Die Verslehre bei Malherbe und Boileau - bsp

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Die Verslehre bei Malherbe und Boileau - bsp
LMU München
Institut für Romanische Philologie
WiSem 2010/11
Hauptseminar: Französische Verslehre
Dozentin: Dr. Schäfer-Prieß
Referentin: Anna Mika
3.12.2010
Die Verslehre bei Malherbe und Boileau
1. Die französische Klassik1
Das siècle classique (1598, das Edikt von Nantes – 1715, Tod Ludwigs XIV)
Französische Sprache → Schaffung von Regelung, Ordnung, Durchsetzung von Normen
Die Académie Française (1635) und Vaugelas‘ Remarques sur la langue françoise (1647)
Vorbildlichkeit der Antike ; 17. Jh. als Modell für spätere Generationen
Poetologische Diskussion → Regelsystem der doctrine classique
Der Höhepunkt der poetischen Literatursprache (ca. 1660-1685): Racine, Boileau
2. François de Malherbe (1555-1628)2
unterzog sich am Hofe Henri IV der Aufgabe der Disziplinierung der Literatursprache,
seine dichtungstheoretischen Ideen sind in unsystematischen Anmerkungen zu den Werken
Desportes‘ niedergelegt: Commentaires sur Desportes (1606)
In dem bekannten Halbvers „Enfin Malherbe vint“ erhebt Boileau ihn zum Wegbereiter der
Klassik
restriktive Vorschriften, die der Ordnung und Klarheit dienen und betreffen insbesondere die
Sprache und die Metrik → pureté, clarté, précision, élégance.
Malherbe beschränkt die Sprach- und Stilmittel
→ archaïsmes, mot d’emprunt, dialectalismes, néologismes, termes techniques,
volkstümliche Wendungen; Füllwörter → unzulässig
→ erwünscht sind die mots nobles; die mots bas und die mots sales werden aus dem
dichterischen Diskurs verbannt
→ alle sprachlichen Abweichungen von sich etablierenden Normen des gepflegten
Sprachgebrauchs → gascon oder gasconismes
legt Strophenlänge und Versform der großen Ode als der wichtigsten öffentlichen lyrischen
Gattung fest → zehnzeilige Odenstrophe aus achtsilbigen Versen
(Reimschema meistens abab ccd eed)3
Kritik von Malherbes Doktrinen: „poète grammairien“, keine dichterische Freiheit
Malherbes Wirken → Verarmung der Literatursprache; Gewinn an Klarheit und
Verbindlichkeit, ohne die die Sprache der Hochklassik kaum möglich wäre.
1
vgl. Klare 2007: 118f, 129, Grimm 1991: 136f
vgl. Klare 2007, Grimm 1991: 150f
3
vgl. Buck 1970: 74
2
1
3. Malherbes Dichtungsvorschriften4
Das Verbot des Hiats
Hiat – der Zusammenstoß eines Auslautvokals mit dem Anlautvokal des folgenden Wortes
z.B. geläufige Wortverbindungen wie tu as, tu es und il y a
Der von der Pléiade geduldete Hiat an der Zäsur und nach Einsilbern wird verboten. Geduldet wird
der Hiat in drei Fällen:
(1) Das Schriftbild trennt die in der Lautung zusammenstoßenden Vokale entweder durch ein –
elidiertes – e caduc oder durch ein h aspiré oder durch einen bindungsfähigen Konsonanten, der im
Einzelfall nicht notwendig hörbar wird.
Reste de tant de rois sous Troie ensevelis (Racine: Andromaque, I, 1)
Vous savez, et Calchas mille foi vous l'a dit (Racine: Iphigénie, IV, 4)
(2) wenn das vokalisch auslautende Wort eine Interjektion ist, hinter der man eine kurze
Sprechpause annehmen kann.
En criant: « Holà! ho! Un siège promptement! » (Molière: Les Fâcheux, I,1)
(3) in einer festgefügten Redensart: tant y a, çà et là, peu à peu, à tort et à travers etc.
Coenen: der ästhetische Sinn des Hiatverbots ist fragwürdig: das Wort quiétude darf im Vers
vorkommen, die Frage Qui es-tu? nicht – der Vokalzusammenstoß im Wortinnern vs. an der
Wortfuge; zahlreiche Ausnahmeregelungen5.
Der Gleichlaut von Zäsur und Verschluss als Nachlässigkeit gerügt (le vers léonin – der
Reim zwischen Zäsur und Versende)
Die alternance des rimes wurde zur verbindlichen Regel
Der Reim soll für Ohr und Auge rein sein6
Laut Malherbe, contenance und sentence „riment comme un four et un moulin“.7
→ das klassische Homographiegebot:
(1) ein stummes e caduc nach dem letzten Tonvokal muss entweder in beiden Reimpartnern
vorliegen oder in beiden fehlen;
(2) ein Reim ist nur dann zulässig, wenn der Gleichlaut auch im Falle einer liaison (eines stummen
Konsonanten) an ein folgendes, vokalisch anlautendes Wort bliebe.
