AUFSÄTZE Zivilrecht Öffentliches Recht DIDAKTISCHE BEITRÄGE
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AUFSÄTZE Zivilrecht Öffentliches Recht DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Inhalt AUFSÄTZE Zivilrecht Urkundenprozess bei Werklohnforderungen Zugleich Besprechung von OLG Schleswig, Urt. v. 30.8.2013 – 1 U 11/13 Von Wiss. Mitarbeiter Dr. Matthias Fervers, München 337 Öffentliches Recht Der Lebenszyklus politischer Parteien – Eine „evolutionäre“ Einführung in das Parteienrecht – Teil 4/6 Von Prof. Dr. Julian Krüper, Bochum, Dr. Hana Kühr, Düsseldorf 346 Normenkontrollen – Teil 3 Fragen der Zulässigkeit: Konkrete Normenkontrolle Von Prof. Dr. Lothar Michael, Düsseldorf 356 DIDAKTISCHE BEITRÄGE Zivilrecht Einführung in das Kostenrecht der ZPO Von Wiss. Mitarbeiter Felix M. Wilke, LL.M., Bayreuth 365 Strafrecht Die Zeitweiligkeit des Rechts – Das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot und die lex mitior-Regel (Art. 103 Abs. 2 GG, §§ 3, 4 OWiG bzw. §§ 1, 2 StGB) Von Wiss. Hilfskraft Annabell Blaue, Halle-Wittenberg 371 Inhalt (Forts.) 4/2014 ÜBUNGSFÄLLE Zivilrecht Übungsfall: Schmutzige Methoden wegen sauberer Energie Von Ref. jur. Benjamin Hansen, Köln 378 Öffentliches Recht Anfängerhausarbeit: Verzinsungspflicht für Kartellgeldbußen natürlicher Personen Von Prof. Dr. Markus Ludwigs, Wiss. Mit. Richard Lauer, Würzburg 387 Strafrecht Übungsfall: „Vertauscht, verkehrt, verfahren“ Von Wiss. Mitarbeiter Dr. Marcus Bergmann, Wiss. Hilfskraft Annabell Blaue, Halle (Saale) 397 Übungsklausur: „I am the danger“ Von Wiss. Mitarbeiter Jacob Böhringer, Wiss. Mitarbeiter Markus Wagner, Gießen 413 ENTSCHEIDUNGSBESPRECHUNGEN Zivilrecht BGH, Urt. v. 16.5.2014 – V ZR 181/13 (Beseitigungsanspruch aus § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB bei Störung des Grundstückseigentums durch unterirdische Stromleitungen) (Prof. Dr. Beate Gsell, München) 423 Öffentliches Recht OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 (Nachbarklage gegen baurechtliche Befreiung – Asylbewerberunterkunft) (Prof. Dr. Michael Fehling, LL.M. (Berkeley), Hamburg, Wiss. Mitarbeiter Manuel Waldmann, LL.B., Hamburg) 428 Strafrecht BGH, Beschl. v. 28.1.2014 – 2 StR 495/12 (Anfragebeschluss zur Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung: Verfassungswidrigkeit der echten Wahlfeststellung) (Wiss. Mitarbeiter Markus Wagner, Gießen) 436 ENTSCHEIDUNGSANMERKUNGEN Zivilrecht BGH, Urt. v. 18.2.2014 – VI ZR 383/12 (Abschleppen eines verbotswidrig geparkten Kfz – Einbeziehung eines Dritten in Schutzwirkung des Vertrages) (Wiss. Mitarbeiter Jan Singbartl, München) 444 Öffentliches Recht BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11 (Verfassungswidrigkeit des ZDF-Staatsvertrages) (Prof. Dr. Matthias Cornils, Mainz) 447 Inhalt (Forts.) 4/2014 Entscheidungsanmerkungen (Forts.) Strafrecht BGH, Beschl. v. 29.4.2014 – 3 StR 21/14 (Versuchter Mord aus Heimtücke – „Schuss durchs Fenster der Beifahrertür“) (Privatdozentin Dr. Janique Brüning, Hamburg) 454 BGH, Beschl. v. 14.5.2013 – 3 StR 69/13 (Zum Erfordernis des Absatzerfolges bei der Hehlerei) (Prof. Dr. Hans Theile, LL.M., Konstanz) 458 Buchrezensionen Zivilrecht Alexander Rathenau, Einführung in das portugiesische Recht, 2013 (Wiss. Mitarbeiter Dr. José Carlos Nóbrega, Osnabrück) 462 Öffentliches Recht Christoph Link, Kirchliche Rechtsgeschichte, 2. Aufl. 2010 (Wiss. Mitarbeiter Thomas Traub, Köln) 465 Varia Allgemeines Das argumentum ad absurdum und seine Bedeutung in examensrelevanten Meinungsstreitigkeiten Von Wiss. Mitarbeiter Holger Stellhorn, Münster 467 Urkundenprozess bei Werklohnforderungen Zugleich Besprechung von OLG Schleswig, Urt. v. 30.8.2013 – 1 U 11/13 Von Wiss. Mitarbeiter Dr. Matthias Fervers, München Die Frage der Statthaftigkeit des Urkundenprozesses hat Rechtsprechung und Literatur in den letzten Jahren vielfach beschäftigt. Umstritten ist bereits seit Langem, ob ein Kläger beim Urkundenprozess auch die unstreitigen Tatsachen mit Urkunden beweisen muss. Zwar hat der BGH die Frage bereits 1974 höchstrichterlich entschieden. Durch ein Urteil des OLG Schleswig ist jedoch Bewegung in die Diskussion gekommen. Die Entscheidung des OLG Schleswig kombiniert die Behandlung prozessualer Probleme des Urkundenprozesses mit werkvertraglicher Fragen des materiellen Rechts. I. Einleitung und Problemstellung Der in §§ 592 ff. ZPO geregelte Urkundenprozess findet in der universitären Ausbildung oftmals nur eingeschränkte Beachtung. In der Praxis kann die Wahl des Urkundenprozesses einem Gläubiger jedoch entscheidende Vorteile bringen. Verlangt beispielsweise ein Verkäufer die Zahlung des Kaufpreises nach § 433 Abs. 2 BGB, so ist für die Entstehung dieses Anspruchs einzig Voraussetzung, dass ein wirksamer Kaufvertrag vorliegt. Wenn nun der Verkäufer den Käufer auf Kaufpreiszahlung verklagt, so kann der Käufer allerdings Einwendungen und Einreden geltend machen. Er kann sich z.B. darauf berufen, er habe den Kaufpreis bereits bezahlt (§ 362 Abs. 1 BGB) oder behaupten, die Kaufsache sei mangelhaft (§ 320 Abs. 1 S. 1 BGB). Zum Beweis dieser Behauptungen stünden dem Beklagten alle Beweismittel der ZPO1 zur Verfügung. Haben die Parteien den Kaufvertrag schriftlich geschlossen, so ist der Verkäufer in der Position, sämtliche Entstehungsvoraussetzungen seines Anspruchs (nämlich das Vorliegen eines Kaufvertrags) mit Urkunden2 zu beweisen. Erhebt der Verkäufer nun Klage im Urkundenprozess, so kann der beklagte Käufer zwar nach wie vor Einwendungen und Einreden geltend machen. Hierfür sind ihm aber alle Beweismittel außer Urkunden abgeschnitten. Er könnte deshalb für seine Behauptung, er habe den Kaufpreis bezahlt, keine Zeugen benennen oder für die Behauptung der Mangelhaftigkeit der Kaufsache kein Sachverständigengutachten beantragen. Zwar stellt der Urkundenprozess für den Beklagten nicht „das letzte Wort“ dar. Gemäß § 599 Abs. 1 ZPO ergeht 1 Merkwort: „SAPUZ“: Sachverständigenbeweis (§§ 402 ff. ZPO), Augenscheinsbeweis (§§ 371 ff. ZPO), Parteivernehmung (§§ 445 ff. ZPO), Urkundenbeweis (§§ 415 ff. ZPO), Zeugenbeweis (§§ 373 ff. ZPO). 2 Der Begriff der Urkunde i.S.d. § 592 ZPO ist identisch mit dem Urkundenbegriff der §§ 415 ff. ZPO (Voit, in: Musielak, Kommentar zur ZPO, 11. Aufl. 2014, § 592 Rn. 12 und § 595 Rn. 9.) und umfasst daher jede schriftlich verkörperte Gedankenerklärung, die ihren Aussteller erkennen lässt, vgl. BGHZ 65, 300 (301) = BGH NJW 1976, 294; Kratz, in: Beck’scher Online-Kommentar zur ZPO, Ed. 12, Stand: 15.3.2014, § 592 Rn. 26; Habersack, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2013, § 793 Rn. 5; Marburger, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2009, § 793 Rn. 2. lediglich ein Vorbehaltsurteil und bleibt dem Beklagten die Geltendmachung seiner Rechte im Nachverfahren vorbehalten. Gemäß § 600 Abs. 1 ZPO bleibt der Rechtsstreit im ordentlichen Verfahren anhängig und hat der Beklagte nun im Nachverfahren die Möglichkeit, sich wiederum mithilfe aller Beweismittel auf Einwendungen und Einreden zu berufen. Wenn sich im Nachverfahren herausstellt, dass die Klage aufgrund der Einwendungen und Einreden des Beklagten doch unbegründet war, so wird das Vorbehaltsurteil gemäß §§ 600 Abs. 2, 300 Abs. 4 S. 2 ZPO aufgehoben. Dass dem Beklagten das Nachverfahren bleibt, um das Ergebnis des Urkundenprozesses zu korrigieren, ändert aber nichts daran, dass der Kläger zunächst einmal das Vorbehaltsurteil erlangt. Dieses Urteil ist gemäß § 599 Abs. 3 ZPO als Endurteil anzusehen, sodass der Gläubiger ungeachtet des Nachverfahrens mit der Zwangsvollstreckung beginnen kann. § 708 Nr. 4 ZPO erlaubt ihm dabei abweichend vom Regelfall sogar eine Zwangsvollstreckung ohne Sicherheitsleistung. Der Urkundenprozess ist deshalb für den Gläubiger immer dann eine günstige Wahl, wenn er die Voraussetzungen seines Anspruchs mit Urkunden beweisen kann, dem Schuldner dagegen für den Beweis seiner Einwendungen und Einreden keine Urkunden zur Verfügung stehen. In diesem Fall hat der Gläubiger die Möglichkeit, zügig und unkompliziert einen vollstreckbaren Titel in die Hände zu bekommen. II. Die Entscheidungen des OLG Schleswig Das OLG Schleswig3 hatte über folgenden Sachverhalt zu entscheiden:4 Am 13.1.2011 übersandte die Klägerin der Beklagten ein Angebot für Fliesenarbeiten, welches die Beklagte mit Telefax vom 2.11.2011 annahm. In der Annahmeerklärung waren allerdings ein Skontoabzug sowie eine verlängerte Gewährleistungsfrist vorgesehen. Die Klägerin führte die Fliesenarbeiten aus, eine Abnahme durch die Beklagte erfolgte jedoch nicht. Die Klägerin verlangte von der Beklagten Zahlung des Werklohns im Urkundenprozess. Die Beklagte bestritt den Vertragsschluss nicht und berief sich auch nicht auf etwaige Mängel. Das OLG Schleswig hat die Klage als im Urkundenprozess unstatthaft abgewiesen. Voraussetzungen für das Bestehen eines Werklohnanspruchs nach § 631 Abs. 1 BGB sei nämlich das Bestehen eines wirksamen Werkvertrags und die erfolgte Abnahme nach §§ 640 Abs. 1, 641 Abs. 1 S. 1 BGB. Beide Voraussetzungen könne die Klägerin nicht mit Urkunden beweisen. Das Bestehen eines wirksamen Werkvertrages ergebe sich nicht schon aus dem Angebotsschreiben und der per Fax zugegangenen Annahmeerklärung. Denn erstens sei die Annahmefrist nach § 147 Abs. 2 BGB abgelaufen gewesen, so3 OLG Schleswig NJW 2014, 945. Hierzu bereits Leidig/ Jöbges, NJW 2014, 892; Schwenker, IBR 2013, 722, und Dötsch, NZBau 2013, 767. 4 Der Sachverhalt wird im Folgenden vereinfacht dargestellt und auf die relevanten Rechtsprobleme reduziert. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 337 AUFSÄTZE Matthias Fervers dass die Annahme nach § 150 Abs. 1 BGB einen neuen Antrag darstelle. Zweitens stelle die Annahme auch nach § 150 Abs. 2 BGB einen neuen Antrag dar, da sie veränderte Vertragsbedingungen enthalten habe.5 Der Werkvertrag sei demnach erst durch die widerspruchslose Durchführung der Bauarbeiten zustande gekommen, was dem Urkundenbeweis nicht zugänglich sei.6 Dem stehe auch nicht entgegen, dass der Vertragsschluss zwischen den Parteien unstreitig sei. Zwar müsse ein Kläger nach überwiegender Auffassung und nach der Rechtsprechung des BGH auch im Urkundenprozess keinen Beweis für solche Tatsachen antreten, die offenkundig, zugestanden oder nicht bestritten würden. Diese Auffassung könne jedoch nicht überzeugen. Vorzugswürdig sei die Gegenauffassung, wonach dem Kläger im Urkundenprozess eine lückenlose Beweisführung mit Urkunden obliege.7 Der Statthaftigkeit des Urkundenprozesses stehe deshalb auch entgegen, dass keine Abnahme durch die Beklagte erfolgt sei. Mangels Abnahme sei ein etwaiger Anspruch nach § 631 Abs. 1 BGB gemäß § 641 Abs. 1 S. 1 BGB nicht fällig. Etwas anderes ergebe sich auch nicht daraus, dass die Beklagten keinerlei Mängel geltend machten. Denn auch wenn vertreten werde, dass der Unternehmer im Falle unberechtigter Abnahmeverweigerung durch den Besteller direkt auf seinen Werklohn klagen könne, so trage der Unternehmer in diesem Fall die Beweislast für die Mangelfreiheit des Werkes. Diesen Beweis könne die Klägerin wiederum nicht mit Urkunden führen.8 Zudem enthalte die Klage auf Zahlung des Werklohns im Falle der Abnahmeverweigerung konkludent auch die Klage auf Abnahme. Gemäß § 592 ZPO könne im Urkundenprozess jedoch nur ein Anspruch auf Zahlung einer bestimmten Geldsumme oder ein Anspruch auf die Leistung bestimmter vertretbarer Sachen, jedoch kein Anspruch auf Abgabe einer Willenserklärung eingeklagt werden.9 III. Die Bewertung der Entscheidung Die Entscheidung enthält wesentliche Aussagen zur grundsätzlichen Statthaftigkeit des Urkundenprozesses und zur Beweislast bei unberechtigter Abnahmeverweigerung. Um eine Bewertung der Entscheidung zu ermöglichen, ist es erforderlich, sich zunächst mit der Frage auseinanderzusetzen, ob ein Kläger im Urkundenprozess auch die unstreitigen Tatsachen mit Urkunden beweisen muss. Danach soll die Anwendung auf die Werklohnklage erörtert werden. 5 OLG Schleswig, Urt. v. 30.8.2013 – 1 U 11/13, Rn. 31 (juris). 6 OLG Schleswig, Urt. v. 30.8.2013 – 1 U 11/13, Rn. 32 (juris). 7 OLG Schleswig, Urt. v. 30.8.2013 – 1 U 11/13, Rn. 21 ff. (juris). 8 OLG Schleswig, Urt. v. 30.8.2013 – 1 U 11/13, Rn. 43 f. (juris). 9 OLG Schleswig, Urt. v. 30.8.2013 – 1 U 11/13, Rn. 45 (juris). 1. Lückenlose Beweisführung durch Urkunden im Urkundenprozess? Ob ein Kläger im Urkundenprozess sämtliche anspruchsbegründenden Tatsachen durch Urkunden beweisen muss oder ob ihm der Urkundenbeweis nur für diejenigen Tatsachen obliegt, für die er auch nach allgemeinen Regeln die Beweisführungslast trägt, ist umstritten. a) Die herrschende Auffassung Nach herrschender Rechtsprechung10 und nach der wohl überwiegenden Auffassung in der Literatur11 gelten auch im Urkundenprozess für die Beweisführungslast die allgemeinen Grundsätze, sodass der Kläger keinen Urkundenbeweis für offenkundige (§ 291 ZPO), zugestandene (§ 288 ZPO) oder unbestrittene (§ 138 Abs. 3 ZPO) Tatsachen antreten muss. Es handele sich um einen nicht zu rechtfertigenden Formalismus, eine Klage im Urkundenprozess abzuweisen, wenn die Klageforderung durch Urkunden in Verbindung mit unstreitigen Tatsachen bewiesen werden könne.12 Außerdem sei umgekehrt eine Klage im Urkundenprozess auch dann abzuweisen, wenn Einwendungen des Beklagten unbestritten, zugestanden oder offenkundig sind.13 Diese Sichtweise sei auch mit dem Wortlaut des Gesetzes vereinbar, da nach § 597 Abs. 2 ZPO der Urkundenprozess nur dann unstatthaft sei, wenn ein dem Kläger obliegender Beweis nicht mit Urkunden geführt worden ist. Bei unbestrittenen, zugestandenen oder offenkundigen Tatsachen obliege dem Kläger aber gar kein Beweis.14 10 RGZ 109, 70 (71); 142, 303 (306); BGHZ 62, 286 = NJW 1974, 1199; BGH WM 1985, 738; OLG Köln ZIP 1982, 1424 (1426); OLG Köln BauR 2008, 129 (131); OLG Düsseldorf BauR 2010, 819; OLG München NJOZ 2007, 2520 (2524); AG Berlin NJW-RR 2007, 1167. 11 Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 72. Aufl. 2014, § 597 Rn. 7; Dötsch, NZBau 2013, 767, der die Gegenargumente als „ausgekaut“ bezeichnet und daher gegen die vorliegende Entscheidung auch rechtspraktische Einwände erhebt; Eichele, in: Saenger, Kommentar zur ZPO, 5. Aufl. 2013, § 592 Rn. 4; Eickmann/Oellerich, JA 2007, 43 (45); Habscheid, ZZP 96 (1983), 313; Hall, in: Prütting/ Gehrlein, Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2014, § 592 Rn. 12; Hövelberndt, JuS 2003. 1105 f.; Kratz (Fn. 2), § 592 Rn. 24; Meller-Hannich, Zivilprozessrecht, 2011, Rn. 913; Pohlmann, Zivilprozessrecht, 3. Aufl. 2009, § 15 Rn. 23; Schilken, Zivilprozessrecht, 6. Aufl. 2010, Rn. 794; Rosenberg/Schwab/ Gottwald, Zivilprozessrecht, 17. Aufl 2010, § 162 Rn. 12; Berger, in: Stein/Jonas, Kommentar zur ZPO, Bd. 6, 22. Aufl. 2013, § 592 Rn. 15, § 597 Rn. 11 ff.; Voit (Fn. 2), § 592 Rn. 11; Zeiss/Schreiber, Zivilprozessrecht, 12. Aufl. 2014, Rn. 767; wohl auch Hess, Zivilprozessrecht, 30. Aufl. 2011, § 89 Rn. 4; Reichold, in: Thomas/Putzo, Kommentar zur ZPO, 34. Aufl. 2013, § 592 Rn. 6. 12 BGH, Urt. v. 24.4.1974 – VIII ZR 211/72, Rn. 23 (juris) = BGHZ 62, 286 = NJW 1974, 1199. 13 BGH, Urt. v. 24.4.1974 – VIII ZR 211/72, Rn. 15 (juris). 14 BGH, Urt. v. 24.4.1974 – VIII ZR 211/72, Rn. 16 (juris). _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 338 Urkundenprozess bei Werklohnforderungen Allerdings soll auch nach der herrschenden Auffassung die Vorlage von zumindest einer Urkunde notwendig sein, da andernfalls ein vom Gesetzgeber nicht gewollter „Urkundenprozess ohne Urkunden“ stattfinden könnte.15 Dem Kläger sei es lediglich gestattet, in seiner Beweisführung „Lücken zu füllen“.16 b) Die restriktive Gegenauffassung Nach der restriktiven Gegenauffassung17, der sich das OLG Schleswig mit eher knapper Begründung18 angeschlossen hat,19 soll dem Kläger im Urkundenprozess dagegen die lückenlose Beweisführung durch Urkunden obliegen. Lediglich der Beweis offenkundiger Tatsachen durch Urkunden wird regelmäßig nicht für erforderlich gehalten.20 Die Vertreter dieser 15 BGH, Urt. v. 24.4.1974 – VIII ZR 211/72, Rn. 24 (juris); OLG Frankfurt WM 1995, 2079; Kratz (Fn. 2), § 592 Rn. 24; Voit (Fn. 2), § 592 Rn. 11; a.A. OLG Jena MDR 1997, 975; tendenziell auch Berger (Fn. 11), § 597 Rn. 12. 16 Insoweit ist die Rechtsprechung nicht ganz einheitlich. Insbesondere in der obergerichtlichen Rechtsprechung finden sich bisweilen gewisse Einschränkungen: Nach OLG Düsseldorf, Urt. v. 2.3.2005 – 3 U 3/05, Rn. 23, 25 (juris) soll es nur möglich sein, „kleinere Lücken in der Urkundenbeweisführung auszufüllen“. Ein solcher Lückenschluss soll bei der Höhe der Klageforderung nicht möglich sein. Ähnlich für den Beweis der Scheckvorlage nach § 29 Abs. 1 ScheckG OLG München, Urt. v. 6.3.1998 – 21 U 5432/97, Rn. 42 (juris). Implizit ähnlich, im konkreten Fall aber mit anderem Ergebnis OLG Köln VersR 1993, 901. Auch das OLG Celle, Urt. v. 7.12.2006 – 14 U 61/06, Rn. 24 f. (juris). lässt es bei der Werklohnklage nicht genügen, wenn der Vertragsschluss, nicht aber Leistungserbringung und Abnahme urkundlich bewiesen sind. 17 Braun, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 4. Aufl. 2012, § 592 Rn. 14; Bull, NJW 1974, 1513 (1514); Gloede, MDR 1966, 103; ders., MDR 1974, 895; Gsell, in: Artz/Börstinghaus (Hrsg.), 10 Jahre Mietrechtsreformgesetz, S. 913 (923 ff.); Hankel, AcP 71 (1887), 365 (383 f.); Hertel, Der Urkundenprozess, 1992, S. 129 ff.; Leidig/Jöbges, NJW 2014, 892; Meyer, ZZP 38, 159; Olzen, in: Wieczorek/Schütze, Zivilprozessordnung und Nebengesetze, Großkommentar, Bd. 8, 4. Aufl. 2013, § 592 Rn. 31 ff.; Stein, Urkunden- und Wechselprozess, 1887, S. 99 f.; Stern, ZZP 32, 245; Stürner, NJW 1972, 1257; ders., JZ 1974, 681; Timme, ProzRB 2003, 192; Ulrich, ZZP 44, 57. 18 A.A. Leidig/Jöbges, NJW 2014, 892 (894): „Der sorgfältig begründeten Entscheidung…“. 19 OLG Schleswig, Urt. v. 30.8.2013 – 1 U 11/13, Rn. 24 ff. (juris). Die Berufung auf OLG München MDR 2012, 186 ist allerdings zweifelhaft, weil in dieser Entscheidung an sich nicht von der Rechtsprechung des BGH abgewichen werden sollte, vgl. Fn. 37. 20 So ausdrücklich Braun (Fn. 17), § 592 Rn. 14; Olzen (Fn. 17), § 592 Rn. 31 ff.; nach Stürner, JZ 1974, 681 (682), ist eine solche Einschränkung hinsichtlich allgemeinkundiger Tatsachen „vertretbar“. Deutlicher differenzierend zwischen ZIVILRECHT Auffassung berufen sich erstens auf den Willen des historischen Gesetzgebers. Zweitens wird ein Vergleich mit der Regelung der § 597 Abs. 2 ZPO21 geltend gemacht: Wenn der Kläger bei Säumnis des Beklagten alle anspruchsbegründenden Tatsachen mit Urkunden zu beweisen habe, müsse dies erst recht gelten, wenn der Beklagte erscheine und verhandle.22 Drittens sei es unbillig, den Beklagten, der Tatsachen wahrheitsgemäß nicht bestreite und so den Weg zum Urkundenprozess ebene, schlechter zu stellen als den Beklagten, welcher der Wahrheit zuwider bestreite. Die prozessuale Wahrheitspflicht würde so zu einem Werkzeug, ehrliche Schuldner „prozessual in die Ecke zu drängen“.23 Viertens sei es inkonsequent, wenn man einerseits den Kläger bei unstreitigen Tatsachen der Obliegenheit für den Urkundenbeweis entbinde, andererseits aber die Vorlage zumindest einer Urkunde fordere.24 Hierdurch entstünden auch Abgrenzungsschwierigkeiten.25 Fünftens stünden die prozessualen Voraussetzungen des Urkundenprozesses wie alle prozessualen Voraussetzungen nicht zur Disposition der Parteien. Der Beklagte könne es daher nicht in der Hand haben, dem Kläger ein Rechtsschutzverfahren zu verschaffen, was ihm nach der ZPO an sich nicht zusteht.26 Sechstens sei die Auffassung des BGH auch nicht vom Wortlaut der §§ 592, 597 ZPO gedeckt. Zwar spreche § 597 Abs. 2 von einem dem Kläger obliegenden Beweis. Nach § 597 Abs. 2 ZPO sei die Klage allerdings selbst dann abzuweisen, wenn der Beklagte nur unbegründete oder unstatthafte Einwendungen geltend gemacht habe. In dieser Situation sei aber nach allgemeinen Beweisregeln gar nichts zu beweisen, sodass § 597 Abs. 2 ZPO sich auch nicht auf die allgemeinen Beweisregeln, sondern nur auf § 592 ZPO beziehen könne.27 Siebtens wird schließlich die rechtspolitische Fragwürdigkeit des Urkundenprozesses selbst ins Feld geführt. Die gesetzgeberischen Rechtfertigungen für die Einführung des Urkundenprozesses könnten letztlich nicht überzeugen: Von der „Verbriefung eines Rechts“ könne allenfalls die Rede sein, wenn die Urkunde – wie etwa ein Wechsel oder allgemeinkundigen und gerichtskundigen Tatsachen Stürner, NJW 1971, 1257 (1260). 21 Bei einem ordentlichen Verfahren werden bei Säumnis des Beklagten die vom Kläger vorgetragenen Tatsachen gemäß § 331 Abs. 1 S. 1 ZPO als zugestanden angesehen. Ist der Beklagte dagegen im Urkundenprozess säumig, so genügt es nach § 597 Abs. 2 ZPO nicht, dass der Kläger Tatsachen behauptet. Er muss diese vielmehr tatsächlich durch Urkunden beweisen. 22 Braun (Fn. 17), § 592 Rn. 14. Hankel, AcP 71 (1887), 365 (384). 23 Stürner, NJW 1972, 1257 (1259); ähnlich ders., JZ 1974, 681 (682). 24 Gsell (Fn. 17), S. 913 (923, 924). 25 Hierauf stellt auch das OLG Schlewsig, Urt. v. 30.8.2013 – 1 U 11/13, Rn. 27 (juris) maßgeblich ab. Welche Art von Abgrenzungsschwierigkeiten gemeint ist, bleibt dagegen unerörtert. 26 Stürner, NJW 1972, 1257 (1259). 27 Stürner, NJW 1972, 1257 (1260); ders., JZ 1974, 681; zust. Gsell (Fn. 17), S. 913 (923 f.). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 339 AUFSÄTZE Matthias Fervers ein Scheck – tatsächlich ein Recht des Gläubigers verbriefe, nicht aber bei einem schriftlichen Vertrag.28 Auch von einer „Unterwerfung“ des Schuldners durch die Errichtung einer Urkunde könne jedenfalls nicht generell ausgegangen werden. Zum einen erfolge die Errichtung oftmals lediglich zu Beweiszwecken, zum anderen umfasse der Urkundenbegriff in § 592 ZPO auch solche Urkunden, an deren Errichtung der Schuldner gar nicht mitgewirkt habe.29 Eine besondere Dringlichkeit sei schon deshalb keine ausreichende Legitimation, da eine solche keine Zulässigkeitsvoraussetzung des Urkundenprozesses darstelle. In dringlichen Fällen stehe dem Gläubiger vielmehr das Arrestverfahren zur Verfügung.30 Auch ein verschuldensunabhängiger Schadensersatzanspruch nach §§ 600 Abs. 2, 300 Abs. 4 S. 3 ZPO gleiche die Nachteile des Beklagten nicht immer vollständig aus.31 Vor diesem Hintergrund sei der Urkundenprozess auf die vom Gesetz vorgegebenen Fälle zu beschränken und nicht auch noch über seinen Wortlaut hinaus auszudehnen.32 c) Die Auffassung des OLG München Schließlich wird wohl auch ein differenzierender Standpunkt vertreten: Danach braucht der Kläger zwar prinzipiell im Falle des Nichtbestreitens von Tatsachen durch den Beklagten den Urkundenbeweis nicht zu führen. Statthaftigkeitsvoraussetzung soll allerdings gleichwohl sein, dass dem Kläger die Möglichkeit offen steht, den Urkundenbeweis zu führen.33 Dieser Auffassung hat sich anscheinend das OLG München angeschlossen.34 Unklar bleibt hier allerdings, was mit der „Möglichkeit“ des Urkundenbeweises genau gemeint ist.35 Macht der Kläger etwa – wie in dem vom OLG München entschiedenen Fall – einen Anspruch auf eine Nutzungsentschädigung geltend, so lässt sich das Erfordernis der „Möglichkeit des Urkundenbeweises“ in zweierlei Hinsicht verstehen: einmal dahingehend, dass die geltend gemachte Nutzungsentschädigung abstrakt dem Urkundenbeweis zugänglich ist oder aber dahingehend, dass der Kläger den Urkundenbeweis sogar tatsächlich führen könnte, er also über entsprechende Urkunden verfügt. Versteht man die Einschränkung im letzt- 28 Gsell (Fn. 17), S. 913 (918). Gsell (Fn. 17), S. 913 (918 f). 30 Gsell (Fn. 17), S. 913 (919 f.); Hertel (Fn. 17), S. 119. 31 Gsell (Fn. 17), S. 913 (917); Hertel (Fn. 17), S. 73 ff. 32 Siehe die Nachw. in der vorhergehenden Fn. 33 Greger, in: Zöller, Kommentar zur ZPO, 30. Aufl. 2014, Rn. 7, 11: „ […] Dass der Kläger im Falle des Nichtbestreitens durch die Beklagte den Urkundenbeweis nicht zu führen braucht, ändert nichts daran, dass die Möglichkeit, ihn zu führen, Statthaftigkeitsvoraussetzung des Urkundenverfahren ist, also dem Kläger überhaupt erst den Weg zu dieser vereinfachten Titelerlangung öffnet […]“. 34 OLG München, Urt. v. 21.9.2011 – 7 U 4957/10, Rn. 34 (juris), unter Berufung auf die genannte Fundstelle und mit wörtlichem Zitat. Wiederholt in OLG München, Urt. v. 23.12. 2011 – 7 U 3385/11, Rn. 11 (juris). 35 Ebenso Kratz (Fn. 2), § 592 Rn. 24. 29 genannten Sinne,36 so bestünden im Ergebnis kaum noch Unterschiede zur restriktiven Auffassung.37 Denn die Statthaftigkeit des Urkundenprozesses und damit auch die Möglichkeit des Urkundenbeweises im konkreten Fall wären von Amts wegen zu prüfen, sodass der Kläger die Urkunde auch im Prozess vorlegen müsste. d) Stellungnahme Sowohl für die restriktive als auch für die herrschende Auffassung lassen sich gute Argumente ins Feld führen. Letztlich gebührt der restriktiven Auffassung allerdings der Vorzug. aa) Der Verweis auf den Willen des Gesetzgebers Der Verweis der restriktiven Auffassung auf den Willen des historischen Gesetzgebers ist zwar zutreffend. Es ist auch in der Tat nicht richtig, wenn vonseiten der herrschenden Auffassung behauptet wird, der gesetzgeberische Wille habe sich nicht im Gesetzeswortlaut niedergeschlagen. Es hat etwas Sophistisches, wenn der BGH meint, § 597 Abs. 2 ZPO enthalte einen Verweis auf die allgemeinen Beweisregeln.38 Beide Befunde gebieten indes nicht zwingend eine restriktive Auslegung. Die gesetzgeberischen Erwägungen entfalten per se keine absolute Bindungswirkung39 und der Wortlaut von §§ 592, 597 Abs. 2 ZPO spricht zumindest nicht abschließend dafür, dass die Regeln des Urkundenbeweises nicht von den allgemeinen Beweisregeln überlagert werden könnten. bb) Der Verweis auf § 597 Abs. 2 ZPO Der Hinweis der restriktiven Auffassung auf § 597 Abs. 2 ZPO und die daraus resultierende Besserstellung des säumigen Beklagten40 überzeugt nur teilweise. § 597 Abs. 2 ZPO könnte nur dann uneingeschränkt indizielle Wirkung entfalten, wenn das Nichtbestreiten von Tatsachen durch den Beklagten seiner Säumnis tatsächlich gleichzustellen wäre. Das ist aber nicht der Fall. Es ist etwas anderes, ob ein Beklagter in der mündlichen Verhandlung erscheint und verhandelt und in diesem Rahmen Tatsachen zugesteht bzw. auf richterlichen Hinweis nicht bestreitet oder ob aufgrund seiner Säumnis der Vortrag des Klägers aufgrund einer Fiktion (§ 331 Abs. 1 S. 1 36 Dieses Verständnis scheint auch das OLG München zugrundezulegen, vgl. OLG München, Urt. v. 21.9.2011 – 7 U 4957/10, Rn. 34 (juris): „ […] Der Kläger kann im vorliegenden Verfahren keine Urkunden vorlegen, die den geltend gemachten Anspruch auf ‚Nutzungsentschädigung‘ für den Dienstwagen mit Fahrer belegen könnten […]“. 37 Es überrascht daher, dass das OLG München keine Auseinandersetzung mit abweichenden Auffassungen vornimmt. Das Gericht ist denn auch in Rn. 58 der Auffassung, sich nicht in Widerspruch zur höchstrichterlichen Rechtsprechung gesetzt zu haben, sodass auch die Revision nicht zugelassen wurde. 38 Zutreffend und deutlich Stürner, JZ 1974, 681; zust. Gsell (Fn. 17), S. 913 (924). 39 Honsell, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2013, Einl. zum BGB Rn. 136; Wenzel, NJW 2008, 345 (347). 40 Vgl. die Nachweise in Fn. 22. _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 340 Urkundenprozess bei Werklohnforderungen ZPO) nur als zugestanden gilt. Die statistische Wahrscheinlichkeit, dass die vom Kläger vorgetragene Tatsache der Wahrheit entspricht, ist im ersten Fall weitaus höher. Allerdings erscheint es in der Tat seltsam, wenn man sich vergegenwärtigt, dass ein Beklagter es in der Hand hat, durch Säumnis dem Kläger die Möglichkeit des Urkundenprozesses zu entziehen und damit durch die Säumnis seine prozessuale Stellung zu verbessern.41 cc) Schwächen der restriktiven Auffassung Erheblich für die herrschende Auffassung spricht, dass die restriktive Auffassung – sofern man sie konsequent zu Ende denkt – im Einzelfall zu nicht überzeugenden Differenzierungen führen würde. Das gilt insbesondere für Fälle, in denen ein Vertragsschluss zwar urkundlich festgehalten ist, der Vertrag normativ allerdings auf anderem Wege zustande kam. Unterstellt A sendet B ein Angebotsschreiben zum Abschluss eines Kaufvertrags. Daraufhin begibt sich B zu A, erklärt sich mündlich einverstanden und übergibt A die Kaufsache. Nach der restriktiven Auffassung wäre eine Klage des B im Urkundenprozess als in der gewählten Prozessart selbst dann als unstatthaft abzuweisen, wenn A die Umstände des Vertragsschlusses genauso schildert wie B und auch sonst keinerlei Einwendungen erhebt. Anders allerdings, wenn B dem A den Abschluss des Vertrages schriftlich bestätigt, sich im Prozess aber darauf beruft, die Kaufsache sei noch gar nicht übergeben worden. In diesem Fall müsste auch nach der restriktiven Auffassung ein Urkundenvorbehaltsurteil ergehen, obwohl der Beklagte in diesem Fall ungleich schutzwürdiger erscheint als in der ersten Fallvariante. Besonders anschaulich zeigt sich diese Problematik in Fällen, in denen der Zugang der Annahme nach § 151 S. 1 BGB entbehrlich ist. Schickt der Bürge dem Gläubiger die Bürgschaftsurkunde und nimmt dieser sie zu den Akten, so ist dies als konkludente Annahme anzusehen, deren Zugang allerdings nach § 151 S. 1 BGB entbehrlich ist.42 Nach der restriktiven Auffassung könnte der Gläubiger hier auch dann nicht im Urkundenprozess klagen, wenn der Bürge keine Einwendungen geltend macht. Hätte eine Übersendung der Annahme stattgefunden, so könnte der Gläubiger dagegen erfolgreich im Urkundenprozess klagen, selbst wenn der Bürge die Erfüllung der Bürgschaftsforderung behauptet und hierfür mehrere Zeugen benennt.43 41 Dötsch, NZBau 2013, 767, wertet dies dagegen als Argument für die herrschende Auffassung. 