schmid 2010. Vgl. zur Geschichte der
Brera-Pinakothek: Lauber 2012; Bandera 2009; Sicoli
2000 a. Vgl. zu Bossis museologischer Arbeit für die
Brera: Sicoli 2010 a; Mailand 2009 a, S. 12 – 21; Brambilla 2008, S. 46 – 61; Valli 2000, S. 59 – 64; Istituto
Lombardo 1999; Cassanelli 1999, S. 221 – 250; Sicoli
1989, S. 71 – 90.
6 Vgl. zu Bossis Tätigkeit als Künstler den Aufsatz von
Fernando Mazzocca in diesem Katalog. Vgl. zu Bossis
literarischer Tätigkeit: Bezzola 1999, S. 139 – 149; Farina
1983, S. 570 – 621; Ciardi 1982, Bd. 2, S. 783 – 831.
Vgl. zu Bossis Tätigkeit als Kunstsammler: Nenci 2012,
S. 320 – 331; Mara 2012, S. 57 – 98; Antonelli 2010,
S. 509 – 544, 579; Sciolla 1992, S. 208 – 216. Vgl. zur
Geschichte des archäologischen Museums in Mailand:
La Guardia 1995; La Guardia 1993, S. 237 – 243. Vgl.
zur Geschichte der Gallerie dell’Accademia in Venedig:
Nepi Sciré 1982.
Unter der Leitung Bossis wurden Rolle und Struktur der Brera modernisiert.
Seinen republikanischen Idealen folgend, stellte er den didaktischen Wert und
den politischen und sozialen Nutzen der Kunst in den Vordergrund: Die Akademie und die Sammlung sollten dazu dienen, die Bürger zu erziehen.7 Bossi
kümmerte sich um die akademische Neugestaltung der Brera.8 Er realisierte
eine Reform, die der Institution Autonomie gegenüber der Politik verschaffte.9
Seine museologische Tätigkeit war innovativ und bahnbrechend in Italien: Bossi
setzte die Brera auf gleiche Ebene mit den modernsten europäischen Sammlungen seiner Epoche. Zunächst bestand die Brera-Sammlung aus nur wenigen
Werken. Die Regierung stellte ihm Andrea Appiani (1754 – 1817) zur Seite, der
1802 zum Commissario delle Belle Arti (Kommissar der Schönen Künste)
ernannt wurde, um die Lücken in der Mailänder Sammlung zu füllen. Bossi und
Appiani folgten gegensätzlichen Methoden, um dieses Ziel zu erreichen.10 Bossi
war bemüht, die Bestandsvermehrung vor allem durch gezielte Ankäufe11 und
durch eine ausgefallene Auswahl der Werke12 zu realisieren. Seine Aufgeschlossen­
heit und sein Engagement für die Brera wurden von den regierenden Kräften
kritisch gesehen und viele verfeindeten sich mit ihm, denn sein Ansatz, eine
Institution für die Öffentlichkeit zu gründen, richtete sich gegen die laufende
Politik. Diese wurde durch Appianis Arbeit am besten verkörpert: Die Bestandsvermehrung der napoleonischen Museen basierte auf massiven Requirierungen
von Kunstwerken aus den Territorien, die Napoléon erobert hatte,13 und genau
das war Appianis Aufgabe als Kommissar der Schönen Künste.
Bossi stand den skrupellosen und umfangreichen Requirierungen Appianis
für die Brera in den verschiedenen oberitalienischen Departements ablehnend
gegenüber.14 Trotz dieser kulturpolitischen Divergenzen mit der Regierung
besaß Bossi während der republikanischen Phase den stärksten Einfluss im
Kunstbereich und konnte Appianis Handeln eingrenzen.15
1805 allerdings fand ein politischer Wandel statt: Nach einem triumphalen
7 Vgl. Nenci 2000, S. 1032 – 1033; Bossi 1806,
S. 3 – 11.
8 Bossi schrieb den neuen Disziplinarplan,
die »Statuti«, für die Brera-Akademie, die 1802
zusammen mit der Kunstakademie in Bologna
zu Staatsakademien der Italienischen Republik
ernannt wurden. Vgl. Arrigoni 1998, S. 10.
Die »Statuti« sind in: Tea 1941, S. 284 – 289,
Nr. IX publiziert worden.
9 Er schaffte die Stelle des Präsidenten der
Brera ab, dessen Funktion die Vertretung der
­Interessen der Politik in der Brera mit voller
­Entscheidungsbefugnis war. Die Leitung der
Akademie wurde dem Sekretär und einem Professorenkolleg anvertraut. Vgl. Tardito 1986,
S. 31; Bertelli 1984 b, S. 8 – 9.
10 Sicoli 2000 a, S. 262 – 266. Vgl. zu Appiani:
Leone 2008, S. 580 – 597; Mazzocca 2002,
S. 159 – 190; Garberi 1990; Mailand 1975 a.
Vgl. zu Appianis Ernennung zum Kommissar der
Schönen Künste: Sicoli 2000 a, S. 263.
11 Nenci 1999, S. 410; Scotti 1979, S. 52.
Einzug in Mailand ließ sich Napoléon am 26. Mai zum König Italiens krönen
(Abb. 3). Damit endete die republikanische Phase und eine monarchische, imperiale Phase begann, in der sich eine absolutistische Politik durchsetzte.16 Im
Kunstbereich wuchs die Macht von Andrea Appiani in schwindelerregende
Höhe und Bossis Einfluss schwand zusehends.17 Nach dieser Wende der politiAbb. 3
Giuseppe Bossi, Napoléon, Privatsammlung,
bereits Sammlung Orsi, Mailand
schen Verhältnisse wurde Bossi der napoleonischen Herrschaft unbequem, da
er mit den absolutistischen Ideologien Bonapartes und dessen Kulturpolitik
nicht einverstanden war und dies auch öffentlich kundtat. Vor allem war er nicht
bereit, sich der neuen Regierungspolitik anzupassen, nur um an der Macht zu
bleiben. Seine Ideen waren ihm wichtiger und er verfolgte sie weiter, obwohl
ihm und seinen Entscheidungen von allen Seiten starker Widerstand entgegenschlug.18 Eine Kontroverse mit dem Innenminister Ludovico G. A. di Breme
(1754 – 1827) war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte: Bossi
reichte am 31. Januar 1807 im Anschluss an dieses Ereignis seinen Rücktritt als
Sekretär der Brera ein. Hinter seiner Demission stand auch der Schatten von
Appiani: Er hatte sich im Hintergrund viel Mühe gegeben und strategisch
14
15
12 Bossis Auswahl der Werke spiegelte seine feine
Kennerschaft wider; er folgte keinem traditionellen
und konservativen Sammlungsansatz. Er überwand
den Geschmack der Epoche, der auf die Kunst der
Renaissance und des 17. Jahrhunderts fokussiert war,
und erwarb Gegenstände aus allen Perioden und
Kunstschulen, wie es zugleich in den innovativsten
­europäischen Museen geschah. Auch zeitgenössische
Kunstwerke wurden in die Sammlung aufgenommen
und Bossi zeigte ein starkes Interesse an der mittel­
alterlichen Kunst, was bahnbrechend in seiner Zeit
war. Vgl. Bertelli 1984b, S. 8 – 9 und Nenci 1999,
S. 413.
13 Savoy 2009, S. 29; Hubert 1996, S. 265 – 275;
­Wescher 1976, S. 139. Vgl. zur Entwicklung der Brera-­
Sammlung: Sicoli 2010a; Mailand 2009 a.
14 Bossi beklagte, dass die Unmenge an Werken, die
durch Requirierungen in die Brera-Pinakothek kamen
und dort präsentiert wurden, in erster Linie der Propaganda des R
­ egimes und nicht den Bürgern nutzten.
Man wollte die Kunst nicht schützen, sondern vielmehr
als Trophäe präsentieren. Vgl. Sicoli 1989, S. 77 und
82; Ciardi 1983, S. 376 – 378. Vgl. zu Appianis Requirierungen und zu seiner Tätigkeit als Kommissar:
­Zanaboni 2014b, S. 153 – 193.
15 Mazzocca 2002, S. 27.
16 Emiliani 2010, S. 24. Vgl. zum Königreich Italien
(1805 – 1814): Cannella 2009; Schneid 2002.
17 Menichella 1999, S. 227.
18 Bora 1975, S. 31.
gespielt, um Bossi in den Rücken zu fallen. Die Manipulationen von Appiani
führen. Bossis Ideen wirkten jedoch über seinen Tod hinaus und verbreiteten sich
verfehlten ihre Wirkung nicht.
unter den Eliten: Deshalb war er tot gefährlicher als lebendig. Es galt für die
19
Bossis Popularität unter einem großen Teil der Mailänder Elite, seine Kon-
Obrigkeit daher, die Erinnerung an seine Verdienste und all das, was er aufge-
takte mit den Mächtigen und vor allem seine Freundschaft mit Eugène de Beau-
baut hatte, soweit wie möglich zunichte zu machen. Daher weigerten sich die
harnais (1781 – 1824), dem Vizekönig Italiens, ermöglichten es ihm dennoch,
Leiter der Brera, Bossis Nachlass für ihre Institution zu erwerben, wie es die
seine führende Position in Mailand und in Italien zu halten. Nach seinem Rück-
Erben Bossis ihnen zuerst angeboten hatten.25
20
tritt durfte er weiter als Kunstprofessor tätig sein: Der Vizekönig bewilligte mit
einem offiziellen Dekret die Gründung einer privaten Kunsthochschule mit Son19 Di Breme ordnete die erneute Ernennung eines
Präsidenten der Brera an – die Stelle, die Bossi vor
­einigen Jahren abgeschafft hatte. Die Wiederher­
stellung dieser Position in der Brera untergrub die
Grundlagen der demokratischen Wende, welche der
Sekretär geschaffen hatte. Vgl. Lauber 2012, S. 15;
Menichella 1999, S. 228, Anm. 21; Ricci 1907, S. 34.
