Kritik MM Autorenlesung Walczak
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Kritik MM Autorenlesung Walczak
Samstag 17. JANUAR 2015 / Seite 32 KULTUR www.morgenweb.de MANNHEIMER ZEITZEICHEN Das Interview: Marilyn Manson über sein Schockrockerimage, Vergewaltigungen im Gefängnis, Lana Del Rey und sein neues Album Stangen „Als Künstler möchte ich Chaos“ W ie haben wir doch den Fortschritt gepriesen, als die handlichen Mobiltelefone, in Deutschland ebenso handlich Handy genannt, ihren Siegeszug antraten! Keine TelefonzellenSuche mehr, sich ganz bequem verabreden – herrlich! Inzwischen beklagen wir wortreich die Auswüchse, das Versiegen der Gespräche, weil jeder – na, Sie wissen schon… Dann diese unerträgliche Sucht, alles zu fotografieren, erst recht diese Selfies! Soapstars, Tenöre und die Kanzlerin geben keine Autogramme mehr, sie müssen mit aufs Bild, aufs Selfie. Und getreu dem Schiller-Wort, wonach es eben der Fluch der bösen Tat sei, dass sie, fortzeugend, Böses muss gebären, regen wir uns jetzt schon wieder auf. Die Selfie-Stange ist nämlich der letzte Renner, eine Art verlängerter Arm, der den Selfie-Knipser in größere Distanz rückt, um mehr Hintergrund draufzukriegen. Angeblich war die Selfie-Stange sogar schon hie und da ein echter Verkaufsschlager im vorweihnachtlichen Konsumterror. Ja, da fragt man sich, wie kamen wir die letzten Jahre ohne die unglaublich praktische Selfie-Stange aus? Und ein gutes Jahrzehnt davor ohne Selfie? Und fast eineinhalb Jahrhunderte ohne Handy? Und die ganzen Jahrtausende davor überhaupt ohne Telefon? Waltraud Brunst Literatur: Autor Michal Walczak zu Gast im Mannheimer TiG7 Groteske Beziehungen Er liebe es, ein Paar in seiner facettenreichen Beziehung in das Zentrum eines Theaterstückes zu stellen, sagt Michal Walczak. Der polnische Dramatiker, dessen Beziehungskomödie „Das erste Mal“ zurzeit im TiG7 im Rahmen eines Autorenporträts auf dem Programm steht, war jetzt persönlich im Mannheimer Hinterhoftheater zu Gast, um mit Ensemblemitgliedern Szenen aus „Das erste Mal“ und „Amazonia“ zu zeigen. Wie schon in seinen Stücken „Sandkasten“ und „Das erste Mal“ zeichnet auch „Amazonia“ ein Beziehungsgeflecht zwischen Traum und Wirklichkeit nach. Aneta und Mundek sind Schauspieler ohne Engagement. Aneta übernimmt eine Rolle in der kitschigen TV-Serie „Amazonia“, um Geld für den Lebensunterhalt zu verdienen, während sich ihr Partner Mundek die meiste Zeit mit Computerspielen und Kiffen vertreibt. Sie steckt in einer Pizzaschachtel „Willst du unsere künstlerischen Pläne wegen dieser beschissenen Serie über den Haufen werfen. Wir müssen an unsere Träume glauben und dürfen sie nicht vergessen“, kritisiert er, verspricht aber Geld zu beschaffen. Als Bierglas ausstaffiert macht er in der Stadt Werbung für eine Biermarke. Auch dabei betont er seinen Wert als „echter“ Schauspieler im Unterschied zu Franka, mit der er zusammenstößt. Sie steckt in einer Pizzaschachtel und kann so schlecht sehen, „weil die Öffnungen in den Anchovis so klein sind“. Michal Walczaks groteske Beziehungsstücke sind von skurrilem Humor durchdrungen, das wird bei der Lesung deutlich, bei der es immer wieder Gelächter gibt. Begeistert ist der 35-jährige Pole, der Deutsch versteht, sich bei seinem Besuch in Mannheim aber lieber in Englisch verständigt, von der Präsentation der Ensemblemitglieder: „I liked it very much.