42 BGH NJW 2000, 1563; BGH NJW 1997, 2233; OLG Brandenburg WM 2006, 1855; Armbrüster, in: Erman, Kommentar zum BGB, 13. Aufl. 2011, § 151 Rn. 5; Bork, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2010, § 151 Rn. 20; Busche, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 151 Rn. 11; Ellenberger, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 73. Aufl. 2014, § 151 Rn. 4. 43 Ebenfalls zum Beispiel der Bürgschaft Voit (Fn. 2), § 592 Rn. 11. ZIVILRECHT dd) Der Verweis auf die rechtspolitische Fragwürdigkeit des Urkundenprozesses Diesen Bedenken kann auch zumindest nicht isoliert mit dem Argument begegnet werden, der Urkundenprozess sei als solcher fragwürdig, sodass sein Anwendungsbereich nicht über Gebühr ausgedehnt werden sollte. Der Urkundenprozess mag zwar in vielen Fällen unbillig erscheinen. Macht beispielsweise ein Mieter einen nachträglich aufgetretenen Mietmangel geltend, so kann er diesen durch Urkunden regelmäßig nicht beweisen, sodass sich der Vermieter mittels einer Zahlungsklage im Urkundenprozess zunächst einen vorläufig vollstreckbaren Titel verschaffen kann.44 Derartigen Unbilligkeiten ließe sich allerdings auch auf anderem Wege begegnen, als dem Kläger den Urkundenbeweis für unstreitige Tatsachen aufzuerlegen. De lege lata wäre hier zu erwägen, den Urkundenprozess in solchen Fällen als unstatthaft anzusehen, in denen eine bestimmte Einwendung oder Einrede statistisch häufig vorkommt, typischerweise aber nicht mit Urkunden bewiesen werden kann.45 De lege ferenda wäre eine Beschränkung des Urkundenprozess im b2c-Verhältnis denkbar. Dem Kläger aber allein wegen derartiger Unbilligkeiten generell die Beweislast für unstreitige Tatsachen aufzuerlegen, hätte Züge einer „Breitbandmedikation“, weil diese Maßnahme auch den Kläger treffen würde, dessen Klageforderung unstreitig weder Einwendungen noch Einreden entgegenstehen. Richtig ist allerdings, dass die rechtspolitischen Argumente den Urkundenprozess nicht rechtfertigen können. Insbesondere lässt sich der Urkundenprozess nicht plausibel damit begründen, dass ein Gläubiger, der die anspruchsbegründenden beweisbedürftigen Tatsachen durch Urkunden beweisen kann und den Urkundenprozess wählt, zumeist mit einer statistisch höheren Wahrscheinlichkeit auch „am Ende die Ober44 Nach der Rechtsprechung des BGH ist der Urkundenprozess nicht nur dann statthaft, wenn der Mieter einen nachträglich aufgetretenen Mangel geltend macht (BGH NJW 2005, 2701; BGH NJW 2007, 1061), sondern auch, wenn der Mieter sich zwar auf einen anfänglichen Mangel beruft, diesen aber unstreitig bei der Übergabe der Mietsache nicht gerügt hat (BGH NJW 2009, 3099). Zu Recht nimmt der BGH allerdings an, dass wenn sich der Mieter wegen eines anfänglichen Mietmangels bei der Annahme seine Mängelrechte vorbehält, eine Klage im Urkundenprozess als in der gewählten Prozessart unstatthaft abzuweisen ist (BGH NJW-RR 2013, 1232). In diesem Fall kann der Vermieter nämlich die Erbringung der eigenen Vertragsleistung – die Übergabe der mangelfreien Mietsache – nicht mit Urkunden beweisen. Lesenswert zur Beweislast bzgl. der Mangelverursachung durch den Mieter BGH, Urt. v. 16.10.2013 – XII ZR 64/12. 45 Diesen Rechtsgedanken zieht die Rechtsprechung bei der „Bürgschaft auf erstes Anfordern“ heran (BGHZ 148, 283 = NJW 2001, 3549). Wenn ein Bürge die Bürgschaftsvaluta an den Gläubiger gezahlt hat und diesen nun auf die Rückforderung verklagt, könnte der Gläubiger den Eintritt des materiellen Bürgschaftsfalls vielfach nicht mit Urkunden, sondern erst im Nachverfahren beweisen, was nach Ansicht des BGH mit dem Charakter der „Bürgschaft auf erstes Anfordern“ unvereinbar ist. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 341 AUFSÄTZE Matthias Fervers hand behält“.46 Denn diese statistische Wahrscheinlichkeit wäre ja auch und gerade dann besonders hoch, wenn der Kläger zwar gar keine Urkunden vorlegt, die anspruchsbegründenden Tatsachen aber alle unstreitig sind. Ein solcher „Urkundenprozess ohne Urkunden“ ist aber nach nahezu einhelliger Auffassung gerade nicht möglich.47 Und wenn der Urkundenprozess im Fall größter statistischer Erfolgswahrscheinlichkeit unstatthaft ist, so kann die Erfolgswahrscheinlichkeit auch nicht als Kriterium für die Statthaftigkeit des Urkundenprozesses herangezogen werden.48 Wenn sich somit die statistische Erfolgswahrscheinlichkeit als Statthaftigkeitskriterium verbietet, so erscheint auch die soeben vorgenommene Erwägung, den Urkundenprozess dann als unstatthaft anzusehen, wenn eine bestimmte Einwendung oder Einrede statistisch häufig vorkommt, typischerweise aber nicht mit Urkunden bewiesen werden kann, nicht tragbar. Denn der Sache nach würde hier implizit eine Prüfung der Erfolgswahrscheinlichkeit vorgenommen, die sich beim Urkundenprozess aber wegen des Verbots eines „Urkundenprozesses ohne Urkunden“ nicht schlüssig durchhalten lässt. Durch die gesetzgeberische Fehlkonzeption, auf der einen Seite den Urkundenprozess mit der statistisch erhöhten Erfolgswahrscheinlichkeit zu begründen, aber auf der anderen Seite keinen Urkundenprozess ohne Urkunden zuzulassen, folgt leider, dass die großzügige herrschende Auffassung notwendig inkonsistent bleiben muss. ee) Praktische Probleme bei der Anwendbarkeit der herrschenden Auffassung Entscheidend gegen die herrschende Auffassung spricht die durch deren Anwendung entstehende Rechtsunsicherheit. Auch wenn es prima facie aus der Sicht des praktischen Rechtsanwenders unnötig umständlich erscheinen mag, unstreitige Tatsachen dem (Urkunden)beweis zu unterwerfen, lässt sich gleichwohl nicht von der Hand weisen, dass sich auf der Grundlage der Rechtsprechung des BGH in vielen Grenzfällen nicht mit Sicherheit sagen lässt, ob der Urkundenbeweis statthaft ist oder nicht. Sofern gar keine Urkunde vorgelegt wird, soll der Urkundenprozess nach Ansicht des BGH – auch dann, wenn alle klagebegründenden Tatsachen unstreitig sind – „zweifellos […] unstatthaft“ sein: für den Urkundenprozess sei eine „sich auf die Klageforderung beziehende Urkunde begriffsnotwendig.“49 Zulässig sei nur, „Lücken“ beim geführten Urkundenbeweis auszufüllen. Dem BGH ist zwar zuzustimmen, wenn er einen „Urkundenprozess ohne Urkunden“ nicht für möglich hält. Dies würde den Wortlaut des § 592 ZPO eindeutig überdehnen und über die Tatsache hinweggehen, dass der Gesetzgeber gerade kein Verfahren vorgesehen hat, in dem der Kläger ein Vorbehaltsurteil erlan46 Nach BGH, Urt. v. 12.7.2001 – IX ZR 380/98, Rn. 17 (juris), liegt „gerade in der generell erhöhten Erfolgswahrscheinlichkeit des von Urkunden gestützten Rechtsschutzbegehrens und der erfahrungsmäßigen Seltenheit von Nachverfahren“ die „innere Rechtfertigung des Urkundenprozesses“. 47 Vgl. die Nachweise in Fn. 15. 48 Gsell (Fn. 17), S. 913 (925). 49 BGH, Urt. v. 24.4.1974 – VIII ZR 211/72, Rn. 24 (juris). gen kann, wenn die Begründetheit der Klage überwiegend wahrscheinlich ist.50 Allerdings bleibt doch die Frage, welche Anforderungen der BGH an den Bezug der Urkunde zur Forderung stellen will. Konkret ist hier erstens unklar, wie „intensiv“ der Bezug der Urkunde zu den anspruchsbegründenden Tatsachen in sachlicher Hinsicht sein muss und zweitens, „wie viel“ die vorgelegte Urkunde beweisen muss, damit tatsächlich nur noch eine „Lückenfüllung“ verbleibt. In dem vom BGH entschiedenen „Lieferschein-Fall“ konnte der Kläger Lieferscheine, Frachtbriefdoppel und sich auf die Lieferungen beziehende Rechnungen vorlegen. Nach Auffassung des BGH ließen diese Urkunden auf das „Bestehen der behaupteten Forderung schließen“.51 Dieser Maßstab verträgt sich allerdings kaum mit der Feststellung, dass nur „Lücken“ bei der Beweisführung möglich seien.52 Angenommen ein Kläger legt als Urkunde lediglich ein Schreiben des Beklagten vor, in dem dieser erklärt: „Den Kaufvertrag über mein Auto von letzter Woche kannst du dir abschminken“. Auch diese Urkunde lässt auf das Bestehen einer Kaufpreisforderung schließen. Ob in diesem Fall der Urkundenprozess statthaft wäre, lässt sich kaum sagen. Denn zum einen ist der normative Bezug zum Vertragsschluss nicht besonders hoch. Zum anderen wird der Vertragsschluss selbst auch nicht bewiesen. Auch die soeben unter III. 1. d) cc) erörterten Konstellationen lägen keineswegs eindeutig. Sofern eine Urkunde beispielsweise lediglich ein Vertragsangebot beweist, so ist es höchst fraglich, ob in diesem Fall der Beweis der Vertragsannahme als „Lückenfüllung“ angesehen werden kann. Ein Vergleich mit dem „Lieferschein-Fall“ des BGH hilft auch nicht weiter. Denn einerseits ist in den bereits erörterten Konstellationen zwar immerhin das Vorliegen eines Angebots mit den zugehörigen essentialia negotii bewiesen, auf das Vorliegen eines Vertrags lässt sich jedoch aufgrund der Urkunde nicht schließen. Andererseits geht aus Rechnungen (im „Lieferschein-Fall“) zwar hervor, dass der Aussteller von einem geschlossenen Vertrag ausgeht; aber weder Angebot noch Annahme sind tatsächlich bewiesen. Das wesentliche Problem liegt darin, dass sich auch kein justiziables Kriterium für die Lösung derartiger Grenzfälle finden lässt. Insbesondere verbietet sich auch hier eine Differenzierung nach der statistischen Wahrscheinlichkeit. Und weil sich kein Kriterium für die Abgrenzung finden lässt, müsste jede höchstrichterliche Entscheidung insoweit eine schwer begründbare Einzelfallentscheidung bleiben. 50 Gsell (Fn. 17), S. 913 (925). BGH, Urt. v. 24.4.1974 – VIII ZR 211/72, Rn. 27 (juris). Diese vage Formulierung dürfte auch der Grund für die Uneinheitlichkeit der obergerichtlichen Rechtsprechung sein. Vgl. die Nachweise in Fn. 16. 52 Ebenso Stürner, JZ 1974, 681: „Es ist einfach unrichtig, wenn der BGH ausführt, das Nichtbestreiten schließe nur Lücken des Urkundenbeweises.“ Hieraus folgert Stürner, nunmehr könne „jeder Kläger im Urkundenprozess klagen, der zum klagebegründenden Rechtsverhältnis irgendeine Urkunde – auch ohne unmittelbaren Beweiswert – vorlegt […]“. 51 _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 342 Urkundenprozess bei Werklohnforderungen ff) Zusammenfassung Somit lässt sich letztlich Folgendes festhalten: Die Systemwidrigkeit des Urkundenprozesses führt dazu, dass keine Auffassung vollends zu überzeugen vermag. Die restriktive Auffassung führt zu den oben bereits dargestellten sinnwidrigen Differenzierungen. Die herrschende Auffassung wäre demgegenüber nur dann konsequent, wenn auch ein „Urkundenprozess ohne Urkunden“ möglich wäre. Dies überdehnt jedoch den Wortlaut des § 592 ZPO deutlich und wird daher zu Recht nahezu einhellig abgelehnt. Ohne einen „Urkundenprozess ohne Urkunden“ erscheint die herrschende Auffassung jedoch auch nicht stimmig und sieht sich vor allem dem Vorwurf der fehlenden Rechtssicherheit und Praktikabilität ausgesetzt. Deshalb erscheint die restriktive Auffassung – trotz berechtigter Bedenken – zumindest als das „kleinere Übel“. 2. Die Ausführungen des OLG Schleswig zum Vertragsschluss Die Ausführungen des Oberlandesgerichts zum Vertragsschluss und seiner Nichtbeweisbarkeit mit Urkunden sind in sich schlüssig. In der Tat wird man im vorliegenden Fall annehmen müssen, dass die Annahme der Beklagten nach § 150 Abs. 1, Abs. 2 BGB als neuer Antrag zu qualifizieren und der Werkvertrag daher tatsächlich erst durch die Ausführung der Bauarbeiten zustande gekommen ist. Da der Vertragsschluss somit nicht lückenlos durch Urkunden bewiesen werden kann, ist es konsequent, wenn das OLG Schleswig von seinem Standpunkt aus die Statthaftigkeit des Urkundenprozesses ablehnt, obwohl der Vertragsschluss als solcher zwischen den Parteien nicht streitig war. An diesem Fall zeigen sich wiederum anschaulich die Probleme beider Auffassungen. Hätte die Klägerin nicht sogleich mit den Bauarbeiten begonnen, sondern vorher noch ein Fax mit dem Inhalt „In Ordnung, ich beginne morgen“ zurückgesendet, wäre der Vertragsschluss lückenlos mit Urkunden beweisbar und der Urkundenprozess deshalb unstreitig statthaft gewesen. Im konkreten Fall kommt hinzu, dass die Beklagte nicht nur die Durchführung der Bauarbeiten tatsächlich nicht bestritten hat, sondern selbst in einem ordentlichen Verfahren faktisch noch nicht einmal die Möglichkeit des Bestreitens gehabt hätte. Denn dass die Bauarbeiten durch die Klägerin durchgeführt worden sind, hätte sich leicht überprüfen lassen, sodass die Beklagte durch ein Bestreiten offensichtlich gegen ihre prozessuale Wahrheitspflicht nach § 138 Abs. 1 ZPO verstoßen hätte. Die restriktive Auffassung erscheint vor diesem Hintergrund auf den ersten Blick grob unbillig. Aber auch auf der Grundlage der herrschenden Auffassung ließe sich nicht mit letzter Sicherheit sagen, ob ein Urkundenprozess statthaft wäre oder nicht. Die Klägerin hat lediglich das Vertragsangebot durch Urkunden bewiesen. Es ergibt sich aus dem vorgelegten Fax weder der Vertragsschluss insgesamt, noch lässt sich (im Gegensatz zum „Lieferschein-Fall“) darauf schließen, dass eine Partei von einem bereits geschlossenen Vertrag ausgeht. Die herrschende Auffassung führt also in casu wiederum zu einer Rechtsunsicherheit bezüglich der Statthaftigkeit. Wenn in der Praxis dagegen anerkannt wäre, dass sämtliche anspruchsbegründenden Tatsachen durch Urkunden bewiesen werden müssen, stünde ein Kläger nicht mehr vor der schwierigen und ZIVILRECHT riskanten Entscheidung, ob er im Urkundenprozess klagen soll oder nicht. 3. Die Ausführungen des OLG Schleswig zur Abnahme Das OLG Schleswig lässt die Statthaftigkeit des Urkundenprozesses zumindest an zwei weiteren Punkten scheitern: Zwar habe die Beklagte keine Mängel behauptet, eine Abnahme sei gleichwohl nicht erfolgt. Ob der Werkunternehmer in diesem Fall überhaupt auf Zahlung des Werklohns klagen könne, sei ungeklärt (hierzu a). Jedoch habe die fehlende Abnahme in jedem Fall zur Folge, dass die Klägerin die Abnahmereife und damit die Mangelfreiheit des Werkes hätte beweisen müssen (hierzu b). Darüber hinaus beinhalte im Fall einer unberechtigten Abnahmeverweigerung die Klage auf Werklohn immer konkludent auch die Klage auf Erklärung der Abnahme. Und im Urkundenprozess könne der Anspruch auf die Erklärung der Abnahme nicht eingeklagt werden, da gemäß § 592 ZPO im Urkundenprozess nur ein Anspruch auf Zahlung einer bestimmten Geldsumme oder auf die Leistung bestimmter vertretbarer Sachen eingeklagt werden könne (hierzu c).53 a) Werklohnklage ohne Abnahme Das OLG Schleswig meint, es sei „ungeklärt“, ob der Werkunternehmer im Falle unberechtigter Abnahmeverweigerung sofort auf die Zahlung des Werklohns klagen kann. Dagegen spreche die Möglichkeit der Fristsetzung nach § 640 Abs. 1 S. 3 BGB.54 Grundsätzlich ist gemäß § 641 Abs. 1 S. 1 BGB die Abnahme Voraussetzung für die Fälligkeit der Vergütung.55 Nimmt der Besteller das Werk trotz Abnahmereife nicht ab, so hat der Unternehmer in der Tat die Möglichkeit, gemäß § 640 Abs. 1 S. 3 BGB eine Frist zur Abnahme zu setzen; nach Fristablauf wird die Abnahme fingiert. Diese Option bietet sich für den Unternehmer insbesondere dann an, wenn der Besteller untätig bleibt. Sofern der Besteller die Abnahme jedoch ernsthaft und endgültig verweigert, konnte der Unternehmer zumindest vor der Einführung des § 640 Abs. 1 S. 3 BGB nach ganz herrschender Auffassung unmittelbar auf die 53 OLG Schleswig, Urt. v. 30.8.2013 – 1 U 11/13, Rn. 44 f. (juris). 54 OLG Schleswig, Urt. v. 30.8.2013 – 1 U 11/13, Rn. 44 (juris). 55 Einen anderen Ansatz verfolgen Peters/Jacoby, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2013, § 641 Rn. 3b ff. Hiernach soll sich die Fälligkeit nach der allgemeinen Bestimmung des § 271 BGB richten und die berechtigte Abnahmeverweigerung nicht zu einer Abweisung der Klage als „zurzeit unbegründet“, sondern lediglich zu einer Zug-um-ZugVerurteilung führen. Ausführlich dagegen Voit, in: Beck’scher Online-Kommentar zum BGB, Ed. 31, Stand: 1.2.2013, § 641 Rn. 14. Auch die Rechtsprechung versteht die Abnahme offensichtlich als Fälligkeitsvoraussetzung, vgl. nur BGH, Urt. v. 18.12.1980 – VII ZR 41/80, Rn. 10 ff. (juris), wo der BGH davon ausgeht, dass der Anspruch auf Werklohn erst mit der Abnahme entsteht und dass auch erst in diesem Zeitpunkt eine Klagemöglichkeit des Unternehmers besteht. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 343 AUFSÄTZE Matthias Fervers Zahlung des Werklohns klagen.56 Entgegen der Auffassung des OLG Schleswig kann auch die zum 1.1.2002 eingeführte Möglichkeit der Fristsetzung nach § 640 Abs. 1 S. 3 BGB hieran nichts ändern. Denn erstens ergibt im Falle ernsthafter und endgültiger Abnahmeverweigerung eine Fristsetzung keinen Sinn mehr.57 Und zweitens sollte die Rechtsstellung des Unternehmers durch die Möglichkeit der Fristsetzung nach § 640 Abs. 1 S. 3 BGB nicht verschlechtert, sondern verbessert werden.58 Auch der BGH geht davon aus, dass eine Fristsetzung nach § 640 Abs. 1 S. 3 BGB im Falle endgültiger Abnahmeverweigerung entbehrlich ist.59 Das Problem liegt also weniger darin, dass der Unternehmer im Falle der Abnahmeverweigerung überhaupt die Möglichkeit hat, auf den Werklohn klagen, sondern vielmehr darin, dass der Unternehmer nach zutreffender Auffassung auch mit Urkunden beweisen müsste, dass der Besteller die Abnahme ernsthaft und endgültig verweigert hat. Nimmt man mit der zutreffenden restriktiven Auffassung an, dass der Kläger im Urkundenprozess alle beweisbedürftigen Tatsachen mit Urkunden beweisen muss, so hätte die Klägerin in casu also auch durch Urkunden beweisen müssen, dass die Beklagte die Abnahme ernsthaft und endgültig verweigert hat. b) Beweis der Abnahmereife Sofern das OLG Schleswig meint, die Klägerin hätte selbst im Falle einer unberechtigten Abnahmeverweigerung die Abnahmereife als Tatbestandsvoraussetzung mit Urkunden beweisen müssen, so ist dies im Ergebnis richtig. Erwägen ließe sich aber, ob sich etwas anderes aus den (geringen) Anforderungen an den klägerischen Vortrag im Falle der Werklohnklage ergibt. Denn nach wohl übereinstimmender Auffassung muss ein Kläger, der bei unberechtigter Abnahmeverweigerung auf Zahlung des Werklohns klagt, nichts zur Mängelfreiheit des Werkes vortragen. Der Kläger muss erst dann hierzu Stellung nehmen, wenn der Beklagte substantiiert Mängel 56 RGZ 58, 173 (176); 69, 381 (383); 171, 297 (301); BGHZ 50, 175 (177) = NJW 1968, 1873; BGH NJW-RR 1996, 883; OLG Hamm NJW-RR 1994, 474; Peters/Jacoby (Fn. 55), § 641 Rn. 6; Sprau, in Palandt, Kommentar zum BGB, 73. Aufl. 2014, § 641 Rn. 5; Voit (Fn. 55), § 641 Rn. 5; krit. Busche, Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 641 Rn. 30, der die Anwendung von §§ 642, 643, 645, 649 BGB für ausreichend hält. 57 Sprau (Fn. 56), § 641 Rn. 5; Voit (Fn. 55), § 641 Rn. 5; Koeble, BauR 2012, 1153 (1155 f.); tendenziell auch bereits BGH, Urt. v. 25.4.1996 – X ZR 59/94, Rn. 19 (juris), wonach der Einwand, der Werklohn sei mangels Abnahme nicht fällig, begrifflich voraussetze, dass die Abnahme noch erfolgen kann, was im Falle endgültiger Abnahmeverweigerung nicht der Fall ist. 58 So zutreffend BGH NJW 2003, 200; Sprau (Fn. 56), § 641 Rn. 5. 59 Ausdrücklich BGH, Urt. v. 8.11.2007 – VII ZR 183/05, Rn. 19 (juris); BGH, Urt. v. 18.5.2010 – VII ZR 158/09, Rn. 5 (juris). vorträgt.60 Nun könnte man geneigt sein anzunehmen, dass ein Kläger, der nichts zur Mangelfreiheit vortragen muss, auch nach der restriktiven Auffassung zum Urkundenprozess die entsprechende Tatsache auch nicht mit Urkunden beweisen muss. Dem ist jedoch nicht so. Denn obwohl der klagende Unternehmer nicht pauschal die Mängelfreiheit des Werkes vortragen muss, verbleibt sowohl die Behauptungs- als auch die Beweislast für die ordnungsgemäße Leistungserbringung beim Kläger. Den beklagten Besteller trifft bezüglich etwaiger Mängel eine sog. sekundäre Darlegungslast,61 welche die objektive Beweislast aber gerade nicht umkehrt. Der Unterschied zum „Normalfall“ der sekundären Darlegungslast besteht zwar darin, dass der Kläger zur Mangelfreiheit ausdrücklich gar nichts vortragen,62 also noch nicht einmal pauschal die Mängelfreiheit behaupten muss. Hierbei handelt es sich jedoch nur um eine Form der Auslegung des klägerischen Vortrags. Die pauschale Behauptung der Mangelfreiheit hätte keinen selbständigen Mehrwert.63 Vielmehr schließt der Vortrag, die Werkleistung erbracht zu haben, typischerweise die Behauptung der Mangelfreiheit mit ein.64 Somit ist ein Kläger, der die Herstellung des Werkes und die unberechtigte Abnahmeverweigerung vorträgt, seiner Behauptungslast 60 BGH NJW 1996, 1749; OLG Hamm NJW-RR 1994, 474 (475): „Dem Senat ist auch kein Fall bekannt, in dem eine Werklohnklage deshalb abgewiesen worden ist, weil der Unternehmer nichts zur Abnahmefähigkeit vorgetragen hat, obwohl er dazu nach seinem eigenen Vorbringen oder dem Vortrag des Bestellers keinen Anlaß hatte.“; Peters/Jacoby (Fn. 55), § 641 Rn. 6; Werner/Pastor, Der Bauprozess, 14. Aufl. 2013, Rn. 1802. 61 Ein Grundfall zur sog. „sekundären Darlegungslast“ ist der folgende: K macht gegen B einen Anspruch aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB geltend, weil er B rechtsgrundlos Geld überwiesen hat. K trägt nach allgemeinen Grundsätzen die Beweislast für alle anspruchsbegründenden Voraussetzungen von § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB, also auch für das Merkmal „ohne Rechtsgrund“. Da es K aber nicht möglich ist, jeden denkbaren Rechtsgrund vorauseilend zu widerlegen, trifft B insoweit eine „sekundäre Darlegungslast“. B muss daher das Bestehen eines Rechtsgrundes – etwa eines wirksamen Kaufvertrags – behaupten. Tut B dies, verbleibt die Beweislast jedoch bei K. K muss also das Nichtzustandekommen oder die Unwirksamkeit des Kaufvertrags beweisen. Ausführlich zur sekundären Darlegungslast vgl. Bacher, in: Beck’scher Online-Kommentar zur ZPO, Ed. 12, Stand: 15.3.2014, § 284 Rn. 84 ff. sowie zu § 812 Abs. 1 BGB: BGH NJW 1990, 392; NJW 1995, 662; BGH NJW 2003, 1039; BGH NJW 2011, 2130; Sprau (Fn. 56), § 812 Rn. 76; Stadler, in: Jauernig, Kommentar zum BGB, 15. Aufl. 2014, § 812 Rn. 20 f. 62 K müsste im eben skizzierten Grundfall zumindest vortragen, dass kein Rechtsgrund für die Überweisung des Geldes bestand. 63 OLG Hamm NJW-RR 1994, 474 (475). 64 Dementsprechend nimmt OLG Hamm NJW-RR 1994, 474, auch an, dass der Unternehmer mit seiner Klage konkludent die Mangelfreiheit behauptet. _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 344 Urkundenprozess bei Werklohnforderungen in Bezug auf die Mangelfreiheit nachgekommen. Das ändert aber nichts daran, dass weder Behauptungs- noch Beweislast auf den Beklagten übergehen. Somit gehört in der Tat auch die Abnahmereife (also die Mängelfreiheit) zu den Tatsachen, die nach der zutreffenden restriktiven Auffassung beim Urkundenprozess des Urkundenbeweises bedürfen. c) Der Streitgegenstand der Werklohnklage bei unberechtigter Abnahmeverweigerung Die zweite These des OLG Schleswig, im Fall einer unberechtigten Abnahmeverweigerung enthalte eine Klage auf Werklohn immer konkludent auch die Klage auf Erklärung der Abnahme, liegt dagegen nicht gerade nahe. Angesichts der Tatsache, dass sich für die Auffassung des Gerichts kaum Belege finden lassen,65 verwundert insbesondere die knappe Begründung. Im Gegenteil geht die ganz überwiegende Auffassung zu Recht davon aus, dass durch eine unberechtigte ernsthafte und endgültige Abnahmeverweigerung der Anspruch auf Werklohn fällig wird, eine Abnahme also gar nicht mehr erforderlich ist.66 Aus diesem Grund ist auch eine konkludente Klage auf Abnahme nicht notwendig. Hinzu kommt, dass der Urteilstenor bei erfolgreicher Werklohnklage keine gesonderte Verurteilung zur Abnahme enthält67 und der vom OLG Schleswig angenommene „konkludente Antrag“ auch nicht streitwerterhöhend wirken würde. Im Übrigen würden sich auf der Grundlage der Auffassung des OLG Schleswig erhebliche Komplikationen für den Kläger ergeben. Denn durch das Urteil könnte die Abnahme nicht nach § 894 ZPO (vollständig) als erfolgt gelten, da die Abnahme nicht lediglich eine Willenserklärung, sondern einen zweiteiligen Willensakt darstellt: die körperliche Hinnahme des Werkes verbunden mit der Erklärung, dass der Besteller das Werk im Wesentlichen als vertragsgerecht anerkennt. Deshalb müsste der klagende Unternehmer eine Vollstreckung nach § 888 Abs. 1 ZPO durchführen,68 bevor er wegen seiner Werklohnforderung vollstrecken kann. Die Unannehmlichkeiten, die durch Möglichkeit einer unmittelbaren Werklohnklage vermieden werden sollten, würden somit nur in das Vollstreckungsverfahren verschoben. Daher ist entgegen der Auffas- ZIVILRECHT sung des OLG Schleswig davon auszugehen, dass die Abnahme bei deren unberechtigter ernsthafter und endgültiger Verweigerung entbehrlich und somit auch eine Klage auf Abnahme weder ausdrücklich noch konkludent erforderlich ist. IV. Fazit Die besseren Gründe sprechen dafür, den Urkundenprozess lediglich dann als statthaft anzusehen, wenn der Kläger alle anspruchsbegründenden Voraussetzungen mit Urkunden bewiesen hat. Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn Tatsachen zwischen den Parteien unstreitig oder durch den Beklagten zugestanden sind. Zwar führt diese Sichtweise bisweilen zu unbefriedigenden Ergebnissen. Diese lassen sich aufgrund der Systemwidrigkeit des Urkundenprozesses aber nie ganz vermeiden. Und für diese restriktive Sichtweise spricht entscheidend der Vorteil der Rechtsklarheit, sodass sie zumindest als das „kleinere Übel“ erscheint. Dass die restriktive Auffassung vorzugswürdig erscheint, zeigt sich auch am vom OLG Schleswig entschiedenen Fall. Dieser zeigt darüber hinaus grundsätzlich, dass der Urkundenprozess bei der Werklohnklage regelmäßig jedenfalls dann unstatthaft ist, wenn der klagende Unternehmer die Abnahme nicht mit Urkunden beweisen kann. Denn auch wenn man mit der zutreffenden herrschenden Auffassung davon ausgeht, dass der Unternehmer im Falle der unberechtigten ernsthaften und endgültigen Abnahmeverweigerung die Möglichkeit hat, unmittelbar auf Zahlung des Werklohns zu klagen, so scheitert der Urkundenprozess in diesem Fall an zwei Hürden: zunächst kann der klagende Unternehmer typischerweise nicht die ernsthafte und endgültige Abnahmeverweigerung urkundlich beweisen. Vor allem aber kann er durch Urkunden zumeist nicht beweisen, dass diese unberechtigt erfolgt ist. Denn die Abnahmereife und damit die Mangelfreiheit des Werkes gehört letztlich zu den anspruchsbegründenden Voraussetzungen einer solchen Werklohnklage und ist mit Urkunden regelmäßig nicht beweisbar. 65 Allerdings heißt es bei Werner/Pastor (Fn.60), Rn. 1082 in der Tat etwas missverständlich: „ […] dabei reicht ein Zahlungsantrag aus, da mit ihm konkludent die Abnahme der Bauleistung begehrt wird.“ Auch wenn diesen Ausführungen zu entnehmen ist, dass die Abnahme prozessual gerade nicht beantragt werden muss, so wird doch suggeriert, dass die Abnahme prinzipiell noch erforderlich sei. 66 Peters/Jacoby (Fn. 55), § 641 Rn. 6; wohl auch Busche (Fn. 56), § 640 Rn. 44, der allerdings davon ausgeht, dass die Fälligkeit im Fall unberechtigter Abnahmeverweigerung nicht durch die (nicht erfolgte) Abnahme, sondern durch den Annahmeverzug des Bestellers herbeigeführt wird. 67 Dötsch, NZBau 2013, 767 (768). 68 Busche (Fn. 56), § 640 Rn. 42; Derleder NZBau 2004, 237 (241); implizit auch OLG Stuttgart NJW 2011, 3172; a.A. unter Verweis auf die Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG Peters/Jacoby (Fn.55), § 640 Rn. 12. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 345 Der Lebenszyklus politischer Parteien – Eine „evolutionäre“ Einführung in das Parteienrecht – Teil 4/6 Von Prof. Dr. Julian Krüper, Bochum, Dr. Hana Kühr, Düsseldorf* I. Rückblick auf die vorangegangenen Beiträge Im ersten Beitrag dieser Reihe1 stand im Mittelpunkt, die Parteien als von Bürgern gegründete – grundrechtsverankerte – Akteure des politischen Systems des Grundgesetzes zu verstehen. Der zweite Beitrag2 konzentrierte sich auf Fragen rund um die Gründung politischer Parteien. Zentraler Ausgangspunkt war die verfassungsrechtliche Rechts- und Pflichtenstellung der Parteien, wie sie sich aus Art. 21 GG ergibt. Die Bedeutung des einfachgesetzlichen Parteienbegriffs wurde erörtert und die Bedeutung von Parteisatzungen als Rechtstexten und von Parteiprogrammen als politischen Dokumenten wurde erwogen. Schließlich wurden die Grundstrukturen des für Bürger und Parteien gleichermaßen wesentlichen Mitgliedschaftsverhältnisses vorgestellt. Der unmittelbar vorangegangene Beitrag3 hatte die mit der Etablierung neu gegründeter Parteien zusammenhängenden Fragen zum Gegenstand. Er befasste sich damit, wie Parteien ihre Organisationsstrukturen fortentwickeln und wie sie ihre Ressourcen gewinnen und erhalten können. Dabei stand das gesetzlich vorgegebene System der staatlichen und der Eigenfinanzierung der Parteien im Mittelpunkt. II. Einführung: Der „Beruf“ politischer Parteien Staatliche Wahlen sind das hauptsächliche Aktionsfeld politischer Parteien.4 Wahlen sind insbesondere in der repräsentativen Demokratie ohne die Parteien als Intermediäre zwischen Staat und Gesellschaft nicht denkbar. Hat sich eine Partei insofern verfestigt, als sie organisatorische Strukturen ausgebildet hat und ihre Finanzierung gewährleisten kann, ist es ihr hauptsächliches Ziel, an staatlichen Wahlen mit Erfolg teilzunehmen. Erfolg bedeutet in diesem Kontext, dass möglichst viele Mitglieder der eigenen Partei in den Bundestag und die Landesparlamente, in kommunale Volksvertretungen und auch das Europaparlament entsandt werden können. Ist eine Partei durch eigene Mitglieder in einem oder mehreren Parlamenten vertreten, werden auch parlamentsrechtliche Vorgaben für sie relevant. Die von Parteien entsandten und von den Bürgern gewählten Abgeordneten können sich innerhalb der Parlamente zu Fraktionen zusammenschließen, die rechtlich allerdings strikt von „ihren“ Parteien zu trennen sind. Wegen dieser Trennung gelten für Fraktionen, obwohl sie in der Praxis etwa im Bundestag personell teilidentisch mit den Funktionsträgern der Parteien sind, andere Regeln als für * Julian Krüper ist Inhaber der Professur für Öffentliches Recht, Verfassungstheorie und interdisziplinäre Rechtsforschung an der Ruhr-Universität Bochum; Hana Kühr ist Rechtsreferendarin am Landgericht Düsseldorf und war bis 2012 Mitarbeiterin am Institut für deutsches und internationales Parteienrecht und Parteienforschung (PRuF) an der HHU Düsseldorf. 