Ivan´s Botschaft

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Ivan´s Botschaft
Ivan's Botschaft
von James F. Twyman
übersetzt von Martin Gadow
Später am selben Nachmittag kam Bruder Matthias in mein Zimmer. "Sind
Sie bereit, ein weiteres unserer Kinder zu treffen?", fragte er mich. Ich legte
das Buch, das ich gerade las, auf mein Bett: "Ja, natürlich!"
Er bedeutete mir, ihm zu folgen, und wie schon einmal führte er mich in den
großen Raum in der zweiten Etage. Ich setzte mich auf einen Stuhl, und er
sagte, er würde in wenigen Augenblicken zurück sein. Er kam zurück mit
einem kleinen Jungen, dessen Alter ich auf sechs oder sieben Jahre
schätzte. Bruder Matthias hielt seine Hände auf den Schultern des Jungen
und sagte etwas auf Bulgarisch zu ihm. Der kam darauf zu mir, lächelte und
streckte seine Hand aus.
"Ich freue mich, dich zu treffen", sagte ich und streckte ihm ebenfalls meine
Hand entgegen.
Der Junge kehrte zu Bruder Matthias zurück und fragte ihn etwas, dann
blickte er zu mir herüber.
"Was hat er gefragt?", sagte ich.
"Er hat gefragt, ob Sie der seien, auf den sie gewartet hätten". Er schloss
die Tür und kam zu mir, setzt sich mir gegenüber, während der Junge mir
weiter in die Augen blickte.
"Was meint er damit?", fragte ich. "Haben sie auf jemanden gewartet?"
"Ja, das haben sie", sagte er. "Sie wussten alle, das jemand hierher kommt,
der ihnen helfen würde, ihre Arbeit zu tun. Soweit ich sagen kann, ist damit
gemeint, dass andere Leute Kenntnis über sie bekommen, und dass sie
denen 'ihre Frage' stellen können".
"Ja, ich kenne diese Frage. – Sie alle wissen davon?"
"Natürlich ... alles scheint sich auf die eine oder andere Weise auf diese
Frage zu beziehen. Es ist merkwürdig, aber es ist eines der Merkmale, an
denen wir die Kinder von Oz erkennen ... sie alle kennen 'die Frage', obwohl
sie es auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck bringen. Wenn wir die
Kinder testen, frage wir sie jedes Mal, ob sie eine Frage auf dem Herzen
haben, die sie den Erwachsenen der Welt gerne stellen möchten. Die
meisten sehen uns an, als ob sie nicht verstehen, oder sie sagen etwas
recht Naives oder Allgemeines. Doch immer wieder blicken sie uns dann
gelegentlich in die Augen und bringen die richtigen Worte heraus: 'Wie
würdest du handeln, wenn jetzt Liebe anwesend wäre?' ... oder irgend
etwas ähnliches. Bei Ivan hier waren das seine Worte. Ja, ich glaube, das
waren genau seine Worte".
Ivan blickte noch immer auf mich; dann sagte Bruder Matthias etwas zu
ihm, und er ging und setzte sich auf die Couch. Er hielt seine Hände vor
sich gefaltet und seine Füße reichten kaum bis zur Erde. Er sah nicht
anders aus als andere Sechsjährige dieser Welt.
"Erzählen Sie mir seine Geschichte", sagte ich. "Wann entdeckten sie die
Gabe bei ihm?"
"Vor etwa einem Jahr", sagte er. "Es geschah alles sehr schnell. Seine
Mutter brachte ihn dann vor etwa drei Monaten hierher, weil er große
Verwirrung stiftete. Seine Fähigkeit ist vorwiegend kinetischer Art. Er kann
Gegenstände durch Gedankenkraft bewegen oder Metall verbiegen, sogar
Dinge zerbrechen, wenn er zornig ist. Seit er hier ist, konnten wir ihm
helfen, die aggressiven Aspekte unter Kontrolle zu bringen ... das ist
eigentlich nichts anderes als jede normale Anpassungsarbeit während der
Kindheit. Seine Kräfte sind jedoch noch stärker geworden, sodass man
nicht sagen kann, wohin es hinauslaufen wird.".
