die bräute von tschernobyl - henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag
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die bräute von tschernobyl - henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag
Wladimir Gubarew DIE BRÄUTE VON TSCHERNOBYL (Originaltitel: Nevesty èernobylja) Sarkophag-2 noch eine Tragödie unserer Zeit Aus dem Russischen von Günter Jäniche Als das Stück über die Katastrophe von Tschernobyl Der Sarkophag in vielen Ländern der Welt von den Theatern gespielt wurde, fragte man mich immer wieder: Wird es eine Fortsetzung geben? Ich verneinte. Mir schien, ich hätte über diese Tragödie alles, was ich wußte, erzählt . . . Seitdem sind sechs Jahre ins Land gegangen, und ich weiß heute: Das damals war nur der Anfang. Deshalb mußte ich den Sarkophag-2 schreiben. Der Autor 1 © henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH 1995 Als unverkäufliches Manuskript vervielfältigt. Alle Rechte am Text, auch einzelner Abschnitte, vorbehalten, insbesondere die der Aufführung durch Berufs- und Laienbühnen, des öffentlichen Vortrags, der Buchpublikation und Übersetzung, der Übertragung, Verfilmung oder Aufzeichnung durch Rundfunk, Fernsehen oder andere audiovisuelle Medien. Das Vervielfältigen, Ausschreiben der Rollen sowie die Weitergabe der Bücher ist untersagt. Eine Verletzung dieser Verpflichtungen verstößt gegen das Urheberrecht und zieht zivil- und strafrechtliche Folgen nach sich. Die Werknutzungsrechte können vertraglich erworben werden von: henschel SCHAUSPIEL Marienburger Straße 28 10405 Berlin Wird das Stück nicht zur Aufführung oder Sendung angenommen, so ist dieses Ansichtsexemplar unverzüglich an den Verlag zurückzusenden. 2F1 PERSONEN Frau Nikítischna Ljúba Nadéshda Vera Tschernóbyl, der eigentlich „April“ heißt 3 Erster Teil: ILLUSION Waldesdickicht. Waldhüterhäuschen. Solid gebaut, nach altem Brauch, für die Ewigkeit. Die von der Zeit geschwärzten Balken sind so hart, daß es schwerfiele, einen Nagel hineinzuschlagen. In der Ferne, wo der Wald aufhört, sieht man den Reaktorblock des Kernkraftwerkes. Ein geräumiges Zimmer. Tisch, Stühle und Bank sind genauso stabil wie die Wände. In einer Ecke Ikonen. Schmucke, liebevoll gestickte Vorhänge an den beiden Fenstern. Ein Ofen, davor eine Ofenbank. In der Mitte ein großer Kühlschrank, auf dem ein alter Leuchter mit Kerzen steht. Ein Bücherbord. Am Ofen hantiert die Frau. Sie trägt bäuerische Kleidung, um den Kopf ein Tuch. Sie bewegt sich besonnen, ohne Hast zieht sie einen gußeisernen Topf mit Kartoffeln aus dem Ofen. Die Frau singt vor sich hin. Nikitischna erwacht, dreht sich auf der Ofenbank herum, reckt sich und beginnt ihren Frühsport. Frau Der neue Gockel spielt verrückt . . . So was von scharf . . . sogar den Junghühnern stellt er nach . . . Macht allen das Leben schwer, das geile Biest . . . Springt von einer Henne auf die nächste, Bandit . . . Den Kopf hack ich ihm ab, wenn er nicht Ruhe gibt. Nikitischna (Macht Frühsport.) Davon legen sie mehr Eier. Hühner mögen das. Frau (Beachtet sie nicht.) War bestimmt mal ein guter Hahn. Bis er seinen Rappel kriegte. Vor Einsamkeit. Durch alle Höfe ist er gelaufen, der strotzt vor lauter Kraft . . . Nicht mal die Füchse haben sich an ihn gewagt. Oder er ist so gerissen, trickst sie aus. Nikitischna Die Mädels sind noch nicht zurück? Frau Nadja wollte zur Tenne. Dort hat in der Nacht ein Wolf geheult. Alle Kühe scheu gemacht. Die trauen sich nicht vom Stall weg. Nikitischna (Macht eine „Waage“.) Nadja legt ihn um. Die fackelt nicht lange . . . Dann erzähl ich es eben dir. Heute habe ich von Galína Ulánowa geträumt. Frau Wer ist denn das? Nikitischna Eine Tänzerin, vom Ballett. Sehr berühmt . . . Ich kenne sie aus dem Fernsehen . . . Sie ist so leicht wie eine Feder . . . Wir sind miteinander ins Gespräch gekommen. Na ja, und sie sagt, sie ist zwar schon über siebzig, aber Gymnastik macht sie noch jeden Morgen. So bleiben ihre Muskeln geschmeidig und straff, und sie bekommt keine Falten. Frau Du hast schon mal von ihr geträumt, glaube ich. Nikitischna Letzte Zeit sehe ich immer nur alte Träume. Die vom Fernsehen. Früher, als ich noch fernsehen konnte, habe ich nachts immer geträumt. Erinnerst du dich an Kennedy? 