Vgl. zu di Breme: Locorotondo 1972.
20 Vgl. zu Bossis guter Beziehung mit de Beauharnais: Nenci-Bossi 2004, S. 144, Anm. 383.
21 Bossis Schule war mehr auf die Lehre der Kunsttheorie als auf die Praxis orientiert. Vgl. zu Bossis
Scuola Speciale di Pittura: Scotti 2008, S. 51; Antonelli
2007, S. 184 und S. 187 Anm. 14. Das Dekret von de
Beauharnais ist enthalten in: Ciardi, 1982, Bd. 2,
S. 889 – 891.
22 Vgl. zu Leonardos »Abendmahl« und zu Leonardo
die Anm. 2, Kat. 7 – 49 (»Abendmahl«-Arbeit),
S. 98 – 105.
23 Vgl. zur Schlacht von Waterloo: Waterloo 2008.
Vgl. zum Sturz des napoleonischen Regimes: Zamoyski
2014. Vgl. zum Königreich Lombardo-Venetien:
­Mazohl-Wallnig 1993. Vgl. zum Wiener Kongress:
­Laven 2000.
24 Porta 1956, S. 189; Giordani 1856, S. 50; Visconti
1818; De Cristoforis 1818; Alla memoria 1818; Calvi
1816; Bellotti 1816; Anesi 1815; Cattaneo 1815.
25 Vgl. Bertelli 1984b, S. 8 – 9. Die Absage der Brera
führte zum Unmut der Mailänder Elite gegenüber den
leitenden Funktionären der Brera. Vgl. Cattaneos Brief
an Canova vom 17. Oktober 1817, in: Antonio C
­ anova
2003, S. 1076 – 1077. Vgl. dazu auch den Brief von Marietta Frappolli Londonio an Antonio Canova vom 25.
September 1817, in: Canova-Honour 2003,
S. 1031 – 1032.
26 Vgl. zu Bossis Freundschaft mit Cattaneo: Pasztory-­
Pedroni 1981, S. 75 – 81. Die Erben Bossis waren die
Kinder seines Bruders Luigi und der zweite Bruder des
Malers, Benigno. Carlo Andrea Locatelli kümmerte
sich mit Cattaneo um die Verwaltung der Erbschaft
der Kinder von Luigi. Für Weimar spielte er keine Rolle.
Vgl. zu den Brüdern von Bossi: Mara 2012, S. 89. Bossi
hatte Cattaneo und Carlo Porta als Testamentsvollstrecker ernannt, vgl. Rizzi 2008, S. 43. Vgl. zu Cattaneos
Biographie: Savio 1990, S. 347 – 374; Ghisalberti,
1967.
27 Vgl. zu Carl Augusts Biographie: Schlegel 2007,
S.132 – 164. Vgl. zu Carl Augusts Engagement gegen
Napoléon: Günzel 2001, S. 56. Vgl. zum Sturz
Napoléons und zum Wiener Kongress Anm. 23 in diesem Text.
derstatus (Scuola Speciale di Pittura), die in Konkurrenz zur Brera-Akademie
II
stand. Sie wurde von Bossi geleitet und hatte ihren Sitz in Bossis Wohnung in
Mailand, wo sich ebenfalls sein Atelier und seine reiche Kunstsammlung befan-
Nach der kategorischen Absage der Leiter der Brera kümmerte sich Bossis
den.21 Am 24. April 1807 beauftragte ihn der Vizekönig damit, eine Gemäldekopie
Freund und Testamentsvollstrecker, Gaetano Cattaneo (1771 – 1854), im Auftrag
von Leonardo da Vincis »Abendmahl« im Refektorium des Dominikanerklosters
der Erben um die Verwaltung des Nachlasses des Künstlers und ehemaligen
Santa Maria delle Grazie in Mailand anzufertigen. Zugleich gab der Vizekönig
Sekretärs.26
bei Giacomo Raffaelli (1753 – 1836) ein Mosaik von Leonardos Meisterwerk in
Auftrag.
22
Um die Gemäldekopie und das Mosaik anzufertigen, musste Bossi
zunächst einen Karton in Originalgröße herstellen, der sowohl seiner Kopie in Öl
Mailand, wo Bossi die meiste Zeit seines Lebens verbracht hatte, sowie
Italien und ganz Europa befanden sich nach Napoléons Sturz und den Beschlüssen des Wiener Kongresses in einer Phase der Neuregelung.
als auch Raffaellis Mosaik als Vorlage dienen sollte. Dafür musste Bossi zuerst
Großherzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach (1757 – 1828), ein
das Original des »Abendmahls« rekonstruieren; also fertigte er Durchzeichnun-
überzeugter Gegner von Napoléon und dessen Politik,27 entschied sich im Som-
gen des »Abendmahls« – die sogenannten »Lucidi« – an, die ihm als Basis für
mer 1817, eine Reise in die Schweiz und nach Oberitalien zu unternehmen. Eines
die Rekonstruktion dienten (Kat. 7 – 49).
der wichtigsten Ziele seiner Tour war Mailand. Die Dokumente über diese Reise
Bossi litt an einer Tuberkuloseerkrankung, die sich durch diese Arbeit wei-
sind verschollen, weshalb man nicht rekonstruieren kann, was genau Carl
ter verschlechterte. Aber das gebot seinem unruhigen Geist keinen Einhalt: Er
August dazu bewegte, nach Mailand zu fahren. Es ist gut denkbar, dass der
arbeitete und studierte rastlos weiter. Bossi konnte die endgültige Niederlage
Anlass für seinen Halt in der ehemaligen napoleonischen Hauptstadt die
der Franzosen in Waterloo und die Wiedererrichtung der österreichischen Vor-
Bekanntschaft mit dem Frankfurter Bankier Heinrich Mylius (1769 – 1854) war.
herrschaft in Oberitalien (Königreich Lombardo-Venetien) am 9. Juni 1815 als
Mylius wiederum, der Cattaneo gut kannte, muss ihn dem Großherzog vorge-
Ergebnis des Wiener Kongresses noch erleben.23 Kurz darauf starb er im Alter
stellt haben. Cattaneo, Leiter des Mailänder Münzkabinetts, bot dem Großher-
von 37 Jahren, umgeben von seinen Freunden, die ihm immer nahe geblieben
zog die erste Auswahl aus Bossis Nachlass an.28 Es fehlen leider auch hier die
waren.
Quellen, anhand derer man nachvollziehen könnte, welche Gegenstände aus
Sein Tod wurde sehr bedauert: Die zahlreichen Trauerreden und die Errich-
Bossis Sammlung von Cattaneo angeboten wurden. Fakt ist, dass Carl August
tung eines Denkmals für ihn legen noch heute ein berührendes Zeugnis der
in Mailand von den Erben Bossis einen Karton und ein Konvolut ankaufte: Für
Freundschaft und der Sympathie ab, die ein großer Teil der Mailänder Kunst-
die Summe von 6 000 italienischen Lire (entsprechend 1587 Sächsischen Reichs-
welt und der Eliten für den ebenso rebellischen wie herzlichen und multitalen-
thalern, 7 Groschen und 3 Pfennigen) erwarb er den Karton vom »Parnass« von
tierten Künstler empfand.
Giuseppe Bossi (Kat. 50 – 59) und für 1000 italienische Lire (entsprechend 264
24
Selbst nach seinem Tod und der veränderten politischen Situation stellte
Sächsischen Reichsthalern, 13 Groschen und 4 Pfennigen) kaufte er das Kon-
Bossi in Mailand noch eine große Gefahr für die Leiter der Brera dar. Die neuen
volut mit Bossis 1807 für den Stiefsohn Napoléons, Eugène de Beauharnais,
österreichischen Regenten in Mailand hatten die alten napoleonischen Beamten
angefertigten Durchzeichnungen (»Lucidi«) nach drei Kopien des »Abend-
im Amt belassen, sodass kein politischer Wechsel in den Machtpositionen der
mahls« von Leonardo (Kat. 8 – 49) (Anh. Nr. 1: Nr. 1.1.2). Cattaneo vermittelte
Brera stattgefunden hatte. Die ehemaligen Funktionäre, die Bossi als gefährli-
dem Großherzog zudem weitere Kontakte. In der Folge konnte Carl August von
chen Einzelkämpfer wahrgenommen hatten und gegen ihn und die von ihm
Costanza Appiani, geborene Barnabei (1771 – 1831), der Witwe des Künstlers
durchgeführten Innovationen in der Brera im Hintergrund strategisch gehandelt
Andrea Appiani, dessen Zeichnung »Apotheose Napoléons« für 85 Zecchini
hatten, um dem Sekretär in den Rücken zu fallen, bekleideten nach 1815 immer
erwerben (Anh. Nr. 1: Nr. 1.2.).29
noch dieselben Ämter. Die Ideen, die Bossi für die Brera und für den Kunstschutz
Wieso entschied sich Carl August dazu, diese Gegenstände für die Weimarer
verfolgt hatte, wurden nach Napoléons Sturz populärer, aber die Beamten woll-
Sammlungen zu erwerben? Welche Kriterien leiteten ihn bei seiner Auswahl?
ten ihren konservativen Ansatz weiterverfolgen und keine Veränderungen durch-
Goethe, sein vertrauter Kunstberater, war auf dieser Reise nicht dabei. Die
16
17
28 Diese erste Mailänder Erwerbung Carl Augusts
wurde bisher in wenigen Studien untersucht. Zu den
Erwerbungen und deren Folgen sind als unentbehrliche Grundlagen die Forschungen von Katharina
Mommsen und Hugo Blank zu nennen. Vgl. Mommsen,
1, S. 403 – 427; Blank 1992. Vgl. dazu auch: Zanaboni
2014a, S. 109 – 188. Vgl. zu Cattaneo: Savio 1990,
S. 547 – 574; Ghisalberti 1967, S. 762 – 782. Cattaneo
hatte an der Brera-Akademie in Mailand Kunst studiert. Ab 1803 leitete er das numismatische Kabinett
in Mailand bis seinem Tod 1841. Vgl. zu Mylius: Liermann 2004, S. 65 – 67; Moioli 1999, S. 29 – 39. Der
Kontakt zwischen Heinrich Mylius, Carl Augusts zweitem Mailänder Begleiter, und Weimar bestand bereits.