Verbotene Reime:
cou
coup
halo
ballot
harassant
sang
sang
cent
Zulässige Reime:
coup
loup
lot
ballot
amant
grand
sang
flanc
→ auch Reimpartner mit gleichlautenden, aber orthographisch differenzierten Flexionsendungen:
Singular und Plural (franc/rangs; chante/vantent) sind ein Verstoß.
4
vgl. Coenen 1998
vgl. Coenen 1998: 66f
6
vgl. Grimm 1991: 151, Coenen 1996: 82f
7
Zitiert in Tieghem 1968:17
5
2
(amour/toujours) ist unzulässig, (amours/toujours) ist dagegen korrekt.
Reimfülle
rime riche und rime suffisante bevorzugt, ohne die rime pauvre gänzlich zu verdammen
Seltenheit des Reims (la rareté de la rime)8
Banale Reime → paradigmatische Zusammengehörigkeit der Reimpartner,
Reime können auch durch Abnutzung banal werden: amours/toujours; cœur/bonheur
Vorschriften seit der Klassik:
(1)
Der auf Wiederkehr desselben Flexionsmorphems beruhende Reim muss mindestens einen
Stützkonsonanten aufweisen, der nicht zu dem wiederkehrenden Morphem gehört. Der Reim
vendu/résolu ist deshalb verboten, der Reim perdu/répandu jedoch zulässig, weil das mitreimende d
nicht Teil des wiederkehrenden Flexionsmorphems, sondern der verschiedenen Wortstämme ist.
(2)
Verboten ist der Reim eines Wortes mit sich selbst (la rime du même au même), erlaubt
dagegen der Reim zwischen Homonymen: z. B. pas als Verneinungspartikel und als Substantiv.
(3)
Gänzlich verboten ist auch der Reim, der auf Wiederkehr desselben Lexems beruht:
Reime aus Simplex und Kompositum (jeter/rejeter), Reime aus verschiedenen Komposita desselben
Simplex (rejeter/projeter) sowie Reime, die auf einem wiederkehrenden Lexem zusammengesetzter
Wörter beruhen (bonheur/malheur).
Übereinstimmung von Metrum und Syntax gefordert:
Strenge Einhaltung der Zäsur
Enjambementverbot
Am Ende der Klassik würdigt Boileau das Wirken Malherbes:
Les stances avec grâce apprirent à tomber,
Et le vers sur le vers n'osa plus enjamber.
(Art Poétique, I, 137f.)
Das e muet 9
(1) darf nach betontem Vokal im Versinneren nur dann verwendet werden, wenn es elidiert werden
kann, d.h. vor Vokal steht, oder wenn es am Schluss der Zeile steht, wo es metrisch nicht mehr
mitzählt;
Dis-moi donc, je te prie une seconde fois
(Corneille)
(2) unbetontes e nach betontem Vokal darf nicht im Vers als Silbe gewertet werden, wenn es nicht
elidiert werden kann, d.h. wenn Konsonant darauf folgt.
Justifie César et condamne Pompée → Justifiant César a condamné Pompée
8
9
vgl. Coenen 1998: 90f
vgl. Elwert 1978: 57
3
(Corneille)
4. Nicolas Boileau (1636-1711)10
Satiriker, Literaturkritiker
Horaz, De arte poetica → eine Reihe von Regeln und Empfehlungen für die dichterische
Praxis ↓
Vorlage für Art Poétique (1674) – viele Verse aus Horaz übernommen
Art Poétique – Lehrgedicht, entstand erst nachdem die Hauptwerke des classicisme français
bereits erschienen waren; zeigt von sprachlicher Meisterschaft
Boileau betont die Unübertrefflichkeit der antiken Autoren; imitatio + variatio
Boileaus Sprachform befolgte nicht vollständig die Normen der klassischen Sprachdoktrin:
(1) Inversionen in der Satzgliedfolge →Abweichung von dem ordre naturel; (2) Wortschatz:
rhume „Schnupfen“, se morfondre „sich erkälten“, règle „Lineal“ , équierre „Winkelmaß“;
Boileau vereint das poetologische Programm der französischen Klassik →Vorbildcharakter
der Antike; raison, bon sens, vraisemblance, bienséance, Klarheit der Sprache, Natürlichkeit
starke Kritik an einzelnen Dichtern
Bedeutung des Art poétique: laut Grimm, lange Zeit überschätzt (Zitatenschatz, Legende),
Boileau hat „die großen klassischen Autoren weder beeinflusst noch geformt“11.