5 Frau Wer ist das? Nikitischna Der amerikanische Präsident. Den sie umgebracht haben . . . Ich habe diesen Film im Fernsehen geguckt, und in der Nacht ist der Präsident dann zu mir gekommen. Ich sage zu ihm: Fahr nicht in diese Stadt da . . . ich hab vergessen, wie sie heißt . . . dort wirst du umgebracht. Der Präsident aber lacht und witzelt: Er fühlt sich nicht bedroht, er wird gut bewacht, und das Volk liebt ihn . . . Ich sage noch einmal zu ihm: Die bringen dich um! Er glaubt es nicht . . . Plötzlich steht Chrustschow bei uns . . . Sagt auch – die bringen dich um! Aber Kennedy lacht bloß . . . Er war jung, seine Frau war bildschön, aber ein Luder . . . Frau Wie das? Nikitischna Kaum hatten sie ihn umgebracht, nahm sie sich einen neuen. Einen Millionär. Mit Glatze. Ein widerlicher Typ, ihn habe ich auch gesehen. Frau Im Traum? Nikitischna Nein, im Film . . . Jedenfalls habe ich mit Kennedy und mit Chrustschow gesprochen. Frau (Unterbricht.) Bete jetzt, und zu Tisch. Frühstücken. Danach könntest du mal durch die Häuser gehen, sieh nach, wo noch Hirse liegt, oder etwas Hafer . . . Das Futter für die Hühner und für diesen wild gewordenen Gockel wird knapp. Wir brauchen Nachschub. Nikitischna Ich weiß, wos noch was gibt. Ich hole es . . . Schade, daß wir kein Fernsehen haben. Strom kriegen wir wohl nie mehr? Frau Die sind alle neu. Die alte Brigade haben sie schon weggebracht, da weiß ich nicht, an wen ich mich wenden könnte. Die neuen müssen sich an das hier erst gewöhnen, vorläufig kommt keiner an sie ran. Angsthasen! Nikitischna Heißt das, wir werden wieder umgesiedelt? Frau Ich weiß nicht. Kommt Zeit, kommt Rat. (Die Frau und Nikitischna bekreuzigen sich vor den Heiligenbildern. Nadeshda tritt ein. Stellt ihr Gewehr in die Ecke. Zieht ihre Watteweste aus, setzt sich an den Tisch.) 6 Frau (Vorwurfsvoll.) Fürs täglich Brot sollte man Gott danken. Nadeshda Das war kein Wolf. Wieder eine Kreuzung Schäferhund-Wolf. Schlaues Biest. Hat bei Wassjútin eingebrochen. Mit einem Riesensatz durchs Fenster, Scheibe kaputt, Kissen zerfetzt – die ganze Stube voll Federn. Vielleicht hat er auch was Freßbares gefunden, weiß ich nicht. Getürmt ist er wieder durchs Fenster . . . Ljubka ist noch nicht auf? Nikitischna Sie rührt sich nicht . . . Ich hatte heute einen Traum . . . Nadeshda (Gereizt.) Ich weiß, ich weiß . . . Wieder einer von deinen Churchills oder Kaganówitschs . . . Wenn du wenigstens was Vernünftiges träumen würdest, Nikitischna. Nichts als Flausen im Kopf. (Zur Frau.) Meinst du, uns steht ein Jahr der Wölfe ins Haus? Das würden wir nicht überleben, das sind keine Mäuse und keine Ameisen . . . Da hilft auch mein Schießprügel nicht, wir sollten uns eine Flinte oder, besser noch, eine MPi beschaffen. Nikitischna Ich habe eine Kanone gesehen! Gut in Schuß. So groß! Nadeshda (Lächelt.) Im Traum vielleicht? Nikitischna Die Soldaten haben sie stehen lassen. Ihr Lkw streikte, und an dem war hinten die Kanone angehängt. Die Soldaten hatten Schiß, hier festzusitzen, also ließen sie das Ding hier stehen . . . um schleunigst wegzukommen . . . Ich dachte, sie würden zurückkehren, aber die Kanone liegt immer noch am Sumpf. Bloß den Lkw, den hat sich jemand geholt, vielleicht haben die aus dem Dorf ihn gebraucht. (Man hört ein undefinierbares Geräusch: „Och-o-o-och . . . o-o-o-o-och!