“ Besonders habe ihm die Schnelligkeit und die Energie, mit der die Texte vorgetragen wurden, gefallen. Das werde in Deutschland besser umgesetzt als in Polen. bh Von unserer Mitarbeiterin Katja Schwemmers Mensch, Name, Album Marilyn Manson mag es kühl und dunkel. Das Enfant terrible der USRockszene sitzt um 11 Uhr morgens in der schummrigen Keller-Bar des Berliner Soho House und spricht mit tiefer Stimme. Seine schweren Silberringe klimpern, das schwarze Leder knirscht, und sein rubinroter Lippenstift glänzt. Aber wie schockierend ist Manson, der mittlerweile in US-TVSerien mitspielt und auf dem neuen Werk „The Pale Emperor“ den Blues für sich entdeckt hat, im Jahr 2015 noch? Wir fragen nach. eigentlich Brian Hugh Warner und ist 1969 in Canton, Ohio, geboren. Er ist Musiker, Künstler, Sänger und Gründer der gleichnamigen Rockband Marilyn Manson, mit der er immer wieder provokante Auftritte inszeniert. : Der Mensch: Marilyn Manson heißt : Der Name: Marilyn Manson ist aus Marilyn Monroe und Charles Manson (ein Schwerverbrecher) zusammengesetzt. Damit soll die Zusammengehörigkeit von Gut und Böse verdeutlicht werden. Manson: „zwei magische Worte, die die amerikanische Kultur widerspiegeln.“ Mr. Manson, wie geht’s? Marilyn Manson: Ich habe einen leichten Wodka-Hangover. Ich habe gestern Billy Corgan von den Smashing Pumpkins hier im Hotel getroffen, den hatte ich bestimmt zehn Jahre nicht mehr gesehen! : Das Album: „The Pale Emperor“ (Vertigo/Universal) ist sein bestes Album seit „Mechanical Animals“. Der 45-Jährige ist ganz bei sich selbst. Und es tut so gut, seiner prägnanten Stimme zu lauschen, um die sich mal fette Gitarrenriffs legen, mal aber auch atmosphärische Filmmusikklänge. dms/sch Sie beide gehören zu den wenigen Überbleibenden der 90er-Helden! Manson: Mag sein. Lustigerweise war es Billy, der mir meine erste Gitarre gegeben hat – von der ich aber nicht mal mehr wusste, wie man sie spielt, als wir das Album „Mechanical Animals“ aufnahmen. Sie war rot, eine Vintage-Gitarre. Wir haben sie zerbrochen und dann wieder repariert. Auf Ihrem neuen Album „The Pale Emperor“ gibt es auch heftige Gitarren, aber in erster Linie fällt die Verknüpfung von Musik und Film auf. Manson: Das hoffe ich! Ich habe immer versucht, Platten zu machen, die wie Filme klingen, und irgendwie hat das Schicksal wohl mit reingespielt, dass Filmkomponist Tylor Bates meinen Weg kreuzte. Man kennt ihn durch seine Arbeiten zu „Halloween“ oder „Killer Joe“. Ich habe ihn das erste Mal getroffen, während ich in der US-Serie „Californication“ mich selbst gespielt habe. Damals haben wir zwei noch nichts Musikalisches zustande gebracht. Aber als ich gerade mit dieser Platte anfangen wollte, rief er mich an. Wir haben viele der Songs gemeinsam im Studio geschrieben, das habe ich zuvor noch nie mit jemandem gemacht. Sie sagen, auf der Platte würde erstmals Ihre Landei-Stimme durchkommen. Das klingt amüsant! Manson: (lacht) Als ich das erste Mal nach Europa kam, haben mir alle gesagt, ich hätte diese SüdstaatenSprechweise. Dabei bin ich aus Ohio! Ich habe zwar einen kleinen Dialekt, aber der ist wohl vergleichbar mit dem eines Deutschen, der aus Düsseldorf oder Berlin kommt. In der Tat habe ich mal eine Zeit lang in New Or- ich noch gar nicht wissen will, was als nächstes passiert. Aber ich habe mir jüngst angewöhnt, meine Performance objektiv anzuschauen. Als wäre es eine andere Person. Aber das ist schwer, weil ich so selbstkritisch bin. Vielleicht sollte ich es so halten wie mein Kumpel Johnny Depp, der sich nie seine Filme anschaut, weil er während des Entstehungsprozesses sprichwörtlich durch die Hölle geht. Ringe klimpern, Leder knirscht, Lippenstift leuchtet: Marilyn Manson. BILD: A. ALEXANDER leans gelebt, darauf nehme ich mit dieser Platte definitiv Bezug: Der Blues kam über mich! Ich singe sehr wenige Worte, die Musik füllt die Räume dazwischen. Und wenn ich mehr singe, dann verflicht sich das mit der Musik, so weit, dass die Melodien die Story weitererzählen. Manson: Stimmt! Das ist nicht das, was man im TV sehen will. Vergewaltigung ist etwas, worüber ich im Zuge meiner Kunst oft humorvoll gesprochen habe. Seit der Serie ist das anders. Ich würde jemanden umbringen, wenn er so etwas einer nahestehenden Person antun würde. Wie bei Filmmusik üblich... Manson: Genau! Und das liegt nicht daran, dass mir