Ivan wandte sich an Bruder Matthias und sagte irgend etwas zu ihm, dann
sah er mich wieder an. – "Ivan hörte, dass Sie ebenfalls in der Lage sind,
Dinge zu verbiegen", sagte Bruder Matthias. "Er möchte ihnen ein paar
Fragen darüber stellen".
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Wie bei Thomas möchte ich jetzt die Unterhaltung einfach so eng wie
möglich zusammenfassen. Um das Lesen zu erleichtern, lasse ich die
Übersetzungswege aus und schreibe, als ob Ivan Englisch könnte, – was ja
nicht der Fall war.
"Möchtest du mir eine Frage stellen?", sagte ich zu Ivan.
"Ja. – Bruder Matthias hat gesagt, du kannst Dinge verbiegen, mit deinen
Gedanken. Das kann ich auch, wie du weißt. Ich habe mich gefragt, wie du
dich fühlst, wenn du das tust. Wenn du etwas dazu bringst, dass es sich
biegt oder bricht, – fühlst du dann, dass sich in dir auch 'was biegt?"
Ich musste einen Moment innehalten und über seine Frage nachdenken.
"Also, darüber habe ich bisher so nie nachgedacht", sagte ich, "aber ich
glaube, du hast recht. Das Metall verbiegt sich erst, wenn ich mich selbst
biegen fühle, obwohl das Gefühl sehr schwer zu beschreiben ist. Wie fühlt
sich das bei dir an?"
"Ich fühle das Biegen, dann passiert es. Ich versuche, zu fühlen, wie
glücklich ich dann bin, wenn es passiert, und dann fühle ich das Glück,
dass ich 'größer' werde, bis etwas in mir passiert. Dann gucke ich auf das
Metall, und es ist verbogen. Ich weiß nicht genau, wie es passiert, aber es
passiert. Es ist dasselbe, wenn ich Gegenstände bewege. Wenn ich nur
daran denke, passiert noch nichts, aber ich fühle, wie es sich bewegt, und
in dem Augenblick passiert's. Ich fühle es richtig in meinem Bauch. Fühlst
du es auch da?"
"Ja, ich fühle es auch in meinem Bauch", sagte ich zu ihm. "Es ist ein sehr
starkes Gefühl. Wie bist du dahinter gekommen, dass du das kannst, Ivan?"
"Ich hab' 'mal einen Tag mit meinem Bruder gespielt und der machte mich
verrückt, – da brachte ich einen Stein dazu, dass er seinen Kopf traf, aber
wusste es nicht in diesem Moment. Der Stein flog einfach durch die Luft.
Aber das tue ich jetzt nicht mehr". Er wurde sehr traurig, als er dies sagte.
"Warum?" fragte ich.
"Weil Bruder Matthias gesagt hat, es ist nicht nett, wenn ich diese Gabe auf
diese Art zu gebrauche. Ich soll sie nur gebrauchen, um Leuten zu helfen,
oder um Liebe zu zeigen. Wenn ich sie gebrauche, wenn ich zornig bin,
kommt es, das ich mich krank fühle".
"Krank, – wie?"
"In meinem Kopf ... ich fühle ein ganz hartes Klopfen."
"Erzähl' mir mehr darüber", sagte ich.
"Es fühlt sich an, als ob ich mich selbst haue. Wenn ich die Gabe mit Liebe
benutze, fühlt es sich gut an in mir ", sagte Ivan in der süßen Art aller
Kinder. "Aber wenn ich Leute damit verletze, verletzt es eigentlich mich
selbst. Bruder Matthias hat gesagt, das kommt davon, weil alles, wir tun, zu
uns zurückkommt ... oder so ähnlich."
Er blickte hinüber und lächelte. Bruder Matthias lächelte zurück. Ivan's
Unschuld war ansteckend, und ich fühlte, wie ich mich in seiner Gegenwart
entspannte. Er schien nicht die Weisheit zu haben, die ich bei Anna erlebt
hatte, aber er befand sich mit Sicherheit in einer ganz anderen Welt als die
meisten anderen Kinder.