Als junger Mann ging Mylius nach Mailand, um dort
die Interessen des Familienunternehmens – eines
Handels– und Speditionshauses – zu vertreten. Mit
Weimar und dem dortigen Hof war Mylius durch seine
Frau Friederike geb. Schnauss (1771 – 1851) verbunden. Durch sie war der gute Kontakt zu Carl August
und Goethe zustande gekommen.
29 Die Zeichnung von Appiani konnte allerdings in der
Sammlung bisher noch nicht nachgewiesen werden.
Es gibt vier verschiedene Varianten dieser Zeichnung.
Eine Entwurfsvariante ist in der Albertina in Wien (Inv.
Nr. 2980, S. 459. B 491), eine in einer Privatsammlung
in Wolvertem (Belgien), eine weitere ausgeführte
Zeichnung im Pariser Louvre (Inv. Nr. MI 754), eine
­Detailstudie für die Figur Napoléons ist in der Galleria
d‘Arte Moderna in Mailand zu finden (Inv. Nr. 3890).
Die Version, die für die von Carl August 1817 erworbene Zeichnung infrage kommen könnte, ist diejenige
aus der belgischen Sammlung: Auf der Mailänder Version wird nur ein Detail Napoléons dargestellt und die
Varianten im Louvre und in der Albertina kommen aufgrund der Provenienz nicht infrage. Vgl. Birke/Kertész
1995. Vgl. zum Ankauf dieser Zeichnung von Carl August:
Zanaboni 2014a, S. 129 – 131. In Mailand konnte Carl
August auch Bücher vom Buchhändler Ferdinando
Artaria und Karten von den Geographen des Astronomischen Instituts in der Brera sichten. Vgl. Zanaboni
2014a, S. 131 und die Nr. 1 und 2, S. 139 – 140. Von
Herinrich Mylius kaufte Carl August unterschiedliche
Kunstobjekte und Gemälde für die Summe von 956,60
italienischen Lire. Vgl. die Quittung von Mylius, datiert
5. November 1817, in: [ThHStAW, Fürstenhaus A 1339,
Fol. 619 r, Beleg 1]. Vgl. dazu auch die Beilage zu dieser
Quittung: [ThHStAW, Fürstenhaus A 1339, Fol. 620 r,
Beleg 2].
Hermann Mildenberger
goethe zwischen leonardo und bossi
Für Harald F. Kocheise, Vence
I
Goethe schätzte den Schriftsteller, Dandy und Lebemann Hermann Fürst von
Pückler-Muskau. Dessen exzentrischer Reisebericht über Großbritannien,
»Briefe eines Verstorbenen« (1830), den er angeregt rezensierte, enthält eine
beiläufige Beschreibung anlässlich des Besuchs von Warwick Castle mit seinen
splendiden Kunstschätzen, die ihn vielleicht bei der Lektüre kurz innehalten
ließ: »Es wurde mir als eine Merkwürdigkeit der genauen und festen Bauart des
Schlosses gezeigt, daß ungeachtet seines Alters, wenn alle Türen der Enfilade
geschlossen sind, man aus dem letzten Kabinett die ganze Weite von 350 Fuß
entlang durch die Schlüssellöcher eine am anderen Ende gerade in der Mitte stehende Büste erblicken kann! In der Tat eine merkwürdige Genauigkeit […].«1
Ähnlich verblüffende Perspektiven verrät das »musée imaginaire« in
Goethes Kopf, das vielleicht noch mehr italienische Kunst und Antiken beherbergte als seinerzeit der pittoreske Landsitz. Die immer länger werdenden Enfiladen, die Goethe von der dinglichen Substanz seines italienischen Aufenthalts
(1786/88) entfernten, gerieten zur perspektivischen Herausforderung. Goethes
»Die Italienische Reise, Erster und Zweiter Teil« wurde 1816 beendet.
Unter dem Datum »Rom, den 25. Januar« (1787) hielt er fest: »Wir sahen
bei einem Geistlichen, der ohne großes angebornes Talent sein Leben der Kunst
widmete, sehr interessante Kopien trefflicher Gemälde, die er in Miniatur nachgebildet hat. Sein vorzüglichstes nach dem Abendmahl des Leonardo da Vinci in
Mailand. Der Moment ist genommen, da Christus den Jüngern, mit denen er
vergnügt und freundschaftlich zu Tische sitzt, erklärt und sagt: ›Aber doch ist einer
unter euch, der mich verrät‹. Man hofft einen Kupferstich entweder nach dieser
Kopie oder nach andern, mit denen man sich beschäftigt. Es wird das größte
Geschenk sein, wenn eine treue Nachbildung im großen Publikum erscheint.«2
Mit dem Desiderat der guten Reproduktion ist man wohl näher am Zeitpunkt der Niederschrift als dem der realen Begegnung.
Authentische Gemälde von Leonardo – zumindest hinsichtlich von Zuschreibungen der Zeit – sah er auch gemeinsam mit Angelika Kauffmann, ohne mehr
als allgemeine Einschätzungen zu notieren (22. Juli, 18. August 1787). Waren
Abb. 1
Caroline Lose nach Friedrich Lose,
Sammelvedute mit Mailänder Ansichten,
Ausschnitt »S. Maria delle Grazie«,
um 1800/1810, Radierung,
Klassik Stiftung Weimar, Graphische
Sammlungen (aus Goethes Besitz)
28
die Ausfahrten in angenehmer Begleitung zur Besichtigung der Sammlungen
noch schemenhaft präsent?
Am 23. Mai 1788, auf der Rückreise in Mailand angekommen, besuchte er
das Dominikanerkloster Santa Maria delle Grazie (Abb. 1). Im Refektorium sah
er das von etwa 1495 bis 1497/98 gemalte, mittlerweile in seiner Substanz stark
29
1 Ohff 2006, S. 534.
2 WA-I, 30, S. 267.
beeinträchtigte »Abendmahl«. Noch auf denselben Tag ist sein Brief an Herzog
Carl August datiert. Die Erwähnung der Besichtigung des Meisterwerks von
Leonardo wird zu einem Synonym des Abschieds von der sinnlich-unmittelbaren
Begegnungsebene mit den Höchstleistungen der italienischen Kunst: »Der
Abschied von Rom hat mich mehr gekostet als es für meine Jahre recht und billig
ist, indessen habe ich mein Gemüth nicht zwingen können und habe mir auf der
Reise völlig Freyheit gelaßen […]. Dagegen ist das Abendmahl des Leonard da
Vinci noch ein rechter Schlußstein in das Gewölbe der Kunstbegriffe. Es ist in
seiner Art ein einzig Bild und man kann nichts mit vergleichen.«3
Der »Schlußstein in das Gewölbe der Kunstbegriffe« ist auch biographisch
verstanden die letzte Möglichkeit gewesen, ein derartiges Werk in natura zu sehen.
Wie die Gemälde Mantegnas, Raffaels und Michelangelos entschwand Leonardo
in transalpine Entrücktheit. Lediglich die kurze zweite italienische Reise (1790)
– unternommen, um Herzogin Anna Amalia über Venedig aus Italien abzuholen
– gab nochmals Chancen, zumindest die venezianische Kunst intensiv zu studieren.
Die im Brief an Herzog Carl August summarisch doch klar geäußerte
Ergriffenheit vor der solitären Schöpfung des »Abendmahls« hinterließ feste
Abb. 2 
Gerard Edelinck nach Peter Paul Rubens
nach Leonardo da Vinci,
Die Schlacht von Anghiari, um 1665,
Kupferstich, Klassik Stiftung
Weimar, Graphische Sammlungen
(aus Goethes Besitz)
Vorstellungen in Goethes »musée imaginaire« – immer wieder galt es nun, sich
der Form zu vergewissern, sie in ihrer Bedeutung als »Schlußstein« in der retro­
spektiven Annäherung aus unterschiedlichen Perspektiven zu verstehen, zu analysieren und in gültiger literarischer Prägung dem Publikum zu überantworten.