1 Krüper/Kühr, ZJS 2014, 16. 2 Krüper/Kühr, ZJS 2014, 143. 3 Krüper/Kühr, ZJS 2014, 241. 4 Henke, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bearbeitung 1991, Art. 21 Rn. 195. Parteien. Zu beachten ist, dass parteiangehörige Mandatsträger auch als Abgeordnete die Interessen ihrer Partei repräsentieren. Mit dem Status des durch die Wahl errungenen Mandates gewinnen sie aber auch ein gewisses Maß an rechtlich gewährleisteter Unabhängigkeit von ihrer Partei. Darin zeigt sich erneut die vermittelnde Position der politischen Parteien in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes: Ihre Kandidaten treten als Privatpersonen für die Partei als Vereinigung von Bürgern zur Wahl an. Erringen die Kandidaten ein Mandat, übernehmen sie als Abgeordnete ein öffentliches Amt und treten damit in die Sphäre des Staates ein, ohne wiederum ihre Eigenschaft als Bürger und Parteimitglied aufzugeben. Durch diese Ambivalenz wird der Einfluss der Parteien auf das politische System gesichert. Die Teilnahme an Wahlen mit allen dazugehörigen Aufgaben sowie die Arbeit von Parteimitgliedern in den Volksvertretungen sind daher die wichtigsten Aufgaben politischer Parteien. Die Chance auf politische Macht ist – legitimer – Triebfaktor der politischen Parteiarbeit. III. Die Teilnahme an Wahlen Die Vorbereitung von und Teilnahme an staatlichen Wahlen ist also objektiv und subjektiv, vom Standpunkt des Rechts wie der Parteien selbst, die wichtigste Aufgabe politischer Parteien. Die Beteiligung von Parteien an Wahlen wird ausdrücklich im Aufgabenkatalog des § 1 Abs. 2 PartG genannt. Die Wahrnehmung dieser Aufgabe wird durch die Gesamtheit aller Vorschriften des Wahlrechts auf Verfassungsebene und einfachgesetzlicher Ebene gesteuert. Daher ist ein Überblick über das rechtliche Programm für staatliche Wahlen erforderlich, um diese Aufgabe der Parteien zu verstehen. Was Parteien sind, wie sie rechtlich und tatsächlich funktionieren, ist sinnvoll nur vor diesem Hintergrund zu verstehen. Parteienrecht ist also eine Querschnittsmaterie, die zu wesentlichen Teilen wahlrechtlicher Natur ist. Zur Veranschaulichung soll hier das Bundestagswahlrecht im Mittelpunkt stehen; auf Landeswahlrecht oder das Europawahlrecht wird nur vereinzelt Bezug genommen. 1. Verfassungsrechtliche Vorgaben an staatliche Wahlen a) Die Bedeutung von Wahlen in der parlamentarischen Demokratie Parlamentswahlen sind der demokratisch wichtigste Akt zur Begründung der Legitimation der staatlichen Gewalt, weil die Wahlberechtigten durch ihre Entscheidung auf die Zusammensetzung des Bundestages als der Legitimationsmitte des Staates5 und in der Folge auch auf die staatliche Willensbildung 5 Hierzu Kirchhof, in: Brenner/Huber/Möstl, Der Staat des Grundgesetzes, Festschrift für Peter Badura, 2004, S. 237 (241 ff.). _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 346 Der Lebenszyklus politischer Parteien – Teil 4/6 Einfluss nehmen.6 Die Legitimation durch den Souverän setzt sich über die Parlamente – diese wirken an der Besetzung der anderen Verfassungsorgane mit7 – in jedem Akt staatlicher Gewalt fort und begründet den Zurechnungszusammenhang zwischen staatlichem Handeln und dem Willen des Volkes.8 Durch die so geschaffene ununterbrochene Legitimationskette9 wird jedenfalls im rechtlichen Modell gewährleistet, dass im Sinne des Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Dadurch, dass staatliche Wahlen in regelmäßigen Abständen neu durchgeführt werden, wird gewährleistet, dass die vom Souverän gespendete Legitimation „aufgefrischt“ und aktuell gehalten wird, damit die Besetzung der Parlamente dem aktuellen Willen des Volkes entspricht. Schließlich erfüllen staatliche Wahlen eine Integrationsfunktion, weil sie politische Überzeugungen der Bürger über die Volksvertreter in den staatlichen Entscheidungsprozess einspeisen.10 b) Die Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 GG Die Grundsätze der Allgemeinheit, Unmittelbarkeit, Freiheit, Gleichheit, Geheimheit der Wahl11 dienen dazu, bei allen staatlichen Wahlen dem Demokratieprinzip zur Geltung zu verhelfen.12 In ihrem Kern verkörpern sie das Wesen einer demokratischen Wahl. Die legitimierende Funktion des Wahlaktes wird durch sie gesichert. Dies geschieht dadurch, dass die Machtausübung staatlicher Organe gerade wegen der Wahlrechtsgrundsätze besonders eng an den Willen des Volkes angebunden wird.13 Die Grundsätze des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG verpflichten insbesondere den Gesetzgeber, der sich in Wahrnehmung seines Regelungsauftrages in Art. 38 Abs. 3 GG zwar frei für ein Wahlsystem entscheiden kann, dabei aber die Wahlrechtsgrundsätze beachten muss. Die dem Gesetzgeber durch Art. 38 Abs. 3 GG eingeräumte Gestaltungsmacht im Bereich des Wahlrechtes findet demnach in den Wahlrechtsgrundsätzen ihre verfassungsrechtliche Grenze. 6 Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 38 Rn. 51. 7 Der Bundestag wählt den Bundeskanzler (Art. 63 GG) sowie den Wehrbeauftragten (Art. 45b GG, § 13 WBeauftrG) und den Präsidenten des Bundesrechnungshofes (§ 3 BRHG). Zudem wirkt der Bundestag an der Besetzung des BVerfG mit. Über die Entsendung von Abgeordneten in Gremien (Bundesversammlung, Richterwahlausschüsse) nimmt der Bundestag darüber hinaus an der Wahl des Bundespräsidenten (Art. 54 Abs. 1, 3 GG) und der Richter der Obersten Gerichtshöfe (Art. 95 Abs. 2 GG) teil. Schließlich entsendet der Bundestag Abgeordnete in den Vermittlungsausschuss (Art. 77 Abs. 2 S. 2 GG, § 1 BTBRGGO). 8 Klein, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 69. EL (Mai 2013), Art. 38 Rn. 68. 9 BVerfGE 47, 253 (275); 93, 37 (66); 107, 59 (87). 10 Kotzur, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. 5, 2013, § 120 Rn. 11. 11 Für eine Darstellung der einzelnen Grundsätze siehe Voßkuhle/Kaufhold, JuS 2013, 1078; Lampert, JuS 2011, 884. 12 BVerfGE 99, 1 (13). 13 Morlok (Fn. 6), Art. 38 Rn. 56. ÖFFENTLICHES RECHT Zwischen den Wahlrechtsgrundsätzen besteht keine Rangfolge im formellen Sinne.14 Man wird aber sagen können, dass dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl eine überragende Bedeutung zukommt.15 Dieses Gebot fordert, dass alle Staatsbürger ihr Wahlrecht in formal möglichst gleicher Weise ausüben können. Das Wahlrecht des einen darf nicht mehr oder weniger wert sein, als das des anderen. Genauer besagt das Gebot der Gleichheit der Wahl, dass jeder Stimme der gleiche Zählwert und – dies ist das durch einfaches Wahlrecht weitaus schwieriger herzustellende Ziel – der gleiche Erfolgswert zukommt.16 Dies verlangt, dass jede abgegebene gültige Stimme jedenfalls rechtlich die gleiche Chance hat, sich auf die endgültige Zusammensetzung des Parlamentes auszuwirken.17 Der in Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG verankerte besondere Gleichheitssatz ist streng und formal zu verstehen. Dementsprechend sind die Anforderungen an die Rechtfertigung für die Durchbrechung des Wahlrechtsgrundsatzes besonders hoch: Das BVerfG18 betont, dass eine Beeinträchtigung der Wahlgleichheit nur durch einen zwingenden Grund19 gerechtfertigt werden kann.20 Als zwingende Rechtfertigungsgründe kommen grundsätzlich solche in Betracht, die die Funktionen der Wahl selbst sichern sollen. Im Zusammenhang der Rechtfertigung von Sperrklauseln wurde der Sicherung der Funktionsfähigkeit des Parlaments und der Integrationswirkung von Wahlen eine solche Rechtfertigungskraft zugesprochen.21 Auch Beschränkungen der übrigen Wahlrechtsgrundsätze aus Art. 38 Abs. 1 GG sind nur durch zwingende Gründe zu rechtfertigen. Mit der Wahlgleichheit in engem Zusammenhang steht die Allgemeinheit der Wahl, weil auch sie die Egalität der Staatsbürger sicherstellen soll.22 Die Wahl ist allgemein, wenn keine Bevölkerungsgruppen von der Teilnahme ausgeschlossen werden. Damit stellt das Gebot einer allgemeinen Wahl ein besonderes Diskriminierungsverbot dar. Beschränkungen der Allgemeinheit der Wahl haben auch historische Tradition; wenngleich sie nach und nach abgebaut worden sind, bestehen wirksame Beschränkungen der Allgemeinheit der Wahl bis heute fort. So hat das BVerfG etwa das Erfordernis, im Wahlgebiet sesshaft zu sein,23 als verfassungsgemäß erachtet. Eine verfassungsunmittelbare Schranke der Allgemeinheit der 14 BVerfGE 99, 1 (13). Meyer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 3. Aufl. 2005, § 45 Rn. 36, nennt die Wahlrechtsgleichheit den politischsten der Wahlgrundsätze. 16 Krüper, ZRP 2014, im Erscheinen. 17 BVerfGE 95, 335 (353); 120, 82 (103); 121, 266 (295). 18 BVerfGE 1, 208 (249) – ständige Rspr. 19 Etwa in BVerfGE 129, 300 (320); 124, 1, (19); 121, 266 (297), ist die Rede von einem Rechtfertigungsgrund, der der „Wahlgleichheit die Waage halten kann“. Damit meint das Gericht in der Sache dasselbe, vgl. Morlok, JZ 2012, 76 (77 f.); Grzeszick/Lang, Wahlrecht als materielles Verfassungsrecht, 2012, S. 78 ff. 20 Morlok/Kühr, JuS 2012, 385 (388 f.). 21 S. hierzu noch III. 3. c) aa). 22 BVerfGE 99, 1 (13); Klein (Fn. 8), Art. 38 Rn. 90. 23 BVerfGE 58, 202 (205 f.). 15 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 347 AUFSÄTZE Julian Krüper/Hana Kühr Wahl ergibt sich aus dem in Art. 38 Abs. 2 GG festgelegten Mindestwahlalter. Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl fordert, dass sich die Zusammensetzung des Parlamentes allein und ohne jegliche Vermittlung nach dem im Wahlakt entäußerten Willen des Volkes bestimmt. Aktuell geworden ist der Grundsatz in der jüngeren Vergangenheit vor allem im Zusammenhang mit dem sogenannten „negativen Stimmgewicht“, einem mathematischen Paradoxon des Wahlrechts.24 Nach dem Grundsatz der Freiheit der Wahl muss die Willensäußerung bei der Wahl frei von Zwang oder unsachlichen äußeren Einflüssen sein. Außerdem muss den Wahlberechtigten bei der Stimmabgabe eine Auswahl möglich sein; das Angebot einer einzigen Wahlmöglichkeit stellt schon begrifflich keine Wahl dar. Die Geheimheit der Wahl schließlich sichert die Freiheit der Wahl insofern ab, als sie unstatthafte Beeinflussungsversuche auf den Akt der Wahl untersagt.25 Wenn jeder Wähler seine Stimme geheim abgibt, kann er sich eventuellen Zwängen leichter entziehen. Der freiwillige Verzicht eines Wahlberechtigten auf die Geheimheit der Wahl – etwa durch Bekanntgabe seiner Wahlentscheidung – führt so lange nicht zur Unzulässigkeit der Wahl, wie Private die Freiheit anderer Wähler nicht beeinträchtigen. Diese Grenze war etwa im Zusammenhang mit vorab bei Twitter veröffentlichten Wahlergebnissen zu diskutieren.26 Neben den fünf ausdrücklich in der Verfassung genannten Wahlrechtsgrundsätzen existiert ein weiterer, ungeschriebener Grundsatz. Die Öffentlichkeit der Wahl wird aus Art. 38 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 1 und 2 GG abgeleitet.27 Aus diesem Grundsatz folgt, dass der Wahlakt, der der Ursprung staatlicher Gewalt ist, der öffentlichen Kontrolle unterliegt. c) Das Wahlrecht als subjektiv-öffentliches Recht Das durch das Grundgesetz gewährleistete subjektive Wahlrecht ist das wichtigste Partizipationsrecht eines Bürgers im demokratischen Staat. Das Wahlrecht ist ein „politisches Grundrecht“28, weil es das effektivste (und auf Bundesebene auch das einzige) Instrument der Bürger darstellt, um an der politischen Willensbildung teilzuhaben. Dabei ist Art. 38 GG nicht als ein echtes Grundrecht, sondern als ein grundrechtsgleiches Recht zu verstehen, weil es in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG den Grundrechten gleichgestellt wird, ohne aber selbst im Katalog der Grundrechte (Art. 1-19 GG) enthalten zu sein. Das Wahlrecht gliedert sich in ein aktives und ein passives. Das aktive Wahlrecht aus Art 38 Abs. 2, 1. Hs. GG gewährt das Recht zu wählen und Wahlvorschläge zu machen. Das Wahlrecht beschränkt sich also nicht auf den Moment der Stimmabgabe, sondern entfaltet seine Schutzwirkung auch 24 Dazu Krüper, Jura 2013, 1147. Klein (Fn. 8), Art. 38 Rn. 110; Morlok (Fn. 6), Art. 38 Rn. 114. 26 Hierzu ausführlich Hientzsch, DÖV 2010, 357. 27 BVerfGE 123, 39 (68). 28 BVerfGE 1, 208 (242); Morlok (Fn. 6), Art. 38 Rn. 119; Schneider, in: Denninger/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Alternativkommentar Grundgesetz, Bearbeitung 2002, Art. 38 Rn. 74. 25 schon im Vorfeld einer staatlichen Wahl. Das passive Wahlrecht im Sinne des Art. 38 Abs. 2, 2. Hs. GG meint das Recht, selbst zum Abgeordneten gewählt zu werden. Obwohl Art. 38 Abs. 2 GG als individuelles demokratisches Recht konzipiert ist, können sich auch politische Parteien und Wählervereinigungen auf das Wahlrecht berufen, da sie nach dem einfachen Recht Wahlvorschläge einreichen dürfen und damit ein passives Wahlrecht von den durch sie vorgeschlagenen Bewerbern ableiten.29 d) Der Auftrag an den Gesetzgeber aus Art. 38 Abs. 3 GG Die Anordnungen, die das Grundgesetz selbst in Art. 38 GG an staatliche Wahlen stellt, sind wegen ihres hohen Abstraktionsgrades nicht dazu geeignet, dass allein auf ihrer Grundlage tatsächlich Wahlen durchgeführt werden. Insbesondere gibt die Verfassung nicht vor, nach welchem System Wahlen zum Bundestag erfolgen sollen.30 Das insofern offene Verfassungsrecht muss einfachgesetzlich näher ausgeformt werden. Daher überträgt die Verfassung in Art. 38 Abs. 3 GG die Aufgabe der entsprechenden Konkretisierung dem Gesetzgeber. Die Einordnung des Wahlrechts als materielles Verfassungsrecht31 zeigt auf, dass die Ausgestaltung der Wahlrechtsgrundsätze durch den Gesetzgeber zwar nicht formell in der Verfassungsurkunde enthalten, aber inhaltlich dem Verfassungsrecht zuzuordnen ist. Was die Einordnung als materielles Verfassungsrecht konkret bedeutet, insbesondere auch im methodischen Umgang, ist dabei allerdings nicht geklärt. Jedenfalls ist das einfachgesetzliche Wahlrecht inzwischen hochgradig von einer Reihe verfassungsgerichtlicher Maßstäbe geprägt, die sich aus seiner Natur als materielles Verfassungsrecht erklären lassen mögen. Die Regelung des Art. 38 Abs. 3 GG räumt dem Bundesgesetzgeber das Recht ein, das Wahlrecht auszugestalten. Weil es sich aber um einen echten verfassungsrechtlichen Gesetzgebungsauftrag handelt, erlegt dieser dem Gesetzgeber gleichzeitig die Pflicht zur Normierung des Wahlrechts auf. Dabei kommt dem Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum zu, der etwa die Entscheidung für ein Wahlsystem nicht festlegt. Allerdings sind dem Gesetzgebungsauftrag verfassungsrechtliche Grenzen aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG gesetzt. Außerdem muss der Gesetzgeber, sofern er sich für ein Wahlsystem entscheidet, dieses folgerichtig und ohne Systemwidrigkeiten regeln.32 Wie schwierig die Aufgabe ist, ein Wahlverfahren mit einer Beteiligung von knapp 62 Millionen Wahlberechtigten33 zu regeln, belegt die mittlerweile beeindruckende Änderungs29 Klein (Fn. 8), Art. 38 Rn. 143. Anders aber einige Landesverfassungen, die bereits die Entscheidung für ein Wahlsystem (in Grundsätzen) aussprechen, vgl. Art. 28 Verf. BW; Art. 14 Verf. Bayern; Art. 80 Verf. RP; Art. 66 Verf. Saarland. 31 BVerfGE 121, 266 (296). 32 BVerfGE 120, 82 (103 f.); zum Gebot der Folgerichtigkeit Payandeh, AöR 136 (2011), 578. 33 Bei der Bundestagswahl 2013 waren 61.946.900 Deutsche zur Wahl berechtigt, vgl. die Angaben des Bundeswahlleiters: http://www.bundeswahlleiter.de/de/bundestagswahlen/BTW_ BUND_13/ergebnisse/bundesergebnisse/. 30 _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 348 Der Lebenszyklus politischer Parteien – Teil 4/6 historie des BWahlG,34 die zu weiten Teilen von der Verfassungsrechtsprechung angestoßen wurde. 3. Das geltende einfachgesetzliche Wahlsystem auf Bundesebene a) Grundmodelle der Wahlsysteme Es existiert eine quasi unbegrenzte Vielzahl von verschiedenen Wahlsystemen.35 Die relevantesten Grund-Wahlmodelle sind das der Mehrheitswahl und das der Verhältniswahl. Die Mehrheitswahl ist ein Wahlverfahren, bei dem Personen gewählt werden. Es ist dabei diejenige Person gewählt, die entweder die absolute (qualifizierte) oder relative Mehrheit36 der Stimmen auf sich vereinigen konnte. Bei der Verhältniswahl handelt es sich um ein Proportionalwahlsystem, bei dem die zu vergebenden Mandate nach dem Verhältnis der für einen Wahlvorschlagsträger abgegebenen Stimmen vergeben werden. Ziel dieses Systems ist es, dass das so zusammengesetzte Parlament möglichst ein Spiegelbild der politischen Mehrheitsverhältnisse in der Gesellschaft darstellt. Beide Grundmodelle einer Wahl haben in ihrer reinen Form Vor- und Nachteile,37 weshalb sich der Bundesgesetzgeber für eine Kombination in Form der personalisierten Verhältniswahl entschieden hat. b) Die personalisierte Verhältniswahl des BWahlG38 Nach § 1 Abs. 1 S. 2 BWahlG findet die Wahl zum Deutschen Bundestag „nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl“ statt. Dieser Formulierung zufolge handelt es sich bei dem durch das BWahlG geregelten System um ein Verhältniswahlrecht, das durch Elemente der Personenwahl (Mehrheitswahl) ergänzt wird. Die Abgeordneten werden zur einen Hälfte in Wahlkreisen in Form der relativen Mehrheitswahl und zur anderen Hälfte aus sog. starren Landeslisten39 der Parteien nach Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt. Technisch wird diese Verbindung der Wahlsysteme dadurch ermöglicht, dass jeder Wähler zwei Stimmen hat. Mit der Erststimme beeinflusst der Wähler die personelle Zusammensetzung des Parlamentes (relative Mehr34 Zum relativ jungen BWahlG gibt es inzwischen 22 Änderungsgesetze; siehe für einen konkreten Fall Krüper, Jura 2013, 1147. 35 Strelen, in: Schreiber (Begr.), Kommentar zum Bundeswahlgesetz, 9. Aufl. 2013, § 1 Rn. 110. 36 Zum Mehrheitsprinzip als Funktionsregel siehe Krüper, ZJS 2009, 477. 37 Überblick bei Klein (Fn. 8), Art. 38 Rn. 156; Strelen (Fn. 35), § 1 Rn. 116. 38 Das Wahlsystem kann hier nur in seinen Grundzügen dargestellt werden. Zur Vertiefung siehe Strelen (Fn. 35), § 1 Rn. 109 ff.; Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, 7. Aufl. 2014, S. 141 ff.; zusammenfassend Lechleitner, Jura 2002, 602. 39 Die Alternative zu starren Listen sind sog. freie Listen, bei denen die Wähler die Reihenfolge der Bewerber auf einer Parteiliste ändern und unter Hinzuziehung anderer Listen eine „eigene“ Liste erstellen können. ÖFFENTLICHES RECHT heitswahl) und die Zweitstimme entscheidet darüber, wie viele Sitze die Parteien im Parlament erhalten (Verhältniswahl). Die Berechnung des Wahlergebnisses und die Sitzzuteilung erfolgt nach dem in § 6 BWahlG festgelegten Verfahren. Die konkreten Festlegungen des Bundestagswahlrechts führen häufig zu Rechtskonflikten. Insbesondere Überhangmandate und Sperrklauseln sind auch wegen der durch sie veranlassten Verzerrung der Chancengleichheit der Parteien heftig umstritten.40 4. Die Rolle der Parteien bei staatlichen Wahlen a) Parteien als Wahlvorbereitungs- und Willensbildungsorganisationen Die Verfassung überträgt Parteien eine Reihe von Aufgaben.41 Hervorzuheben sind an dieser Stelle die im Kontext von Wahlen stehenden Leistungen von Parteien. Die Parteien sind Wahlvorbereitungsorganisationen, das heißt sie beteiligen sich an staatlichen Wahlen, indem sie diese vorbereiten und durchführen.42 Sie bilden Personal zur Besetzung der staatlichen Ämter heran, nominieren aus ihren Reihen Wahlbewerber, die sich dann zur Wahl stellen. In dieser Aufgabe erschöpft sich die wahlbezogene Funktion der Parteien – mittlerweile auch nach Auffassung des BVerfG – jedoch nicht. Denn ein wesentlicher Beitrag der Parteien im Zusammenhang mit Wahlen ist, dass sie den Bürgern einen wirksamen Einfluss auf staatliche Entscheidungen ermöglichen, indem sie sie freiwillig zu politischen Handlungseinheiten bündeln.43 Die dauernde Einflussnahme der Parteien auf die politische Willensbildung des Volkes wirkt sich auch bei staatlichen Wahlen aus. b) Das privilegierte Wahlvorschlagsrecht der Parteien nach dem BWahlG Bereits aus dem verfassungsrechtlichen Gebot der Wahlfreiheit ergibt sich, dass es auch ein freies Wahlvorschlagsrecht für alle an der Wahl Beteiligten geben muss.44 Für die politischen Parteien folgt das Wahlvorschlagsrecht aus der Gewährleistung der Parteienfreiheit in Art. 21 Abs. 1 GG. Das Vorschlagsrecht steht sowohl den Parteien (§§ 18 Abs. 1, 2 BWahlG) als auch den Wahlberechtigten (§§ 18 Abs. 1, 20 BWahlG) zu. Politische Parteien können sowohl in jedem Wahlkreis Wahlkreisvorschläge (§ 18 BWahlG) als auch in jedem Land Vorschläge für die Wahl nach Landeslisten (§ 27 Abs. 1 BWahlG) einreichen. Letztere Möglichkeit ist Nicht-Parteien verwehrt. Grund für diese Unterscheidung ist, dass eine Liste von Wahlbewerben ein gewisses Maß an Kohärenz aufweisen muss, die der Gesetzgeber in der einheitlichen politischen 40 Diese wahlrechtlichen Konflikte werden im folgenden Beitrag thematisiert. 41 Vgl. Krüper/Kühr ZJS 2014, 143 (144 ff.). 42 BVerfGE 8, 51 ff. In dieser Entscheidung sah das BVerfG die Wahlvorbereitung noch als hauptsächliche Aufgabe der Parteien an. 43 BVerfGE 85, 264 (284). 44 BVerfGE 41, 399 (417); 47, 253 (282); 89, 243 (251). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 349 AUFSÄTZE Julian Krüper/Hana Kühr Überzeugung einer Partei als gewährleistet angesehen hat.45 Auf der Landesliste einer Partei werden deren Landeslistenbewerber, die innerparteilich nominiert wurden, in einer bestimmten, ebenfalls von der Partei festgelegten Reihenfolge aufgeführt. Die Reihenfolge der Bewerber entscheidet darüber, wer einen Sitz im Bundestag erhält, weil sich die Sitzzuteilung an der Abfolge auf der Landesliste orientiert. Je weiter ein Kandidat oben auf der Liste steht, desto wahrscheinlicher ist es, dass er einen Sitz im Bundestag erhält. Auch bei einem Nachrücken für einen ausgeschiedenen Abgeordneten wird die Reihenfolge der entsprechenden Landesliste berücksichtigt. Die Zahl der Bewerber auf einer Liste ist gesetzlich nicht vorgegeben, es existiert weder eine Obernoch eine Untergrenze. Große Parteien werden zweckmäßigerweise mehr Kandidaten auf die Liste wählen als kleine Parteien, bei denen von vornherein klar ist, dass ihr Wahlerfolg nicht erlauben wird, eine Vielzahl von Abgeordneten in das Parlament zu senden. Ist eine Liste aber „abgearbeitet“, weil eine Partei etwa nur wenige Kandidaten nominiert hat, aber wider Erwarten einen großen Wahlerfolg erzielte, so besteht eine Möglichkeit der Nachnominierung nicht, wenn etwa bei vorzeitigem Ausscheiden Nachrücker bereitstehen müssten. Dabei handelt es sich allerdings nur um ein eher theoretisches Problem. Bei der Bundestagswahl sind die Wähler an die von den Parteien gewählten Reihenfolgen der Kandidaten gebunden, das heißt sie können weder verschiedene Listen miteinander verbinden, noch die Rangfolge auf einer Liste verbinden. Der Bundesgesetzgeber hat sich – anders als einige Landesgesetzgeber im Kommunalwahlrecht – für sog. starre Listen entschieden. Politische Parteien dürfen ihr Vorschlagsrecht nur einzeln ausüben. Das gilt sowohl für die Wahlkreisvorschläge als auch für die Landeslisten. Ausgeschlossen ist es also, dass zwei oder mehrere Parteien einen gemeinsamen Kreiswahlvorschlag oder eine gemeinsame Landesliste einreichen. Unbenommen ist es ihnen jedoch, untereinander taktische Absprachen dergestalt zu treffen, dass sie jeweils zugunsten der anderen Partei nur in bestimmten Wahlkreisen Kandidaten aufstellen.46 Das Wahlvorschlagsrecht der Parteien ist stärker als das der übrigen Vorschlagsberechtigten. Den politischen Parteien wird aufgrund der recht hohen Anforderungen an Kreiswahlvorschläge der anderen Wahlvorschlagsträger in § 20 Abs. 3 BWahlG eine Bevorzugung zuteil. Andere Wahlvorschläge – also diejenigen, die nicht von politischen Parteien eingereicht werden – können danach nur durch eine Gruppe von mindestens 200 Wahlberechtigten des Wahlkreises eingereicht werden. Im Ergebnis ist es damit für einen parteilosen Wahlbewerber erheblich schwieriger, ein Bundestagsmandat zu erringen.47 Wahlbewerber können zudem nur Kreiswahlvorschläge einreichen, während politischen Parteien nach § 27 BWahlG das Monopol zukommt, Landeslisten zu bilden. Das Privileg, das den Parteien hier zuteil wird, erklärt sich aus ihrer herausgehobenen verfassungsrechtlichen Stellung und ihrer Funktion der Interessenbündelung. Die Regelungen zum Wahlvorschlagsrecht im BWahlG gehen davon aus, dass die organisatorische Verfestigung der Parteien bereits hinreichend die Relevanz der von ihnen durch eine Kandidatur beförderten Zwecke dokumentiert. Ökonomisch gewendet zeigt sich, dass der Zugang zur Wahl als Kandidat eine knappe Ressource ist, wenn die Wahl nicht wegen Zersplitterung des Kandidatenpanoramas dysfunktionale Ergebnisse produzieren soll. Die Beschränkung des Wahlzugangs ist damit zwar eine Einschränkung des passiven Wahlrechts, zugleich aber fördert sie erheblich eine effektive Verwirklichung der Allgemeinheit der Wahl: Unter der Voraussetzung nämlich, dass auf ein zersplittertes Kandidatenfeld eine Sperrklausel Anwendung findet, droht eine Vielzahl von Stimmen wirkungslos zu werden. Davon profitierten wiederum die wenigen großen Parteien, für die die Sperrklausel keine Hürde ist, wodurch diese in der Folge völlig überrepräsentiert wären. Einen „Vorgeschmack“ einer solchen Entwicklung hat die Bundestagswahl 2013 geboten, bei der rund 15 % aller abgegebenen Stimmen nicht mandatsrelevant geworden sind. 45 48 Hahlen, in: Schreiber (Fn. 35), § 27 Rn. 2. Hahlen (Fn. 45), § 18 Rn. 16. 47 Hahlen (Fn. 45), § 21 Rn. 1; Seifert, Die politischen Parteien im Recht der Deutschen Bundesrepublik, 1975, S. 335. 46 c) Kandidatennominierung durch die Parteien Die Bewerber einer Partei – seien es die Wahlkreisbewerber oder die Listenkandidaten – kommen nicht zufällig zu ihrer Kandidatur. Das Gesetz sieht in §§ 17 PartG, 21, 27 Abs. 5 BWahlG vor, dass die innerparteiliche Nominierung durch eine Abstimmung eines Parteigremiums erfolgen muss. Damit soll verhindert werden, dass Kandidaturen in einer Partei „unter der Hand“ vergeben werden. Zwar handelt es sich bei der Kandidatenaufstellung in Parteien nicht um Wahlen im verfassungsrechtlichen Sinne, weil Parteien private Organisationen sind. Die innerparteilichen Wahlen bewirken jedoch eine wichtige Vorprägung der staatlichen Parlamentswahlen. Die innerparteiliche Kandidatenaufstellung ist aus zwei Perspektiven zu sehen: Einerseits stellt sie eine innerorganisatorische Wahl dar, die ebenfalls von der Parteienfreiheit des Art. 21 Abs. 1 GG geschützt ist und daher grundsätzlich nach Maßgaben der jeweiligen Partei durchgeführt werden darf. Die Heranbildung von Personal und auch dessen Auswahl ist grundsätzlich eine interne Angelegenheit der Parteien. Andererseits prägt diese Wahl, obwohl sie innerhalb einer Partei und nicht zwischen Parteien stattfindet, die staatlichen Wahlen entscheidend vor. Denn aufgrund des soeben in Grundzügen beschriebenen Wahlsystems des BWahlG entscheiden faktisch die Parteien darüber, aus welchen Personen sich das spätere Parlament zusammensetzen wird. Das Recht der Kandidatennominierung nimmt daher auch eine Zwischenstellung zwischen Parteien- und Wahlrecht ein; überwiegend wird vertreten, dass der Schwerpunkt im Wahlrecht liegt.48 Damit die staatlichen Wahlen von Beginn an als demokratisch zu qualifizieren sind, müssen auch die Kandidatenaufstellungen ein Minimum an demokratischen Anforderungen wahren. Für die innerparteilichen Wahlen gilt ein KernbeHahlen (Fn. 45), § 21 Rn. 6; Morlok, Parteiengesetz, Nomos-Erläuterungen zum deutschen Bundesrecht, 2. Aufl. 2013, § 17 Rn. 3; Lenski, Parteiengesetz und Recht der Kandidatenaufstellung, Handkommentar, 2011, BWahlG, Rn. 2 f. _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 350 Der Lebenszyklus politischer Parteien – Teil 4/6 stand demokratischer Grundsätze.49 Ein undemokratisch zustande gekommener Wahlvorschlag einer Partei kann nicht den Anfang einer ununterbrochenen demokratischen Legitimationskette staatlicher Gewalt bilden. Ein erheblicher demokratischer Mangel „infiziert“ den gesamten Prozess einer staatlichen Wahl.50 Die Wahlgrundsätze aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG gelten daher auch im Vorfeld der Wahlen für Kandidatennominierungen. Weil die Bewerberaufstellung aber auch ein wichtiger Akt innerparteilicher Entscheidungsfindung ist, sind die Demokratieanforderungen hieran durch Art. 21 Abs. 1 GG begrenzt. Das bedeutet, dass den Parteien keine strikte Pflicht zur Vermeidung aller denkbaren Abstimmungsfehler aufzuerlegen ist. Vielmehr müssen die Parteien bei Durchführung der innerparteilichen Wahlen „rechtlich mögliche und ihnen zumutbare organisatorische Maßnahmen“51 vornehmen. Praktisch bedeutet dieser insoweit reduzierte Demokratiemaßstab, dass beispielsweise die bei staatlichen Wahlen erforderlichen Wahlurnen und -kabinen bei innerparteilichen Wahlen von einer Partei nicht zur Verfügung gestellt werden müssen.52 Die Kandidatenauswahl ist eine Aufgabe der Parteien im Sinne des § 1 Abs. 2 PartG und wird in § 17 PartG geregelt. Diese Vorschrift stellt nur zwei echte Anforderungen an die parteiinterne Nominierung von Wahlbewerbern: Sie muss erstens eine Abstimmung sein, die zweitens geheim stattzufinden hat. Diese Minimalvoraussetzungen werden wegen der beschriebenen Bedeutung der Kandidatennominierung für die staatlichen Wahlen von der Verfassung insofern überlagert, als die Kandidatenwahl im Grundsatz auch insbesondere frei, gleich und allgemein sein muss. In § 21 BWahlG werden Anforderungen an die Person des Bewerbers und die Durchführung der innerparteilichen Abstimmung gestellt und die örtliche Zuständigkeit für diese geregelt. Die Wahl kann entweder durch eine Mitgliederversammlung oder eine Vertreterversammlung der Parteien erfolgen. Nach § 21 Abs. 5 BWahlG sind die Parteien aufgefordert, die gesetzlichen Vorgaben zur der Kandidatenwahl in ihren Satzungen zu ergänzen. Dadurch haben sich in der Parteienpraxis verschiedene besondere Regelungen entwickelt, die kritisch betrachtet werden. Hierzu zählen insbesondere von den Parteien satzungsmäßig festgelegte Geschlechterquoten, die üblicherweise Frauenquoten53 sind. ÖFFENTLICHES RECHT 5. Rechtsschutz der Parteien im Wahlrecht a) Nichtzulassungsbeschwerde Im Vorfeld einer Wahl kann eine nicht durch den Wahlausschuss zugelassene Partei um Rechtschutz im Wege einer Nichtzulassungsbeschwerde gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4c GG, § 18 Abs. 4a BWahlG, §§ 13 Nr. 3a, 96a ff. BVerfGG nachsuchen.54 Insbesondere – und dies war überwiegend die nicht genommene Hürde zahlreicher Anträge von Vereinigungen beim BVerfG – ist hierfür die viertägige Beschwerdefrist gemäß § 96 Abs. 2 BVerfGG ab Bekanntgabe der Entscheidung des Bundeswahlausschusses zu wahren. Hat der Antrag Erfolg, hebt das BVerfG die Entscheidung des Bundeswahlausschusses (§ 18 Abs. 4 S. 2 BWahlG) auf und erkennt die Vereinigung selbst als wahlvorschlagsberechtigte Partei zur Wahl an.55 b) Wahlprüfungsbeschwerde Das Wahlprüfungsverfahren ist zweistufig ausgestaltet. In einem ersten Schritt entscheidet der Bundestag nach entsprechendem Einspruch (Art. 41 Abs. 1 GG, § 2 WahlPrG) über die Zulässigkeit einer Bundestagswahl. Gegen die Entscheidung des Bundestages kann dann in einem zweiten Schritt eine Wahlprüfungsbeschwerde zum BVerfG (Art. 41 Abs. 2 GG, §§ 13 Nr. 3, 48 BVerfGG) erhoben werden.56 Diese Beschwerde dient hauptsächlich dem Schutz objektiven Wahlrechts und ist daher als ein objektives Verfahren ausgestaltet.57 Subjektiver Rechtsschutz – auch derjenige der Parteien – wird hierdurch lediglich als Nebenfolge gewährt.58 Bei Erfolg der Beschwerde erklärt das BVerfG die angegriffene Bundestagswahl (teilweise) für ungültig und ordnet eine (teilweise) Neuwahl an. Die Beschwerdebefugnis ist in § 48 BVerfGG enger gefasst als die Einspruchsberechtigung im Wahlprüfungsverfahren beim Bundestag auf der ersten Stufe gem. § 2 Abs. 2 WahlPrG. Danach sind Abgeordnete, deren Mitgliedschaft bestritten ist, eine wahlberechtigte Person oder eine Gruppe von wahlberechtigten Personen, deren Einspruch vom Bundestag verworfen worden ist, eine Fraktion oder eine Minderheit des Bundestages von mindestens 10 % der gesetzlichen Mitgliederzahl beschwerdeberechtigt. Politische Parteien sind als solche also nicht unmittelbar befugt, eine Wahlprüfungsbeschwerde zu erheben. Dies ist allerdings deshalb nicht zu beanstanden, weil es einem einzelnen Parteimitglied offen steht, die Beschwerde in eigenem Namen zu erheben.59 Die Parteien können daher vermittelt über ein oder mehrere 54 49 BVerfGE 89, 243 (252); Werner, Gesetzesrecht und Satzungsrecht bei der Kandidatenaufstellung politischer Parteien, 2010, S. 57 ff. 50 In BVerfGE 89, 243 erklärte das BVerfG wegen der Verletzung elementarer Wahlgrundsätze bei der innerparteilichen Kandidatenaufstellung eine Wahl teilweise für ungültig. 