"Wie ist es, wenn du mit den anderen Kindern zusammen bist?", fragte ich
ihn.
"Das mag ich gern, weil sie mich besser verstehen als die andern. Aber
meine Mutter fehlt mir".
"Und dein Vater?"
"Mein Vater ist gestorben, bevor ich geboren bin. Da sind nur meine Mutter
und mein Bruder, darum muss ich bald nach Hause, damit ich für sie sorge.
Vielleicht kann ich die Gabe dafür gebrauchen".
"Weißt du schon, wie du das machen willst?", fragte ich.
"Nein, aber darüber nachgedacht habe ich schon. Vielleicht kann ich Geld
dazu bringen, dass es von der Bank zu unserm Haus kommt." Er lachte laut
und klatschte in die Hände, aber Bruder Matthias sagte etwas zu ihm, das
ich nicht verstand, und er wurde wieder still.
"Oder ich muss mir 'was anderes ausdenken", sagte er.
"Fühlst du all die anderen Kinder in dir", fragte ich, "all die Kinder in der
Welt, die diese Gabe haben?"
"Ja" war alles, was er sagte.
"Wie fühlt sich das an?"
"Weiß nicht".
"Macht es dich glücklich?", fragte ich und wollte ihm damit ein bisschen
schmeicheln, während ich mich fragte, warum er nicht willens war, darüber
zu reden.
"Ich glaube, ja ... es fühlt sich gut an für mich".
" 'Gut'? – Auf welche Art gut?"
Er warf einen Blick hinüber zu Bruder Matthias, auf Hilfe hoffend. Doch
Bruder Matthias zeigte keine Regung. – "Es macht mich froh, dass es viele
andere Kinder gibt, die sehen können, was ich sehe", sagte er endlich zu
mir.
"Und was siehst du?"
"Ich sehe viele Dinge. Ich sehe, wie die Leute leben und wie sich das
ändern würde, wenn sie alle nach 'der Frage' leben würden".
"Du meinst die Frage, die die Kinder der Welt stellen möchten?"
"Ja, ... weißt du , was das für eine Frage ist?", fragte er mich.
"Ich sage dir, was ich denke, und du kannst mir sagen, ob es richtig ist". –
Er nickte mit dem Kopf.
"Also: 'Wie würdest du handeln, wenn du wüßtest, dass du jetzt ein
Abgesandter der Liebe bist?'
Sag', ist das richtig?"
"Ja, das ist genau richtig ... hat dir das jemand erzählt, oder wußtest du es
einfach?"
"Ich habe einen Jungen getroffen, der hieß Marco; der hat es mir erzählt. Er
war auch aus Bulgarien und lernte hier in diesem Kloster. Ich kam hierher,
um ihn erneut aufzusuchen. Hast du den Jungen jemals kennengelernt?"
"Nein, aber ich kann mich an ihn erinnern", sagte Ivan.
"Wie meinst du das?"
"Also, ich habe ihn niemals kennengelernt, aber ich konnte ihn in mir fühlen.
Aber jetzt fühle ich ihn nicht. Ich weiß nicht genau, warum".
"Meinst du, er ist irgendwohin gegangen?", fragte ich.
"Ich weiß nicht ... im Moment fühle ich ihn nicht."
"Ivan", sagte Bruder Matthias, "möchtest du James irgend etwas zeigen?
Vielleicht ein Metall verbiegen?"
Ivan nickte und Bruder Matthias holte eine Löffel aus seinem Habit. Ich
fragte mich, ob er wohl ständig irgendwelches Silber bei sich hat, immer
bereit für eine sofortige Demonstration, wenn die Stimmung danach war. Er
ging zur anderen Seite des Raums und legte den Löffel unter eine große
Keramikschüssel. Dann kam er zurück und setzte sich auf die Couch.