Goethe entzog sich dem bei Zeitgenossen beliebten Spiel, sich in allzu parteiische Debatten zu verstricken, ob Raffael größer als Michelangelo oder Leo-
Abb. 3 
Agostino de Musi nach
Michelangelo Buonarroti,
Figurengruppe aus der
Schlacht von Cascina,
1524, Kupferstich,
Klassik Stiftung Weimar,
Graphische Sammlungen
(aus Goethes Besitz)
nardo sei, ja wer von den Dreien das Supremat behaupten dürfe. Bei aller Vorliebe Goethes für Raffael wollte er der Komplexität der italienischen Renaissance
gerecht werden: »[…] und wir stritten über den Vorzug von Michel Angelo und
Raphael; ich hielt die Partei des ersten, er des andern, und wir schlossen zuletzt
mit einem gemeinschaftlichen Lob auf Leonardo da Vinci.«4
Goethe näherte sich Leonardo im Rahmen seiner Übersetzung und extensiven
Kommentierung von »Benvenuto Cellini« – im Kontext von Reiseplanungen nach
Italien (1796), die nicht realisiert wurden und lediglich in die Schweiz führten. Erste
Fragmente erschienen 1796 und 1797, das gesamte zweibändige Werk bei Cotta 1803.
Tatsächlich zeigen die energische Diktion der Übersetzung, die Intensität
der Forschungen zum Thema, kaum retrospektiv-elegische Züge. Die Erwartung
eines Reiseantritts, einer neuen haptischen Erfahrung, erzeugt Spannung.
Leonardo tritt mit seinem Entwurf zur »Anghiari-Schlacht« (Abb. 2) auf,
gemeinsam mit dem komplementären Werk Michelangelos, der »Schlacht von
Cascina« (Abb. 3). Im Anhang vergewissert sich Goethe anhand schematischer
Notizen zur italienischen Kunst: »Endlich treten die großen Meister auf, Leonardo da Vinci, Fra Bartolomeo, Michelangelo und Raffael.«5
Im »Benvenuto Cellini« werden die beiden untergegangenen Werke von
Michelangelo und Leonardo durch einen Bildhauer gewürdigt: »Der treffliche Leo-
3 Wahl 1915 – 1918, I, S. 128 – 129.
4 WA-I, 32, S. 40 – 41.
5 WA-I, 44, S. 305.
nardo da Vinci hatte ein Treffen der Reiterei unternommen, dabei einige Fahnen
erobert werden, so göttlich gemacht, als man sich’s nur vorstellen kann; Michelangelo
dagegen hatte eine Menge Fußvolk vorgestellt, die bei dem heißen Wetter sich im
30
31
Arno badeten; der Augenblick war gewählt, wie unverhofft das Zeichen zur Schlacht
gegeben wird, und diese nackten Völker schnell nach den Waffen rennen: so schön und
vortrefflich waren die Stellungen und Gebärden, daß man weder von Alten noch
Neuen ein Werk gesehen hatte, das auf diesen hohen und herrlichen Grad gelangt
wäre; so war auch die Arbeit des großen Leonardo höchst schön und wunderbar.«6
Goethe kommentierte und beschrieb anhand einer Reproduktionsgraphik
Leonardos untergegangenen Karton der »Anghiari-Schlacht«. Die Kampfepisode
von vier Reitern, die auf den siegerischen Höhepunkt einer Partei hin angelegt
ist, analysierte Goethe in Hinsicht auf die Kunst und Ausdrucksweite der Figurendarstellungen: »So zeigte diese geschlossene, in allen ihren Teilen aufs künstlichste angeordnete Handlung den dringenden, letzten Moment eines unaufhaltsamen Sieges. […] Genug, alle Figuren, Menschen und Tiere waren von gleicher
Tätigkeit und Wut belebt, so daß sie ein Ganzes von der größten Natürlichkeit
und der höchsten Meisterschaft darstellten.«7
Hier äußert sich eine Grunderkenntnis Goethes zur Malerei von Leonardo:
die unübertreffliche Verschmelzung perfekter anatomischer Wiedergabe mit
Abb. 4
Pierre-Michel Alix nach Andrea Appiani,
Bildnis des ­Generals Napoléon Buonaparte,
1798, Farbradierung, Klassik Stiftung Weimar,
­Graphische Sammlungen
psychologisch stimmigem Ausdruck.
Der Grundtenor von Goethes Würdigung der Persönlichkeit Leonardo da
Vincis ist die Verbindung malerischer Kunstfertigkeit mit souveräner, analytischer Intelligenz. Klarsichtige Wissenschaft und hohe Kunst verschmelzen auf
höchster Ebene.
Diese gedankliche Summa zieht Goethe auch nach einer Lektüre von Leo-
Abb. 5
Pierre Adam nach Francois Gérard, Joséphine
Bonaparte, erste Gemahlin von Napoléon
­Bonaparte, 1829, Radierung, Klassik Stiftung
Weimar, Graphische Sammlungen
nardos naturwissenschaftlichen Forschungen: »Der Aufsatz Leonardo da Vinci’s
über die Ursache der blauen Farbenerscheinung an fernen Bergen und Gegenständen, machte mir wiederholt große Freude. Er hatte als ein die Natur unmittelbar
anschauend auffassender, an der Erscheinung selbst denkender, sie durchdringender Künstler ohne weiters das Rechte getroffen.«8 Natürlich öffnen sich bei Goethe
hier weite Horizonte in Richtung seiner »Farbenlehre«, heißen die unbestechliche Autorität Leonardo da Vincis mit leichtem Augenzwinkern als idealen
Zwischen 1788 und 1817 hatten sich indessen auch ganz andere Bilder mit Mai-
Verbündeten gegen Mittelmaß und Irrglauben willkommen.
land assoziiert. Die französischen Revolutionstruppen, die Oberitalien erobert
hatten, bereiteten republikanischen Emotionen und der Errichtung der Cisalpinischen Republik mit der Hauptstadt Mailand (1797) den Weg. 1802 wurde
II
sie in Italienische Republik umbenannt und 1805 in das neu geschaffene napoleonische Königreich Italien eingegliedert. Napoléon (Abb. 4), seit Dezember
6 WA-I, 43, S. 37.
7 WA-I, 44, S. 311.
8 WA-I, 36,S. 123.
1817 war Großherzog Carl August über die Schweiz nach Mailand gereist. Aus
1804 französischer Kaiser, hatte im März 1805 die Krone des neuen Königreichs
Mailand hatte Goethe an Carl August (23. Mai 1788) als letzter bedeutender
Italien mit der Hauptstadt Mailand angenommen.
Station seiner italienischen Reise geschrieben und von der Besichtigung des
Eugène-Rose de Beauharnais (1781 – 1824), Sohn von Alexandre Vicomte de
»Abendmahls« berichtet – sachlich, ohne Exkurse. Den Schmerz der Trennung
Beauharnais und der Marie Josephe Rose de Tascher de la Pagerie (späteren
von Hesperien artikulierte Goethe im selben Brief paradigmatisch als »Abschied
Kaiserin Joséphine (Abb. 5) durch ihren zweiten Gemahl Napoléon), hatte seinen
aus Rom«. Auch bei der literarischen Edition der »Italienischen Reise« (1816/17)
Vater während der »Terreur« verloren. Dieser adlige Revolutionär, Präsident
wurde der ergreifende Abschied als großes Panorama vor einem römischen Büh-
der Nationalversammlung (1790 und 1791), Generalmajor der Revolutionstrup-
nenbild inszeniert. Das Fresko von Leonardo da Vinci als »Scheideblick« mag
pen, Oberstkommandierender der Rheinarmee, wurde am 2. Juli 1794, nach
Goethe gefesselt haben – Gegenstand literarischer Produktion wurde es erst
seiner Verhaftung im März 1794, in den letzten Tagen der Terrorherrschaft
unmittelbar nach der Veröffentlichung seiner »Italienischen Reise«.
hingerichtet. Die Gemahlin entging durch den Sturz Robespierres gerade noch
32
33
grossherzog
carl august
die reise nach
mailand und seine
erwerbungen
Leonardo da Vinci
(Anchiano bei Vinci 1452 – 1519
Schloss Clos Lucé, Amboise)
das abendmahl
1495 – 1498
Nordwand des Speisesaals des
Dominikanerklosters
S. Maria delle Grazie in Mailand
96
97
giuseppe bossi:
seine arbeit
am »abendmahl«
Giuseppe Bossi bekleidete in den Jahren
1801 bis 1807 das Amt des Sekretärs der
Brera-Akademie; gemeinsam mit seinem
Lehrer Andrea Appiani (1754 – 1817) war er
federführend beim Aufbau des Bestands,
obwohl die beiden Männer zwei entgegengesetzte museologische Konzepte verfolgten. Nach der Krönung Napoléons zum König von Italien in Mailand am 26. Mai 1805
wurde die Republik Italien (1802 – 1805) in
das Königreich Italien umgewandelt (1805 –
1815). Die republikanische Phase war damit
beendet und eine neue monarchische und
absolutistische Politik setzte sich durch.