“) Ljubáschas Kleiner strampelt . . . Der will auch mitreden. Frau Ihr geht es schlechter. Sie muß in die Stadt. Nikitischna Wenn sie doch nicht will! (Ljuba tritt auf. Sie trägt ein Nachthemd, man sieht, daß sie hochschwanger ist. Bewegt sich langsam, irgendwie merkwürdig. Es entsteht der Eindruck, als sehe sie nichts, genauer gesagt, als habe sie für niemanden um sich herum ein Auge.) Ljuba O-o-o-och! Nikitischna Gib ihm Milch, Milch. Dann hört er auf zu strampeln. (Ljuba nimmt schlafwandlerisch einen Krug, geht nach hinten und setzt sich auf die Ofenbank. Alle kennen das, keiner nimmt mehr von ihr Notiz.) 7 Frau Steig hinauf auf den Dachboden, Nadja. Sieh nach den Pilzen, damit sie nicht schimmeln. Dieses Jahr wird es wohl keine Pilze geben. Trockenheit und Ameisen. Sogar vorm Schuppen krabbeln schon welche. Daß die bloß dem Ferkel nichts tun. Es kratzt sich von früh bis spät . . . Wir müssen sie mit Urin begießen, davor haben die Biester Angst und machen sich aus dem Staube. Nadeshda Am See sind auch welche. Drei Ameisenhaufen. Woher kommt diese Plage? Frau Damals sind sie alle verbrannt. Die Radioaktivität ist von den Bäumen runter auf den Boden. Da sind sie alle versengt worden. Jetzt scheint sie in die Erde gegangen zu sein, und schon vermehren sie sich. Nikitischna Ich weiß noch, ich habe es in einem Buch gelesen oder in der Schule gehört . . . Ja, ja, ja – in der Schule! . . . Da war so ein Viech abgebildet, das Ameisen frißt . . . Wie hieß es noch, Gott gib mir mein Gedächtnis zurück, ich glaube – Ameisenfresser . . . nein, nein . . . Ameisenbär! Lebt in Australien . . . Richtig niedlich, so ne lange Nase . . . Solche Ameisenbären könnten wir hier brauchen. Nadeshda Beschreis nicht . . . Ameisenbären sind genau das, was uns noch fehlt. Nikitischna (Träumerisch.) Angenommen, wir kriegen Besuch, egal, ob aus dem Dorf oder aus der Stadt, er schaut zum Fenster rein, und hier spaziert ein Dutzend Ameisenbären rum. Mit ihren langen Nasen. Eigenartig, aber niedlich. Dann fragt der Besuch: „Wo stammen die her?“ Und ich antworte: „Direkt aus Australien!“.. Was er natürlich nicht glaubt. Nadeshda Ich gehe zum Teich. In der Sperrzone sind Angler aufgetaucht. Daß die uns bloß nicht unser Netz mitnehmen. Die Leute machen vor nichts mehr halt – sie sehen das Schild „Sperrzone“, und schon gehen sie rein . . . Am Fluß habe ich schon oft Angler gesehen, jetzt kommen sie schon bis hierher. Wäre schade, wenn sie unser Netz klauen. Nikitischna Wir müssen einen Brief nach oben schreiben, so und so, die „Sperrzone“ wird schlecht bewacht, jetzt fangen sie hier schon die Fische weg, also verstoßen sie gegen die radioaktiven Bestimmungen. Die sollen mehr Wachposten hinstellen und Ordnung schaffen. Die Zone muß ordentlich geschützt werden. 8 Nadeshda Vergiß den Absender nicht. Nikitischna Nein, ich schreibe anonym. Nach ganz oben. Unsren hier heize ich ein. Nadeshda Anonyme Briefe werden nicht mehr zur Kenntnis genommen. Diese Bestimmung kam noch vor der Havarie raus. Ganz am Anfang der Perestroika. Nikitischna Was wird dort aus der Perestroika geworden sein? Kein Radio, kein Fernsehen, wir leben hier wie auf dem Mond. Frau Geh doch raus zu deiner Perestroika. Nikitischna So habe ich das nicht gemeint . . . Die Zeit steht still. Bei Gelegenheit gehe ich in die Stadt und schaue, was sich so tut. Vielleicht kriegen wir Strom. Frau Das dritte Jahr redest du davon. Nikitischna Ich hab doch keine Zeit! . . . Sobald wir die Kartoffeln aus der Erde haben, mache ich mich auf. Zum Herbst hin . . . Bei der Hitze loszuziehen, habe ich auch keine Lust. Ljuba O-o-o-och! Frau Sie muß ins Krankenhaus. Nikitischna Willst du sie loswerden? Frau Sie stirbt. Nadeshda Ist das nicht egal, ob dort oder hier? Frau Ich will beten . . . Auch für Ljuba. Nadeshda Ich sehe nach den Netzen. (Sie nimmt das Gewehr und geht.) Frau (Öffnet das Fenster in Richtung zum Atomkraftwerk, fällt auf die Knie.) Ach, lieber Gott, ich habe es schwer . . . (Bekreuzigt sich.) Ljuba O-o-o-och! Nikitischna Sie plagt sich, die Arme. (Geht zu Ljuba, streichelt ihren Kopf.) Ein Kind – das tut immer weh . . . Immer . . . Vor der Geburt und nachher . . . Tut immer weh, kein Ende . . . (Setzt sich neben sie, sie schweigen.) 9