51 BVerfGE 89, 243 (257); Morlok, NVwZ 2012, 913 (914 f.). 52 Saarl. VerfGH NVwZ-RR 2012, 169 (175). 53 Hierzu Lenski (Fn. 48), § 21 BWahlG Rn. 84 ff.; Hahlen, RuP 2013, 151 ff. Zu dem 2012 neu geschaffenen Rechtsmittel siehe Bechler/ Neidhardt, NVwZ 2013, 1438; Klein, DÖV 2013, 584; Beispielsfall bei Krüper/Kühr, ZJS 2014, 143 (147). 55 Siehe BVerfG, Beschl. v. 23.7.2013 – 2 BvC 3/13. 56 Aktuelle Fallbearbeitung zur Wahlprüfungsbeschwerde bei Kircher u.a., Jura 2014, 436. 57 Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/ Bethge (Hrsg.), BVerfGG, Kommentar, Bearbeitung 2006, § 48 Rn. 26. 58 Löwer, in: Isensee/Kirchhof (Fn. 15), § 70 Rn. 159. 59 Oliver Klein, in: Benda/Klein (Hrsg.), Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rn. 1246. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 351 AUFSÄTZE Julian Krüper/Hana Kühr ihrer Mitglieder die Gültigkeit einer Bundestagswahl überprüfen lassen. Voraussetzung für den Erfolg einer Beschwerde nach § 48 BVerfGG ist, dass die zur Überprüfung gestellte Bundestagswahl an einem mandatsrelevanten Fehler leidet. Als mögliche Fehler prüft das BVerfG nur solche Verstöße gegen objektives Wahlrecht, die bereits im Einspruchsverfahren beim Bundestag vorgetragen wurden. Allerdings kann das BVerfG auch die Verfassungsmäßigkeit des angewandten Wahlgesetzes selbst überprüfen, während sich die Kompetenz des Bundestages in der Prüfung erschöpft, ob geltendes Wahlrecht ordnungsgemäß angewendet wurde.60 Insofern enthält die Wahlprüfungsbeschwerde eine inzidente Normenkontrolle.61 Regelmäßig bleiben die Wahlprüfungsbeschwerden allerdings folgenlos. c) Organstreit Anders als die Wahlprüfungsbeschwerde steht das Organstreitverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG den Parteien selbst offen. Will eine Partei die Verletzung ihres verfassungsrechtlichen Status durch ein Wahlverfahren rügen, ist für dieses Begehren ein Antrag auf Eröffnung des Organstreitverfahrens das statthafte Rechtsmittel. Die Parteifähigkeit der politischen Parteien in diesem kontradiktorischen Verfahren liegt jedenfalls nach dem Wortlaut des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG zunächst nicht auf der Hand. Nach dem im Vergleich zu § 63 BVerfGG weiter gefassten Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG62 kommen drei Gruppen von Antragsberechtigten in Betracht: oberste Bundesorgane, mit eigenen Rechten ausgestattete Teile dieser Organe und andere Beteiligte, die durch das Grundgesetz oder die GOBT mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Politische Parteien sind weder oberste Bundesorgane noch Teile dieser Organe, sodass sie nur der Gruppe der anderen Beteiligten zugerechnet werden können.63 Auch wenn die Parteien Organisationen des Privatrechts sind, stehen sie wegen ihres besonderen in Art. 21 Abs. 1 GG gewährleisteten Status so sehr in der Nähe der staatlichen Sphäre, dass ihnen der Rechtsschutz durch den Organstreit ebenfalls zuzugestehen ist. Das Organstreitverfahren ist allerdings nur dann statthaft, wenn und soweit eine Partei ihren spezifischen Status aus Art. 21 Abs. 1 GG verteidigen möchte. Dies ist etwa der Fall, wenn um Rechtsschutz nachgesucht werden soll, weil die formelle Wahlgleichheit verletzt wurde.64 Geht es um spezielle Grundrechte, die auch einer politischen Partei zustehen können, so ist die Verfassungsbeschwerde zu wählen. Soll ein Fehler im Wahlverfahren gerügt werden, ist die Wahlprüfungsbeschwerde als spezielleres Rechtsmittel vorrangig, vgl. § 49 BWahlG. 60 Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rn. 779. 61 Oliver Klein (Fn. 58), Rn. 1242. 62 § 63 BVerfGG ist wegen des Vorrangs der Verfassung dahin auszulegen, dass auch andere Beteiligte im Organstreitverfahren antragsberechtigt sind. 63 Morlok/Michael, Staatsorganisationsrecht, 2013, Rn. 1027. 64 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Fn. 57), Bearbeitung 2012, § 63 Rn. 62. d) Verfassungsbeschwerde Politische Parteien sind nach Art. 19 Abs. 3 GG Träger derjenigen Grundrechte, die ihrem Wesen nach auf sie anwendbar sind, ohne dass es auf ihre Organisationsform ankommt.65 Sofern der Schutzbereich eines speziellen Grundrechts eröffnet ist, geht dieses Grundrecht der Parteienfreiheit aus Art. 21 Abs. 1 GG in der Anwendung vor. Sowohl im Rahmen der allgemeinen Tätigkeit einer Partei als auch im spezifischen Zusammenhang mit der Beteiligung an Wahlen können die einer Partei zustehenden Grundrechte verletzt sein. So kann es passieren, dass eine Partei in ihrer Meinungsfreiheit beschränkt wird oder keinen gleichberechtigten Zugang zu einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt erhält.66 In diesen Fällen kann eine politische Partei Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG) erheben. Das Recht der Parteien aus Art. 21 Abs. 1 GG ist hingegen kein Grundrecht oder grundrechtsgleiches Recht, weil es schlicht nicht im Katalog des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG aufgeführt wird. Will eine politische Partei also etwa einen Chancengleichheitsverstoß rügen, so ist hierfür der Organstreit der richtige Verfahrensweg.67 IV. Nach dem Wahlerfolg: Die Arbeit der Parteien im Parlament Ist es einer Partei gelungen, einen Wahlerfolg insofern zu erzielen, als sie eigene Mitglieder in das Parlament entsenden darf, so findet ab diesem Zeitpunkt das Parlamentsrecht im weiteren Sinne Anwendung. Dieses steuert insbesondere das Verhältnis zwischen einem parteiangehörigen Abgeordneten und seiner Partei. Zudem schließen sich innerhalb eines Parlaments Abgeordnete der gleichen Partei regelmäßig zu Fraktionen zusammen. Für Fraktionen gelten besondere rechtliche Anforderungen, die strikt von den Regeln für politische Parteien zu unterscheiden sind. 1. Das freie Mandat der Abgeordneten Erringt ein Parteimitglied ein Abgeordnetenmandat, geht damit ein grundlegend anderer und besonders wertvoller Status in der demokratischen Sphäre einher. Die Stellung des Abgeordneten ist von der Verfassung so konzipiert, dass in dieser Position – in Auseinandersetzung mit den anderen Mitgliedern des Parlamentes – der intensivste Einfluss auf verbindliche staatliche Entscheidungen geübt werden kann. Zur Erfüllung der herausragenden Funktion der Abgeordneten für die parlamentarische Demokratie kann sich der einzelne auf die Gewährleistungen des freien Mandates aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG berufen. Dieser besondere Rechtsstatus hat auch und gerade Auswirkungen auf die Beziehung zwischen einem parteiangehörigen Mandatsträger und seiner Partei. 65 Streinz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 6. Aufl. 2010, Art. 21 Rn. 188, mit einer Aufzählung der auf politische Parteien anwendbaren Grundrechte. 66 BVerfGE 7, 99; 47, 198; 82, 54. 67 Bethge (Fn. 64), Bearbeitung 2013, § 90 Rn. 96. _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 352 Der Lebenszyklus politischer Parteien – Teil 4/6 Das freie Mandat ist ein grundrechtsgleiches Recht (vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) und gewährt einem Abgeordneten in erster Linie das Recht, seine Arbeit allein an eigenen Überzeugungen und damit unabhängig von äußeren Einflüssen auszurichten. Weder Vorgaben einer Partei noch denen einzelner Wähler oder gesellschaftlicher Interessengruppen muss ein Abgeordneter Folge leisten. Gerade Steuerungsversuchen der eigenen Partei kann sich der Abgeordnete unter Berufung auf sein freies Mandat erwehren. Das freie Mandat aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG verbietet aber nicht jegliche Wechselwirkung zwischen einem Abgeordneten und politischen Parteien. Es kann durchaus Teil der eigenen Überzeugung des in der Regel parteiangehörigen Abgeordneten sein, die Auffassungen der eigenen Partei auch in die parlamentarische Arbeit zu transportieren. Schließlich hat sich ein solcher Abgeordneter ursprünglich auch aus freien Stücken seiner Partei angeschlossen. Auch für andere Interessengruppen darf ein Abgeordneter offen sein, denn das Parlament ist Vertreter des ganzen Volkes. Die Verfassung konzipiert den einzelnen Abgeordneten als ein „sozial integriertes Individuum“68. Wichtig für ein materiell freies Mandat im Sinne des Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG ist nur, dass ein Abgeordneter grundsätzlich von allen Seiten gleichermaßen beeinflussbar ist.69 Das freie Mandat verbietet die faktischen Wechselwirkungen zwischen Abgeordneten nicht. Zur Absicherung des freien Mandates flankiert es die Verfassung ausdrücklich mit einer Reihe besonderer Gewährleistungen. Diese sind persönliche Schutzrechte70 des Abgeordneten, die diesem zwar subjektiv zugute kommen, letztendlich aber die objektive Sicherung der Funktion eines freien Abgeordneten bezwecken. Hierzu zählen die Indemnität und die Immunität (Art. 46 GG), das Zeugnisverweigerungsrecht nach (Art. 47 GG), das Recht auf amtsangemessene Alimentierung (Art. 48 Abs. 3 GG), das Verbot der Hinderung an der Mandatsausübung (Art. 48 Abs. 2 GG) sowie für Bewerber das Recht, Urlaub zur Wahlvorbereitung zu nehmen (Art. 48 Abs. 1 GG). Neben diesen auf die Person des Abgeordneten in seiner Funktion als Mandatsträger gerichteten Rechten folgt aus der Gewährleistung des Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG eine Reihe von Einzelgewährleistungen. Diese beziehen sich konkreter auf die Arbeit des Abgeordneten im Parlament. Hierzu sind das Stimmrecht, das Antrags- und Wahlvorschlagsrecht, das Rederecht, das Frage- und Informationsrecht sowie das Recht auf Bildung von Zusammenschlüssen des Abgeordneten zu zählen.71 Im Verhältnis zu „seiner“ Partei entfaltet das freie Mandat aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG für den Abgeordneten eine Absenkung des Rechtfertigungsdruckes. Folgt er im Rahmen seiner parlamentarischen Arbeit einmal der Parteilinie nicht oder 68 Stolleis, VVDStRL 44 (1986), 7 (16). Morlok/Krüper, NVwZ 2003, 273 (274). 70 Magiera, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 6. Aufl. 2011, Art. 38 Rn. 69. 71 Morlok (Fn. 6), Art. 38 Rn. 149 f. 69 ÖFFENTLICHES RECHT widersetzt er sich unzulässigem Fraktionszwang72, hat dies keine Konsequenzen in Bezug auf sein parlamentarisches Mandat. Das freie Mandat kann einem Abgeordneten weder durch einen Ausschluss aus der Partei noch aus der Fraktion entzogen werden. Auch der zwischen Wahl und Zusammentritt eines Parlamentes stattfindende Wechsel zu einer anderen Partei berührt den Bestand des Abgeordnetenmandates nicht.73 2. Der Zusammenschluss zu Fraktionen a) Existenzgrund der Parlamentsfraktionen Fraktionen sind zentrale Organisationseinheiten des Parlamentes, weil sie die parlamentarische Arbeit auf vielfache Weise erleichtern und fördern.74 Sie werden daher auch als „politisches Gliederungsprinzip für die Arbeit des Bundestages“75 bezeichnet. Die Bildung von Fraktionen ist sinnvoll und notwendig, weil der Entscheidungsfindungsprozess im Parlament vorbereitet und geordnet werden muss. Denn bei einer gesetzlichen Zahl von 58976 Abgeordneten im Bundestag ist es fast nicht vorstellbar, wie die Vielzahl divergierender Auffassungen in angemessener Zeit zu einer Entscheidung führen soll, wenn sich die Abgeordneten nicht untereinander verständigen. Fraktionen leisten zur Strukturierung der Parlamentsarbeit einen wesentlichen Beitrag dadurch, dass sie politische Überzeugungen der Bundestagsabgeordneten bündeln und die Arbeitsteilung der Abgeordneten organisieren.77 Außerdem nehmen die Zahl der vom Bundestag zu treffenden Entscheidungen und teilweise auch die Komplexität der zu entscheidenden Fragen zu. Die Funktionen des Parlamentes als Gesamtrepräsentationsorgan können daher nur erfüllt werden, wenn die einzelnen Abgeordneten in die Lage versetzt werden, eine eigene Überzeugung im Sinne des Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG auszubilden. Innerhalb einer Fraktion kann spezieller Sachverstand generiert und die Fülle von Sachfragen strukturiert werden, weil diese als Zusammenschluss einer Vielzahl von Abgeordneten auf mehr Ressourcen (personeller wie finanzieller Art) zurückgreifen kann. Grund für die Bildung von Fraktionen im Parlament ist daher zusammengefasst ihre Mitwirkungs- und Koordinierungsfunktion, die die Arbeit der Abgeordneten unterstützt.78 Allerdings erschöpft sich die Leistung der Fraktionen auch in der Mitwirkung an den Aufgaben des Parlamentes, wie auch der Wortlaut des § 47 Abs. 1 AbgG klarstellt. Nicht die Fraktionen, die jeweils nur einen Teil der 72 N. Achterberg/M. Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 65), Art. 38 Rn. 41. 73 VerfGH Saarland NVwZ-RR 2013, 825. 74 Überblick über die Aufgaben und Funktionen von Fraktionen bei Bäcker, Der Ausschluss aus der Bundestagsfraktion, 2011, S. 17 ff.; siehe auch Hölscheidt, Das Recht der Parlamentsfraktionen, 2001, S. 246 ff. 75 BVerfGE 80, 188 (Leitsatz 3b, 219). 76 § 1 Abs. 1 S. 1 BWahlG. 77 BVerfGE 118, 277 (329). 78 Butzer, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), Beck‘scher OnlineKommentar zum Grundgesetz, 20. Edition 2014, Art. 38 Rn. 143. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 353 AUFSÄTZE Julian Krüper/Hana Kühr politischen Auffassungen vertreten, sondern das Parlament in seiner Gesamtheit repräsentiert das Volk.79 er als Mitglied einer Fraktion seinen Überzeugungen leichter und effektiver zur Geltung verhelfen kann. b) Die Bildung von Fraktionen Die Voraussetzungen für die Gründung einer Fraktion beschreibt § 10 Abs. 1 GOBT.80 Danach muss der Zusammenschluss eine Mindeststärke von 5 % der Mitglieder des Bundestages aufweisen.81 Hintergrund dieser formalen Voraussetzung ist wie bei den Sperrklauseln das Ziel, die Funktionsfähigkeit des Parlamentes zu sichern. In der Mindestzahl der Fraktionsmitglieder ist jedoch trotz der neuesten Rechtsprechung des BVerfG zu wahlrechtlichen Sperrklauseln82 keine verfassungswidrige Regelung zu sehen. Denn das Gebot der Wahlrechtsgleichheit gilt nur für die Wahl selbst, nicht aber die Arbeit eines gewählten Abgeordneten im Parlament.83 Darüber hinaus müssen die Fraktionsmitglieder der gleichen Partei angehören. Wegen des Diskontinuitätsgrundsatzes endet die Existenz einer Fraktion mit dem Ende einer Legislaturperiode.84 Die Abgeordneten sind natürlich nicht gezwungen, sich einer Fraktion anzuschließen; Fraktionen werden freiwillig gebildet.85 Dies gewährleistet zum einen das freie Mandat aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG. Zum anderen repräsentiert das Parlament das Volk als Ganzes, weshalb alle Abgeordneten in gleicher Weise an der Parlamentsarbeit mitwirken können müssen – unabhängig davon, ob sie einer Fraktion angehören oder nicht.86 Gleichsam ist der Fortbestand des Abgeordnetenmandates nicht von der Zugehörigkeit zu einer Fraktion betroffen. Einem fraktionslosen Abgeordneten stehen die gleichen Rechte zu wie demjenigen, der sich einer Fraktion angeschlossen hat. Rein tatsächlich ist der Anschluss an eine Fraktion jedoch für den einzelnen Abgeordneten ratsam, weil c) Der rechtliche Status der Fraktionen Das Grundgesetz enthält sich einer aussagekräftigen Vorgabe zur Rechtsstellung der Fraktionen. Lediglich in Art. 53a Abs. 1 S. 2 GG werden die Fraktionen beiläufig erwähnt. Richtigerweise dürfte der Status der Fraktion aus dem freien Mandat der Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG herzuleiten sein.87 Fraktionen sind Zusammenschlüsse von ausschließlich Abgeordneten, die sich freiwillig und in Ausübung ihres freien Mandates entschlossen haben, eine solche Organisationseinheit zu gründen. Die Fraktionen leiten ihre Rechte daher von denen der einzelnen Abgeordneten ab, sie haben keine originären eigenen Rechte.88 Das bedeutet, dass ihre Befugnisse, aber auch ihre Verpflichtungen nicht weiter reichen können als die der Abgeordneten. Ihre eigenen Angelegenheiten dürfen die Fraktionen wegen des freien Mandates der sie bildenden Abgeordneten selbstständig regeln. Sie haben sich zu diesem Zweck eine Geschäftsordnung zu geben. Die Fraktionen haben einen Anspruch auf staatliche Finanzierung,89 mit deren Hilfe sie die Aufgabe der Unterstützung der Parlamentsarbeit erfüllen können. Über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel müssen die Fraktionen Rechenschaft ablegen.90 Die staatliche Finanzierung von parlamentarischer Arbeit über die Diäten hinaus ist ein Privileg der Fraktionen; fraktionslose Abgeordnete haben keinen Anspruch auf entsprechende Zuschüsse. 79 Bäcker, Parl Beilage 2012, Nr. 38-39, 43 (44). Die rechtliche Regelung der Fraktionen überlässt § 45 Abs. 2 AbgG der Geschäftsordnung des Bundestages. 81 Erreicht eine Mehrzahl von Abgeordneten diese Anzahl nicht, kann sie sich zu einer Gruppe gem. § 10 Abs. 4 GOBT zusammenschließen. 82 Mit Urteil vom 26.2.2014 (BVerfG NVwZ 2014, 439) hat das BVerfG die im Europawahlrecht bisher geltende 3%Hürde für verfassungswidrig und die Vorschrift des § 2 Abs. 7 EuWG für nichtig erklärt. Kurz zuvor, im Jahr 2011, hatte es die vorige 5 %-Sperrklausel für nichtig erklärt, BVerfGE 129, 300. Sperrklauseln im Kommunalwahlrecht wurden bereits ebenfalls für verfassungswidrig erklärt, vgl. BVerfGE 120, 82; VerfGH NRW NVwZ 2009, 449. 83 So bereits BVerfGE 96, 264 (279), an dieser Bewertung der Wirkung der Wahlgleichheit ändert die neuere Rspr. zur Verfassungswidrigkeit der Sperrklauseln nichts. 84 § 54 Abs. 1 Nr. 3 AbgG. 85 Dies folgt auch einfachgesetzlich aus dem Wortlaut des § 45 Abs. 1 AbgG. Zur Rechtsstellung eines fraktionslosen Abgeordneten BVerfGE 80, 188. 86 Klein (Fn. 8), Art. 38 Rn. 221. Ausführlich zum Ausschluss eines Abgeordneten aus einer Bundestagsfraktion vgl. Bäcker (Fn. 74), S. 163 ff. 80 d) Strikte rechtliche Unterscheidung von politischen Parteien Da die politische Homogenität der Mitglieder wesentliches Charakteristikum der Fraktionen ist, können die Fraktionen rein tatsächlich als „Parteien im Parlament“91 bezeichnet werden. In den Fraktionen hat die Entwicklung der politischen Parteien in Deutschland ihren Anfang genommen. Auch heute bestehen zahlreiche faktische Verflechtungen zwischen den politischen Parteien und Parlamentsfraktionen.92 In der Regel haben Mitglieder eines Fraktionsvorstandes auch entsprechende Positionen in der jeweiligen Partei auf Bundesebene. Weil die Parteien ein besonders starkes Wahlvorschlagsrecht haben, bestimmen sie die personelle Besetzung des Parlamentes und damit auch die möglichen Mitglieder der Fraktionen entscheidend vor. Gleiche inhaltliche Überzeugungen in den Parteien und entsprechenden Parlaments- 87 Badura, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Fn. 4), Drittbearbeitung 2008, Art. 38 Rn. 89. Für einen Überblick über verschiedene Ansätze der rechtlichen Verankerung des Status der Fraktionen siehe Hölscheidt (Fn. 74), S. 237 ff. 88 Morlok (Fn. 6), Art. 38 Rn. 176. 89 §§ 50 ff. AbgG. 90 § 52 AbgG. 91 Arndt, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 21 Rn. 20; Demmler, Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen, 1994, S. 179 ff. 92 Klein (Fn. 8), Art. 21 Rn. 199. _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 354 Der Lebenszyklus politischer Parteien – Teil 4/6 ÖFFENTLICHES RECHT fraktionen resultieren aus der für die Bildung einer Fraktion grundsätzlich erforderlichen politischen Homogenität. Vor diesem Hintergrund überrascht es auf den ersten Blick, dass das Recht bezüglich Organisation und Finanzierung streng zwischen Parteien und Fraktionen unterscheidet. Insbesondere dürfen die staatlichen Mittel, die den Fraktionen zugewendet werden, nach § 50 Abs. 4 AbgG nur für die Wahrnehmung der Fraktionsaufgaben und gerade nicht die der Parteien verwendet werden. Die personelle, organisatorische und finanzielle Trennung von Fraktionen und Parteien beruht allerdings auf der jeweils unterschiedlichen Funktion der beiden Vereinigungstypen in der parlamentarischen Demokratie. Während die politischen Parteien trotz ihrer staatlichen Nähe als Organisationen des Privatrechts in der gesellschaftlichen Sphäre existieren und wirken, gehören die Parlamentsfraktionen der staatlichen Sphäre an. Fraktionen sind Organteile des Bundestages und damit Teile eines staatlichen Organs. V. Ausblick Die Tätigkeit der politischen Parteien zeichnet sich dadurch aus, dass eine Vielzahl von Organisationen um eine begrenzte Zahl von öffentlichen Wahlämtern ringen. Dies tun sie, um jeweils die bestmögliche Chance zu erhalten, auf verbindliche staatliche Entscheidungen Einfluss zu nehmen. Das Handeln der individuellen politischen Akteure ist zusätzlich von persönlichen Interessen – etwa an der Beförderung der eigenen politischen Karriere oder an der Durchsetzung abweichender persönlicher Überzeugungen – geleitet. Durch die Eigenschaft des politischen Prozesses als Wettbewerb ist vorprogrammiert, dass Konflikte sowohl zwischen als auch innerhalb der Parteien entstehen. Innerparteilich kann es zu Spannungen zwischen der Organisation und einem oder mehreren Parteimitgliedern kommen, die dann zu Sanktionen, der Einschaltung der parteilichen Schiedsgerichte und schließlich zu einem Ausschluss eines Mitglieds aus der Partei führen mögen. Im Verhältnis zu anderen Parteien kann der Grundsatz der chancengleichen Behandlung durch den Staat verletzt werden. Solche Fehler ereignen sich hauptsächlich im Rahmen staatlichen Leistungen an Parteien, insbesondere bei der staatlichen Parteienfinanzierung. Aber auch die Parteien selbst können ihre rechtlichen Pflichten aus der Verfassung bzw. dem PartG missachten, etwa einen fehlerhaften Rechenschaftsbericht einreichen. Auch im Wahlrecht sind angesichts des komplizierten Systems bei der Durchführung von Wahlen Fehler vorprogrammiert.93 Der folgende Beitrag befasst sich damit, nach welchen rechtlichen Vorgaben solche Konflikte zu lösen sind und welche Rechtsschutzmöglichkeiten den einzelnen Akteuren des politischen Prozesses dabei zur Verfügung stehen. 93 Zur Fehleranfälligkeit der Parlamentswahlen als Massenverfahren siehe Morlok, NVwZ 2012, 913. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 355 Normenkontrollen – Teil 3 Fragen der Zulässigkeit: Konkrete Normenkontrolle Von Prof. Dr. Lothar Michael, Düsseldorf* IV. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen der wichtigsten Normenkontrollverfahren (Fortsetzung) 3. Konkrete Normenkontrollen nach Art. 100 Abs. 1 GG Der Erörterung der einzelnen Zulässigkeitsvoraussetzungen sei eine Vorbemerkung zur teleologischen Auslegung der einschlägigen Vorschriften vorangestellt: Anders als bei der abstrakten Normenkontrolle ist der Telos der konkreten Normenkontrolle umstritten. Vorzugwürdig ist, in diesem Verfahren eine Mischung dreier Zwecke zu sehen. Erstens: Das BVerfG stellt einen funktionell-gewaltenteiligen, der konkreten Normenkontrolle eigentümlichen Zweck in den Mittelpunkt, nämlich den Schutz des parlamentarischen Gesetzgebers vor den Fachgerichten, die – wenn es die konkrete Normenkontrolle nicht gäbe – sonst unter Berufung auf ihre Verfassungsbindung selbst ein Verwerfungsrecht für sich beanspruchen könnten. Es geht dem BVerfG also um einen Zweck der Gewaltenteilung, bei dem es selbst der „lachende Dritte“ ist. Denn dem BVerfG kommt damit das Verwerfungsmonopol für Parlamentsgesetze zu. Wird als Schutzzweck insoweit die Autorität des Gesetzgebers genannt,1 wird dadurch nur umso deutlicher, dass die Autorität des BVerfG demgegenüber noch herausgehoben ist. Deutlich gesagt sei allerdings, dass der Zweck des Art. 100 Abs. 1 GG nicht darin liegt, die Fachgerichte davor zu bewahren, schwierige verfassungsrechtliche Fragen selbst zu stellen und (vorläufig, nämlich vorlegend) zu beantworten. Zweitens: Jedenfalls soweit das Ausgangsverfahren des vorlegenden Fachgerichts dem subjektiven Rechtsschutz dient, wird dieser gegebenenfalls auch durch die konkrete Normenkontrolle verwirklicht, wenn nämlich eine den Kläger belastende Norm verworfen wird.2 Die subjektiv-rechtliche Funktion ist allerdings nicht eigenständig, sondern Folge des erstgenannten Zwecks i.V.m. dem gegebenenfalls subjektiv-rechtlichen Charakter des Ausgangsverfahrens. In Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG heißt es nicht: „Hält ein Gericht ein Gesetz [...] für verfassungswidrig und kann sich einer der Verfahrensbeteiligten auf die Verletzung der Verfassungsbestimmung berufen, [...]“. Die gegebenenfalls auch subjektiv-rechtliche Bedeutung der konkreten Normenkontrolle ist Reflex ihrer primär objektiv-rechtlichen Funktion – und nicht umgekehrt, wie es bei der Rechtssatzverfassungsbeschwerde der Fall ist. Drittens: Wie prototypisch bei der abstrakten Normenkontrolle geht es auch bei der konkreten – und letztlich bei jeder – Normenkontrolle jedenfalls auch um einen weiteren, ebenfalls objektiv-rechtlichen Zweck, nämlich der Klärung * Der Verf. ist Inhaber einer Professur für Öffentliches Recht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Der Beitrag ist die Fortsetzung des Beitrags „Normenkontrollen – Teil 2 – Fragen der Zulässigkeit: Abstrakte Normenkontrolle“, ZJS 2014, 254. 1 Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rn. 567. 2 So auch Hillgruber/Goos (Fn. 1), Rn. 571 f. von Zweifeln über die Gültigkeit von Rechtsnormen. Dieser Zweck hat nach der Rechtsprechung im Falle der konkreten Normenkontrolle keine eigenständige Bedeutung, sondern ist lediglich ein Reflex. Das BVerfG3 stellt diesen Zweck aber weit zurück, da er Argumente zu einer extensiveren Handhabung liefert, denen das BVerfG mit einer restriktiven Sichtweise begegnet. Dieser dritte Zweck tritt nach der Rechtsprechung hinter den erstgenannten Zwecken gegebenenfalls zurück: Wenn es nicht um Parlamentsgesetze geht und wenn dem subjektiven Rechtsschutz auch ohne das verzögernde Zwischenverfahren Rechnung getragen werden kann, dann bleibt die Vorlage unzulässig. a) Zuständigkeit(en) Genau betrachtet regelt Art. 100 Abs. 1 GG zwei alternative Zuständigkeiten für konkrete Normenkontrollen, die sich nach dem Maßstab der Überprüfung unterscheiden: Geht es um die Vereinbarkeit einer Norm mit Bundesrecht, ist das BVerfG zuständig, geht es um die Vereinbarkeit mit dem Landesverfassungsrecht, sind die Landesverfassungsgerichte zuständig, die freilich auch ihrerseits vorlageberechtigt sind.4 § 13 Nr. 11 BVerfGG fasst die Fälle der Zuständigkeit des BVerfG zusammen. b) Vorlageberechtigung Mit „Gericht“ i.S.d. Art. 100 Abs. 1 GG ist nicht die abstrakte Institution als ganze (also nicht etwa ein Verwaltungsgericht) gemeint und ebenso wenig jeder einzelne Richter. Vorlageberechtigtes „Gericht“ ist vielmehr der für das Ausgangsverfahren zuständige Spruchkörper eines staatlichen Gerichts (also etwa die Kammer eines Verwaltungsgerichts). Über die Vorlage entscheidet der Spruchkörper in seiner vollständigen Besetzung, d.h. der einzelne Richter nur dann, wenn er als Einzelrichter seinerseits die Entscheidung, für die die Vorlage entscheidungserheblich ist, alleine zu treffen hat.5 Das ergibt sich daraus, dass es sich bei dem Verfahren um ein Zwischenverfahren eines konkreten Rechtsstreits handelt. Der Spruchkörper muss sachlich unabhängig sowie gesetzlich mit den Aufgaben eines Gerichts betraut sein und als Gericht bezeichnet werden.6 Nur staatliche Gerichte, also keine Schiedsgerichte sind gemeint. Auch Tätigkeiten, die der Justiz institutionell zugeordnet sind, wie die des Rechtspflegers7 und die so genannten Justizverwaltungsakte eines Richters als weisungsgebundene Vollstreckungsbehörde8, fallen aus dem Rah- 3 Statt aller BVerfGE 1, 184 (197); 114, 303 (310); zustimmend und den Gegensatz zur abstrakten Normenkontrolle betonend Hillgruber/Goos (Fn. 1), Rn. 567. 