Nach dieser Wende der politischen Verhältnisse wurde Bossi der napoleonischen
Herrschaft unbequem, da er mit den abso-
lutistischen Ideologien Bonapartes und mit
der Kulturpolitik, die von Appiani verkörpert
wurde, nicht einverstanden war. Eine Kontroverse mit Innenminister Ludovico G. A. de
Breme (1754 – 1827) war der Tropfen, der
das Fass zum Überlaufen brachte. In der
Folge reichte Bossi am 31. Januar 1807 seinen Rücktritt von der Stelle als Sekretär der
Brera ein. Seine guten Kontakte und vor allem
seine Freundschaft mit Eugène de Beauharnais (1781 – 1824), dem Vizekönig Italiens,
ermöglichten es ihm, eine führende Position
in Mailand und in Italien zu behalten.1 Nach
seinem Rücktritt wurde er am 24. April vom
Vizekönig damit beauftragt, eine Gemäldekopie von Leonardo da Vincis »Abendmahl«
(Farbtafel 1 und Abb. 1) auf der Nordwand
des Refektoriums des Dominikanerklosters
Santa Maria delle Grazie in Mailand anzufertigen.2 Zugleich gab der Vizekönig bei Giacomo Raffaelli (1753 – 1836) ein Mosaik von
Leonardos Meisterwerk in Auftrag, das er
1810 – 1818 anfertigte. Das Mosaik, wie auch
Abb. 1
Leonardo da Vinci, Das Abendmahl, 1495 – 1498, Seccomalerei, 422 × 904 cm,
Mailand, Nordwand des Speisesaals des Dominikanerklosters S. Maria delle Grazie
98
Bossis Ölgemälde, sollten, dem Auftrag des
Vizekönigs entsprechend, auch in der Größe
von Leonardos »Abendmahl« (422 × 904 cm)
nachgebildet werden (Abb. 2).3 Um die Gemäldekopie und das Mosaik anzufertigen,
waren rein technisch betrachtet mehrere
Schritte notwendig: Zunächst musste Bossi
einen Karton (Abb. 3) in Originalgröße anfertigen, der sowohl seiner Kopie in Öl als
auch Raffaellis Mosaik als Vorlage dienen
sollte. Raffaelli konnte sich auf Bossis Farben in der Kopie stützen. Um den Karton
und anschließend die Gemäldekopie anfertigen zu können, musste Bossi zunächst das
Original rekonstruieren; dies tat er durch
die Anfertigung von Durchzeichnungen des
»Abendmahls«, die ihm als Basis für die
­Rekonstruktion dienten. Die theoretischen
Schriften Leonardos boten zusätzliche
nützliche Informationen. Dennoch war die
Ausführung des Auftrags nicht einfach.
Als Bossi den Auftrag für die Kopie des
»Abendmahls« bekam, war dessen Zustand
nicht vergleichbar mit dem heutigen, nach
der Restaurierung 1980 – 1999.4 Leonardos
Wandbild hatte seit seiner Entstehung zahlreiche Ereignisse zu überstehen, die beinahe zu seinem Totalverlust führten.5 Die Geschehnisse der napoleonischen Jahre in
Mailand hatten dessen Zustand nochmals
dramatisch verschlechtert. 1796 war das
Refektorium, in dem sich Leonardos Werk
befindet, von den napoleonischen Truppen
– trotz Napoléons Order, das Refektorium
zu schonen – als Pferdestall eingerichtet
worden und im November 1801 wurde es
durch eine Überschwemmung weiter stark
beschädigt.6 Nach diesen Geschehnissen
unternahm die napoleonische Regierung in
Mailand einen Rettungsversuch: Sie beauftragte Bossi und Appiani 1801, über den
Zustand des »Abendmahls« zu berichten,
um eventuell mögliche Schritte für dessen
Schutz einzuleiten. Beide mussten mit
größtem Bedauern die Unmöglichkeit feststellen, das Wandbild durch eine Restaurie-
rung in den Originalzustand zu versetzen.7
In diesem Kontext wird das Ziel der Regierung klar, das sie mit Bossis und Raffaellis
Beauftragung von 1807 erreichen wollte:
Das nicht restaurierungsfähige »Abendmahl«
sollte für zukünftige Generationen wenigstens als Kopie überliefert werden. Die Arbeiten der beiden Künstler gewannen dadurch
eine enorme soziale und didaktische Bedeutung, und de Beauharnais war der propagandistische Wert der Rekonstruktion
und Verewigung von Leonardos »Abendmahl«, das damals als Gipfel der kompositorischen und formalen Vollkommenheit galt,
ebenso bewusst wie wichtig.8
Um Bossi die Arbeit zu erleichtern, wurde
1807 im Refektorium ein Gerüst errichtet,
womit Bossi seine Untersuchungen nah an
dem Bild durchführen konnte. Hier jedoch
zeigt sich, dass die technischen Herausforderungen nicht die größten Hürden waren:
Bossi musste trotz des Gerüsts erneut die
Unmöglichkeit feststellen, direkt von Leonar-
Abb. 2
Giacomo Raffaelli nach Giuseppe Bossi, Das Abendmahl, 1810 – 1818,
Mosaik, 447 × 918 cm, Wien, Minoritenkirche
99
dos Bild Durchzeichnungen für seine Kopie
anzufertigen.9 Wie sollte er eine maßstabsgerechte Kopie herstellen, wenn dem stark
verdorbenen Original Leonardos so wenig
Authentisches zu entnehmen war?
Das einzige, womit man sich ein detaillierteres Bild von dem Werk machen konnte, waren
bereits vorhandene Kopien des »Abendmahls«. Daher bestand Bossis erster Arbeitsschritt aus der ausführlichen Untersuchung
und Auflistung der existierenden Kopien.10
Um Bossis Arbeit nachzuvollziehen, sollte
man als Erstes in den kulturellen und historischen Kontext eintauchen, da eine Kopie
damals eine ganz andere Bedeutung besaß
als heute. Heute werden Kopien gegenüber
einem Original in der Regel als weniger
wertvoll angesehen, zu Bossis Zeit war
eine Kopie aber nicht unbedingt negativ
konnotiert. Kopien waren unentbehrlich,
um überhaupt Kenntnisse über das Aussehen eines Originals zu haben. Wie Walter
Benjamin in »Das Kunstwerk im Zeitalter
Abb. 3
Giuseppe Bossi nach Leonardo da Vinci, Das Abendmahl,
1807, Karton auf vier Tafeln zum ­Gemälde, St. Petersburg,
Museum der Russischen K
­ aiserlichen Kunstakademie
seiner technischen Reproduzierbarkeit«
klarstellte, verfügt man seit der Entstehung
der Massenmedien ohne Probleme über
Kopien, die eine getreue Darstellung des
Originals wiedergeben, was zu einem Verlust der Aura des Originals führt. Und im
21. Jahrhundert ist es noch einfacher und
schneller möglich, getreue Reproduktionen
von Originalen (durch das Internet und die
weiteren technischen Mittel) zu bekommen.
Zu Bossis Zeit verhielt es sich anders: Um
zu wissen, wie das »Abendmahl« aussah,
hätte man in Mailand sein oder dorthin reisen müssen. Und selbst dort hätte man, wie
vorher erwähnt, das Aussehen des Originals
aufgrund seines Zustands nur begrenzt
begreifen können. Daher musste auch Bossi
für seine Re­konstruktion auf Kopien zurückgreifen, die ­möglichst in zeitlicher Nähe zu
Leonardos »Abendmahl« entstanden waren,
als das Werk noch nicht so stark beschädigt
war. Nur wenn die Kopien sich vom Bild
oder vom Duktus Leonardos entfernten,
musste er versuchen, doch anhand des beschädigten Originals weiterzukommen.11
Mit der Verwendung von Kopien stand Bossi
allerdings vor einem weiteren großen Problem: Erst seit dem Klassizismus dienen Ko­
pien dazu, ein nicht erreichbares Original
einem breiten Publikum zugänglich zu machen, und erst seitdem sollen sie eine präzise und authentische Wiedergabe der Vorla-
100
ge bieten, die keinen Raum für Interpretationen lässt.12
Vor der Zeit des Klassizismus war eine Kopie eine Neuinterpretation einer Vorlage
durch einen Kopisten, eine genaue Wiedergabe war nicht gefordert, vielmehr, so
Richard Hüttel, »eine künstlerische Ver­
wandlung des Originals, die man als eine
Geschichte der permanenten Variation und
Berichtigung der Vorlage« beschreiben kann.13
Bossi musste also Kopien für seine Rekonstruktion verwenden, die sich häufig in vielen
Teilen vom Original entfernten und arbiträre
Änderungen im Bild einführten; dies beklagte er mehrfach.14 Außer einer wenig sorgfältig gearbeiteten Kopie in S. Barnaba und ei-
ner in der Ambrosianischen Bibliothek waren keine Kopien direkt vor dem Original
von Leonardo angefertigt worden, da die
Dominikaner in S. Maria delle Grazie das
Kopieren in ihrem Refektorium nicht erlaubten; dies führte automatisch zu einer weiteren Entfernung vom Original.15 Bossi wählte
die drei seiner Ansicht nach besten Kopien
des »Abendmahls« von da Vinci, angefertigt
von Künstlern aus dem Umfeld Leonardos
und späterer Meister. Dabei handelte es
sich neben einer originalen Zeichnung von
­Leonardo in der Brera-Pinakothek (Kat. 7)
um folgende Kopien: die Kopie in Castellazzo,
damals Marco d’Oggiono zugeschrieben
(Kat. 8 – 22); die in der Pfarrkirche San Am-
brogio in Ponte Capriasca befindliche Kopie,
damals Pietro Luini zugeschrieben (Kat. 23 –
27), und die oben genannte von Andrea
­Bianchi, genannt Vespino, im Bestand der
Pinacoteca Ambrosiana in Mailand (Kat. Nr.
28 – 47).