nichts einfiel. Eher, weil ich, während ich an meiner Rolle in der TV-Serie „Sons Of Anarchy“ arbeitete, etwas gelernt habe: Ich muss mich zurücknehmen und versuchen, etwas mit meinem Gesicht zu sagen. Können Sie es gut ertragen, sich im Fernsehen zu sehen? Ich meine, ohne ihre kunstvolle Maske? Manson: Ich hab das jüngst mal ausprobiert. Ich musste auf Distanz zu mir gehen. Das ist auch aus einem anderen Grund doof. Denn als ich noch nicht in der Serie mitspielte, habe ich jede Folge geguckt, als sie rauskam. Ich bin ein großer Fan der Show. Das geht nun so weit, dass ich nicht mal mehr das Drehbuch lesen mag, weil Als Ron Tully machen Sie in der erwähnten Serie „Sons Of Anarchy“ ja schlimme Dinge im Gefängnis! Wie schockierend kann Marilyn Manson nach der Serie noch sein? Manson: Ich kann definitiv nicht schockierender sein als der Charakter, den ich in „Sons Of Anarchy“ spiele. Wenn das mein Ziel wäre, dann müsste ich passen. Aber das war ja nie das, worum es mir ging. Eigentlich komme ich aus einer Ära Ende der 90er, wo ich noch Rockstar sein durfte, nicht Celebrity. Ich habe mich sogar lustig gemacht, ich habe mein ArtMovement „Celebritarian Corporation“ genannt, eine Art Fuck-You gegen die Celebrity-Kultur. Als Künstler bevorzuge ich Chaos, und wenn ich Chaos sage, meine ich einen Auslöser für Veränderung. Wenn das schockt, dann ist das ein Nebeneffekt. Finden Sie eigentlich Miley Cyrus in der Popwelt schockierend? Manson: Nicht wirklich. Was soll daran schockierend sein. Dass sie sich nackt macht? Es ist ein Zeichen der Zeit. Nichts Neues. Aber mal so als Warnung und Tipp an alle Eltern: Wenn ihr eure Kinder nicht richtig aufzieht, dann übernimmt jemand wie ich den Job! (lacht) MORGEN UMSCHAU Biller verlässt Thomaner LEIPZIG. Der Kantor des weltberühm- ten Leipziger Thomanerchors, Georg Christoph Biller, gibt sein Amt auf. Der 59-Jährige habe Oberbürgermeister Burkhard Jung um Auflösung seines Vertrages zum Monatsende gebeten, teilte die Stadt jetzt mit. In Absprache mit der Kirchengemeinde St. Thomas habe Jung diesem Wunsch auch entsprochen. Der Thomanerchor wird von der Stadt Leipzig getragen, ist aber der Chor der Leipziger Thomaskirche. Als Grund für seinen Rückzug nannte Biller gesundheitliche Gründe. „Meine gesundheitlichen Probleme lassen die lückenlose Erfüllung der vielfältigen Aufgaben, die dieses Amt beinhaltet, nicht mehr zu“, so Biller. dpa „Skandalöser Vorgang“ DÜSSELDORF. Die Kritik am geplanten Verkauf von Kunst aus dem indirekten Besitz Nordrhein-Westfalens reißt nicht ab. In einem offenen Brief an NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft nannte der Deutsche Künstlerbund die angekündigte Veräußerung der Kunstsammlung der WestLB-Nachfolgegesellschaft Portigon gestern einen „skandalösen Vorgang“, der von kurzsichtigem und konzeptlosem Umgang mit kulturellen Werten zeuge. „Wir fordern den Erhalt der aufgrund jahrelanger Misswirtschaft und intransparenter Verwicklung von Politik und Finanzindustrie zur Disposition gestellten Kunstwerke“, hieß es weiter. dpa DIE SPITZE Die Belletristik-Bestseller laut „Focus“: 1. (2.) Jeff Kinney: Gregs Tagebuch – Böse Falle! 2. (9.) Tana French: Geheimer Ort. 3. (4.) Lori Nelson Spielman: Morgen kommt ein neuer Himmel. 4. (1.) Sebastian Fitzek: Passagier 23. 