4 BVerfGE 69, 112 (117 f.). 5 BVerfGE 98, 145 (152). 6 BVerfGE 6, 55 (63). 7 BVerfGE 61, 75 (77). 8 BVerfGE 20, 309 (311 f.). _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 356 Normenkontrollen – Teil 3 men des Art. 100 Abs. 1 GG, während das BVerfG Vorlagen in Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit anerkannt hat.9 c) Vorlagegegenstand Gegenstand einer konkreten Normenkontrolle ist ein „Gesetz“ i.S.d. Art. 100 Abs. 1 GG. Es ist auslegungsbedürftig und umstritten, was mit „Gesetz“ gemeint ist. Nach der Rechtsprechung ist der Begriff „Gesetz“ – anders als i.S.d. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG (dazu Teil 4 unter 5. c) – eng auszulegen. Das BVerfG10 erkennt als Gegenstand konkreter Normenkontrollen nach Art. 100 Abs. 1 GG nur nachkonstitutionelle Parlamentsgesetze an. Nachkonstitutionell sind die Gesetze, die nach dem 23.5.1949 verkündet wurden sowie diejenigen Normen, die der Gesetzgeber seither in seinen Willen aufgenommen hat. Ein Bestätigungswille kann durch Neuverkündung11 (nicht aber durch bloße Neubekanntmachung12), Änderung (wohl auch die normbestätigende, d.h. im Ergebnis negative Beratung über eine Änderung13) oder Bezugnahme14 (Verweis auf eine vorkonstitutionelle Norm)15 geschehen. Das „Gesetz“ als Vorlagegegenstand und auch seine Einstufung als nachkonstitutionell beziehen sich auf Einzelvorschriften, nicht also auf ganze Regelwerke. So sind einzelne, nach wie vor unveränderte Vorschriften aus dem BGB bis heute als vorkonstitutionell zu behandeln. Das BVerfG16 sieht die Funktion des Art. 100 Abs. 1 GG primär in einem besonderen Aspekt der Gewaltenteilung: Nur die demokratisch konstituierten Parlamente i.S.d. Grundgesetzes seien davor geschützt, dass jedes Fachgericht ihre Rechtsetzungsakte verwerfen darf. Insofern gelte das Verwerfungsmonopol des BVerfG, was Art. 100 Abs. 1 GG klarstelle. Bei dieser restriktiven Auslegung entstehe auch – anders als bei Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG (dazu Teil 4 unter 5. c) – keine ungewollte Lücke. Andere Rechtsnormen kann das vorlageberechtigte Fachgericht gegebenenfalls auch selbst unangewendet lassen, wenn solche Normen gegen höherrangiges Recht verstoßen. Wenn das Gericht eine streitentscheidende Norm trotz vorgetrage9 BVerfGE 4, 45 (48). BVerfGE 1, 184 (Ls. 1): nur Gesetze im formellen Sinne; zum Erfordernis der Nachkonstitutionalität: BVerfGE 2, 124 (Ls.). 11 BVerfGE 64, 217 (220). 12 BVerfGE 64, 217 (221). 13 BVerfGE 6, 55 (64); offen gelassen in BVerfGE 13, 290 (295); kritisch: W. Meyer, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. 2, 6. Aufl. 2012, Art. 100 Rn. 18. 14 BVerfGE 70, 126 (130 f.). 15 Das kann auch eine vorkonstitutionelle Verordnung sein; für den Spezialfall einer gesetzesvertretenden Verordnung von 1944: BVerfGE 52, 1; zu gesetzesvertretenden Verordnungen als solche BVerfGE 22, 1 (12). 16 BVerfGE 1, 184 (197); dazu Bettermann, in: Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz und Grundgesetz – Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 1, 1976, S. 323 (328); K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 1980, S. 988; zu den Konsequenzen für die Grenzen verfassungskonformer Auslegung: BVerfGE 90, 263 (275). 10 ÖFFENTLICHES RECHT ner Zweifel an deren Verfassungsmäßigkeit anwendet, kann die unterlegene Partei nach Erschöpfung des Rechtswegs gegebenenfalls Verfassungsbeschwerde erheben. Das BVerfG muss sich allerdings vorwerfen lassen, von dem Argument des Schutzes der Autorität der Parlamente abgerückt zu sein, indem es satzungsvertretende Gesetze17 den untergesetzlichen Normen i.S.d. § 47 VwGO (dazu ausführlich in Teil 5) gleichgestellt hat.18 Wer mit einem Teil der Literatur19 die objektive Klärungsfunktion aller Normenkontrollen optimieren mag, hat gute Gründe, Art. 100 Abs. 1 GG weit auszulegen. Danach könnte „Gesetz“ i.S.d. Art. 100 Abs. 1 GG – wie bei Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG (dazu Teil 4 unter 5. c) – auch jede materielle Norm, also auch eine Satzung oder eine Verordnung sein. Verfahrensökonomische Aspekte sprechen freilich dagegen, dass das BVerfG seine Rechtsprechung ändert. Denn unbestreitbar wird das BVerfG durch die restriktive Auslegung des Art. 100 Abs. 1 GG entlastet. Freilich könnte eine möglichst frühzeitige Klärung der Verfassungswidrigkeit untergesetzlicher Normen Rechtsklarheit schaffen und damit auch Rechtsstreitigkeiten verhindern. Aber regelmäßig wird auch die Rechtsprechung der Fachgerichte mit ihrem Instanzenzug eine Klärung leisten können – angesichts der Überlastung des BVerfG vielleicht sogar schneller als jenes. Vor allem für die Parteien im Ausgangsrechtsstreit führen die Aussetzung des Verfahrens und die Vorlage wenigstens zunächst zu einer Verzögerung der Sachentscheidung. Die Auffassung des BVerfG dient somit auch dem subjektiven Interesse effektiven Rechtsschutzes. Weil hier zwei der drei Zwecke der konkreten Normenkontrolle für eine Beschränkung des Gegenstandes streiten, ist der Rechtsprechung im Ergebnis zuzustimmen. Zur Vertiefung: Bemerkenswert ist insofern auch die historische Entwicklung. Das richterliche Prüfungsrecht gegenüber Gesetzen war eine in der Weimarer Zeit viel und sehr kontrovers diskutierte Frage. Erinnert sei daran, dass Carl Schmitt20 vor den Konsequenzen eines Jurisdiktionsstaates warnte und in monarchischer Tradition die Rolle des „Hüters der Verfassung“ dem Staatsoberhaupt als pouvoir neutre zuerkannte. Darauf reagierte Hans Kelsen21 mit seiner Streitschrift, die ein Verfassungsgericht als Hüter der Verfassung forderte. Das Reichsgericht selbst hatte zuvor ein richterliches, auch materielles Prüfungsrecht für sich reklamiert22 und der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich bezeichnete sich 17 Ein satzungsvertretendes Gesetz ist ein solches, das aufgrund einer in einer Landesverfassung normierten Ermächtigung an Stelle einer Satzung erlassen wird. 18 BVerfGE 70, 35; auf diese Inkonsequenz weist auch Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, 3. Aufl. 1991, § 13 Rn. 9, hin. 19 Zur Kritik an der Rechtsprechung K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, Rn. 686; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl. 2012, Rn. 138. 20 C. Schmitt, AöR 55 (1929), 161. 21 H. Kelsen, Die Justiz 6 (1930/31), 576 ff.: „diese Schrift aus der Rumpelkammer des konstitutionellen Theaters“. 22 RGZ 111, 320 (322 f.). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 357 AUFSÄTZE Lothar Michael als „Hüter der Reichsverfassung“23. Nahe läge es insofern, Art. 100 Abs. 1 GG als Bestätigung des richterlichen Prüfungsrechts in der Sache und dessen Zuweisung an die nunmehr geschaffene Verfassungsgerichtsbarkeit zu interpretieren. Das BVerfG indes sieht Art. 100 Abs. 1 GG nur als (freilich zentralen) Spezialfall eines im Übrigen in der Tradition des Reichsgerichts fortbestehenden allgemeinen richterlichen Prüfungsrechts. Wo Art. 100 Abs. 1 GG nicht greift, kann es zu uneinheitlicher Rechtsprechung kommen. Inzidenten Normenkontrollen der Fachgerichte fehlt eine verbindliche Wirkung über den Einzelfall hinaus. Die faktische Orientierungswirkung fachgerichtlicher Rechtsprechung kann freilich in der Praxis ähnlich weit reichen. Würde man Gesetze i.S.d. Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG auch auf untergesetzliches Recht erstrecken, ließe sich eine insoweit optionale Richtervorlage auch mit dem Korrektiv des objektiven Klarstellungsinteresses auf solche Fälle beschränken, in denen uneinheitliche Rechtsprechung vorliegt. Allerdings wären dies die Fälle, in denen § 76 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG eine Normbestätigungsklage im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle anerkennt. Dem Gesetzgeber bleibt es überlassen, inwieweit er die Funktion der objektiven Rechtssicherheit dadurch optimiert, dass er die Möglichkeiten der bestehenden Normenkontroll-Verfahren erweitert. So könnte der einfache Gesetzgeber nicht nur nach Art. 93 Abs. 3 GG weitere Zuständigkeiten des BVerfG über dessen verfassungsrechtliche Zuständigkeiten hinaus begründen. Dem Entlastungsinteresse des BVerfG, das hinter dessen restriktiver Auslegung des Art. 100 Abs. 1 GG steht, könnte der Gesetzgeber auch dadurch Rechnung tragen, dass er die Normenkontrollen nach § 47 VwGO zu den Oberverwaltungsgerichten auf alle untergesetzlichen Normen des Landesrechts erstreckt und eine entsprechende Normenkontrolle zum Bundesverwaltungsgericht für untergesetzliche Normen des Bundesrechts einführen würde. Immerhin besteht bei Uneinigkeiten über die Gültigkeit einer Norm die Möglichkeit der abstrakten Normenkontrolle zum BVerfG, die nach § 76 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG von der Bundesregierung, einer Landesregierung oder einem Viertel der Mitglieder des Bundestages auch mit dem Ziel der Feststellung der Gültigkeit der Norm beantragt werden kann. Erst recht besteht kein Anlass dafür, auch ungeschriebenes Recht zum Gegenstand von konkreten Normenkontrollen nach Art. 100 Abs. 1 GG zu machen. Dafür spricht nicht nur der Wortlaut, der zwischen Gesetz (konkrete Normenkontrolle) und Recht (abstrakte Normenkontrolle) differenziert, sondern auch die Tatsache, dass es die Fachgerichte selbst sind, die hier gegebenenfalls durch Richterrecht korrigierend steuern. Hier unterscheidet sich einmal mehr die konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG von der abstrakten Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG (dazu oben Teil 2 unter 2. c), aber auch von dem Normverikationsverfahren nach Art. 100 Abs. 2 GG, das sich gerade auf ungeschriebene „allgemeine Regeln des Völkerrechts“ i.S.d. Art. 25 GG be- 23 StGH RGZ 118, Anhang S. 1 (4). zieht, also auf Völkergewohnheitsrecht und auf allgemeine Rechtsgrundsätze.24 Letztlich können die Voraussetzungen abstrakter, konkreter und inzidenter Normenkontrollen nur in der Gesamtschau der bestehenden Möglichkeiten überzeugend geklärt werden. Aus solcher Gesamtschau resultiert auch die Lösung der Frage, ob Unionsrecht Vorlagegegenstand einer konkreten Normenkontrolle sein kann. Das wäre nämlich nur dann der Fall, wenn ansonsten eine unerträgliche Lücke im Rechtsschutzsystem entstünde. Dies hatte das BVerfG in seiner „Solange IEntscheidung“ zunächst angenommen, übt aber seine Gerichtsbarkeit angesichts der allmählich gewachsenen Möglichkeiten des Rechtsschutzes vor dem EuGH in Luxemburg seit 1986 insoweit nicht mehr aus. Seit der „Solange II-Entscheidung“ sind entsprechende Vorlagen nicht mehr zulässig.25 Die Zulässigkeitshürde könnte nur dann überwunden werden, wenn ein Gericht zugleich geltend macht, dass eine solche Lücke wieder klafft, d.h. dass der EuGH die Grundrechte und das begrenzte Integrationsprogramm der EU in grundsätzlicher Weise missachtet.26 Eine solche Vorlage von Unionsrecht nach Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG zum BVerfG wäre allerdings streng subsidiär gegenüber einer Vorlage nach Art. 267 AEUV zum EuGH.27 Die insoweit durch die „Solange II-Rechtsprechung“ entstehende prozessuale Lücke des Grundrechtsschutzes soll nämlich dadurch gefüllt werden, dass die Fachgerichte dem EuGH nach Art. 267 AEUV gegebenenfalls die Frage vorlegen, ob Sekundärrecht gegen EU-Grundrechte verstößt. Wenn die Fachgerichte dies nicht tun, kann die unterliegende Partei gegebenenfalls sogar Verfassungsbeschwerde zum BVerfG mit dem Argument erheben, das Fachgericht habe ihr den gesetzlichen Richter i.S.d. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG entzogen.28 So lässt sich gegebenenfalls mit dem Hebel der Verfassungsbeschwerde zum BVerfG ein durch den EuGH zu gewährleistender Grundrechtsschutz durchsetzen. Auf die Probleme der Kontrolldichte dieser Verfassungsbeschwerde kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden.29 Das BVerfG hat als Vorlagegegenstand auch einen ganzen, in verfassungswidriger Weise lückenhaften Regelungskomplex und mittelbar ein Unterlassen des Gesetzgebers anerkannt.30 Genau betrachtet geht es also gar nicht um das Gesetz selbst, sondern um eine gesetzlich in verfassungswidriger Weise geregelte Rechtslage. Dass die Rechtsfolgen Anlass der konkreten Normenkontrolle sind, zeigt sich auch an der Voraussetzung der Entscheidungserheblichkeit (dazu e). 24 Hillgruber/Goos (Fn. 1), Rn. 651. BVerfGE 73, 339 (Ls. 1). 26 BVerfGE 102, 147 (Ls. 1 und 2) – Bananenmarktordnung. 27 Diese Konstellation der Subsidiarität ist nicht zu verwechseln mit derjenigen einer Vorlage eines nationalen Gesetzes (siehe unter 3. e). 28 BVerfGE 73, 339 (Ls. 1). 29 Dazu Michael, JZ 2012, 870, sowie ders., JZ 2013, 302. 30 BVerfGE 115, 259 (275). 25 _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 358 Normenkontrollen – Teil 3 d) Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der vorgelegten Norm Das vorlegende Gericht muss alle in seiner eigenen Kompetenz stehenden Mittel ausschöpfen, die eine Vorlage an das BVerfG entbehrlich machen könnten. Es muss von der Verfassungswidrigkeit einer Norm, die es selbst weder verwerfen darf (s.o.), noch verfassungskonform auslegen kann und auf deren Gültigkeit es in der konkreten Entscheidung ankommt (dazu e), überzeugt sein. Dies lässt sich in zwei Schritten prüfen: Erstens: Bloße Zweifel an der Verfassungswidrigkeit der Norm reichen nicht aus. Im Gegensatz zur abstrakten Normenkontrolle (s.o.) geht es hier um die Vorlage eines Gerichts, das mit professionellem juristischen Sachverstand ausgestattet ist und sich nicht enthalten darf. Das Gericht darf die Norm zwar nicht selbst verwerfen. Es darf und muss aber auf die Frage, ob die Norm verfassungswidrig ist, eine eigene Antwort finden und diese auch entsprechend begründen. Es muss gleichsam für sich die Entscheidung, die es vom BVerfG erwartet, treffen und dann wegen des Verwerfungsmonopols die Norm vorlegen. Zweitens: Im Gegensatz zu den insoweit hier irrelevanten Modifikationen der Entscheidungswirkungen muss sich das vorlegende Gericht aber eine Vorfrage der Verfassungswidrigkeit der Norm stellen, nämlich die Frage der verfassungskonformen Auslegung. Das vorlegende Gericht muss (umgekehrt gesagt) prüfen und darlegen, ob sich die Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit einer Norm nicht durch verfassungskonforme Auslegung ausräumen lassen. Die Auslegung und auch die verfassungskonforme Auslegung der Gesetze sind nicht etwa dem BVerfG vorbehalten, sondern gehören zu den Aufgaben der Fachgerichte. Eine verfassungskonforme Auslegung setzt voraus, dass es Auslegungsspielräume der Norm gibt, dass je nach Auslegung die Norm im Ergebnis gegen die Verfassung verstößt bzw. nicht verstößt. Wenn zumindest eine der möglichen Auslegungen der Norm im Ergebnis mit der Verfassung vereinbar ist, muss das Gericht eine verfassungskonforme Auslegung vornehmen, die sowohl die Verwerfung der Norm als auch deren Vorlage zum BVerfG entbehrlich macht. Hinsichtlich denkbarer Auslegungsspielräume darf das vorlegende Gericht nicht auf obergerichtliche Rechtsprechung verweisen, sondern muss gegebenenfalls auch Abweichungen hiervon mit in Betracht ziehen.31 31 Es sei denn, es ist nach einer zurückverweisenden Rechtsmittelentscheidung im Einzelfall gebunden. Dann allerdings ist die Vorlage regelmäßig deshalb unzulässig, weil das Ausgangsgericht nicht bereits zuvor die Entscheidung des BVerfG eingeholt hat. Denn daraus schließt das BVerfG (BVerfGE 68, 352 [358 ff.]), dass das Ausgangsgericht von der Verfassungswidrigkeit nicht überzeugt ist, sondern allenfalls Zweifel hat. Hinter dieser rigiden Rechtsprechung steckt der Gedanke, dass Vorlageverfahren einerseits möglichst zu vermeiden, andererseits aber gegebenenfalls möglichst schnell einzuleiten sind. Beides dient der Verfahrensbeschleunigung. Untergerichte können also nicht obergerichtliche Entscheidungen auf den Prüfstand des BVerfG stellen. Kommt es letztlich in einer solchen Konstellation zur Anwendung der Norm, bleibt ÖFFENTLICHES RECHT Zur Vertiefung: Die Grenzen der Auslegung – und auch der verfassungskonformen – sind freilich schwer zu ziehen und fließend. Plakative Thesen wie die vom „Wortlaut als Grenze der Auslegung“ geben auf das Problem keine Antwort.32 Nicht der Wortlaut, sondern erst seine Bedeutung gibt einer Norm Sinn und Wirkung. Die Bedeutung von Zeichen (Worten) ist aber gerade in Zweifelsfällen nicht eindeutig – das ist das Dilemma der Sprachgebundenheit des Rechts. Richtigerweise ist der Wortlaut Ausgangspunkt der Auslegung. „Wortlautgrenze“ ist so zu verstehen, dass die Grenze der Auslegung dort zu ziehen ist, wo sich eine Auslegung auf diesen Ausgangspunkt noch plausibel zurückführen lässt. Die Plausibilität verweist aber notwendig auf die Bedeutung und d.h. auf Sinnzusammenhänge und ist deshalb von teleologischen und gegebenenfalls auch von verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht scharf zu trennen. Die klassische Methodenlehre unterscheidet insoweit zwischen der teleologischen Auslegung einerseits und einer teleologischen Reduktion bzw. Extension oder Analogie andererseits.33 Reduktion, Extension und Analogie sind jenseits des Wortlautes bzw. jenseits einer historischen Auslegung nicht mehr Auslegung i.e.S., können aber lege artis eine Rechtsfortbildung darstellen. Inwieweit eine solche Rechtsfortbildung ihrerseits verfassungsrechtlich verboten ist, hängt von der Strenge ab, mit der wir den Vorbehalt des Gesetzes interpretieren. So gilt im Strafrecht ein strenges Analogieverbot zulasten des Täters, während eine teleologische Reduktion strafbegründender Normen oder Analogien zugunsten des Täters nicht ausgeschlossen sind. Auch im Bereich der Eingriffsverwaltung gilt im Grundsatz ein Analogieverbot für Ermächtigungsgrundlagen, während Rechtsfortbildung jedenfalls mit dem grundrechtlichen34 Vorbehalt des Gesetzes dann nicht kollidiert, wenn Grundrechtsbeeinträchtigungen nicht zu besorgen sind oder abgemildert35 werden. gegebenenfalls der unterlegenen Partei die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde. 32 Skeptisch gegen methodische Eindämmungsversuche A. Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 93 Rn. 52. 33 Zur Unterscheidung statt aller Sauer, in: Krüper (Hrsg.), Grundlagen des Rechts, 2. Aufl. 2013, § 9 Rn. 36; Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung – Zugleich ein Beitrag zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen von Gesetzesauslegung und Rechtsfortbildung, 1996, S. 268 ff. 34 Zu denken ist aber auch an den Haushaltsvorbehalt, der das Budgetrecht des Parlaments schützt. So hat das BVerfG die Rechtsprechung des BGH zum Sonderopfer (BGHZ 6, 270 [279]) mit deren Option „dulde und liquidiere“ gestoppt: BVerfGE 58, 300 (324). 35 Ausgangspunkt der insoweit notwendig relativen Betrachtung ist das Gesetz, nicht der ungeregelte Zustand. D.h. eine verfassungskonforme Reduktion eines grundrechtsbeschränkenden Gesetzes ist als relative Abmilderung des Grundrechtseingriffs nicht mit dem Argument unzulässig, dass die Aufhebung des Gesetzes den Grundrechtseingriff gänzlich entfallen ließe. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 359 AUFSÄTZE Lothar Michael Insoweit unproblematisch sind die Fälle, in denen im Rahmen klassischer Auslegung eine verfassungskonforme und also auch eine verfassungswidrige Auslegung einer Norm in Betracht kommen. Hier sind alle Gerichte (und auch die Exekutive) befugt und verpflichtet, die Norm so auszulegen, dass sie mit der Verfassung in Einklang steht. Das Verfassungsrecht kann den Spielraum jeglichen staatlichen Handelns und auch den der Auslegung eingrenzen. Das entspricht der unmittelbaren Bindung aller Gewalten an die Verfassung und insbesondere an die Grundrechte (Art. 20 Abs. 3 und Art. 1 Abs. 3 GG). Es ist dem Gesetzgeber gar nicht möglich, Normen stets so zu formulieren, dass eine Auslegung gar nicht in Betracht kommt, die im Ergebnis mit der Verfassung kollidieren würde.36 Die verfassungskonforme Auslegung ist in solchen Fällen ein ganz alltäglicher Auslegungsvorgang, der weder auf einen Fehler des Gesetzgebers zurückgeht, noch eine Entscheidung des BVerfG notwendig macht. Der Verfassung sind insoweit gegebenenfalls „Zwecke“ zu entnehmen, die strukturell als Teil der „teleologischen“ Auslegung begriffen werden können. Teleologische Argumente gewinnen hier verfassungsrechtliches Gewicht und überwinden wegen des Vorrangs der Verfassung gegebenenfalls entgegenstehende andere – z.B. historische oder systematische – Auslegungsgesichtspunkte. Mit „verfassungskonformer Auslegung“ werden aber häufig auch und gerade die Konstellationen bezeichnet, in denen – über die Auslegung i.e.S. hinaus – eine Rechtsfortbildung (meist teleologische Reduktion) stattfinden muss, um der Verfassung gerecht zu werden.37 Auch insoweit sind primär die Fachgerichte aufgerufen, den Normkonflikt verfassungskonform zu lösen. Das gilt selbstverständlich nur im Rahmen verfassungsrechtlich zulässiger Rechtsfortbildung. Die Herstellung eines verfassungskonformen Zustandes ist zwar Aufgabe aller Gewalten, begründet aber keine Blankettkompetenz der Judikative zu beliebiger Korrektur des Gesetzgebers. Insoweit kollidieren hier formelles und materielles Verfassungsrecht, wobei die Erfüllung der materiellen Verfassungsbindung ihre Grenze in der Kompetenz der Fachgerichtsbarkeit hat. Weist erstere über letztere hinaus, greift der Mechanismus des Art. 100 Abs. 1 GG. In solchen Fällen käme dann aber auch keine verfassungskonforme Auslegung durch das BVerfG in Betracht, sondern nur die Normverwerfung. Denn die Grenze der Rechtsfortbildung durch die Fachgerichte ist auch Grenze der verfassungskonformen Rechtsfortbildung durch das BVerfG. Typischerweise ist die Frage der verfassungskonformen Auslegung bei der konkreten Normenkontrolle also eine Frage der Zulässigkeit und keine der Begründetheit. Daraus folgt aber nicht zwingend, dass eine „Rettung“ der Norm durch verfassungskonforme Auslegung beim BVerfG nur im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle und bei der Verfassungsbeschwerde stattfände. Im Rahmen der Zulässigkeit der Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG kommt es auf eine plausible 36 Sauer, Folgen hoheitlicher Rechtsverletzungen – Theorie und Dogmatik des öffentlichen Reaktionsrechts, Habilitationsschrift Düsseldorf, 2014, S. 654, im Erscheinen. 37 Sauer (Fn. 33), § 9 Rn. 33 m.w.N. (und im Zweifel ausführliche!) Darlegung der fachgerichtlichen Erwägungen hierzu an. Das Fachgericht muss sich dabei also insbesondere auch zu den Grenzen der Auslegung und gegebenenfalls der Rechtsfortbildung äußern. Dem BVerfG ist es unbenommen, die Ausführungen hierzu unter Gesichtspunkten der Zulässigkeit für hinreichend zu erachten, dann aber in der Begründetheit seinerseits Erwägungen zur Konformauslegung anzustellen. In der Fallbearbeitung empfiehlt es sich, die Fragen im Zweifel in der Begründetheit zu vertiefen. Denn in der Zulässigkeit kommt es nicht darauf an, ob und wie die Norm verfassungskonform ausgelegt werden sollte, sondern darauf, ob das Fachgericht sich mit dieser Möglichkeit hinreichend auseinandergesetzt hat. e) Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Norm Schließlich muss das Gericht prüfen und darlegen, dass es auf die Gültigkeit der Norm im konkret zu entscheidenden Fall im Ergebnis ankommt. Das bedeutet, dass das Gericht die Konsequenzen der Geltung der Norm hypothetisch zu prüfen hat. Ist die Norm z.B. wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts im konkreten Fall nicht anzuwenden, bedarf es ihrer Verwerfung durch das BVerfG nicht.38 Auch die tatsächlichen Voraussetzungen der Anwendbarkeit der Norm müssen durch etwaige Beweisaufnahme geklärt sein.39 Das gilt auch für die prozessuale Erheblichkeit. So kann eine Klageänderung oder Klagerücknahme sowie ein Vergleich den Rechtsstreit im Sinne der Parteien lösen und diese vor dem Umweg über das BVerfG bewahren. Einerseits legt das BVerfG hinsichtlich der Entscheidungserheblichkeit grundsätzlich die Rechtsauffassung des vorlegenden Fachgerichts zu Grunde, soweit diese nicht offensichtlich unhaltbar ist.40 Andererseits sind die Anforderungen an eine plausible Darlegung und Begründung sehr hoch. Das Fachgericht muss dabei – über die Fragen einer verfassungskonformen Auslegung der vorgelegten Norm hinaus – auch darlegen, dass es – unter Berücksichtigung der „Literatur und Rechtsprechung“41 – keine sonstigen Optionen der Rechtsauslegung gibt, die vorgelegte Frage dahinstehen zu lassen. Das bei der abstrakten Normenkontrolle zu prüfende objektive Klarstellungsinteresse (siehe Teil 2 unter 2. e) hat bei der konkreten Normenkontrolle keine Bedeutung, weil die Anwendbarkeit der Norm bereits in der Entscheidungserheblichkeit umfassend zu prüfen ist. Zur Vertiefung: Grundsätzlich keine Bedeutung hat in diesem Rahmen allerdings die Anschlussfrage der Entscheidungswirkungen der Normverwerfung (für nichtig/unanwendbar/unvereinbar erklären), die sich also erst das BVerfG – vor allem bei einem Verstoß gegen Gleichheitsrechte – stellen muss. Auch die Frage, ob überhaupt von einem Grundsatz ausgegangen werden kann, dass Normen wegen eines Verstoßes gegen höherrangiges Recht im Zweifel ipso iure sowie 38 BVerfGE 85, 191 (203 ff.), für einen Fall offenbaren Vorrangs des Gemeinschaftsrechts. 39 BVerfGE 79, 256 (264), zu den Möglichkeiten einer Vorlage auch ohne mündliche Verhandlung. 40 BVerfGE 129, 186 (203) – Investitionszulagengesetz, m.w.N. aus der Rechtsprechung des BVerfG. 41 BVerfGE 79, 240 (243). _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 360 Normenkontrollen – Teil 3 ex tunc nichtig sind oder ob auch die Nichtigerklärung gegebenenfalls eine konstitutive Kassation der Norm darstellt, ist eine Frage der Entscheidungsfolgen (dazu Teil 6). Selbst wenn die bloße Unvereinbarkeit der Norm die Folge ihrer Verfassungswidrigkeit wäre, bleibt deren Vorlage zum BVerfG zulässig.42 Denn auch ein solches Verfahren kann im Ergebnis für die Entscheidung des Einzelfalls Auswirkungen haben, wenn nämlich der Gesetzgeber zur Neuregelung verpflichtet wird, das Verfahren bis dahin ausgesetzt bleibt43 und eine Option des Gesetzgebers darin besteht, die Rechtslage rückwirkend zugunsten des Verfahrensbeteiligten im Ausgangsverfahren zu regeln. Drei schwierige Probleme stellen sich bei der Frage der Entscheidungserheblichkeit: Erstens: Der Grundsatz einer umfassenden Überwachungspflicht44 der Gerichte auch über Verstöße von Gesetzen gegen Gleichheitssätze erfährt durch das BVerfG eine praktisch erhebliche Einschränkung: Danach muss eine der Prozessparteien zu den benachteiligten Personen zählen.45 Gleichheitswidrige gesetzliche Leistungsansprüche sind danach regelmäßig nicht vorlagefähig. Müssen also Richter gegebenenfalls sehenden Auges gleichheitswidrige Begünstigungen zusprechen? In der Literatur wird dies – z.T. heftig46 – kritisiert. In der Tat stellt sich die Frage, ob der Vorrang der Verfassung es nicht gebieten würde, dass dann ein Fachgericht sogar Parlamentsgesetze unangewendet ließe. Aber das widerspräche Art. 100 Abs. 1 GG und insbesondere auch dem Sinn, den das BVerfG dieser Norm primär zuweist (Verwerfungsmonopol zum Schutz des Parlamentsgesetzgebers). Gibt es für diese restriktive Rechtsprechung zu den Gleichheitsverstößen eine dogmatisch konsistente Begründung? Nahe läge zunächst folgende Erklärung: Die Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG als Zwischenverfahren innerhalb eines Verfahrens des subjektiven Rechtsschutzes hat ihrerseits jedenfalls auch eine subjektiv rechtsschützende Funktion zur Abwehr gegen verfassungswidrige Gesetze und deren Vollzug. Aber auch das BVerfG47 weist dieser Funktion keine eigenständige Bedeutung zu. Zwar macht Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG in einer gleichsam vorweggenommenen Normenkontrolle eine sonst möglicherweise anschließende (und 42 BVerfGE 17, 210 (215 f.); 72, 9 (17 f.); Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rn. 844; restriktiver noch BVerfGE 8, 28 (32 f.). 43 Das Verfahren muss gegebenenfalls sogar ausgesetzt bleiben, BVerfGE 49, 280 (282). 44 Dies betont Ulsamer, in: Maunz u.a. (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz Kommentar, 42. EL (Oktober 2013), § 80 Rn. 139, ohne allerdings die Konsequenzen zu ziehen. 45 Vgl. BVerfGE 66, 100 (105); 67, 239 (243 f.) und dazu Schlaich/Korioth (Fn. 19), Rn. 150. 46 Benda/Klein (Fn. 42), Rn. 848, mit Verweisen auf „zu Recht scharfe Kritik“ bei Aretz, JZ 1984, 918 (920 ff.); Sachs, DVBl. 1985, 1106 (1107 ff.); Löwer, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3, 3. Aufl. 2005, § 70 Rn. 92. 