Von diesen drei Kopien zeichnete er 71 Pausen – »Lucidi«. Sie dienten ihm als Grund­
lage für die folgenden Schritte der Rekonstruktion des »Abendmahls«.
Die Vorgehensweise bei seiner Rekonstruktionsarbeit schildert Bossi in seinem Buch
»Del Cenacolo«. Er hatte vor, Leonardos
Original wieder zusammenzusetzen, und er
gab in einem Brief an Canova an, was er von
seiner Arbeit über das »Abendmahl« hielt:
101
»Es ist keine Kopie, sondern eine ›Erneue­
rung‹ dieses Werks, die auf würdigen Auto­
ritäten [damit sind für Bossi die seiner
­Meinung nach angesehensten Kopien des
Abendmahles gemeint] basiere.«16
Daher arbeitete er mit den Kopien auf eine
höchst kreative Art: Er wählte für seine Rekonstruktion des oberen Teiles des »Abendmahls« von jeder Kopie nur die Teile aus, die
seiner Ansicht nach getreu bzw. für ihn befriedigend getreu dem Original Leonardos
entsprachen. Allein diese von ihm als authentisch beurteilten Teile übernahm er für
seine Arbeit. Viele Partien entfernten sich
willkürlich vom Original. Die Teile, bei denen
er in keiner der drei ausgewählten Kopien
Kat. 73
Jacob Hoefnagel
(Antwerpen 1573 – 1633/32)
nach Albrecht Dürer (1471 – 1528)
feldhase
Aquarell und Deckfarben auf Kalbs­
pergament, gespannt auf Buchenholz
221 × 216 mm
Bez. oben rechts mit Feder in Braun:
»AD« [Dürer-Monogramm]
Inv. Nr. G 1721
Albrecht Dürers falsche Hasen
Der wahrscheinlich berühmteste Hase der
Welt hatte mit Kaisern und Königen berühmte Besitzer, wurde im Nürnberg des späten
16. Jahrhunderts von Jägern und Sammlern
verfolgt, und dort nahm sein Dasein auch
seinen Anfang. Im Jahr 1502 nämlich ergriff
Albrecht D., ein ehrgeiziger junger Künstler,
einen Bogen Papier, nahm Farben, Federn
und Pinsel und porträtierte mit geschicktester Hand das mümmelnde Häschen, so
kunstvoll und lebendig, dass jedes Härchen
des flauschigen Fells tastbar, dass Ruhe und
Wachsamkeit des kauernden Tieres spürbar
werden, kurzum: den Dürer-Hasen. So wundert es kaum, dass kein Jahrhundert nach
Dürers Tod gerade sein »Häßlein« die glanzvollste Karriere machen sollte. Bald nämlich
Abb. 1
Jacob Hoefnagel nach Albrecht Dürer, Feldhase, Papier,
20,3 × 24,3 cm; u. M. l. Reste des Monogramms »AD«;
Paris, Louvre, Inv. RF 29072; Prov.: Stiftung Matilda
Gay 1938 – aus der Sammlung des Malers Walter Gay
(1856 – 1937)
wurde erkannt, dass auch mit falschen Hasen ein Bestseller zu platzieren war und bis
weit ins 17. Jahrhundert hinein kamen gleich
mehrere Exemplare der vermeintlichen Rarität auf den Markt.
Hier kommt nun auch der Weimarer Mümmler ins Spiel, den Großherzog Carl August
1817 als Bonusmaterial von den Bossi’schen
Erben erhielt (Anh. Nr. 1: Nr. 2). Oben rechts
zeigt er als stolze Bestätigung seines Erfinders die Initialen des Meisters, »AD«, und so
glaubte man anfangs, ein echtes Werk Albrecht Dürers vor Augen zu haben. Sein Zustand indessen heischt Mitleid: Berieben,
verschmutzt, beraubt um all die feinen Details, als ein Schatten früherer Schönheit ist
er auf uns gekommen. Gemalt ist das Ganze
auf Pergament, das, auf Eichenholz kaschiert
und ursprünglich sicher gerahmt, wie ein Tafelbild eine Kunstkammer schmückte.
Aus dem gleichen Wurf stammt ein Hase in
Paris.1 Studiert man den Aufbau dieses weitaus besser erhaltenen Nagers, dann wird ersichtlich, wie gekonnt sich der Künstler an
Dürers Manier orientierte, wie er durch Lasuren den Grundton bestimmt, um dann mit
dem spitzesten Pinsel jedes noch so feine
Härchen zu differenzieren. Die Gemeinsamkeiten beider Kopien gehen so weit, dass
sogar die borstigen Härchen entlang der
Konturen sich präzise entsprechen. Freilich
zeigen sich in der Struktur des Fells und dem
Bau des zartgliedrigen Tieres gewisse Schematismen, die beide dann doch vom Original
unterscheidbar machen.
Konfrontiert man diese miteinander, dann
wird man gewahr, wie komplett sich das Trio
in Form, Umriss, Proportion, Abmessung und
schließlich der eben beschriebenen Ausführung entspricht. Für den Weimeraner ist nun
erwiesen, dass wir es mit einer präzisen
Pause zu tun haben, die dadurch gewonnen
wurde, dass der Künstler das Pergament zuerst transparent machte und, nachdem die
Vorlage übertragen war, mittels flächigem
Deckweißauftrag wieder tönte.2 Voraussetzung war also der Zugriff auf das Dürer’sche
Original, was den Kreis seiner möglichen Urheber ganz erheblich begrenzt.
194
Das veredelnde Kopieren von Altmeisterzeichnungen genoss gerade in der Zeit der
Dürer-Renaissance hohes Ansehen. So hatte
sich der spätere Prager Hofmaler Hans Hoffmann (um 1530 – 1592) seit den mittleren
1570er Jahren mit Kopien nach Dürer und
namentlich mit dem Hasen einen Namen gemacht, und auch der am kaiserlichen Hof tätige
Joris Hoefnagel (1542 – 1601) beweist durch
miniaturhaft ausgeführte Vignetten seine persönliche Vertrautheit mit dem Tier. Beide
wurden in der Vergangenheit auch als Urheber der Weimarer Hasen genannt,3 doch wirklich überzeugend ist keine der beiden Zuschreibungen. Als unbekannten Dritten möchte ich Joris’ Sohn Jacob (1573 – 1632/1633)
vorschlagen, ein dritter als Altmeister­kopist
talentierter Künstler am Prager Hof Rudolfs II.
Jacob Hoefnagel profiliert sich auch in anderen Blättern als ein versierter Kopist von
Zeichnungen alter Meister, und es fällt auf, dass
sich sämtliche kopierte Originale zumindest
zeitweise in Rudolfs Besitz befanden.4 Mit derartigen Kopien, die für die Begehrlichkeiten
früher Sammler gedacht waren, hatte Hoefnagel nicht nur sein eigenes Talent trefflich bewiesen, sondern zugleich auch den Ruhm Dürers und seines Werkes multipliziert. C. M.
Anmerkungen
Der vorliegende Beitrag gründet im Wesentlichen auf
­meinem Essay: Christof Metzger, »Lieben, Lächeln und
Sich erinnern«: Albrecht Dürers Hase, Metzger 2014.
1 Nach Albrecht Dürer, »Feldhase«, Papier, 20,3 × 24,3 cm;
u. M. Reste des Monogramms »AD«; Paris, Louvre, Inv.
RF 29072; Prov.: Stiftung Matilda Gay 1938 – aus der
Sammlung des Malers Walter Gay (1856 – 1937);
­München 1985, S. 132, Liste, Nr. 7, S. 140 – 141, Kat. 45.
2 Carsten Wintermann, prd (Papier Restaurierung
Dresden), Untersuchungsergebnis zum sogenannten
»Dürerhasen«, 2014.
3 Für Hans Hoffmann spricht: Barth 1986, S. 75, Nr. 64;
für Georg Hoefnagel: Koreny 1985, S. 132, ­Liste, Nr. 6,
Abb. 45.2.
4 Z. B. nach Albrecht Dürer, »Auferstehung Christi«
(Kopie nach dem Entwurf zum Epitaph des Ulrich Fugger); Wien, Albertina Inv. 3126; siehe Gábor Endrődi,
­Dürers Entwürfe für die Augsburger Fuggerepitaphe und
die Umwege der autonomen Zeichenkunst, unpublizierter Vortrag zum 33. Internationalen Kunsthistoriker­
kongress Nürnberg 2012, Sektion 14: Dürers Leben
und Werk – Das Objekt als Schlüssel zum Subjekt?
­(Zuschreibung an Jacob Hoefnagel).