5. (neu) Kazuaki Takano: Extinction. Kleinkunstpreis vergeben Der Kleinkunstpreis Baden-Württemberg geht in diesem Jahr nach Geislingen, Heidelberg und Tübingen. Ausgezeichnet werden die Parodistin und Kabarettistin Martina Brandl aus Geislingen, die Komödiantin und Moderatorin Rosemie aus Heidelberg sowie der Kabarettist Bernd Kohlhepp aus Tübingen, wie Toto-Lotto BadenWürttemberg gestern mitteilte. lsw STUTTGART. Satire Onlineschau zu „Charlie Hebdo“ Schauspiel: Stuttgarts Intendant Armin Petras inszeniert an der Berliner Schaubühne eine Erzählung von Christa Wolf Vergebliche Versuche, sich zu lieben Von unserem Mitarbeiter Frank Dietschreit Seit Regisseur und Intendant Armin Petras vom Berliner Maxim-GorkiTheater ans Stuttgarter Staatstheater wechselte, ist er zum Berufspendler geworden. Ständig sitzt er im Zug, um seine in Berlin lebende Familie und seine in der Hauptstadt wohnenden Künstlerfreunde zu treffen. Dabei muss ihm unterwegs seine Taschenbuchausgabe von Christa Wolfs Erzählung „Der geteilte Himmel“ abhandengekommen sein. Petras hat dann scheinbar, ohne noch einmal genauer in das 1963 veröffentlichte Buch zu schauen, seine mit flinker Hand hingeworfene Theaterfassung des legendären Prosastoffes erst aufs Papier geworfen und dann an der Berliner Schaubühne inszeniert. Wolfs Erzählung, die sich wie keine andere mit der Zeit des Mauerbaus auseinandersetzte und vor dem Hintergrund einer aussichtslo- sen, tief-traurigen Liebesgeschichte das deutsch-deutsche Dilemma auf den bitteren politischen und emotionalen Punkt brachte, ist dabei auf der Strecke geblieben. Was der Zuschauer zu sehen bekommt: eine bis auf ein paar Motive reduzierte Kurzfassung, der Petras jede politische Dringlichkeit und jede menschliche Wärme ausgetrieben und in ein ortund zeitloses Nirgendwo verbannt hat. Das Publikum hockt auf zwei So zeigt Petras Liebe: Jule Böwe (Rita), BILD: DPA Bartholomäus Schulze (Arzt). sich gegenüberliegenden Tribünen. Getrennt (oder geteilt) wird es durch einen Laufsteg der Eitelkeiten, den die Akteure erst einmal mit Glasoder Eiswürfeln (so genau erkennt man es nicht) zu einer nur unter Schmerzen betretbaren Spielfläche (oder Todesstreifen?) herrichten. Petras’ Stammtischgenöle Aber so oft müssen die drei Akteure ohnehin nicht ins Minenfeld. Meist sind die vergeblichen Versuche des unglücklichen Paares, sich – trotz politischer Streitereien über den richtigen Weg zum Sozialismus - zu lieben, auf Filmschnipseln festgehalten und an die Wände geworfen. Oder Rita und Manfred, durch den Mauerbau auseinandergerissen und für Jahrzehnte getrennt, treffen sich, alt und frustriert, nach der Wende wieder: Dann sitzen sie in der ersten Reihe, reden über alte Zeiten und meckern über die missglückte Wiedervereinigung. Das Stammtischgenöle hat sich Petras ausgedacht, der wohl einfach keine Lust hatte, in Wolfs Erzählung nach dem tieferen Kern der tragischen Geschichte zu suchen. Jule Böwe und Tilman Strauß können einem leidtun. Sie bekommen weder Zeit noch Raum, ihre Figuren zu entwickeln, mit Leben zu füllen. In der heiser-aufgerauten Stimme Böwes (Rita) spürt man von der Tragik einer Frau, die, um den Sozialismus aufzubauen, nicht bereit ist, mit der Liebe ihres Lebens in den Westen zu flüchten. Bartholomäus Schulze spielt laut Programmheft den Arzt, der Rita nach dem Nervenzusammenbruch aufpäppelt. Aber das versteht keiner, der die Erzählung nicht kennt. Vielleicht ist es besser, keine Ahnung von Christa Wolf zu haben. Dann merkt man nicht, dass die missglückte Bühnenfassung rein gar nichts mit ihr zu tun hat. i Termine: 11., 12., 13. Februar (Info/Karten: 030/89 00 23). Direktorin Gisela Vetter-Liebenow mit BILD: DPA „Charlie Hebdo“ von 1971. Vor den islamistischen Terroranschlägen in Paris kannten nur wenige außerhalb Frankreichs das Satiremagazin „Charlie Hebdo“. Erschüttert von dem Mord an den Zeichnern und dem Angriff auf die Meinungsfreiheit, planen fünf Karikaturenmuseen in Deutschland, Österreich und der Schweiz eine gemeinsame Online-Schau. Dabei sind auch Museen aus Frankfurt und Kassel. Voraussichtlich ab März sollen unter anderem Arbeiten der getöteten „Charlie Hebdo“-Zeichner gezeigt und die Reaktionen auf die Attentate aufgearbeitet werden. „Wir werden uns nicht auf das Thema Religionskritik fokussieren“, sagte die Direktorin des Museums Wilhelm Busch, Gisela Vetter-Liebenow, gestern in Hannover. In erster Linie gehe es um die Frage: „Was darf Satire?“ dpa