47 BVerfGE 72, 51 (62); diese Inkonsistenz wird als „frappierend“ bezeichnet von Benda/Klein (Fn. 42), Rn. 848 Fn. 290. ÖFFENTLICHES RECHT gegebenenfalls auch angedrohte) Verfassungsbeschwerde entbehrlich. Aber Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG erschöpft sich nicht darin, mag das Verfahren auch regelmäßig von Verfahrensbeteiligten angeregt werden. Richtervorlagen kommen auch in Betracht, wenn das Gericht objektiv-verfassungsrechtliche Bedenken gegen eine Norm hat, wenn also eine spätere Verfassungsbeschwerde per se rechtlich ausgeschlossen wäre. Stellen wir uns etwa ein Gesetz vor, das entgegen der in Art. 26 Abs. 2 S. 1 GG bestimmten Voraussetzungen den Handel mit Kriegswaffen erlauben würde. Würde sich ein Waffenhändler auf ein solches Gesetz vor Gericht berufen, wäre eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG zulässig, auch wenn die Verfahrensbeteiligten von einer solchen gesetzlichen Regelung ausschließlich begünstigt würden. Eine Auslegung, die Vorlagen auf subjektive Verfassungsverletzungen eines Verfahrensbeteiligten beschränken würde, verstieße nicht nur gegen Wortlaut und Zweck des Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG. Sie würde auch die unmittelbare und umfassende Verfassungsbindung der Gerichte in Frage stellen.48 Eine einzige Erklärung kann die restriktive Rechtsprechung zur Vorlage gleichheitswidriger, begünstigender Gesetze plausibel machen: Mit der unmittelbaren Grundrechtsbindung der Gerichte nach Art. 1 Abs. 3 GG lässt sich diese nur so vereinbaren, dass Art. 3 Abs. 1 GG als ein rein subjektiver Anspruch auf Nichtbenachteiligung interpretiert wird, der für den Richter gar keine darüber hinausreichende objektivrechtliche Gleichbehandlungspflicht begründet, sondern der außer Betracht bleibt, solange sich darauf im konkreten Rechtsstreit niemand beruft bzw. berufen kann. Der subjektive Anspruch auf Nichtbenachteiligung richtet sich zwar unverändert und objektiv oder besser abstrakt gegen den Gesetzgeber, der jedermann und nicht nur konkrete Verfahrensbeteiligte zu berücksichtigen hat. In diesem Modell blenden die Fachgerichte einen Verstoß des Gesetzgebers gegen Art. 3 Abs. 1 GG aus, ohne ihrerseits gegen den insoweit eng interpretierten Art. 3 Abs. 1 GG zu verstoßen. Denn Art. 3 Abs. 1 GG entfaltet vor den Fachgerichten nur Wirkung zugunsten der Verfahrensbeteiligten oder zwischen ihnen. Damit ist die Rechtsprechung konsistent rekonstruierbar als eine Folge spezifischer Dogmatik des allgemeinen49 Gleichheitssatzes. Diese Dogmatik ist aber keineswegs auf andere Verfassungsverstöße und insbesondere auch nicht auf die besonderen Gleichheitssätze zu übertragen. Denn Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG verbietet explizit, bezüglich der speziellen Diskriminierungstatbestände „benachteiligt oder bevorzugt [zu] werden“. Daran sind auch die Gerichte nach Art. 1 Abs. 3 GG unmittelbar gebunden. 48 Beachte, dass Art. 20 Abs. 3 GG nicht so zu verstehen ist, dass die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung im Gegensatz zur Gesetzgebung nicht an die Verfassung, sondern gleichsam nur an „Gesetz und Recht“ gebunden wären. Vielmehr ist es umgekehrt so, dass die Gesetzgebung nur an die Verfassung, die beiden anderen Gewalten hingegen auch an das einfache Gesetz und Recht gebunden sind. 49 Übertragbar wäre sie nicht einmal auf den Sonderfall des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG, der zwar explizit nur Benachteiligungen ausschließt, sich insoweit aber gleichermaßen an alle Gewalten richtet. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 361 AUFSÄTZE Lothar Michael Allgemein anerkannt ist, dass Art. 3 Abs. 1 GG keinen Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht begründet. Nach der Rechtsprechung des BVerfG begründen darüber hinaus Gesetze, bei deren Erlass der Gesetzgeber gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt, gegebenenfalls einen subjektiven, gerichtlich durchsetzbaren Anspruch, obwohl dieser im Ergebnis zu einer Ungleichbehandlung im Unrecht führt. So verstanden wird noch deutlicher, warum Art. 100 Abs. 1 GG primär eine den Gesetzgeber schützende Norm sein soll. Und es wird daran deutlich, wie sehr subjektiv-rechtlich die Rechtsprechung des BVerfG zum allgemeinen Gleichheitssatz an dieser Stelle geprägt ist. Das BVerfG sieht zwar Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG als objektiv-rechtliches, der Gewaltenteilung dienendes Verfahren, interpretiert aber dessen Voraussetzungen umso enger. Mag die Rechtsprechung des BVerfG insoweit plausibel erklärbar sein, wäre eine großzügigere Handhabung des Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG auch unter diesen Prämissen zu erwägen. Denn erstens ist eine auch objektiv-rechtliche Bedeutung des Art. 3 Abs. 1 GG denkbar und zweitens setzt Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG nicht explizit voraus, dass der Richter selbst in einem eigenen Normkonflikt steckt. Dass sich das BVerfG auch hier einmal mehr zu entlasten sucht, um seine Funktionen als Verfassungsgericht überhaupt bewältigen zu können, ist freilich eine auch verfassungsrechtlich begründbare Tendenz der „Subjektivierung“ sogar der Verfassungsgerichtsbarkeit. Zweitens: Im Zusammenhang der Entscheidungserheblichkeit sollte gegebenenfalls auch erörtert werden, ob eine Vorlage auch in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes in Betracht kommt. Diese umstrittene50 Frage, bei der zwei Verfassungsnormen, nämlich Art. 100 Abs. 1 GG (Verwerfungsmonopol) und Art. 19 Abs. 4 GG (effektiver Rechtsschutz) zum Ausgleich zu bringen sind, ist differenziert zu beantworten: Einerseits entfällt die Entscheidungserheblichkeit nicht bereits wegen der Vorläufigkeit der Entscheidung.51 Die Rechtsprechung hat Vorlagen in Eilverfahren jedenfalls dann für zulässig und sogar für geboten gehalten52, wenn die Hauptsache ausnahmsweise vorweggenommen wird, sich das Klageziel im Hauptsacheverfahren also vor dessen Abschluss erledigen wird. Andererseits ist es den Fachgerichten aber auch nicht verwehrt, im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes zugunsten einer Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes die Möglichkeit der Verwerfung der Norm durch das BVerfG ohne sofortige Vorlage in die Betrachtung einzubeziehen. Dies muss dann gegebenenfalls in drei Schritten geschehen: Erstens muss das Fachgericht selbst von der Verfassungswidrigkeit der Norm überzeugt sein (s.o. unter d). Zweitens muss das Fachgericht im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes ausnahmsweise außer der üblichen Betrachtung (nämlich der Erfolgsaussichten in der Hauptsache unter Zugrundelegung der Gültigkeit der Norm) auch die Erwä50 Pietzcker, in: J. Ipsen u.a. (Hrsg.), Verfassungsrecht im Wandel, 1995, S. 623 (625 ff.); Pestalozza, JuS 1978, 312; Schlaich/Korioth (Fn. 19), Rn. 140; aus der Rechtsprechung BVerfGE 63, 131 (141 f.); 86, 382 (389). 51 Pietzcker (Fn. 50), S. 630. 52 BVerfGE 46, 43 (51); zurückhaltender BVerfGE 63, 131 (141). gungen anstellen, die das BVerfG selbst bei einstweiligen Anordnungen nach § 32 BVerfGG anstellt (nämlich der Vergleich der Nachteile des Vollzugs einer gegebenenfalls verfassungswidrigen Norm mit den Nachteilen des Nichtvollzugs einer gegebenenfalls verfassungsmäßigen Norm). In diesem Rahmen kann das Fachgericht dann im Ergebnis die Norm auch vorläufig unangewendet lassen, wenn die Nachteile des Normvollzugs überwiegen. Insoweit handelt es sich um eine Abwägungsentscheidung.53 Da es sich hier lediglich um eine einstweilige Entscheidung nach Interessenlage und ohne abschließende Beurteilung der Rechtslage handelt, setzt sich das Fachgericht hier nicht dem Vorwurf aus, das Verwerfungsmonopol des BVerfG zu verletzen. Schließlich muss das Fachgericht dann drittens die Norm im Hauptsacheverfahren vorlegen, so dass die Autorität des Gesetzgebers wenigstens nachträglich gesichert ist.54 Letzteres hängt dann freilich auch von den Parteien ab, die es gegebenenfalls in der Hand haben, das Hauptsacheverfahren zu betreiben oder auch nicht. Drittens: Ebenfalls an dieser Stelle der Frage der Entscheidungserheblichkeit ist gegebenenfalls auch die Frage zu klären, wie sich die Vorlage eines nationalen Gesetzes nach Art. 100 Abs. 1 GG zum BVerfG zu einer Vorlage nach Art. 267 AEUV zum EuGH verhält. Hier sind abermals verschiedene Konstellationen zu unterscheiden: Konstellation 1: Grundsätzlich hat ein Fachgericht Wahlfreiheit, ob es eine entscheidungserhebliche Norm, die nach seiner Auffassung sowohl gegen das Unionsrecht als auch gegen das Verfassungsrecht verstößt, entweder dem BVerfG vorlegt oder/und dem EuGH die Frage vorlegt, ob insoweit ein Verstoß gegen Unionsrecht vorliegt. Das Fachgericht kann dies nach Zweckmäßigkeitserwägungen entscheiden.55 Die Entscheidungserheblichkeit ist nicht berührt. Konstellation 2: Wenn „feststeht“56, insbesondere wenn eine Vorlage an den EuGH ergibt, dass eine Anwendung des deutschen Gesetzes im vorliegenden Fall wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts ausscheidet, wird die Vorlage an das BVerfG entbehrlich und wegen mangelnder Entscheidungserheblichkeit unzulässig. Konstellation 3: Die Vorlage zum BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 GG ist zudem gegenüber einer Vorlage an den EuGH nach Art. 267 AEUV dann subsidiär, wenn die Frage zu klären ist, ob das Unionsrecht dem nationalen Recht insoweit Spielräume lässt. Denn dies ist eine Vorfrage, die für die Entscheidung des BVerfG eine doppelte Bedeutung hat. Erstens richtet sich danach, ob solche Spielräume durch Anwendung eines (gegebenenfalls strengeren) nationalen Grundrechtsschutzes gefüllt werden können. Zweitens bekommt der EuGH auf 53 Sieckmann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 100 Abs. 1 Rn. 9. 54 Ähnlich Pestalozza, JuS 1978, 312 (318 f.); T. Schmitt, Richtervorlagen in Eilverfahren?, 1997, S. 306 f.; Sieckmann (Fn. 53), Art. 100 Abs. 1 Rn. 11. 55 BVerfGE 116, 202 (214); ausdrücklich bestätigt durch BVerfGE 129, 186 (203) – Investitionszulagengesetz; das verkennt W. Meyer (Fn. 13), Art. 100 Rn. 22. 56 BVerfGE 116, 202 (214). _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 362 Normenkontrollen – Teil 3 diesem Wege die Gelegenheit, auch die unionalen Grundrechte der Grundrechte-Charta zum Ansatz zu bringen und gegebenenfalls eine Entscheidung nach Art. 100 Abs. 1 GG entbehrlich zu machen. Es handelt sich um eine Frage der insoweit lediglich subsidiären Zulässigkeit einer Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG. Das BVerfG fordert von dem vorlegenden Fachgericht, dass es „geklärt hat, ob das von ihm als verfassungswidrig beurteilte Gesetz in Umsetzung eines dem nationalen Gesetzgeber durch das Unionsrecht verbleibenden Gestaltungsspielraums ergangen ist.“57 Ob ein solcher Spielraum vorliegt, muss das Fachgericht gegebenenfalls im Vorabentscheidungsverfahren zum EuGH nach Art. 267 AEUV klären lassen. Daraus ergibt sich zudem, dass Art. 100 Abs. 1 GG mittelbar auch eine verfassungsrechtliche (!) Vorlagepflicht an den EuGH begründen kann.58 Art. 100 Abs. 1 GG tritt damit neben Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG als verfassungsprozessualer Hebel zur Durchsetzung der Vorlagepflicht an den EuGH. Zu beachten ist aber, dass die Subsidiarität der Vorlage zum BVerfG gegenüber einer Vorlage an den EuGH ausschließlich in der Sonderkonstellation greift, dass es die Frage eines unionsrechtlichen Spielraums zu klären gilt. Das kommt vor allem dann in Betracht, wenn das vom Fachgericht bezweifelte nationale Gesetz eine Richtlinie der Union umsetzt. f) Zum Verständnis: Hintergründe der restriktiven Rechtsprechung Dass das BVerfG die Zulässigkeitsvoraussetzungen der konkreten Normenkontrolle streng handhabt, hat zwei Funktionen: Zum einen wird verhindert, dass unnötige Vorlageverfahren den Ausgangsrechtsstreit verzögern. Die Parteien sollen nicht länger auf die Entscheidung ihres Rechtsstreits warten müssen, weil das Gericht das Verfahren zum Anlass nimmt, eine Frage von abstrakter, objektiver und grundsätzlicher Bedeutung klären zu lassen. Eine restriktive Auslegung des Art. 100 Abs. 1 GG kann deshalb insgesamt als Vorrang des effektiven, subjektiven Rechtsschutzes vor dem objektiv-rechtlichen Klärungsinteresse gedeutet werden. Normativ lässt sich diese Tendenz mit Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK (Gebot der „Entscheidung in angemessener Frist“) sowie mit Art. 19 Abs. 4 GG bzw. dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch i.V.m. den Grundrechten untermauern.59 Das zeigt sich bei verschiedenen Zulässigkeitsstationen: Untergesetzliche und vorkonstitutionelle Normen können grundsätzlich60 nicht vorgelegt werden; Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Norm reichen nicht; eine verfassungskonforme Auslegung muss ausgeschlossen werden, die Entscheidungserheblichkeit ist streng zu prüfen. All diese Hürden verweisen im Ergebnis auf die vorran- 57 BVerfGE 129, 186 (Ls. 1) – Investitionszulagengesetz; dazu die ausführliche Besprechung von Michael, ZJS 2012, 376. 58 BVerfGE 129, 186 (203) – Investitionszulagengesetz. 59 Vgl. BVerfGE 86, 71 (76 f.); kritisch Pieroth, in: Jarass/ Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 12. Aufl. 2012, Art. 100 Rn. 11. 60 Zu den Sonderfällen, dass der Gesetzgeber diese in seinen Willen aufgenommen hat, s.o. unter 3. c). ÖFFENTLICHES RECHT gige Erschöpfung alternativer Möglichkeiten des Ausgangsgerichts, den Fall selbst ohne Vorlage zu entscheiden. Zum anderen wird auch das BVerfG entlastet – und nicht etwa die Fachgerichte durch die vermeintliche Chance, sich der Beantwortung schwieriger verfassungsrechtlicher Fragen entledigen zu können.61 Mit Entlastung des BVerfG ist weniger gemeint, dass Ablehnungen wegen Unzulässigkeit weniger aufwändig als Entscheidungen in der Sache wären. Bedenkt man nämlich, dass dieselbe Norm auf dem Wege einer abstrakten Normenkontrolle und vor allem der Verfassungsbeschwerde doch noch auf den Prüfstand des BVerfG kommen kann, droht gegebenenfalls sogar ein Bumerang-Effekt. Entlastung tritt vielmehr vor allem ein, soweit die Fachgerichte die aufgeworfenen Probleme durch verfassungskonforme Auslegung selbst lösen können. Schließlich führen die strengen Begründungsanforderungen zu einer Entlastung des BVerfG auch in den Fällen, in denen die Vorlage zulässigerweise erfolgt. Die Richtervorlage ist nämlich so aufzubereiten, dass sie aus sich heraus nachvollziehbar ist und eine ausführliche und eigenständige Begründung enthält. Das BVerfG erhält zwar auch die Gerichtsakten, soll sich aber auf eine Plausibilitätskontrolle der Entscheidungserheblichkeit beschränken können. Auch die umfassende Aufbereitung der fachgerichtlichen Auslegung der Norm einschließlich der in der Literatur und Rechtsprechung hierzu vertretenen Auffassungen soll es dem BVerfG erleichtern, selbst die Unmöglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung nachvollziehen und beurteilen zu können. Schließlich soll auch die verfassungsrechtliche Begründung des vorlegenden Gerichts im Idealfall einen brauchbaren Entwurf für die vom BVerfG zu verantwortende Entscheidungsbegründung liefern. Die „Richtervorlage“ nach Art. 100 Abs. 1 GG hat also nicht den Charakter einer „Frage“, die das Fachgericht mangels verfassungsrechtlicher Kenntnisse nicht beantworten kann und sie deshalb an das BVerfG richtet. Vielmehr ist sie im Gegenteil eher eine vom Fachgericht zu erstellende „Entscheidungsvorlage“ für eine verfassungsgerichtliche Entscheidung, bei der sich das Fachgericht bis in die Einzelheiten auf verfassungsrechtliche Probleme einlassen muss. Salopp gesagt: Das Fachgericht soll bei der Richtervorlage ausnahmsweise „Verfassungsgericht spielen“ ohne freilich selbst „Verfassungsgericht sein“ zu dürfen – und wehe ihm, wenn es bei diesem „Spiel“ die „Spielregeln der Zulässigkeit“ nicht kennt. Im Ernst: Jedes Gericht ist ein Verfassungsgericht i.w.S. (Peter Häberle).62 Denn es ist verfassungsgebunden und es hat gegenüber Normen die Prüfungs(wenn auch nicht die uneingeschränkte Verwerfungs-)kompetenz und Prüfungspflicht. Und das Verfassungsprozessrecht hat eine doppelt „erzieherische“ Wirkung gegenüber den verfassungsgebundenen Fachgerichten: Auf der einen Seite stehen Art. 100 Abs. 1 GG und dessen strenge Auslegung durch das BVerfG und auf der anderen Seite können die Parteien mit der Verfassungsbeschwerde drohen für den Fall, dass das Gericht vorgebrachten grundrechtlichen Bedenken nicht Rechnung trägt. Dabei ist klarzustellen, dass es keinen subjektiven Anspruch darauf gibt, dass ein Fachgericht von Art. 100 Abs. 1 61 62 Pestalozza (Fn. 18), § 13 Rn. 6. Vgl. Häberle, VVDStRL 61 (2002), 185 (186). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 363 AUFSÄTZE Lothar Michael GG Gebrauch macht. Während bei Nichtvorlage an den EuGH eine Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung des gesetzlichen Richters in Betracht kommt, steht bei einer Nichtvorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG der unterlegenen Partei gegebenenfalls die Verfassungsbeschwerde gestützt auf die materiellen Grundrechte zur Verfügung. Die beiden Aspekte der Beschleunigung des fachgerichtlichen Verfahrens und der Entlastung des BVerfG stehen freilich auch in einem gewissen Spannungsverhältnis. Werden die Hürden einer zulässigen Richtervorlage unangemessen hoch gelegt, kann dies in eine verzögernde Belastung der Fachgerichte umschlagen. Eine ökonomische Analyse müsste danach fragen, wie lange Fachgerichte für solche Vorlagen brauchen, wie viele Verfahren sie stattdessen liegen lassen usf. Vor allem kommt es aber darauf an, die Zulässigkeitsanforderungen klar und praktisch handhabbar zu erfassen. Das BVerfG ist auch deshalb um Kontinuität und Detailschärfe seiner rigiden Rechtsprechung bemüht. Andererseits ist die Rechtsprechung auch zu Recht in Einzelfällen großzügiger gewesen. So hat das BVerfG die Begründungsanforderungen abgemildert, wenn das vorlegende Gericht rechtlich daran gehindert ist, die an sich gebotenen Ermittlungen durchzuführen.63 Auch hat es vom Erfordernis der Entscheidungserheblichkeit abgesehen, wenn „die Vorlagefrage von allgemeiner und (!) grundsätzlicher Bedeutung für das Gemeinwohl und (!) deshalb ihre Entscheidung dringlich ist“64. 63 64 BVerfGE 58, 300 (327). BVerfGE 47, 146 (157). _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 364 Einführung in das Kostenrecht der ZPO Von Wiss. Mitarbeiter Felix M. Wilke, LL.M. (Michigan), Bayreuth Auch Laien ist häufig die Grundregel des § 91 ZPO bekannt: „Wer verliert, zahlt.“ Viele Jurastudenten wissen vor dem ersten Examen wenig mehr. Es ist auch nicht Anliegen dieses Beitrags, die Bedeutung der Prozesskosten im Studium aufzubauschen. Vielmehr soll es überblicksweise um die Grundlinien des Kostenrechts gehen, damit examensrelevante ZPONormen mit kostenrechtlichen Bezügen keine Stolpersteine bilden. Angehenden Referendaren mögen die Ausführungen als Einstieg dienen. Letztlich geht es um juristische Allgemeinbildung. I. Einführung Prozesskosten spielen im ersten Examen typischerweise keine Rolle. Doch stößt der Examenskandidat im Kontext anderer prozessualer Fragen immer wieder auf Kostenvorschriften, etwa bei der Klagerücknahme gem. § 269 ZPO und beim Versäumnisurteil gem. §§ 330 ff. ZPO. Für die übereinstimmende Erledigungserklärung findet sich überhaupt nur eine Kostenvorschrift (§ 91a ZPO). Dieser Beitrag setzt sich mit den Grundzügen der Kosten des Erkenntnisverfahrens auseinander.1 Außen vor bleiben sonstige Anspruchsgrundlagen für eine Kostenerstattung. Auch wenn das materielle Recht keinen allgemeinen Kostenerstattungsanspruch kennt, können diverse Anspruchsgrundlagen der Sache nach Prozesskosten erfassen, etwa §§ 280 Abs. 1, 2, 286 oder § 823 BGB.2 Für deren klageweise Durchsetzung fehlt allerdings das Rechtsschutzbedürfnis, soweit (!) das unten darzustellende Kostenfestsetzungsverfahren reicht.3 II. Verfassungsrechtlicher und rechtspolitischer Rahmen Der Gesetzgeber befindet sich in einer Zwickmühle. Auf der einen Seite beansprucht der Staat das Gewaltmonopol für sich. Die Bürger dürfen ihre Rechte nicht selbst durchsetzen, sondern müssen sich an die staatlichen Einrichtungen wenden.4 Der aus dem Rechtsstaatsprinzip hergeleitete Justizgewährleistungsanspruch verlangt, dass der Zugang zu den Gerichten nicht unzumutbar erschwert ist.5 Dazu gehört, dass das Kostenrisiko eines Prozesses nicht außer Verhältnis zum damit angestrebten Erfolg stehen darf.6 Auch die EMRK ver1 Einführungen anderen Zuschnitts finden sich bei Breidenstein, JA 2011, 771; Stoffregen, JuS 2010, 401; kostenrechtliche Probleme für das Assessorexamen bei Fischinger, JA 2009, 49. 2 Lackmann, in: Musielak, Kommentar zur ZPO, 10. Aufl. 2013, Vorbemerkung vor § 91 Rn. 15. 3 Loritz, Die Konkurrenz materiellrechtlicher und prozessualer Kostenerstattung, 1981, S. 99 f.; BGHZ 111, 168 (171). 4 Vgl. nur Hillgruber, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, 51. Ergänzungslieferung 2007, Art. 92 Rn. 11; BVerfGE 54, 277 (292) – Plenum. 5 Schulze-Fielitz, in: Dreier, Kommentar zum Grundgesetz, 2. Aufl. 2006, Art. 20 Rn. 211 f.; BVerfGE 85, 337 (345347). 6 Siehe nur BVerfG NJW 2006, 136 (137). langt einen individuellen Zugang zu staatlichen Gerichtsverfahren, unabhängig von der persönlichen finanziellen Leistungsfähigkeit.7 Nicht wenige Zivilprozesse dienen nicht allein einem Privatinteresse, sondern auch Allgemeininteressen, etwa solchen an der Klärung offener Rechtsfragen und an der Rechtsfortbildung.8 Dies alles legt nahe, dass der Staat sein Justizsystem kostenlos zur Verfügung stellen sollte. Auf der anderen Seite steht zu befürchten, dass es bei „Justiz zum Nulltarif“ zu einer unnötigen und grundlosen Belastung der Gerichte kommt. Auch aussichtslose Fälle würden, so die Schreckensvorstellung, durch alle Instanzen ausgefochten. Diese Sorgen lassen sich zum Teil empirisch belegen:9 Jedenfalls in bestimmten Rechtsgebieten prozessieren Parteien, die über eine Rechtsschutzversicherung verfügen, häufiger und hartnäckiger, doch weniger erfolgreich. Und überhaupt: Angesichts der Finanzierungsfrage ist ein justizieller Nulltarif wohl utopisch. Vor diesem Hintergrund gilt es, einen Mittelweg zu finden. Insbesondere seit Ende der 60er Jahre wurden und werden in Deutschland viele Lösungen diskutiert, etwa: Kostenbefreiung in besonders sozial relevanten Materien; Kostenübernahme durch den Staat in Revisionsverfahren; Ausdehnung der Prozesskostenhilfe; Kostenbefreiung bei „echter“ Unklarheit über die Rechtslage; eine allgemeine Rechtsschutzpflichtversicherung.10 Auch nach zwei umfangreichen Reformgesetzen in den letzten zehn Jahren11 verlangen jedoch die Zivilgerichte für ihr Tätigwerden Gebühren, ganz gleich, ob in erster oder letzter Instanz. Soziale Erwägungen spielen in Einzelfällen eine Rolle; die „Unklarheit“ einer Rechtsfrage oder das Allgemeininteresse an Rechtsfortbildung machen Prozesse nicht kostenlos. Der Abschluss einer Rechtsschutzversicherung ist freiwillig. Und unverrückt steht der Grundsatz: „Wer verliert, zahlt.“ III. Die Kosten eines Zivilprozesses Es lassen sich in einem Zivilprozess vier kostenrelevante Beziehungen unterscheiden: Das Verhältnis von Gericht zu Personen, die nicht Partei sind, also z.B. zu Zeugen und Sachverständigen; das Verhältnis zwischen Gericht und den 7 Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2011, Art. 6 Rn. 40; Valerius, in: Beck’scher OnlineKommentar zur StPO, Ed. 18, Stand: 24.3.2014, Art. 6 EMRK Rn. 5. 8 Vgl. Bork, in: Stein/Jonas, Kommentar zur ZPO, 22. Aufl. 2004, vor § 91 Rn. 5. 9 Jagodzinski/Raiser/Riehl, Rechtsschutzversicherung und Rechtsverfolgung, 1994 = Beilage Nr. 59a zum Bundesanzeiger 1994. 10 Zur historischen Debatte Bokelmann, ZRP 1973, 164; Pawlowski, JZ 1975, 197; Rehbinder, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 4, 1975, S. 395-413. 11 Gesetz zur Modernisierung des Kostenrechts (KostRMoG) v. 5.5.2004; Zweites Gesetz zur Modernisierung des Kostenrechts (2. KostRMoG) v. 23.7.2013. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 365 DIDAKTISCHE BEITRÄGE Felix M. Wilke Parteien; das der Parteien zu ihren Rechtsanwälten (wenn sie denn einen Rechtsanwalt mandatieren); und schließlich das Verhältnis der Parteien untereinander. Kosten entstehen in den ersten drei Verhältnissen und werden im vierten verteilt. Um das Verhältnis zwischen den Parteien geht es in §§ 91 ff. ZPO. Es bildet die „Schnittstelle“12 für alle zuvor genannten Verhältnisse. Das Gericht verlangt von den Parteien die Zahlung von Gerichtsgebühren13 und für Auslagen (etwa für Zeugen und Sachverständige14 oder für die Klagezustellung15). Zusammen ergeben diese Gebühren und Auslagen die Gerichtskosten (vgl. § 1 Abs. 1 S. 1 a.E. GKG).16 Die Parteien haben im Übrigen sogenannte „außergerichtliche Kosten“.17 Hier sind Auslagen der Parteien zu nennen, wie z.B. Reisekosten.18 Insbesondere geht es indes um Gebühren und Auslagen der Rechtsanwälte. Diese richten sich grundsätzlich nach dem RVG. Partei und Rechtsbeistand können aber auch in den gesetzlichen Grenzen eine Vergütung vereinbaren, unter bestimmten Voraussetzungen sogar ein Erfolgshonorar (§§ 49b BRAO, 4a RVG).19 Gerichtskosten und außergerichtliche Kosten bilden zusammen die Prozesskosten, oder, um mit dem RG zu sprechen, „die unmittelbaren Aufwendungen zur Führung eines Prozesses“.20 IV. Die Verteilung der Kosten 1. Unterlegenenhaftung Die Parteien müssen ihre Kosten zunächst selbst tragen. Wer aber kann am Ende des Prozesses Erstattung von wem verlangen? § 91 Abs. 1 S. 1, 1. Hs. ZPO sieht den schon mehrfach angesprochenen Grundsatz vor: „Wer verliert, zahlt.“ Dem Modell liegt in etwa folgende Vorstellung zugrunde: „Wenn die Rechtsordnung dem Einzelnen ein Recht zuspricht, so spricht sie es ihm ganz zu und nicht abzüglich der Kosten einer eventuellen gerichtlichen Durchsetzung.“21 Ganz „kosten“frei erhält der Einzelne sein Recht freilich so gut wie nie, denn sehr wohl entgeht ihm Freizeit und entsteht ihm Ärger. Damit ist das deutsche Kostenrecht grundlegend anders als etwa die American Rule, nach der prinzipiell jede Partei die eigenen Kosten zu tragen hat. Ein Gericht kann nur unter einer gesonderten Ermächtigung einer Partei die Kosten der anderen auferlegen. Die Unterlegenenhaftung ist keine Strafe für unbegründetes Prozessieren;22 es kommt insbesondere nicht auf irgendeine 12 Schulz, in: Münchener Kommentar zu ZPO, 4. Aufl. 2013, Vorbem. zu den §§ 91 ff. Rn. 4. 13 Maßgeblich ist insbesondere das GKG. 14 Siehe hierzu §§ 8 ff., 19 ff. JVEG; Nr. 9005 KV GKG. 15 Nr. 9002 KV GKG. 16 Lackmann (Fn. 2), vor § 91 Rn. 4. 17 Zur Missverständlichkeit des Begriffs Schulz (Fn. 12), Vorbem. zu den §§ 91 ff. Rn. 7. 18 Lackmann (Fn. 2), vor § 91 Rn. 5. 19 Damit ist nichts über die eventuelle Erstattungspflicht der anderen Seite gesagt, hierzu unter IV. 3. 20 RGZ 150, 37 (40). 21 Rehbinder (Fn. 10), S. 395 (405). 22 Bork (Fn. 8), vor § 91 Rn. 6. Form von Verschulden an.23 Vielmehr ist sie letztlich Haftung für die grundlose Verursachung eines Prozesses.24 Es besteht eine Art Vermutung, dass derjenige den Rechtsstreit grundlos veranlasst hat, der unterliegt. Ein Kläger muss wegen des staatlichen Gewaltmonopols das Gericht einschalten. Ein Beklagter muss sich, etwa vor dem Hintergrund eines möglichen Versäumnisurteils, meist auch dann wehren, wenn er einer inhaltlich aussichtslosen Klage ausgesetzt wird. Bestimmte Kosten sind damit für die Parteien eines Prozesses einfach nicht zu vermeiden. Die obsiegende Partei auf derart unabwendbaren eigenen Kosten sitzen zu lassen, entspricht nicht den deutschen Gerechtigkeitsvorstellungen. Diese Verursachungshaftung ist außerdem eine einfache Lösung, sodass ein Erstattungsanspruch im Idealfall schnell zu verwirklichen ist.25 Freilich vermag der Gesichtspunkt der Einfachheit per se diese Kostenverteilung nicht zu rechtfertigen: eine Regel, nach der jede Partei ihre eigenen außergerichtlichen Kosten trüge, wäre kaum komplizierter26 – und ist dem Prozessrecht nicht schlechterdings unbekannt, siehe § 12a Abs. 1 S. 1 ArbGG fürs arbeitsgerichtliche Urteilsverfahren erster Instanz. Die Unterlegenenhaftung trägt nicht unbedingt zur Vermeidung von Prozessen bei. Wer siegesgewiss ist, hat keinen Anreiz, sich mit dem Gegner im Vorfeld des Prozesses zu einigen.27 Vereinfachend gesprochen werden lediglich diejenigen Prozesse vermieden, bei denen eine geringe Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass das Gericht eine Haftung dem Grunde nach bejahen wird.28 2. Völliges und teilweises Unterliegen Eine Partei ist unterlegen, soweit das letztinstanzliche Urteil nicht ihrem Sachantrag in der Hauptsache entspricht.29 Ein einfaches Beispiel: Der Kläger verlangt die Zahlung von 10.000 €. Seine Klage wird vollumfänglich abgewiesen. Er ist unterlegen und wird grundsätzlich sämtliche Prozesskosten tragen müssen. Umgekehrt: Bekommt der Kläger in voller Höhe Recht, ist der Beklagte, der Abweisung beantragte, unterlegen. Die Kosten werden dem Beklagten auferlegt. Dies gilt auch, wenn die schlussendlich unterlegene Partei in den unteren Instanzen den Prozess gewann: Sie muss die Kosten des gesamten Verfahrens tragen.30 Nun kann es geschehen, dass beide Seiten teilweise obsiegen, teilweise unterliegen. So könnte im Beispiel der Kläger, der 10.000 € verlangt, nur 2.500 € zugesprochen bekommen. In diesen Fällen sieht § 92 Abs. 1 S. 1 ZPO eine Verteilung der Kosten vor. Das Gericht wird quoteln und aus- 23 Schulz (Fn. 12), Vorbem. zu den §§ 91 ff. Rn. 26. Bork (Fn. 8), vor § 91 Rn. 6; Schulz (Fn. 12), Vorbem. zu den §§ 91 ff. Rn. 26. 25 Schulz (Fn. 12), Vorbem. zu den §§ 91 ff. Rn. 26. 26 Siehe schon Bokelmann, ZRP 1973, 164 (169). 27 Ausführlich Wagner/Harbst, ZZP 120 (2007), 269. 28 Cooter/Ulen, Law & Economics, 6. Aufl. 2012, S. 408 f. 29 Schulz (Fn. 12), § 91 Rn. 15. 30 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 84 Rn. 14; Lackmann (Fn. 2), § 91 Rn. 5. 24 _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 366 Einführung in das Kostenrecht der ZPO sprechen: „Von den Kosten trägt der Kläger 3/4, der Beklagte 1 /4.“ Eine besondere Situation ergibt sich, wenn das Unterliegen bzw. Obsiegen etwa die Hälfte beträgt. Hier könnte das Gericht nach § 92 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 ZPO die Kosten hälftig quoteln: „Von den Kosten des Rechtsstreits trägt jede Partei 1 /2.