195
Kat. 74
Emanuele Francesco Scotto
(Genua 1756 – 1826)
nach Andrea Mantegna
(1431 Isola Mantegna, früher Isola
di Carturo – 1506 Mantua)
beweinung christi
Um 1807
Schwarze Kreide, 215 × 243 mm
Inv. Nr. KK 8751
Literatur
Mara 2012, S. 58 und Anm. 9;
Fischer Pace 2008, S. 193
Gaetano Cattaneo schenkte Carl August aus
Bossis Nachlass fünf Kunstgegenstände,
darunter war Francesco Emanuele Scottos
Kopie nach Andrea Mantegnas »Beweinung
Christi« (Abb. 1).1 Während seiner Amtszeit
an der Mailänder Brera-Kunstakademie vermehrte Bossi nicht nur deren Gemäldesammlung, sondern auch seine eigene Sammlung.2
Diese umfasste am Ende seines Lebens 188
Bilder. Bossis Kennerschaft und Feingefühl
für Qualität spiegelte sich in der Auswahl der
Werke: Unter anderen waren Meister wie
Andrea Mantegna, Guercino (1591 – 1666),
Pinturicchio (1454 – 1513) und Jacopo Bassano (1510 – 1592) vertreten. In seiner Sammlung legte Bossi besonderen Wert auf Mantegnas »Beweinung Christi«, deshalb gab er
Scotto den Auftrag für einen Reproduktions-
Abb. 1
Andrea Mantegna, Beweinung Christi, 1475 – 1478,
68 × 81 cm, Tempera auf Leinwand, Mailand, Pinacoteca di Brera
stich des Gemäldes: Von Scottos Vorzeichnung für die Anfertigung des Stiches war
Bossi so beeindruckt, dass er sie in seine
Sammlung aufgenommen hat.3
Scotto war in Mailand 20 Jahre als klassizistischer Maler, aber vor allem als Miniaturmaler
und Stecher tätig. Dank seiner künstlerischen
Begabung hatte er sich zum Rivalen des bei
der Mailänder Elite beliebten Hofmininiaturmalers von Vizekönig Eugène de Beauharnais, Giovanni Battista Gigola (1767 – 1841),
emporgearbeitet und sich mit seinen exquisiten Arbeiten durchgesetzt.4
Auch Bossis Auftrag an Scotto, den Stich anzufertigen, war ein großes Zeichen der Wertschätzung seiner künstlerischen Begabung.
Die Auseinandersetzung mit Mantegnas »Beweinung Christi« stellte eine Herausforderung
dar. Der komplexe künstlerische Ausdruck
des Originals mit seiner emotionalen Tiefe ist
schwer in das Medium des Reproduktionsstichs umzusetzen: Mantegna evoziert beim
Betrachten seines Bildes Ergriffenheit vor der
Trauer der beiden Marien und des Johannes
um den toten Christus. Dies gelingt durch die
Anwendung einer experimentellen, schwindel­
­erregenden perspektivischen Verkürzung, die
die »Beweinung« zu einem der bekanntesten
Renaissance-Bilder macht. Die Komposition
wird in der Bildmitte von dem toten Christus
dominiert. Seine Glieder sind von der Leichenstarre verkrampft und die offenen Wund­
male sind sichtbar. Durch den im Dunkel gehaltenen Bildhintergrund steigert der Maler
die Dramatik seiner Lichtführung.
Vergleicht man Scottos Zeichnung mit Mantegnas Original, so sieht man eine perfekt
gelungene Reproduktion, die eine ähnlich
emotionale Wirkung wie der Renaissance-­
Künstler zu erreichen versucht. Scotto näherte sich mit seinem Duktus Mantegna an.
Hervorzuheben ist Scottos elegante Präzision des Striches und seine intensive, feinfühlige psychologische Charakterisierung der
Figuren. Offenkundig wird in der akkuraten
Wiedergabe aller Details nicht zuletzt auch
seine Tätigkeit als Miniaturmaler und Reproduktionsstecher. Wie beim Original gelang
es ihm, durch geschickte Anwendung von
Licht und Schatten ein dramatisches Pathos
196
und eine spannende Dynamik in der Komposition hervorzubringen. Die Gesichter der Figuren sind vom Leiden zerrissen, es gibt
keine Idealisierung in der Darstellung. Daher
ist es verständlich, dass Bossi von dieser
Zeichnung so entzückt war, dass er sie für
seine Sammlung aufbewahrt hat.
Nicht zuletzt trugen auch die komplizierten
Erwerbungsumstände von Mantegnas Original zu Bossis großer Wertschätzung für das
Bild bei. Noch immer sind diese Umstände
von Bossis Ankauf des Gemäldes Diskussions­
gegenstand in der Forschung. Der Künstler
soll 1802 die »Beweinung Christi« in Rom
gekauft haben, er durfte sie aber nicht nach
Mailand exportieren. Dank der Hilfe seines
Freundes Antonio Canova konnte das Bild
1807 nach Mailand gebracht werden. So gelangte es in Bossis Sammlung. Im Jahr 1824
wurde es dann von seinen Erben für 3000
Lire an die Brera-Pinakothek verkauft, wo es
seither zu den Hauptwerken der Galerie zählt.5
Dass Bossis Nachlassverwalter Gaetano
Cattaneo Scottos Zeichnung der »Beweinung
Christi« dem Großherzog Carl August als Geschenk nach Weimar sandte, kann als Zeichen
der besonderen persönlichen Wertschätzung
des Beschenkten gesehen werden.
S. Z.
Anmerkungen
1 Vgl. zu den Erwerbungen von Carl August in Mailand
1817 und zu den fünf Gegenständen, die als Zulage von
Cattaneo geschenkt wurden, den Aufsatz von der Verfasserin in diesem Katalog und den Anhang Nr. 1: Nr. 2.
2 Vgl. zu Bossis Tätigkeit als Sammler: Nenci 2012,
S. 320 – 331; Mara 2012, S. 57 – 98; Antonelli 2011,
S. 87 – 94; Antonelli 2010, S. 509 – 544, 579; Bossi-­
Nenci 2004, S. 34 – 35; Sciolla 1992, S. 208 – 216.
3 Mara 2012, S. 58, Anm. 9; Agosti 2005, S. 468. Vgl.
zu Bossis Gemäldesammlung auch den Auktionskatalog der Gemälde aus seiner Sammlung, dazu: Catalogo
delle pitture 1818. Vgl. zu Mantegnas »Beweinung
Christi«: Bandera Bistoletti 2013; Frangi 1996. Dass
Bossi einige seiner Favoritenwerke aus seiner Sammlung von Scotto und Rosaspina stechen ließ, wird auch
von Rudolph Wiegel bestätigt. Vgl. Wiegel 1865, S. 9 – 10.
Vgl. auch Bossis Tagebucheinträge vom 3. Mai 1810,
in: Bossi-Nenci 2004, S. 36 und Anm. 268. Die Art der
Drucktechnik von Scottos Stich nach Mantegna, dessen Verbleib nicht bekannt ist, wird in der Literatur
nicht behandelt.
4 Vgl. zu Scotto: Parisio 2009. Vgl. zu Gigola: Falconi
2008; Parisio 2002. Vgl. zur Geschichte Mailands in den
napoleonischen Jahren: Pillepich 2001. Vgl. zu de Beauharnais: Paris 1999.
5 Mara 2012, S. 58, Anm. 9; Agosti 2005, S. 468. Vgl.
auch Anm. 3 in diesem Text.
197
Kat. 75
libro originale
della n
­ atura, peso,
e moto ­dell’acque,
­composto, scritto,
e figurato di proprio
­carattere alla
mancina dall’insigne
­pittore, e geometra
­leonardo da vinci
18. Jahrhundert
Handschrift
Herzogin Anna Amalia Bibliothek,
Signatur Fol. 326
Literatur
Laurenza 2013, S. 256 – 268; Laurenza
2005, S. 99 – 108; Pedretti 1996,
S. 121 – 135, insb. S. 122; Pedretti 1982,
S. 11; Uzielli 1884, S. 325; Jordan 1873,
S. 367 – 369; Vasari-­Schorn 1843,
S. 7, Anm. 4
Giuseppe Bossi war während seiner kurzen
Lebenszeit von 1801 bis 1807 als Maler und
Museumsdirektor der Mailänder Brera-Akademie und von 1807 bis zu seinem Tod an
der Scuola Speciale di Pittura tätig. Zu seinen Leidenschaften während dieser Zeit
zählte das Sammeln von Büchern und Kunstwerken. Anfang 1818 erwarb der Buchhändler Giovanni Pietro Giegler von den Erben
Bossis sämtliche Bücher aus dessen persönlicher umfangreicher Bibliothek und
verauktionierte sie bereits am 12. Februar
desselben Jahres.1 Vor der Auktion wurde
ein Auktionskatalog erstellt, der alle Bücher
aus Bossis Bibliothek enthielt und aus
dem potentielle Käufer ihre Auswahl treffen
konnten: der »Catalogo della libreria del fu
Cavaliere Giuseppe Bossi«. Wie sich aus
ihm ersehen lässt, umfasste Bossis Bibliothek mehr als 10 000 Bände aus der Zeit
vom 15. bis zum 19. Jahrhundert; sie bestand
unter anderem aus Werken der Kunst-, Kultur- und Militärgeschichte sowie aus klassischer antiker Lektüre. Neben Erstausgaben,
bibliophilen Ausgaben, Manuskripten, Inkunabeln und Codizes waren auch Briefe
vorhanden. Der Verkauf von Bossis Bibliothek an Giegler muss von Gaetano Cattaneo,
Bossis Nachlassverwalter und Testamentsvollstrecker, verhandelt worden sein. Es ist
gut denkbar, dass er sich mit dem Buchhändler dahingehend einigte, dass der Weimarer Großherzog eine Vorzugsbehandlung
bei der Auktion erhalten sollte. Zu diesem
Zweck sandte Cattaneo am 2. Januar 1818
ein Exemplar des Auktionskatalogs an Carl
August; dieser ist noch im Bestand der
Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar
vorhanden.2 Wie schon im Fall der Ankäufe
aus Bossis Kunstsammlung durfte Carl August als Erster eine Auswahl aus den zu
verauktionierenden Büchern treffen. Mit
dieser Aufgabe betraute der Großherzog
Goethe, der 314 Werke auswählte: Am
21. Juli 1818 traf eine große Zahl davon mit
einer Sendung in Weimar ein (Anh. Nr. 2:
198
Tab. 1 bis Tab. 8).3 Die Handschrift »Libro
Originale Della Natura, peso, e moto dell’
Acque« (Originales Buch über die Natur, die
Eigenschaften und die Bewegung der Gewässer) sticht unter den Erwerbungen hervor (Anh. Nr. 2: Tab. 1, Nr. 66, Abb. 1). Es ist
eine der drei existierenden handschriftlichen Kopien des originalen Manuskripts
»Codex Leicester« von Leonardo da Vinci,
die seine Studien über Hydraulik sowie
Studien zur Astronomie, zur Gesteins- und
Gebirgsbildung, zur Luft und zum Licht enthält, die Leonardo zwischen 1504 und 1506
niedergeschrieben hatte.4 Bossi beschäftigte sich seit 1807, dem Jahr, in dem Italiens
Vizekönig Eugène de Beauharnais bei ihm
eine Gemäldekopie von da Vincis »Abendmahl« in Auftrag gab, fast ausschließlich mit
Leonardos Werken (Kat. 7 – 49). Neben der
Anfertigung seiner Arbeit für de Beauharnais begann er, Originalzeichnungen und
-manuskripte von Leonardo zu sammeln. Zu
diesem Zweck reiste er 1810 nach Neapel,
um den »Codex Leicester«, damals in Besitz
des Herzogs von Cassano Luigi Serra (1747 –
1825), zu untersuchen. Er besuchte den
Herzog und bot ihm an, die Handschrift gegen andere Kunstobjekte zu tauschen. Bossis Ruhm als Leonardo-Forscher war ihm
jedoch vorausgeeilt und der Herzog schenkte sie ihm am 6. Juli 1810, ohne eine Gegenleistung zu verlangen; dies geht aus Bossis
