Kalt ist der Abendhauch

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Kalt ist der Abendhauch
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19. September 2012, Deutsche Oper Berlin
Kalt ist der Abendhauch
Lachenmanns Mädchen mit den Schwefelhölzern an der DOB - der Versuch einer Erklärung
Von Heiko Schon / Fotos: Bernd Uhlig
Wenn beim Theater ein neuer Kapitän an Bord kommt,
steht die Saisoneröffnung symbolisch für einen
Kurswechsel. Barrie Kosky beginnt an der Komischen
Oper mit dem Urknall des Opernuniversums, einem
zwölfstündigen Monteverdi-Dreierpack, und auch Dietmar
Schwarz startet an der Deutschen Oper mit einem lauten
Kawumm! Wer Helmut Lachenmanns Das Mädchen mit
den Schwefelhölzern zum ersten Mal - nein, das Verb
hören trifft es irgendwie nicht. Ein zweiter Versuch: Wer
also dieses Werk zum ersten Mal erlebt, sieht sich vor
enorme Herausforderungen gestellt. Lachenmann sprengt
nämlich das, was man bislang unter Musik verstand, in die
kleinsten Bestandteile und lässt keinen Stein auf dem
anderen. Die größte Hürde besteht folglich in unserem
Instinkt, in Schubladen zu denken. Warum wir das - trotz
aller Beteuerungen, es nicht zu machen - dennoch tun?
Weil wir Halt brauchen, Vergleiche ziehen wollen, die
Dinge sortieren möchten. Obwohl Lothar Zagrosek im
konzentrierten, blitzgescheiten Programmheft behauptet,
es sei eine Oper: Allein schon beim Versuch, Das
Mädchen mit den Schwefelhölzern einem typischen Genre
zuzuordnen, beißt man auf Granit.
Die Frage ist: Was war denn nun am Anfang aller
musikalischen Dinge? War es wirklich der Ton?
Lachenmann geht noch einen weiteren Schritt zurück und
setzt uns der Unhörbarkeit aus. Das Orchester spielt
zunächst so, dass nur ein kaltes Rauschen zu vernehmen
ist. Es ist die tonlose Luft von Blasinstrumenten, es sind
stumme Streicher oder einfach Hände, die sich reiben.
Dann eine Silbe, ein Schnalzen und Wispern, ein Pochen
und Klatschen. Und da das Orchester im ganzen Raum
verteilt ist, entsteht diese Welt um uns herum. Was
passiert nun, wenn wir uns in einem lebenden System
befinden? Wenn wir es in einem Urwald knacken hören?
Im Grunde sagt das Ohr zum Auge: Sieh doch mal nach!
Aber sieht man dann nach, ist das Geräusch schon wieder
weg. Das kann einen mit der Zeit wahnsinnig machen, und
dennoch ist es eine Erfahrung, die sich lohnt. Muss dieses
Werk am Ende als Anspielung auf eine Generation
verstanden werden, welche vom immerwährenden
Gebrauch ihrer Sinne bis hin zur Reizüberflutung getrieben
scheint - Stichwort: Spaß- oder Konsumgesellschaft? Der
Text von Gudrun Ensslin scheint für diese These zu
sprechen, ebenso die Tatsache, dass jede Form von Kunst
stets ein Dokument der Zeit ist, in der sie entstand. Doch
an dieser Stelle fängt es schon wieder an, das Denken in Schubladen…
Ob Das Mädchen mit den Schwefelhölzern nun einer Inszenierung bedarf, muss eindeutig bejaht
werden. Lachenmann, der die menschliche Wahrnehmung so sehr in Anspruch nimmt, schreit
förmlich nach einem Echo auf der Bühne. Es ist Musik, die man sehen muss, Musik mit Bildern, so
der Untertitel. Das ist auch die Maxime von Regisseur David Hermann und seinem Ausstatter
Christof Hetzer. Sie inszenieren keine Handlung im herkömmlichen Sinne, sondern zeigen
Stationen, bilden seelische Zustände ab, installieren ein (T)Raumspiel. Für die klangliche
Interpretation hätte man wohl keinen Besseren als Lothar Zagrosek finden können. Er hat bereits
die Uraufführung in Hamburg geleitet, danach kam Stuttgart. Zagrosek setzt sich jetzt also bereits
das dritte Mal mit der Partitur auseinander - im Gegensatz zum Orchester der DOB. Trotzdem wird
eine Leistung dargeboten, als hätte man doch nie etwas anderes gespielt, als zeitgenössische
Klassik. Dieser Einstand ist geglückt: Ein frischer Wind weht durch das Haus.
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