“ Es kann auch nach § 92 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. ZPO vorgehen und die Kosten gegeneinander aufheben. Die Gerichtskosten werden dann hälftig geteilt, während die außergerichtlichen Kosten von jeder Partei für sich zu tragen sind (§ 92 Abs. 1 S. 2 ZPO). Fraglich ist, wie zu verfahren ist, wenn eine ungefähr zur Hälfte obsiegende Partei deutlich geringere außergerichtliche Kosten als die andere hatte, insbesondere, wenn und weil sie sich nicht anwaltlich vertreten lassen hat. Würden die Gesamtkosten nun hälftig geteilt, müsste die sparsame Partei die Mehrausgaben der weniger sparsamen Partei zum Teil mittragen. Plausibel erscheint daher zunächst die Aufhebung der Kosten.31 Die sparsame Partei würde so von den außergerichtlichen Kosten der anderen Seite komplett entlastet. Dieser Weg wird indessen auf den zweiten Blick zweifelhaft. Warum soll einer Partei die sparsame Prozessführung dann und nur dann in vollem Umfang zugutekommen, wenn sie gerade zu (knapp) 50 % gewinnt? Diese Unstimmigkeit wird noch augenfälliger, wenn man vergleichsweise die Situation betrachtet, in der die sparsame Partei zu mehr als 50 % obsiegt. Nimmt man an, dass hierbei eine Aufhebung der Kosten zwar nicht dem Wortlaut nach, aber aufgrund des Prinzips der Unterlegenenhaftung ausscheidet,32 ist eine Quotelung unumgänglich. Betragsmäßig kann sich für die sparsame Partei dann eine höhere Kostenbelastung ergeben, als wenn sie lediglich zur Hälfte obsiegt und eine Aufhebung der Kosten stattgefunden hätte! Einige Stimmen fordern daher, bei stark abweichenden außergerichtlichen Kosten auch bei hälftigem Obsiegen keine Aufhebung der Kosten auszusprechen.33 Im Ergebnis hätte sich die sparsame Prozessführung dann immer noch gelohnt, weil die Gesamtkosten geringer sind, von denen die sparsame Partei die Hälfte zu tragen hat. Das erscheint nicht gerade befriedigend, doch derzeit sind keine Lösungsvorschläge in Sicht, die nicht gravierende Friktionen mit Wortlaut oder Systematik verursachen.34 3. Umfang der Erstattung Selbst die vollkommen unterlegene Partei trägt aber nicht unbedingt alle Kosten. § 91 Abs. 1 S. 1, 2. Hs. ZPO ordnet im selben Atemzug mit der Kostentragungspflicht an, dass 31 So die h.M.: Herget, in Zöller, Kommentar zur ZPO, 30. Aufl. 2014, § 92 Rn. 1; Schilken, Zivilprozessrecht, 6. Aufl. 2010, Rn. 1087; Zimmermann, ZPO – Fallrepetitorium, 9. Aufl. 2012, S. 201 (Fall 272); Schneider, Rpfleger 1985, 374 (375); Fischer, DRiZ 1993, 317 (318); LG Berlin Rpfleger 1992, 175. 32 Schulz (Fn. 12), § 91 Rn. 13. 33 Ausführlich Gemmer, NJW 2012, 3479; Oberheim, Zivilprozessrecht für Referendare, 9. Aufl. 2012, § 10 Rn. 56; LG Hamburg Rpfleger 1985, 374. 34 Überzeugend Gemmer, NJW 2012, 3479 (3480 f.). ZIVILRECHT die Kosten des Gegners nur zu erstatten sind, „soweit sie zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendig waren“. Der Erstattungsanspruch ist immanent beschränkt. Wer eine Erstattung all seiner Kosten wünscht, ist dazu angehalten, den Prozess ökonomisch zu führen.35 In Bezug auf die Notwendigkeit kommt es darauf an, „ob eine verständige und wirtschaftlich vernünftige Partei die Kosten auslösende Maßnahme [...] als sachdienlich ansehen durfte“.36 Wichtig ist die Vergangenheitsform, denn es handelt sich um einen ex ante-Maßstab. Ob eine Maßnahme den Prozessausgang tatsächlich beeinflusst hat, spielt keine Rolle.37 § 91 Abs. 2 S. 1, 1. Hs. ZPO legt fest, dass die „gesetzlichen Gebühren und Auslagen des Rechtsanwalts der obsiegenden Partei“ „in allen Prozessen zu erstatten [sind]“. Das ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Erstens ist von „allen Prozessen“ die Rede, also nicht etwa nur denjenigen, in denen eine anwaltliche Vertretung vorgeschrieben ist. Es ist demnach die gesetzliche Wertung, dass man sich in jedem Prozess eines Anwalts bedienen darf. Ohne Bedeutung ist es, ob man selbst rechtskundig ist oder eine Rechtsabteilung zur Verfügung hat.38 Zweitens ist die Erstattung der „gesetzlichen“ Gebühren und Auslagen der Rechtsanwälte angeordnet. Dies hat nun wiederum zweierlei Bedeutung. Zum einen wird diese Vorschrift verbreitet so verstanden, dass eine Prüfung der „Notwendigkeit“ in Bezug auf die anwaltlichen Maßnahmen unterbleibt.39 Zur selten gegebenen Begründung erscheint ein Umkehrschluss aus § 91 Abs. 2 S. 1, 2. Hs. ZPO möglich. Zum anderen sind aber auch nur die gesetzlichen Gebühren und Auslagen erstattungsfähig. Hat die obsiegende Partei mit ihrem Anwalt eine höhere Vergütung vertraglich vereinbart, ist der überschießende Teil nicht zu erstatten. Ansonsten wäre das Prozesskostenrisiko auch überhaupt nicht überschaubar.40 4. Erste Abweichungen Auch eine nur teilweise unterlegene Partei muss manchmal die gesamten Kosten des Prozesses tragen. Auch eine an sich komplett obsiegende Partei muss unter Umständen für alle Prozesskosten aufkommen. Ein Beispiel: Ein Kläger klagt auf Zahlung von 10.000 € und ihm werden 9.750 € zugesprochen. Für Fälle, in denen die Zuvielforderung einer Partei verhältnismäßig gering war, stellt es § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO in das Ermessen des Gerichts, der unterlegenen Partei die gesamten Prozesskosten aufzuerlegen. Voraussetzung ist, dass der zu viel geforderte Teil zu keinen oder nur geringfügigen höheren Kosten geführt hat 35 Vgl. Lackmann (Fn. 2), § 91 Rn. 8; Schulz (Fn. 12), § 91 Rn. 2. 36 BGH NJW 2003, 898 (900). 37 Schulz (Fn. 12), § 91 Rn. 51; Lackmann (Fn. 2), § 91 Rn. 8. 38 Schulz (Fn. 12), § 91 Rn. 57. 39 Bork (Fn. 8), § 91 Rn. 125; Schulz (Fn. 12), § 91 Rn. 59; BGH NJW 2003, 1532; a.A. wohl Lackmann (Fn. 2), § 91 Rn. 11. 40 Schulz (Fn. 12), § 91 Rn. 61. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 367 DIDAKTISCHE BEITRÄGE Felix M. Wilke (Faustregel: je bis zu 10 %)41. Solche höheren Kosten könnten selbst im Beispiel entstanden sein, wenn etwa gerade für die im Ergebnis „fehlenden“ 250 € ein besonderer Zeuge erforderlich war.42 Entscheidender noch: Gerichtskosten bestimmen sich nach dem Streitwert in einem gestuften System. So ist für Fälle „bis 500 €“ eine Gebühr von 35 €vorgesehen, für Fälle „bis 1.000 €“ eine Gebühr von 53 € und so fort.43 Eine geringe Summe kann also, anders als im Beispiel, zu einem Gebührensprung und so unter Umständen zu nicht nur geringfügig höheren Gerichtskosten führen. Dasselbe Resultat kann über § 92 Abs. 2 Nr. 2, 1. und 2. Var. ZPO bei Ansprüchen erreicht werden, die vom richterlichen Ermessen abhängen. Im nächsten Beispiel möge ein Kläger erneut auf Zahlung von 10.000 € klagen. Der Beklagte, der die Zahlung nie verweigert hatte, erkennt den Anspruch im Verfahren sofort an. Formal betrachtet hat der Kläger damit auf ganzer Linie gewonnen. Es scheint, als müsste der Beklagte nun die Prozesskosten tragen. Doch geht es, wie bereits ausgeführt, darum, denjenigen mit den Kosten zu belasten, der einen Rechtsstreit grundlos verursacht hat. Im Falle eines Beklagten, der vor dem Prozess keinen Anlass zur Klageerhebung gegeben hat und im Prozess sofort den Anspruch anerkennt, ist dieser Verursacher aber der Kläger. Folgerichtig sind unter diesen Voraussetzungen gem. § 93 ZPO auch dem Kläger die Prozesskosten aufzuerlegen. Unter seinen engen Voraussetzungen bietet § 93 ZPO einen Anreiz zur Prozessvermeidung.44 5. Durchbrechung der Kosteneinheit Es ist außerdem möglich, dass der obsiegenden Partei immerhin ein Teil der Prozesskosten aufzuerlegen ist. Es handelt sich um Situationen, in denen eine Partei durch unsachgemäße Prozessführung verantwortlich für klar abgrenzbare Mehrkosten ist. Dahinter steht erneut der Verursachungsgedanke. Damit wird zugleich das Prinzip der Kosteneinheit45 durchbrochen, wonach an sich über alle in einem Prozess anfallenden Kosten einheitlich zu entscheiden ist. Dabei kann es sich um einen Kläger handeln, der zwar zu Recht einen Anspruch geltend macht, doch ein unzuständiges Gericht anruft. Die durch die dann nötige Verweisung entstandenen Mehrkosten muss er nach § 281 Abs. 3 S. 2 ZPO tragen. Es kann sich auch um einen Beklagten handeln, der trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht zum Termin erscheint. Der erschienene Kläger trägt schlüssig vor, ihm stehe der geltend gemachte Anspruch tatsächlich zu, woraufhin das Gericht ein Versäumnisurteil zugunsten des Klägers erlässt. Wird der Prozess nun nach Einspruch des Beklagten fortgesetzt und gewinnt der Beklagte in der Folge, hat er gem. § 344 ZPO dennoch diejenigen Kosten zu tragen, die durch seine Säumnis entstanden sind. Dabei könnte es sich um die 41 Lackmann (Fn. 2), § 92 Rn. 6a; Schulz (Fn. 12), § 92 Rn. 19/21. 42 Zimmermann (Fn. 31), S. 202 (Fall 273). 43 Anlage 2 (zu § 34 Abs. 1 S. 3) zum GKG. 44 Wagner/Harbst, ZZP 120 (2007), 269 (271); Lackmann (Fn. 2), § 93 Rn. 1. 45 Rosenberg/Schwab/Gottwald (Fn. 30), § 84 Rn. 46. Kosten für eine nochmalige Ladung von Zeugen oder zusätzliche Reisekosten für die andere Partei handeln.46 6. Kosten bei Klagerücknahme und Erledigung Der Verursachungsgedanke erklärt auch folgendes Beispiel:47 Ein Kläger verlangt vom Beklagten 10.000 €. Dem Beklagten wird die Klage zugestellt und er zahlt noch vor der mündlichen Verhandlung. Der Kläger nimmt die Klage daraufhin zurück. Zwar hat der Kläger sein wirtschaftliches Ziel erreicht. Er hätte den Prozess offenbar auch gewonnen. Für das Gericht ist indes nicht ersichtlich, welche Partei in welchem Maße obsiegt hätte. Damit verbleibt die Kostenlast laut § 269 Abs. 3 S. 2 ZPO beim prozessverursachenden Kläger. Hätte der Kläger diese Kostenlast vermeiden können – abgesehen davon, dass in diesem Fall eine außergerichtliche Streitbeilegung vielleicht die vernünftigere Lösung gewesen wäre? Relativ eindeutig verhält es sich, wenn die Parteien gemeinsam die Hauptsache für erledigt erklären. Das Gericht entscheidet dann gem. § 91a Abs. 1 S. 1 ZPO über die Kosten „unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen“. Die Praxis erlegt häufig demjenigen die Kosten auf, der den Prozess verloren hätte, wenn die Erledigung nicht eingetreten wäre.48 Auf Grundlage des bisher Gesagten steht jedoch fest, dass es für die Kostenverteilung nicht immer auf das Unterliegen ankommt. Präziser ist daher die Frage, wer die Kosten hätte tragen müssen, wenn die Erledigung nicht eingetreten wäre.49 Da das Gericht Ermessen hat, kommt auch eine abweichende Aufteilung in Betracht, insbesondere, wenn der hypothetische Prozessausgang nicht zu bestimmen ist.50 Der Gesetzgeber hat den Fall, in dem der Kläger einseitig die Hauptsache für erledigt erklärt, nicht geregelt. Die h.M. sieht hierin eine Klageänderung:51 Der Kläger verlange nunmehr die Feststellung, dass seine ursprünglich zulässige und begründete Klage jetzt unzulässig oder unbegründet ist. Wenn das Gericht diese Feststellung trifft, wendet die wohl h.M. für die Kosten schlicht § 91 (bzw. § 92) ZPO an.52 Schließlich ist es möglich, dass der Kläger die Klage nach Erhebung, aber vor Zustellung zurücknimmt. Hier sieht § 269 Abs. 3 S. 3 ZPO seit 2002 eine dem Wortlaut nach identische Regelung wie bei der übereinstimmenden Erledigungserklärung vor. Kritiker sehen hier einen rechtspolitisch höchst fragwürdigen Widerspruch; nicht wenige nehmen sogar die 46 Prütting, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 4. Aufl. 2013, § 344 Rn. 13. 47 Beispiel nach Breidenstein, JuS 2011, 771 (777). 48 Nachweise bei Bork (Fn. 8), § 91a Rn. 33. 49 Lindacher, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 4. Aufl. 2013, § 91a Rn. 48. 50 Bork (Fn. 8), § 91a Rn. 33. 51 Lackmann (Fn. 2), § 91a Rn. 29; Schilken (Fn. 31), Rn. 637; BGH NJW 1994, 2363 (2364); a.A. Musielak, Grundkurs ZPO, 11. Aufl. 2012, Rn. 273; Rosenberg/Schwab/ Gottwald (Fn. 30), § 131 Rn. 34-45. 52 Lackmann (Fn. 2), § 91a Rn. 45; Schilken (Fn. 31), Rn. 640; BGHZ 83, 12 (15). _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 368 Einführung in das Kostenrecht der ZPO Verfassungswidrigkeit der Vorschrift an.53 In Skizzenform geht es dabei um Folgendes: Im Rahmen der beiderseitigen Erledigungserklärung hat es der Beklagte in der Hand, ob es zu der Entscheidung des Gerichts über die Kosten nach billigem Ermessen kommt. Er kann ja der Erledigungserklärung des Klägers zustimmen oder nicht. Ohne seine Beteiligung und gegen seinen Willen kommt es aber über § 269 Abs. 3 S. 3 ZPO zu derselben Folge, wenn der Kläger die Klage – naturgemäß einseitig – zurücknimmt. 7. Einfluss sozialer Gesichtspunkte Das Kostenrecht der ZPO kennt mit § 93b ZPO auch eine Vorschrift, in der soziale Gesichtspunkte durchscheinen.54 Nach §§ 574, 574a BGB kann ein Mieter einer an sich wirksamen Kündigung des Vermieters widersprechen und eine Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen, wenn die Kündigung eine nicht zu rechtfertigende Härte bedeutet. Hiermit korrespondiert eine prozessuale Sonderregel. Unter engen Voraussetzungen, insbesondere der nachträglichen Entstehung der Obsiegensgründe, kann das Gericht gem. § 93b Abs. 1 S. 1 ZPO dem auf Räumung klagenden Vermieter auch dann die Kosten auferlegen, wenn er obsiegt. Hat der Mieter auf Fortsetzung geklagt und verliert er den Rechtstreit, so können nach § 93b Abs. 1 S. 2 ZPO wiederum dem Vermieter die Kosten auferlegt werden. Es finden sich in § 93b ZPO aber auch Verursachungsaspekte. Dem einer Räumungsklage ausgesetzten Mieter können nach § 93b Abs. 2 ZPO auch im Falle seines Obsiegens die Kosten auferlegt werden, wenn er dem kündigenden Vermieter nicht unverzüglich eine Begründung seines Widerspruchs geliefert hat (§ 574b Abs. 1 S. 2 BGB). Ähnlich wie § 93 ZPO bietet die Vorschrift gewisse Anreize zur Prozessvermeidung. V. Das Kostenfestsetzungsverfahren Das Gericht wird im Urteil (in aller Regel von Amts wegen, § 308 Abs. 2 ZPO55) nur feststellen, welche Partei in welchem Verhältnis die Kosten zu tragen hat. Dies ist die Kostengrundentscheidung. Sie ist grundsätzlich nicht isoliert, sondern gem. § 99 Abs. 1 ZPO nur mit der Entscheidung in der Hauptsache anfechtbar. Dahinter stehen Erwägungen der Verfahrensökonomie und der Vermeidung sich widersprechender Entscheidungen.56 Es könnte ja sonst geschehen, dass das Rechtsmittelgericht zur Bestimmung der Kostenverteilung eine andere Bewertung der Hauptsache als das Ausgangsgericht vornimmt. Die betragsmäßige Festlegung der Kosten und die Durchsetzung des Kostenerstattungsanspruchs ist einem zweiten Schritt vorbehalten, dem Kostenfestsetzungsverfahren gem. §§ 103 ff. ZPO. Örtlich und instanziell ist gem. § 104 Abs. 1 53 Zum Ganzen Becker-Eberhard, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 4. Auflage 2013, § 269 Rn. 55-57 m.w.N. 54 Sonderregeln aufgrund besonderer familienrechtlicher Rücksichts- und Kostenausgleichspflichten finden sich nun in §§ 132, 150, 183 und 243 FamFG. 55 Siehe aber § 269 Abs. 3 S. 2, Abs. 4 ZPO. 56 Schulz (Fn. 12), § 99 Rn. 1. ZIVILRECHT ZPO grundsätzlich das Gericht des ersten Rechtszugs zuständig, funktionell gem. § 21 Nr. 1 RPflG der Rechtspfleger. Dieser prüft, ob der Antrag auf Festsetzung des konkreten Betrags zulässig ist, sowie die Notwendigkeit, Höhe und tatsächliche Aufwendung der geltend gemachten Kosten.57 Am Ende des Verfahrens ergeht der Kostenfestsetzungsbeschluss, der gem. § 794 Abs. 1 Nr. 2 ZPO Vollstreckungstitel ist. Der Beschluss kann auch auf das Urteil gesetzt werden, was wegen §§ 105 Abs. 2 S. 1, 795a ZPO Zustellung und Vollstreckung vereinfacht. Da sowohl das Gericht als auch Anwälte tätig werden, stellt sich im Prinzip erneut die Kostenfrage. Die einfache Antwort lautet jedoch: es werden grundsätzlich keine zusätzlichen Gerichtskosten erhoben, und auch die Anwälte erhalten im Kostenfestsetzungsverfahren keine gesonderte Vergütung (§ 19 Abs. 1 S. 2 Nr. 14 n.F. RVG).58 VI. Annex: Prozesskostenhilfe59,60 Der Gleichheitssatz und das Prinzip des sozialen Rechtsstaates gebieten, dass auch Parteien mit geringen finanziellen Mitteln Zugang zu den Gerichten haben.61 Die Europäische Menschenrechtskonvention verlangt im Grundsatz ebenfalls, dass der Zugang zum Gericht nicht von der persönlichen finanziellen Leistungsfähigkeit, Gerichts- und Anwaltskosten bezahlen zu können, abhängen darf.62 Diesen Zielen dient die Prozesskostenhilfe. Es handelt sich um eine Form der Sozialhilfe,63 die aufgrund des engen Sachzusammenhangs nicht bei der Verwaltung, sondern bei den Gerichten angesiedelt ist.64 Man erhält gem. §§ 114, 115 ZPO Prozesskostenhilfe, wenn insbesondere das eigene Einkommen und Vermögen zur Prozessführung nicht genügen und die Rechtsverfolgung/ -verteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet sowie nicht mutwillig ist. Von der komplexen und mit dem Sozialhilferecht verzahnten Bestimmung ausreichenden Einkommens bzw. Vermögens abgesehen, wird demnach geprüft, ob der Vortrag der hilfsbedürftigen Partei schlüssig und in tatsächlicher Hinsicht glaubhaft ist.65 „Nicht mutwillig“ ist ein Prozess, wenn eine hypothetische Partei, die ihre eigenen 57 Rosenberg/Schwab/Gottwald (Fn. 30), § 85 Rn. 23. Lackmann (Fn. 2), § 104 Rn. 45 f. 59 Für detaillierte Einführungen in das Recht der Prozesskostenhilfe siehe Stackmann, JuS 2006, 233; Fischer, JuS 2004, 1068. 60 Von der Prozesskostenhilfe zu trennen ist die Beratungshilfe, die gem. § 1 Abs. 1 BerHG (unter ähnlichen Voraussetzungen wie die Prozesskostenhilfe) zur Rechtswahrnehmung „außerhalb des gerichtlichen Verfahrens“ gewährt wird. 61 Siehe nur BVerfGE 81, 347 (356 f.); Rosenberg/Schwab/ Gottwald (Fn. 30), § 87 Rn. 1. 62 Sie spricht jedoch keine Garantie für Prozesskostenhilfe in Zivilsachen aus, Meyer-Ladewig (Fn. 7), Art. 6 Rn. 43 f. 63 Grundlegend BVerfGE 9, 256 (258); Bork (Fn. 8), vor § 114 Rn. 10. 64 Rosenberg/Schwab/Gottwald (Fn. 30), § 87 Rn. 1. 65 Motzer, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 4. Aufl. 2013, § 114 Rn. 63. 58 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 369 DIDAKTISCHE BEITRÄGE Felix M. Wilke Mittel einsetzt, die entsprechenden Schritte ebenfalls unternehmen würde.66 Erhält eine Partei Prozesskostenhilfe, so ist sie nach § 122 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, Nr. 3 ZPO insbesondere von den Gerichtskosten und den Kosten eines beigeordneten Anwalts befreit.67 Die Ansprüche sind zwar nicht erloschen, aber – ggf. dauerhaft – gestundet.68 Ein Anwalt ist der hilfsbedürftigen Partei gem. § 121 Abs. 1 ZPO auf jeden Fall beizuordnen, wenn im Prozess Anwaltszwang herrscht. Aber auch, wenn die Parteien nicht von Gesetzes wegen eine anwaltliche Vertretung benötigen, ist unter bestimmten Voraussetzungen der hilfsbedürftigen Partei ein Anwalt beizuordnen: nämlich nach § 121 Abs. 2, 2. Alt. ZPO aus Gründen der Waffengleichheit69, wenn die andere Partei einen Anwalt hat, oder wenn der Rechtsstreit in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht schwierig ist (§ 121 Abs. 2, 1. Alt. ZPO). Im hiesigen Zusammenhang besonders wichtig: Aus § 123 ZPO folgt, dass auch einer Partei, der Prozesskostenhilfe gewährt wurde, die Kosten des Prozessgegners auferlegt werden können. Die Prozesskostenhilfe nimmt also einer Partei nicht das Kostenrisiko, etwa im Falle des Unterliegens die außergerichtlichen Kosten der anderen Seite tragen zu müssen.70 66 Motzer (Fn. 65), § 114 Rn. 86. Ein beigeordneter Anwalt erhält gem. § 45 ff. RVG Zahlungen aus der Staatskasse, während seine Ansprüche gegen die Partei gem. § 59 RVG auf die Staatskasse übergehen: dies ist der Hintergrund von § 122 Abs. 1 Nr. 1 lit. b ZPO. 68 Motzer (Fn. 65), § 122 Rn. 1; Rosenberg/Schwab/Gottwald (Fn. 30), § 87 Rn. 57. 69 Rosenberg/Schwab/Gottwald (Fn. 30), § 87 Rn. 63. 70 Zu den von einem obsiegenden Kläger vorgeschossenen Gerichtsgebühren siehe aber § 31 Abs. 3 GKG; näher Motzer (Fn. 65), § 123 Rn. 4. 67 _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 370 Die Zeitweiligkeit des Rechts – Das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot und die lex mitior-Regel (Art. 103 Abs. 2 GG, §§ 3, 4 OWiG bzw. §§ 1, 2 StGB) Von Wiss. Hilfskraft Annabell Blaue, Halle-Wittenberg* I. Einleitung Das Rechtsstaatsprinzip mit seinen einzelnen Ausprägungen ist für Jurastudenten im Verlaufe des Studiums vor allem bei Klausuren im Staatsrecht präsent. Oft lassen sich die Studierenden von den vielen Facetten dieses Themas abschrecken. Vor allem im Bereich des Vertrauensschutzes entfaltet das Rechtsstaatsprinzip seine Wirkung und strahlt damit auch auf andere Rechtsgebiete aus.1 Als besondere Ausprägung ist hier vor allem das Rückwirkungsverbot zu nennen. Im Bereich des Staats- und Verwaltungsrechts erlangt dieses insbesondere bei der Differenzierung von echter und unechter Rückwirkung Bedeutung.2 Doch auch im Strafrecht spielt das Rückwirkungsverbot eine erhebliche Rolle. Im Bereich des Strafrechts bewegt sich der Jurastudent oft in vertrauten Gewässern, was im Folgenden zum Anlass genommen werden soll, die Problematik des Rückwirkungsverbots näher zu beleuchten. Die Probleme werden im Bereich des Ordnungswidrigkeitenrechts, welches dem Strafrecht sehr nahe steht, erörtert, um dem Studierenden aufzuzeigen, dass sich die Grundsätze des Strafrechts auch hier wiederfinden. Hierbei soll insbesondere auf die einfachgesetzliche Normierung des verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbotes des Art. 103 Abs. 2 GG durch die §§ 3, 4 Abs. 1 OWiG eingegangen werden. Besonders berücksichtigt werden dabei die beispielhafte Veranschaulichung und die schematische Darstellung. Im letzten Abschnitt soll auf die Besonderheit der Bußgeldblanketttatbestände eingegangen werden, welche die Bußgeldpraxis mit Problemen konfrontiert. II. Das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG bzw. der §§ 3, 4 Abs. 1 OWiG Das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG normiert der Gesetzgeber durch die §§ 3, 4 Abs. 1 OWiG einfachgesetzlich. Diese stellen die den §§ 1, 2 StGB entsprechenden Vorschriften im Ordnungswidrigkeitenrecht dar.3 Damit ist die rückwirkende Begründung und Schärfung von Bußgeldvorschriften untersagt. Ein Verhalten kann nicht aufgrund eines Gesetzes geahndet werden, das dem Täter zur Zeit der Handlung noch gar nicht bekannt war, da es noch nicht in Kraft getreten ist.4 Abgedeckt wird der gesamte Bereich des Ob und Wie der Ahndbarkeit.5 Aus der Ratio ergibt sich aber, dass dem Täter begünstigende Änderungen nicht versagt sind.6 Ihrem Wortlaut nach umfassen §§ 3, 4 Abs. 1 OWiG nur den Geltungszeitpunkt des Gesetzes, sodass die Änderung der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht dem Rückwirkungsverbot unterliegt, vielmehr können die Gerichte aufgrund neuer Erkenntnisse bestimmte Sachverhalte als tatbestandsmäßig qualifizieren.7 Von einer Rückwirkung ist dann auszugehen, wenn nach der Beendigung der Tat ein Bußgeldtatbestand erlassen oder geändert worden ist.8 Nach dem Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 1 GG, § 4 Abs. 1 OWiG müssen sich sowohl die Voraussetzungen der Ahndbarkeit, als auch die Höhe des Bußgeldes auf die Vorschrift beziehen, die zum Zeitpunkt der Handlung besteht9, sodass das zur Tatzeit geltende Recht anzuwenden ist. Entscheidend ist, dass sich das nach der Tat geltende Gesetz nicht zu Lasten des Täters auswirken darf10 (vgl. dazu Graphik 1 auf S. 377). Modifizierungen erfährt das Rückwirkungsverbot durch die §§ 4 Ab2. 1 bis 5 OWiG, welche Gegenstand der nachfolgenden Betrachtung sind. 1. Ergänzungen des Rückwirkungsverbotes durch § 4 Abs. 2 bis 5 OWiG Angaben zur zeitlichen Geltung der Bußgeldvorschriften sind § 4 Abs. 2 bis 5 OWiG zu entnehmen. a) Änderung der Bußgelddrohung während der Tat Nach § 4 Abs. 2 OWiG ist bei Taten, bei denen zwischen dem Beginn und dem rechtlichen Abschluss eine gewisse Zeit liegt, das Gesetz anzuwenden, welches zum Zeitpunkt der Beendigung der Tat gilt, unabhängig davon, ob es milder oder strenger ist.11 Dies kann bei Dauerordnungswidrigkeiten und fortgesetzten Handlungen der Fall sein. Maßgeblich ist somit die Beendigung der Tat. Die Entscheidung beruht darauf, dass ein Teil der Tat während der Geltung des neuen Gesetzes erfolgte; dass freilich der eine Teil unter der Geltung des vorherigen Gesetzes geschah, ist dann bei der Bußgeldzumessung zu berücksichtigen.12 Im Unterschied zu § 4 Abs. 3 OWiG stellt § 4 Abs. 2 OWiG auf die Änderung der Bußgelddro4 * Die Autorin ist Wiss. Hilfskraft am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Wirtschaftsstrafrecht an der MartinLuther Universität Halle-Wittenberg bei Prof. Dr. Christian Schröder. 1 So z.B. beim Dienstvertragsrecht Müller-Glöge, in: Säcker/ Rixecker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 4, 6. Aufl. 2012, § 611 Rn. 277; im Familienrecht, AG Hamburg BeckRS 2010, 11093; im Aufenthaltsrecht, BVerfG NJW 1978, 2446. 2 Maurer, Staatsrecht, Bd. 1, 6. Auf. 2010, § 17 Rn. 105 ff. 3 Vgl. Satzger, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar, 2. Aufl. 2014, § 2 Rn. 8. Förster, in: Rebmann/Roth/Herrmann, Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, Kommentar, 18. Lfg., Stand: März 2013, § 3 Rn. 22. 5 Förster (Fn. 4), § 3 Rn. 22. 6 Rogall, in: Senge (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, 3. Aufl. 2006, § 3 Rn. 9, 40. 7 Förster (Fn. 4), § 3 Rn. 23. 8 Klesczewski, Ordnungswidrigkeitenrecht, 2010, § 2 Rn. 88. 9 Brenner, Ordnungswidrigkeitenrecht, 1996, Rn. 23. 10 Gürtler, in: Göhler, Ordnungswidrigkeitengesetz, Kommentar, 16. Aufl. 2012, § 4 Rn. 2. 11 Brenner (Fn. 9), Rn. 24. 12 Gürtler (Fn. 10), § 4 Rn. 3. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 371 DIDAKTISCHE BEITRÄGE Annabell Blaue hung ab und nicht allgemein auf die Gesetzesänderung. Dies folgt bereits daraus, dass bei einer Änderung des Tatbestandes nur solche Handlungsakte in die Ahndung einbezogen werden dürfen, deren Ahndungsmöglichkeit zur Zeit ihrer Begehung schon bestimmt war.13 Ändert sich die Bußgelddrohung in eine Strafdrohung, so greift auch § 4 Abs. 2 OWiG i.V.m. § 2 StGB, sodass dann der Straftatbestand gilt.14 Jedoch muss auch hier berücksichtigt werden, dass die Strafbarkeit nicht rückwirkend begründet werden darf. Es liegen nunmehr zwei Taten vor: die Erste stellt eine Ordnungswidrigkeit dar, wobei es sich bei der Zweiten nach Gesetzesänderung um eine Straftat handelt, sodass der erste Teil, welcher vor der Gesetzesänderung als Ordnungswidrigkeit verboten war, nicht mit in die Strafzumessung der Straftat einbezogen werden darf, welche ja erst nach dem Inkrafttreten des geänderten Gesetzes konstruiert wurde.15 Nach § 2 Abs. 2 StGB gilt im umgekehrten Falle, dass nur eine Geldbuße verhängt werden kann16 (vgl. Graphik 2 auf S. 377). b) Änderung des Gesetzes nach Beendigung der Tat Das Meistbegünstigungsprinzip des § 4 Abs. 3 OWiG statuiert ein „Rückwirkungsgebot“17 für das mildeste, dem Tatzeitrecht nachfolgende Änderungsgesetz. Entscheidung meint den Zeitpunkt der Ahndung.18 In diesem Fall ist das mildeste Gesetz anzuwenden (vgl. Graphik 3 auf S. 377). aa) Änderung der Bußgeldandrohung Betrifft die Änderung des Gesetzes die Sanktionsfolgen, stellt sie das Verhalten sanktionsfrei oder entfällt das Gesetz ersatzlos, so ist eindeutig nur die Ahndung aus der mildesten Vorschrift beziehungsweise im zweiten Fall gar keine Ahndung zulässig.19 Durch eine zeitlich nachfolgende Vorschrift bleibt die Ahndbarkeit zum Zeitpunkt der Tat jedoch unberührt, diese wurde vielmehr bereits durch die vorher geltende Vorschrift begründet.20 § 4 Abs. 3 OWiG verlangt, die Bewertung des Unrechts dieser Tat nach Beendigung entsprechend der neuen Vorschrift anzupassen,21 sodass zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung das mildeste Gesetz anzuwenden ist. Dies kann bezüglich der Frage, wie lange eine Tat verfolgt werden kann, Auswirkungen haben, nicht jedoch bezüglich der Frage, ob ein Verhalten ahndbar ist.22 Schließlich knüpft die Vorschrift an den Zeitpunkt der Beendigung der Tat an, bestimmt 13 Gürtler (Fn. 10), § 4 Rn. 3. Rogall (Fn. 6), § 4 Rn. 17. 15 Förster (Fn. 4), § 4 Rn. 11. 16 Gürtler (Fn. 10), § 4 Rn. 3. 17 Rotberg, in: Kleinewefers/Boujong/Wilts (Hrsg.), Ordnungswidrigkeitengesetz, Kommentar, 5. Aufl. 1975, § 4 Rn. 4; Rogall (Fn. 6), § 4 Rn. 2. 18 Gürtler (Fn. 10), § 4 Rn. 9. 19 Rogall (Fn. 6), § 4 Rn. 22. 20 Schützendübel, Die Bezugnahme auf EU-Verordnungen in Blankettstrafgesetzen, 2012, S. 148 f. 21 Schützendübel (Fn. 20), S. 148 f. 22 Schützendübel (Fn. 20), S. 149. 14 mithin das weitere Vorgehen nach Beendigung der Tat, bis zur gerichtlichen Entscheidung, für den Fall, dass die Vorschriften sich innerhalb dieses Zeitraumes ändern. Entfällt eine Vorschrift, die zum Zeitpunkt der Tat das entsprechende Verhalten als ordnungswidrig qualifiziert und mit Bußgeld ahndet, vor der gerichtlichen Entscheidung, ist es keine Frage, ob das Verhalten ahndbar war. Das ist unproblematisch der Fall, da sich dies aus der Geltung der Vorschrift zum Zeitpunkt der Handlung ergibt. Jedoch wirkt sich § 4 Abs. 3 OWiG insofern aus, dass ein entsprechendes Bußgeld nun nicht mehr verhängt werden darf. Da die Vorschrift nach der Tat und vor der Entscheidung entfallen ist, ist von der für den Täter günstigsten Rechtslage auszugehen, sodass ein Bußgeld nicht mehr verhängt werden kann. Das ändert nichts daran, dass das Verhalten zum Tatzeitpunkt ordnungswidrig war.23 Ähnlich stellt das BVerfG in seiner Entscheidung vom 26.2.196924 die Begriffe Strafbarkeit und Verfolgbarkeit einander gegenüber. So ist „die Strafbarkeit einer Tat die Voraussetzung für deren Verfolgbarkeit“25. Die Sanktionierung einer Handlung ist nur dann mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar, wenn die Strafbarkeit (d.h.: die Strafrechtswidrigkeit) bereits vor ihrer Begehung gesetzlich bestimmt war. Dass eine Handlung, die zum Zeitpunkt ihrer Begehung ordnungswidrig war, wegen § 4 Abs. 3 OWiG nicht mehr verfolgt werden kann bedeutet lediglich, dass die Sanktionierbarkeit entfällt, nicht jedoch das verwirklichte Unrecht.26 bb) Zwischengesetze und die mit einer Ahndungslücke einhergehenden Probleme der Bußgeldpraxis Besonders problematisch in der Bußgeldpraxis ist der Fall, in dem es neben dem Tatzeitrecht und dem Entscheidungsrecht noch sogenannte Zwischengesetze gibt. Dies ist ein Gesetz, welches zum Tatzeitpunkt noch nicht existierte und im Entscheidungszeitpunkt seine Geltung bereits wieder verloren hat.27 Dass dieser Zustand ebenso von § 4 Abs. 3 OWiG erfasst ist, zeigt die Verwendung des Superlativs „mildeste“ im Gesetzeswortlaut. Hierdurch wird deutlich, dass nicht nur das Tatzeitrecht und das Entscheidungszeitrecht, sondern vielmehr auch die Zwischenrechtslage erfasst ist.28 Insoweit verlangt § 4 Abs. 3 OWiG die Kontinuität der Ahndbarkeit bis zum Zeitpunkt der Entscheidung29, um dann einen konkreten Vergleich der Normen anzustellen und die mildeste Rechtlage herauszufiltern. Damit einher geht die schwierige Frage, ob das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG die Berücksichtigung zwischenzeitlicher Sanktionslücken voraussetzt. Entscheidend für diese Frage ist, ob das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG allein „dem Tatzeitpunkt zu dienen bestimmt ist“, sodass in diesem Fall bei der Frage, ob eine rückwirkende Rechtsetzung und -anwendung zulässig ist, allein darauf ab23 Schützendübel (Fn. 20), S. 148 f. BVerfGE 25, 269. 