Provenienzvermerk auf dem Codex und aus
seinem Reisebericht hervor (Abb. 2 und
Anh. 2: Tab. 1 Nr. 66).5 Sämtliche von Bossi
gesammelten Codices von Leonardo, mit
Ausnahme des von Carl August für Weimar
angekauften Exemplars, das erst vor kurzem wieder ans Licht kam,6 werden in der
Ambrosianischen Bibliothek in Mailand aufbewahrt.7
S. Z.
Anmerkungen
1 Von Giegler fehlen noch ausführliche biographische
Auskünfte in der Forschung. Erwähnt wird er in: Callegari 2012, S. 150; Rizzi 2008, S. 43. Zu Bossis Tätigkeit
als Bücherfreund und -sammler sind kaum Studien
vorhanden.
2 Signatur: Dd 8: 680.
3 Vgl. den Brief von Carl August an Goethe vom 2. Januar 1818, in: GH, 2, S. 204. Vgl. dazu auch Cattaneos
Brief an Carl August vom 14. Januar 1818, in: Mommsen, 1, S. 416. Vgl. zum Erwerb von Büchern aus Bossis
Bibliothek den Aufsatzder Verfasserin, S. 10 – 27, und
den Anh. Nr. 2 in diesem Katalog. Vgl. zur Geschichte
der Weimarer Herzoglichen Bibliothek: Knoche 2013,
S. 14 – 18.
4 Vgl. Klein 2008, S. 221 – 224. Vgl. zum Codex
Leicester: Dickens 2006; Düsseldorf 1999 und hier
insb. Kemp 1999, S. 33 – 45; Zeri 1995; New York
1994; Pedretti 1987. Vgl. zu diesem Thema auch:
­Laurenza 2001; Laurenza 2000. Bossi schrieb in eigener Handschrift auf dem vorderen Spiegel des Weimarer Codex eine kurze Notiz über die drei existierenden
Kopien des Originals: Eine sei in London aufbewahrt.
Eine sei im Besitz des Herrn Benedetto Ciurini
(1695 – 1752) in Florenz gewesen. Die dritte sei
­die­jenige, die der Mailänder Maler besaß (Anh. 2:
Tab. 1 Nr. 66).
5 Vgl. Bossis Reisebericht über seine Aufenthalt in
Neapel im Jahr 1810, veröffentlicht in: Ciardi, Bd. 2,
1982. S. 737. Vgl. dazu auch ebenda S. 888 – 889 Nr.
LXXVI und S. 733. Vgl. dazu auch Bossis Provenienzvermerk auf dem Verso des zweiten fliegenden Blattes
im Weimarer Codex (Anh. Nr. 2: Tab. 1, Nr. 66). Vgl.
zum Herzog von Cassano: Podestà 1999. Vgl. zu
­Bossis Beschäftigung mit Leonardos Werk den Aufsatz
von Serena Zanaboni in diesem Katalog und die Texte
zu Kat. 7 – 49 und 60 – 69.
6 Anm. von D. L.: Seit dem 19. Jahrhundert ist unter
Leonardo-Experten allgemein bekannt, dass die Großherzogliche Sammlung in Weimar eine handschriftliche
Kopie des »Codex Leicester« von Leonardo (Seattle,
­Collection of Bill and Melinda Gates) besitzt. Doch als
ich 2013 im Rahmen einer neuen Edition des »Codex
Leicester«, an der ich gemeinsam mit Martin Kemp als
Herausgeber arbeitete, zur Wirkungsgeschichte des
Codex nach Leonardo recherchieren wollte, sah ich
mich mit der Schwierigkeit konfrontiert, den Codex in
den Weimarer Sammlungen aufzufinden. Tatsächlich
wird das Manuskript von allen Leonardo-­Spezialisten
kurz erwähnt, jedoch stets ohne Signatur. Deshalb
habe ich den Eindruck, dass keiner von ihnen die Weimarer Kopie je mit eigenen Augen gesehen hat, oder
wenn überhaupt, dann nur äußerst flüchtig. Das ist
nicht weiter überraschend, sondern eher bezeichnend.
Denn bis vor Kurzem war die Fachwissenschaft vor­
wiegend damit beschäftigt, Leonardos Originalhandschriften philologisch exakt zu erfassen, sodass man
sich erst in jüngster Zeit der Rezeptionsgeschichte und
damit den Kopien zuwandte. Nachdem ich mehrere
Tage damit verbracht hatte, alte und neue Kataloge
der Weimarer Bibliothek durchzusehen, stieß ich dann
schließlich – auch dank der tatkräftigen Hilfe des
­Bibliotheksleiters – in dem handschriftlichen Katalog
von Ludwig Preller [19. Jahrhundert; Loc A, 121, 3, A,
S. 158] auf den nur teilweise aufgenommenen langen
Titel des Werkes (»Libro originale della natura, peso e
moto dell’acque, composto, scritto e figurato di
­proprio carattere alla mancina dall’insigne Pittore, e
Geometra Leonardo da Vinci«) und die entsprechende
Signatur: f. 326, also Fol. 326. Dieselbe Signatur
­findet sich auch in dem neueren getippten Katalog aus
dem Jahr 1972 (Folio-Handschriften, 1972; im Nach­
hinein konnte ich dann feststellen, dass auch bei
­Vezzosi 1983/84, S. 138, ein »fol. 326« erwähnt wird,
jedoch nicht als Signatur). Ich kann mir gut vorstellen,
dass der lange, zudem in einem wortreichen, pom­
pösen Barockstil gehaltene Titel nicht nur Preller zur
­Verzweiflung brachte, der ihn tatsächlich nur zum Teil
wiedergab, sondern auch seine Nachfolger. Tatsächlich
handelt es sich dabei um eine Kopie des derzeitigen
Frontispizes des Codex Leicester, das dem Original
Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts hinzugefügt
wurde, als sich das Manuskript im Besitz des Malers
Giuseppe Ghezzi befand. Durch die eindeutige Klärung
des Standorts und der Signatur ist diese Kopie des
­Kodex Leicester nun für alle Leonardo-Spezialisten
verfügbar. Für eine eingehendere Behandlung des
­Themas verweise ich auf die Neuedition des Codex
Leicester (Oxford University Press, im Druck), und
möchte hier nur vorab erwähnen, dass die Kopie fast
mit Sicherheit in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Florenz angefertigt wurde und ein wichtiges
Mosaiksteinchen in der Wirkungsgeschichte des­
­Wissenschaftlers Leonardo darstellt.
7 Vgl. zu Bossis Sammlung von Leonardo-Manuskripten den Brief von Bossi an Eugène de Beauharnais am
8. Januar 1811, veröffentlicht in: Ciardi, Bd. 1, 1982,
S. 437 – 439. Bossi konnte u. a. mit der Unterstützung
vom Abt Luigi Marini, dem Kustos der Vatikanischen
Bibliothek, eine Kopie von Leonardos originalem »Traktat über die Malerei« in der Vatikanischen Bibliothek,
den »Codex Urbinus Latinus« 1270, erwerben. Vgl.
Bossi-Nenci 2004, S. 126 Anm. 245; Galbiati 1920,
S. 18 – 22. Darüber hinaus besaß Bossi eine handschriftliche Kopie vom »Traktat über die Malerei« aus
dem17. Jahrhundert. Er selbst hatte den »Codex
­Trivulzianus« (heute in der Trivulzianischen Bibliothek
des Schloss Sforzesco in Mailand) und die Kopie des
»Traktats über die Malerei« in Neapel (heute in der
­Nationalen Bibliothek in Neapel) kopiert. Vgl. Ciardi,
Bd. 2, 1982, S. 888 – 889.
199
200
201