"Wir haben mit Ivan dahingearbeitet, dass er nicht lokalisiertes Metall
verbiegt. Mit anderen Worten: wir möchten erreichen, dass er in der Lage
ist, einen Löffel zu biegen, ohne ihn zu berühren. Wir fingen mit kleinen
Zweigen an, die er zerbrechen sollte, während sie in einem anderen Raum
lagen. Zuerst war das sehr schwierig, Ivan schaffte das nicht. Doch als er
herausfand, dass die Größe des Zwischenraums zwischen dem Objekt und
ihm keine Rolle spielt, war er fähig, den Zweig mit relativer Leichtigkeit zu
zerbrechen. Erst kürzlich haben wir wieder mit der Arbeit hinsichtlich Metall
begonnen, aber die Ergebnisse bisher sind bereits wunderbar". – Dann
wandte er sich Ivan zu: "Bist du bereit, einen Versuch zu wagen?"
"Ich hab's schon gemacht", sagte Ivan.
"So schnell kannst du das doch nicht gemacht haben", sagte Bruder
Matthias, – doch ich wusste, dass er die Wahrheit sagt, denn ich spürte den
Moment, als er es tat. Der Blick seiner Augen veränderte sich dabei nicht,
aber ich konnte die Energie fühlen, die von ihm ausging, und ich konnte sie
fast sehen, wie sie sich in die Richtung bewegte, wo die Keramikschüssel
den Löffel verdeckte. Und ich bemerkte auch etwas, das ich vorher noch nie
erlebt hatte; ich bin mir nicht sicher, ob es Einbildung war, – aber ich hatte
das Gefühl, als ob ich durch die Schüssel sehen konnte. Es war fast, als ob
ich beobachten konnte, wie sich der Löffel verbiegt, so – als hätte ich
Röntgenaugen. Bruder Matthias ging hinüber zum Tisch und hob die
Schüssel hoch.
"Tatsächlich", sagte er und hielt den Löffel hoch, der nicht nur verbogen
war, sondern mindestens dreimal zur Spirale gedreht war, etwas, was ich
nicht 'mal mit den Händen geschafft hätte. "Ich habe noch nie erlebt, dass
du es so schnell geschafft hast, Ivan. Du wirst jeden Tag stärker".
"Er hat mir geholfen", sagte Ivan und zeigte mit dem Finger in meine
Richtung.
"Wie hat er dir geholfen?", fragte Bruder Matthias.
"Ich habe auch ein bisschen von seiner Energie benutzt, weil ich gesehen
hab', wie er auf den Löffel guckt. Er konnte durch die Schüssel sehen, und
das hat mir geholfen beim Biegen".
Bruder Matthias sah mich an und sagte: "Ist das wahr?"
"Ich denke ja", sagte ich, "obwohl ich nicht weiß, wie ich das gemacht habe
oder sogar, dass ich es überhaupt gemacht habe. Es ist einfach irgendwie
passiert".
"Das ist ganz faszinierend", sagte er. "Ich habe so etwas noch nie vorher
gesehen, aber ich denke, die Tatsache, dass Sie und Ivan die gleichen
Aspekte der 'Gabe' teilen, bedeutet, dass sie voneinander profitieren. Das
kann starke Auswirkungen haben. Wenn wir Kinder zusammenbringen
können, die dieselbe Art Kraft miteinander teilen, dann arbeiten sie
zusammen. Das ist etwas, worüber ich nachdenken muss".
Ich konnte berichten, dass Ivan müde wird, – dass die Anstrengung des
Löffelverbiegens möglicherweise ihren Preis forderte. "Vielleicht ist es für
ihn jetzt genug", sagte ich. "Aber das Zusammentreffen mit Ivan hat mir viel
bedeutet". Ich nahm seine Hand: "Vielleicht können wir ein andermal wieder
zusammenarbeiten und etwas Besseres machen als Löffel verbiegen".
Er lächelte breit und nickte mit dem Kopf. – Bruder Matthias nahm ihn and
der Hand und entließ ihn durch die Tür.
Quellen: www.das-gibts-doch-nicht.de und „Abgesandte der Liebe“ von
James Twyman