5. Boileaus Dichtungslehre in dem Art Poétique12
Art Poétique besteht aus vier chants:13
Chant I: allgemeine Betrachtungen über die Dichtkunst, der Reim, Verstöße der Dichtung
gegen den bon sens, Vorschriften für den Versbau, Überblick über die französische Dichtung
vom Mittelalter bis zu Malherbe, Malherbes Reform, Mahnung an den Dichter zur kritischen
Haltung gegenüber seinem Werk
Chant II: die kleinen Gattungen (Idylle, Elegie, Ode, Sonett, Epigramm, Rondeau, Ballade,
Madrigal, Satire, Vaudeville, Chanson)
Chant III: die großen Gattungen (Tragödie, Epos, Komödie)
Chant IV: allgemeine Betrachtungen über den Dichter und die Dichtung, Huldigung an
Ludwig XIV, das Selbstverständnis des Autors.
Reim
Que toûjours le Bon sens s’accorde avec la Rime.
L’un l’autre vainement ils semblent se hair,
La Rime est une esclave, et ne doit qu’obeïr.
(I, 28-30)
Kritik der Übertreibungen des Barock, des „vers monstrueux“ (I, 41)
Evitons ces excez. Laissons à l’Italie
De tous ces faux brillans l’éclatante folie.
Tout doit tendre au Bon sens: mais pour y parvenir
Le chemin est glissant et penible à tenir.
10
vgl. Klare 2007: 129, Grimm 1991: 165f, Buck 1970: 17-38
Grimm 1991: 166
12
vgl. Buck 1970
13
vgl. Buck 1970
11
4
(I, 42-46)
Rhythmus und Wohlklang des Verses, Zäsur
N’offrez rien au Lecteur que ce qui peut luy plaire.
Ayez pour la cadence une oreille severe.
Que toûjours dans vos vers, le sens coupant les mots,
Suspende l’hemistiche, en marque le repos.
Gardez qu’une voyelle à courir trop hastée,
Ne soit d‘une voyelle en son chemin heurtée.
Il est un heureux choix de mots harmonieux.
Fuiez des mauvais sons le concours odieux.
Le vers le mieux rempli, la plus noble pensée.
Ne peut plaire à l’esprit, quand l’oreille est blessée.
(I, 103-112)
Malherbes Reform
Enfin Malherbe vingt, et le premier en France,
Fit sentir dans les vers une juste cadence:
D’un mot mis en sa place enseigna le pouvoir,
Et reduisit la Muse aux regles du devoir.
Par ce sage Ecrivain la Langue reparée
N’offrit plus rien de rude à l’oreille épurée.
Les Stances avec grace apprirent à tomber,
Et le vers sur le vers n’osa plus enjamber.
Tout reconnut ses loix, et ce guide fidele
Aux Auteurs de ce temps sert encore de modele.
Marchez donc sur ses pas, aimez sa pureté,
Et de son tour heureux imitez la clarté.
(I, 131-142)
Von Dichtern wird sorgfältige handwerkliche Arbeit gefordert
Hastez-vous lentement, et sans perdre courage,
Vingt fois sur le mestier remettez vostre ouvrage.
Polissez-le sans cesse, et le repolissez.
Ajoûtez quelque fois, et souvent effacez.
(I, 171-174)
Das Epos: im 17. Jahrhundert über die Tragödie gestellt, aber keine Erfolge → Boileau
kritisiert das Mittelmaß seiner Zeitgenossen
Mais souvent parmi nous un Poëte sans art,
Qu’un beau feu quelquefois échauffa par hazard,
Enflant d’un vain orgueil son esprit chimerique,
Fierement prend en main la trompette heroïque.
Sa Muse déreglée, en ses vers vagabonds
Ne s’éleve jamais que par sauts et par bonds,
(III, 313-318)
Literatur:
Buck, August, Hg. 1970. Nicolas Boileau L’Art Poétique, München.
Buffard-Moret, Brigitte. 1997. Introduction à la Versification, Paris.
Coenen, Hans Georg. 1998. Französische Verslehre: Ein Lehr- und Arbeitsbuch, Darmstadt.
Elwert, W. Theodor. 1978. Französische Metrik, Ismaning.
Grimm, Jürgen, Hg. 1991. Französische Literaturgeschichte, Stuttgart.
Klare, Johannes. 2007. Französische Sprachgeschichte, Stuttgart.
Van Tieghem, Philippe. 1968. Les Grandes Doctrines Littéraires en France: de la Pléiade au Surréalisme,
Paris.
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