25 BVerfGE 25, 269 (287). 26 BVerfGE 25, 269 (287). 27 BT-Drs. IV/650, S. 107. 28 Schützendübel (Fn. 20), S. 79 f. 29 Schröder, ZStW 112 (2000), 44 (49, 53, 56). 24 _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 372 Die Zeitweiligkeit des Rechts zustellen ist; oder ob auch der gesamte Zeitraum zwischen Beendigung der Tat und gerichtlicher Entscheidung zu berücksichtigen ist.30 Dies bedeutet: War eine Tat nach ihrer Beendigung und vor der Entscheidung zwischenzeitlich nicht ahndbar, sodass diese zwischenzeitliche Ahndungslosigkeit die mildeste Rechtslage für den Täter darstellt, darf nach § 4 Abs. 3 OWiG keine Ahndung erfolgen. Die Verhängung einer Geldbuße trotz der zwischenzeitlich mildesten Rechtsfolge der Ahndungslosigkeit verletzt jedoch nicht das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG, sondern stellt lediglich einen Verstoß gegen § 4 Abs. 3 OWiG dar.31 Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Ahndbarkeit mit der Tatbegehung bereits zum Zeitpunkt der Geltung der alten Vorschrift wirksam begründet wurde. Art. 103 Abs. 2 GG und §§ 3, 4 Abs. 1 OWiG dienen dazu, dass der Täter vor einer rückwirkenden Ahndbarkeitsbegründung geschützt wird. Somit könnte grundsätzlich eine neue Vorschrift auch dann angewendet werden, wenn der Zwischenzustand Ahndungslosigkeit bedeutete, weil dadurch nicht rückwirkend die Ahndbarkeit begründet wird, sondern nunmehr wieder geahndet wird. Darin ist jedoch zweifelsfrei zunächst ein Verstoß gegen § 4 Abs. 3 OWiG zu erblicken. Richtigerweise verbietet Art. 103 Abs. 2 GG die rückwirkende Begründung und Schärfung einer Strafe, besagt aber gerade nichts über die Dauer des Zeitraums, innerhalb dessen eine Tat, deren Strafbarkeit bereits verfassungsrechtlich wirksam begründet wurde, verfolgt werden darf.32 Die einfachgesetzliche Vorschrift des § 4 Abs. 3 OWiG geht damit weiter als das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG. Dass § 4 Abs. 3 OWiG die Ahndbarkeit der Tat unberührt lässt, zeigt auch der vergleichende Blick auf § 4 Abs. 1 OWiG: Demnach ist für die Ahndbarkeit der Handlung die zur Zeit der Handlung geltende Vorschrift maßgeblich. Somit vermag eine spätere Vorschrift die Ahndbarkeit der Handlung rückwirkend nicht begründen. Dies dient dem Vertrauensschutz des Täters, da er vorher erkennen können muss, unter welchen Voraussetzungen sein Handeln geahndet werden kann. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass die einmalig, aufgrund der zur Handlungszeit geltenden Vorschrift begründete Ahndbarkeit rückwirkend nicht mehr durch eine spätere Vorschrift entfallen kann. Kann die Handlung nun nicht mehr unter den Tatbestand der geänderten späteren Vorschrift normiert werden, so ändert dies nichts daran, dass die Ahndbarkeit zur Tatzeit aufgrund der vorherigen Vorschrift bereits wirksam begründet wurde. Der Täter scheint im Hinblick auf die Ahndbarkeitsbegründung nicht schutzwürdig, schließlich konnte er zur Zeit seiner Handlung vorhersehen, unter welchen Voraussetzungen eben diese geahndet wird. § 4 Abs. 3 OWiG dient nunmehr dem Schutz bezüglich des wie lange der Verfolgung und nicht des ab wann an der Verfolgung.33 Mit der Gesetzesänderung verwehrt die Legislative der Exekutive und der Ju30 So auch Schützendübel (Fn. 20), S. 135. Vgl. hierzu BVerfG NJW 2008, 3769 (3770); Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 2 Rn. 14 m.w.N. 32 BVerfGE 25, 269 (286). 33 Ausführlich dazu Schützendübel (Fn. 20), S. 145 ff. 31 STRAFRECHT dikative die weitere Verfolgung und Ahndung der Tat, deren Ahnbarkeit wirksam begründet wurde. Ob der Täter in diesem Vertrauen, sein Verhalten sei nun wegen der vorübergehenden Ahndungslosigkeit auch in Zukunft nicht mehr sanktionierbar, schutzwürdig ist, ist im jeweiligen Einzelfall zu beleuchten und wird in den weiteren Betrachtungen ausgeführt. Nachfolgend soll der soeben beschriebene Problemkreis, der Bußgeldbehörden und Gerichte bereits seit Jahrzehnten beschäftigt, anhand eines Beispielfalles veranschaulicht werden. Das BVerfG hatte 2008 u.a. zu entscheiden, ob § 8 FPersG mit dem Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG im Einklang steht.34 Der Beschwerdeführer wurde wegen Überschreitung der Tageslenkzeiten und der Unterschreitung der täglichen Ruhezeit zu einer Geldbuße von 1000 Euro verurteilt. Ein derartiger Verstoß war bis zum 10.4.2007 als Ordnungswidrigkeit in Art. 6 der VO (EWG) Nr. 3820/8535 i.V.m. der sie in Bezug nehmenden Bußgeldvorschrift des § 8 Abs. 1 Nr. 1 lit. b FPersG i.V.m. § 22 Abs. 1 Nr. 2 FPersV geregelt. Am 11.4.2007 wurde die VO (EWG) Nr. 3820/85 durch die neue Verordnung (EG) Nr. 561/200636 abgelöst. Bei den Blankettordnungswidrigkeiten wird die Sanktionsnorm durch die Ausfüllungsnorm ergänzt, sodass erst dadurch eine vollständige Bußgeldnorm entsteht.37 Ohne die Ausfüllung des Tatbestandes der Sanktionsnorm wäre die Bußgeldandrohung dieser Blankettbußgeldvorschrift funktionslos.38 Die Änderung der ausfüllenden Norm bewirkt zugleich das Erfordernis der Änderung des Bußgeldtatbestandes. Demnach müssen bei ausfüllungsbedürftigen Blankettvorschriften die Änderungen der sie ausfüllenden Vorschriften berücksichtigt werden. Durch die Verknüpfung der tatbestandsmäßigen Handlung (hier § 8 i.V.m. § 22 FPersV) mit der in Bezug genommenen Verordnung (hier VO [EWG] Nr. 3820/85) entsteht ein unionsrechtsakzessorischer Tatbestand, bei dem die Verweisung ausschließlich für den in Bezug genommenen Rechtsakt, nicht für nachfolgende Rechtsakte gilt, selbst bei inhaltlicher Identität nicht.39 Ändert sich eine Ausfüllnorm 34 BVerfG NJW 2008, 3769 f. VO (EWG) Nr. 3820/85 des Rates v. 20.12.1985 über die Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Straßenverkehr, ABl. L 370 v. 31.12.1985, S. 1 ff., geändert durch Richtlinie 2003/59/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.7.2003, berichtigt durch Berichtigung ABl. L 206 v. 30.7.1986, S. 36 ff. (3820/85). 36 VO (EG) Nr. 561/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.3.2006 zur Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Straßenverkehr und zur Änderung der VO (EWG) Nr. 3821/85 und (EG) Nr. 2135/98 des Rates sowie zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 3820/85 des Rates, ABl. L 102 v. 11.4.2006, S. 1 ff., berichtigt durch Berichtigung ABl. L 70 v. 14.3.2009, S. 17 ff., zuletzt geändert durch VO (EG) Nr. 1073/2009, ABl. L 300 v. 14.11.2009, S. 88 ff. 37 Rosenkötter/Louis, Das Recht der Ordnungswidrigkeiten, 7. Aufl. 2011, Rn. 16. 38 Förster (Fn. 4), § 4 Rn. 3. 39 Dannecker/Bülte, in: Achenbach/Ransiek (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 3. Aufl. 2012, Teil 2 Kap. 2 Rn. 40. 35 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 373 DIDAKTISCHE BEITRÄGE Annabell Blaue und versäumt es der Gesetzgeber die Blankettvorschrift daran zeitgleich anzupassen, so verliert der Blanketttatbestand seine gesetzliche Bestimmtheit i.S.d. Art. 103 Abs. 2 GG, §§ 3, 4 Abs. 1 OWiG. Bis zur Anpassung an die geänderte Vorschrift durch den Gesetzgeber läuft die Blankettvorschrift leer, der nicht angepasste Verweis ist falsch und verliert seine gesetzliche Bestimmtheit,40 die Ahndung entfällt. Die Beachtung dieser sich daraus ergebenden Ahndungslosigkeit resultiert aus § 4 Abs. 3 OWiG, welcher für den Vergleich der Vorschriften hinsichtlich deren Mildegrad eine durchgängige Ahndbarkeit vom Tatzeitpunkt bis zum Entscheidungszeitpunkt verlangt, sodass die einmal eingetretene Ahndungslosigkeit auch durch eine nachträgliche Anpassung nicht beseitigt werden kann.41 Der nationale Gesetzgeber versäumte die zeitgleiche Anpassung des betreffenden Bußgeldblanketts des § 8 FPersG an die so geänderte europarechtliche Bezugsnorm. Dadurch entstand eine Ahndungslücke, § 22 FPersV ging mit seiner Verweisung auf die nunmehr abgelöste VO (EWG) Nr. 3820/ 85 ins Leere. Erst mit der Wirkung vom 14.7.2007 erfolgte die Anpassung an die neue EG-Verordnung, in deren Rahmen auch § 8 Abs. 3 FPersG eingeführt wurde.42 „Ordnungswidrigkeiten gemäß § 8 des Fahrpersonalgesetzes, die bis zum 10. April 2007 unter Geltung der Verordnung (EWG) Nr. 3820/85 begangen wurden, werden abweichend von § 4 Abs. 3 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten nach den zum Zeitpunkt der Tat geltenden Bestimmungen geahndet.“ Dass die Verfolgung von Taten, die während dem Aufreißen der dreimonatigen Ahndungslücke begangen wurden, gegen das Rückwirkungsverbot verstößt, ist eindeutig. Mit § 8 Abs. 3 FPersG wird versucht, Verstöße vor der geänderten Rechtslage trotz der Regelung des § 4 Abs. 3 OWiG nachträglich wieder ahndbar zu machen.43 Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer, dass § 8 Abs. 3 FPersG gegen das in Art. 103 Abs. 2 GG normierte Rückwirkungsverbot verstoße.44 Das BVerfG entschied, dass der Ausschluss des in § 4 Abs. 3 OWiG normierten Meistbegünstigungsgrundsatzes durch die in § 8 Abs. 3 FPersG geregelte weitere Anwendbarkeit des Tatzeitrechts auf Altfälle keinen Verfassungsverstoß bedeutet, da das in § 4 Abs. 3 OWiG einfachgesetzlich normierte Prinzip der Meistbegünstigung nicht von Art. 103 Abs. 2 GG gefordert werde45. Art. 103 Abs. 2 GG besagt demnach „nichts über die Dauer des Zeitraumes, während dessen eine in verfassungsgemäßer Weise für strafbar erklärte Tat verfolgt werden darf, äußert sich also nur über das „von wann an“, nicht jedoch über das „wie lange“ der Strafverfolgung“, indem Art. 103 Abs. 2 GG „nach seinem Wortlaut die rückwirkende Anwendung neuen materiellen Rechts zu Ungunsten des 40 Schröder, in: Hiebl/Kassebohm/Lilie (Hrsg.), Festschrift für Volkmar Mehle zum 65. Geburtstag am 11.11.2009, 2009, S. 597 (602). 41 Schröder, ZStW 112 (2000), 44 (56). 42 Schützendübel (Fn. 20), S. 96. 43 Schröder (Fn. 40), S. 597 (603). 44 BVerfG NJW 2008, 3769. 45 Schützendübel (Fn. 20), S. 97. Täters“46 verbietet. Der Normunterworfene soll von vornherein wissen, was verboten ist und welche Strafe droht; dass nach ihrer Begehung eine Tat vorübergehend nicht mit Buße bedroht war, lässt das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot unberührt.47 In der Begründung zur Zulässigkeit von § 8 Abs. 3 FPersG wird ausgeführt, dass der Ausschluss des Meistbegünstigungsprinzips möglich sei, da es sich auch nach Auffassung des BVerfG bei § 4 Abs. 3 OWiG um eine einfachgesetzliche Norm handelt.48 Das Verlangen nach Vertrauensschutz vermag hier nicht zu greifen, da die Betroffenen mit einer Ahndung rechnen mussten, als sie zum Zeitpunkt ihrer Handlung vor der Ahndungslücke eine solche in zumutbarer Weise einkalkulieren konnten. Da die Ahndbarkeit vor dem 11.4.2007 bereits verfassungsgemäß wirksam begründet wurde, konnten die Betroffenen sich somit nicht auf das durch Art. 103 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich geschützte Vertrauen auf Ahndungslosigkeit berufen. Unter Verweis auf BVerfGE 81, 132 hat das OLG Stuttgart im Jahr 1998 in seiner Entscheidung zu § 39 Abs. 2 BNatSchG a.F.49 ausgeführt, dass Bedenken gegen den Ausschluss des disponiblen Meistbegünstigungsprinzips des § 2 Abs. 3 StGB nur dann bestünden, „wenn im Zeitpunkt der Derogierung durch den Gesetzgeber beim Angeklagten bereits ein schutzwürdiger Vertrauenstatbestand in Bezug auf die Straflosigkeit erzeugt worden wäre“.50 Dies sei nicht der Fall, da sich der interessierte Normadressat jederzeit durch Lektüre des Amtsblattes der EG und des Bundesgesetzblattes über die Rechtslage informieren kann.51 Darauf, dass nationale Blankettvorschriften der neuen europarechtlichen Lage nicht angepasst würden, kann und darf ein Normadressat demnach grundsätzlich nicht vertrauen, sodass hiernach auch unterhalb der verfassungsrechtlichen Ebene kein Rückwirkungsschutz bestand.52 Schließlich ist nach dem Erlass verbindlicher EU-Rechtsakte, die einer Umsetzung beziehungsweise Anpassung des nationalen Rechts verlangen, mit einer Gesetzgebungsaktivität zu rechnen53, sodass die Vorhersehbarkeit einer innerstaatlichen Neuregelung gegeben ist.54 Diesem Prozedere stehen durchaus kritische Stimmen entgegen, welche u.a. einwenden, dass dem Betroffenen die günstigere Rechtslage nicht ohne weiteres entzogen werden dürfe, jedenfalls stelle ein solches gesetzgeberisches Versäumnis zeitgleicher Anpassung keinen sachlichen Grund dar.55 Entscheidend für den Bezugspunkt des Vertrauensschutzes sei, dass man dem Regelungsinhalt des § 4 Abs. 3 OWiG vertrauen konnte.56 Zutreffend musste der Normadressat mit 46 BVerfG NJW 2008, 3769 (3770 Rn. 13), unter Bezugnahme auf BVerfGE 81, 132 (135). 47 Schröder (Fn. 40), S. 597 (603). 48 BT-Drs. 16/5238 unter Verweis auf BVerfGE 81, 132 (135). 49 OLG Stuttgart NStZ-RR 1999, 379 f. 50 OLG Stuttgart NStZ-RR 1999, 379 (380). 51 OLG Stuttgart NStZ-RR 1999, 379 (380). 52 OLG Stuttgart NStZ-RR 1999, 379 (380). 53 BVerfGE 45, 142 (176). 54 Vgl. BVerfGE 45, 142 (173 ff.). 55 Schröder (Fn. 40), S. 597 (604); Rogall (Fn. 6), § 4 Rn. 2u. 56 Schröder (Fn. 40), S. 597 (606). _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 374 Die Zeitweiligkeit des Rechts einer Anpassung des nationalen Rechts rechnen, jedoch nicht damit, dass ein Ausschluss des sich aus § 4 Abs. 3 OWiG ergebenden Meistbegünstigungsgrundsatzes erfolgt. Auf das Eingreifen und vor allem den Bestand dieses Grundsatzes und der daraus folgenden Ahndungslosigkeit musste der Betroffene vertrauen können. Und genau in diesem Vertrauen ist er auch schutzwürdig. Entscheidet sich der nationale Gesetzgeber für die Technik der Blanketttatbestände, so ist er in der Pflicht dem Normadressaten die Verfolgung der komplexen Verweisungsketten jederzeit lückenhaft zu ermöglichen, ein Versäumnis zeitgleicher Anpassung an geändertes Recht kann nicht vom Bürger „ausgebügelt“ werden, indem von ihm ein Studium des Bundesgesetzblattes abverlangt wird. Denn es ist gerade die Pflicht des Gesetzgebers, die Normen klar und deutlich zu fassen. cc) Änderung der Umschreibung des gesetzlichen Tatbestandes Problematischer kann sich der Fall gestalten, dass die gesetzliche Änderung die Umschreibung des Tatbestandes betrifft. Fraglich ist, wann die Identität des Tatbestandes noch gewahrt ist, sodass ein Vergleich der neuen und der alten Vorschrift noch zulässig ist und die Änderung des Tatbestandes nicht vielmehr dazu führt, dass die alte Vorschrift ersatzlos weggefallen ist, sodass nunmehr Ahndungslosigkeit die mildeste Rechtfolge ist und der Anwendung der neuen Vorschrift das Rückwirkungsverbot entgegensteht. Die h.L. bejaht die eine zulässige Vergleichbarkeit ermöglichende Identität, wenn das Wesen des Delikttyps der alten Vorschrift durch die neue unberührt bleibt, mithin wenn die „Kontinuität des Unrechtstyps“ gewahrt bleibt.57 Da die Änderung den Tatbestand betrifft, müssen die konkreten Sanktionsvoraussetzungen miteinander verglichen werden.58 Liegt nach diesem Vergleich die Identität beider Vorschriften vor, sind diese dem Vergleich bezüglich ihres Mildegrades zugänglich. Kommt man dagegen zu dem Ergebnis, dass die neue Vorschrift einen Identitätsbruch mit der alten bedeutet, so gilt die alte Vorschrift als ersatzlos weggefallen und die neue kann wegen des Rückwirkungsverbotes nicht angewendet werden. Dieses Vorgehen soll anhand eines sehr vereinfacht dargestellten Beispiels verdeutlicht werden: Die alte Vorschrift normiert, dass das falsche Parken mit roten Autos ordnungswidrig ist und geahndet werden kann. Die neue Vorschrift normiert nunmehr, dass generell das falsche Parken mit allen Autos ordnungswidrig ist. Insofern erweitert sich der Tatbestand der Sanktionsnorm, wobei die Ordnungswidrigkeit mit roten Autos falsch zu parken, bereits in der Ordnungswidrigkeit mit allen Autos falsch zu parken, enthalten ist. Mithin liegt in diesem Fall Identität zwischen beiden Vorschriften vor, sodass sie miteinander bezüglich des Mildegrades zu vergleichen sind. Ändert sich der Bußgeldrahmen, so ist nunmehr von dem milderen Bußgeldrahmen auszugehen. Gleichzeitig kann die neue Vorschrift nicht mehr rückwirkend angewendet werden, um die Handlungen zu ahnden, welche vor ihrer Geltung noch nicht ahndbar waren, d.h. alle Autos, die andersfarbig als rot sind und vor der Geltung der neuen Vorschrift falsch geparkt haben, STRAFRECHT können nun rückwirkend nicht als Ordnungswidrigkeit geahndet werden, §§ 3, 4 Abs. 1 OWiG. War nach der alten Vorschrift das Parken mit allen Autos ordnungswidrig und ahndbar, und lautet die neue Vorschrift nunmehr, dass nur das falsche Parken mit roten Autos ordnungswidrig und ahndbar ist, so wird die Sanktionsnorm durch die Änderung beschränkt. War nun der spezifische Tatbestand der neuen Norm implizit in der alten enthalten, so ist Identität zu bejahen59 und die Vergleichbarkeit gegeben. Das Verbot, mit roten Autos falsch zu parken war ja hier bereits in dem Verbot, mit allen Autos falsch zu parken enthalten. Mithin sind die Normen dem Vergleich zugänglich. Liegt dagegen ein Austausch sanktionsbegründender Merkmale vor, so geht die Identität verloren.60 Dies ist gegeben, wenn die neue Vorschrift normiert, dass nur das falsche Parken mit Motorrädern ordnungswidrig ist. In diesem Fall ist die alte Vorschrift, nach der falsches Parken mit (roten) Autos verboten war, weggefallen, sodass die mildeste Rechtslage Ahndungslosigkeit ist. Die neue Vorschrift kann nun nicht rückwirkend angewendet werden, um das falsche Parken von Motorrädern vor der Gesetzesänderung zu ahnden. Ändert sich das Gesetz nach der Tat und vor der Entscheidung mehrfach, sodass währenddessen ein Zustand eintritt, in dem die Ahndungsmöglichkeit komplett entfällt, so ist im Hinblick auf den Sinn und Zweck der Norm (Meistbegünstigungsprinzip) dieser Zustand zu berücksichtigen.61 2. Zusammenfassender Vergleich von Art. 103 Abs. 2 GG und § 4 Abs. 3 OWiG Der Unterschied von Art. 103 Abs. 2 GG und § 4 Abs. 3 OWiG wird besonders deutlich, wenn man sich das Verhältnis beider zueinander spiegelbildlich vorstellt. Art. 103 Abs. 2 GG geht von der Situation aus, dass zum Zeitpunkt der Handlung diese noch nicht ahndbar war, danach jedoch aufgrund eines geänderten Gesetzes ahndbar wird. Geschützt wird der Täter vor einer rückwirkenden Ahndbarkeitsbegründung. § 4 Abs. 3 OWiG geht dagegen davon aus, dass die Handlung zum Zeitpunkt ihrer Begehung ahndbar ist, danach jedoch aufgrund einer Gesetzesänderung nicht mehr geahndet werden kann. Die Handlung darf nun nicht mehr verfolgt werden, die einmalig wirksam begründete Ahndbarkeit bleibt davon jedoch unberührt. Art. 103 Abs. 2 GG bezweckt somit den Schutz des ab wann an der Verfolgung, wohingegen § 4 Abs. 3 OWiG das wie lange der Verfolgung schützt. Der Vertrauensschutz bezieht sich hier darauf, dass eine einmalig aufgetretene Ahndungslücke die Ahndungslosigkeit des Verhaltens bewirkt. Auf den Bestand dieser Ahndungslosigkeit muss sich der Bürger verlassen können, sodass eine rückwirkende Schließung der Ahndungslücke unzulässig ist. III. Schlussbetrachtung Ordnungswidrigkeit und Strafe haben gemeinsam den Charakter einer Übelzufügung gegenüber dem Täter als Reaktion 59 57 Förster (Fn. 4), § 4 Rn. 13. 58 Rogall (Fn. 6), § 4 Rn. 26. Rogall (Fn. 6), § 4 Rn. 26. Rogall (Fn. 6), § 4 Rn. 26. 61 Rogall (Fn. 6), § 4 Rn. 30. 60 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 375 DIDAKTISCHE BEITRÄGE Annabell Blaue des Staates auf ein missbilligtes Verhalten. Dem Täter muss in beiden Fällen ein rechtsstaatliches Verfahren garantiert werden, um ihn vor staatlicher Willkür zu schützen und damit Rechtssicherheit und Rechtsklarheit zu gewährleisten. Das Ordnungswidrigkeitenrecht gehört zum Strafrecht im weiteren Sinne, sodass der Regelungsgehalt des Art. 103 Abs. 2 GG auch ohne die einfachgesetzliche Regelung des § 3 OWiG zu beachten wäre.62 Vor allem im Hinblick auf die Tatsache, dass ein Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren in das Leben und die Rechte des potentiellen Täters eingreifen, verlangt unser Rechtsstaat (Art. 20 Abs. 3 GG) einen wirksamen Schutz vor unverhältnismäßigen Eingriffen.63 Nur so kann gewährleistet werden, dass der Staat und die Behörden die ihnen durch das Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht zur Verfügung gestellten Machtmittel nicht missbrauchen.64 § 3 OWiG stimmt mit § 1 StGB und Art. 103 Abs. 2 GG wörtlich überein.65 Ferner bildet § 4 OWiG die entsprechende Vorschrift zu § 2 StGB. Vor allem durch den europarechtlichen Einfluss im Bereich der Bußgeldblanketttatbestände werden die Rechtsprechung und die Behörden mit komplexen Problemen im Zusammenhang mit dem Rückwirkungsverbot konfrontiert. Diese Probleme werden wohl im Hinblick auf den zunehmenden europarechtlichen Einfluss in ihrer Aktualität an Bedeutung gewinnen und weiterhin Anlass für wissenschaftliche Betrachtungen sein. 62 BVerfGE 81, 132 (135); 87, 399 (411). Beulke, Strafprozessrecht, 12. Aufl. 2012, Rn. 3. 64 Beulke (Fn. 63), Rn. 5. 65 Mitsch, Recht der Ordnungswidrigkeiten, 2. Aufl. 2005, § 5 Rn. 6. 63 _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 376 Die Zeitweiligkeit des Rechts STRAFRECHT Graphik 1: §§ 3, 4 Abs. 1 OWiG Ein neues Gesetz darf nicht rückwirkend angewendet werden, um die Ahndbarkeit einer Handlung zu begründen, die nach dem Gesetz, das zur Zeit ihrer Begehung galt, noch nicht ahndbar war. Die Handlung kann nicht rückwirkend als Ordnungswidrigkeit geahndet werden, wenn deren Ahndung zum Zeitpunkt ihrer Begehung noch nicht gesetzlich bestimmt war. Graphik 2: § 4 Abs. 2 OWiG Ändert sich das Gesetz nach Beginn der Handlung und vor ihrer Beendigung, so ist das Gesetz anzuwenden, welches zum Zeitpunkt ihrer Beendung gilt, unabhängig davon, ob es milder oder schärfer ist als jenes, welches zum Zeitpunkt ihres Beginns galt. Graphik 3 Ändert sich das Gesetz, das zum Zeitpunkt der Beendigung der Handlung galt vor der Entscheidung, so ist das mildeste Gesetz anzuwenden. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 377 Übungsfall: Schmutzige Methoden wegen sauberer Energie* Von Ref. jur. Benjamin Hansen, Köln Sachverhalt Die A-GmbH (A) mit Sitz in Luxemburg und die B-AG (B) mit Sitz in Zürich gehören zu dem international tätigen Konzern „Sunshine-TECNO“, der Technologie für den Bau von Photovoltaikanlagen entwickelt, Dritten zur Verfügung stellt und auch selbst solche Anlagen baut. Auch die C-GmbH (C) mit Sitz in Düsseldorf und die D-S.à.r.l. (D) mit Sitz in Paris möchten von der zunehmenden Nachfrage nach grüner Energie profitieren und haben sich vor diesem Hintergrund ebenfalls auf die Entwicklung neuer Technologien auf dem Gebiet der Solartechnik spezialisiert. Die E-LTDA (E), eine Gesellschaft brasilianischen Rechts mit Sitz in Brasília, die gelegentlich mit C und D zusammenarbeitet, hat im November 2008 eine Photovoltaikanlage im sonnenverwöhnten Rio de Janeiro zur Energieversorgung des Estádio do Maracanã, dem Austragungsort des Finalspiels der Fußball WM 2014, errichtet, um so bereits einen ersten Beitrag zu dem von der FIFA angestrebten Ziel zu leisten, das Image einer „grünen“, d.h. umweltfreundlichen WM entstehen zu lassen. A und B behaupten, dass E dabei Technologie verwendet hat, die ihr von C und D zur Verfügung gestellt wurde, tatsächlich aber von „Sunshine-TECNO“ stammt. Ihnen sei bereits ein Schaden in sechsstelliger Höhe entstanden; weitere Schäden in vergleichbarer Höhe seien zu befürchten. Im Februar 2012 erheben sie Klage vor dem LG Düsseldorf gegen C, D und E auf Unterlassung der Vervielfältigung und der Verbreitung bestimmter technischer Zeichnungen und Schriftstücke, die für den Bau der Photovoltaikanlage in Rio als Grundlage gedient haben sollen. A und B, die ein kollusives Zusammenwirken von C, D und E vortragen und vor dem LG Düsseldorf ein einheitliches Urteil erreichen wollen, stützen sich dabei auf Ansprüche aus dem Urheberrecht sowie aus unlauterem Wettbewerbsverhalten. Sie beanspruchen urheberrechtlichen Schutz für Luxemburg und die Schweiz. C, D und E bestreiten sowohl das Bestehen der geltend gemachten Ansprüche als auch die Zuständigkeit des LG Düsseldorf. Aufgabe 1 Ist das LG Düsseldorf für die Klagen der A und B gegen C, D und E zuständig? Aufgabe 2 Welches Recht ist auf die von A und B geltend gemachten Ansprüche anwendbar? * Der Sachverhalt und der zweite Teil der Bearbeitung sind angelehnt an die Entscheidung des OGH (Oberster Gerichtshof, Österreich), Beschl. v. 20.9.2011 – 4 Ob 12/11k = GRUR Int. 2012, 468. Lösungsvorschlag für Aufgabe 1 I. Klage gegen C1 Das LG Düsseldorf müsste für die Klage von A und B gegen C zuständig sein. 1. Internationale Zuständigkeit Die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte könnte sich aus der EuGVVO2 ergeben. a) Anwendbarkeit der EuGVVO Dazu müsste die EuGVVO zunächst anwendbar sein. aa) Sachlich Bei den von A und B geltend gemachten Ansprüchen handelt es sich um Zivil- und Handelssachen i.S.d. Art. 1 Abs. 1 EuGVVO. Eine Ausnahme gem. Art. 1 Abs. 2 EuGVVO ist nicht ersichtlich. Mithin ist der sachliche Anwendungsbereich der EuGVVO eröffnet. bb) Räumlich-persönlich C hat seinen Wohnsitz gem. Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 60 Abs. 1 lit. a EuGVVO in Düsseldorf, also in Deutschland, sodass auch der räumlich-persönliche Anwendungsbereich gem. Art. 2 Abs. 1, 3 Abs. 1 EuGVVO eröffnet ist. cc) Zeitlich Schließlich ist auch der zeitliche Anwendungsbereich gem. Art. 66 Abs. 1, 76 EuGVVO eröffnet. dd) Ergebnis Der Anwendungsbereich der EuGVVO ist eröffnet. Vorrangig anwendbare Regelungswerke sind nicht ersichtlich. b) Zuständigkeit nach der EuGVVO aa) Ausschließliche Zuständigkeit In Betracht kommt eine ausschließliche Zuständigkeit deutscher Gerichte gem. Art. 22 Nr. 4 EuGVVO. Danach sind für Streitigkeiten über die Eintragung oder die Gültigkeit von 1 Die getrennte Prüfung der einzelnen Klagen dient der Übersichtlichkeit. Möglich wäre es indes auch, die Klagen gegen C, D und E gemeinsam abzuhandeln. 2 VO EG/44/2001 des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVVO). Am 10.1. 2015 wird eine Neufassung der EuGVVO in Kraft treten, VO EU/1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Neufassung), ABl. EU 2012 Nr. L 351/1. Siehe dazu v. Hein, RIW 2013, 97. Für die Bearbeitung dieser Klausur ergeben sich aus der Neufassung der EuGVO keine inhaltlichen Änderungen. _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 378 Übungsfall: Schmutzige Methoden wegen sauberer Energie Patenten und weiterer, ähnlicher Rechte die Gerichte des Mitgliedstaats ausschließlich zuständig, in dessen Hoheitsgebiet die Rechte eingetragen sind. Vorliegend stützen A und B ihre Klage zwar unter anderem auf die Verletzung von Urheberrechten. Es geht jedoch nicht um die Eintragung oder die Gültigkeit eines Rechts im Sinne des Art. 22 Nr. 4 EuGVVO, sodass dieser nicht einschlägig ist. bb) Rügelose Einlassung C könnte sich jedoch gem. Art. 24 EuGVVO rügelos auf das Verfahren vor dem LG Düsseldorf eingelassen und damit die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte begründet haben, wenn er den Mangel der internationalen Zuständigkeit nicht geltend gemacht hat. C hat die Zuständigkeit des LG Düsseldorf bestritten. Fraglich ist, ob diese Rüge den Anforderungen des Art. 24 EuGVVO hinsichtlich eines Bestreitens der internationalen Zuständigkeit gerecht wird. Der Tatbestand der rügelosen Einlassung i.S.d. Art. 24 EuGVVO ist autonom auszulegen.3 Nach überwiegender Auffassung muss der Mangel der internationalen Zuständigkeit nicht ausdrücklich als solcher gerügt werden. Vielmehr soll die Rüge des Mangels der internationalen Zuständigkeit bereits dann wirksam sein, wenn sie dem Vortrag des Beklagten durch Auslegung entnommen werden kann.4 Dabei kann die Rüge der örtlichen Zuständigkeit eines Gerichts auch als Rüge der internationalen Zuständigkeit gedeutet werden.5 C hat ausdrücklich die Zuständigkeit des LG Düsseldorf bestritten. Dies kann auch als Rüge hinsichtlich des Mangels der internationalen Zuständigkeit deutscher Gerichte verstanden werden. Mithin hat C die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte hinreichend gerügt, sich also nicht rügelos auf das Verfahren eingelassen. cc) Gerichtsstandsvereinbarung Auch eine Gerichtsstandsvereinbarung i.S.d. Art. 23 EuGVVO haben die Parteien nicht getroffen. dd) Allgemeiner Gerichtsstand Die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte ergibt sich jedoch aus dem allgemeinen Gerichtsstand des Art. 2 3 Kropholler/v. Hein, Europäisches Zivilprozessrecht, Kommentar zu EuGVO, Lugano-Übereinkommen 2007, EuVTVO, EuMVVO und EuGFVO, 9. Aufl. 2011, Art. 24 EuGVVO Rn. 7; Leible/Sommer, IPRax 2006, 568; Stadler, in: Musielak, Kommentar zur ZPO, 11. Aufl. 2014, Art. 24 EuGVVO Rn. 3. 4 EuGH, Slg. 1981, 1671 (1688 Rn. 15) – Elefanten Schuh = BeckRS 2004, 71745 (Elefanten Schuh); Gottwald, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 4. Aufl. 2013, Art. 24 EuGVVO Rn. 7; a.A. wohl Geimer, in: Zöller, Kommentar zur ZPO, 30. Aufl. 2014, Art. 24 EuGVVO Rn. 3, 5. 5 BGH NJW-RR 2005, 1518 (1519); Gottwald (Fn. 4), Art. 24 EuGVVO Rn. 7; Dörner, in: Saenger, Kommentar zur ZPO, 5. Aufl. 2013, Art. 24 EuGVVO Rn. 8; Stadler (Fn. 3), Art. 24 EuGVVO Rn. 3. ZIVILRECHT Abs. 1 EuGVVO (actor sequitor forum rei), da C als Beklagter seinen Wohnsitz in Deutschland hat (siehe I. 1. a] bb]). c) Ergebnis Mithin sind die deutschen Gerichte für die Klage gegen C gem. Art. 2 Abs. 1 EuGVVO international zuständig. 2. Örtliche Zuständigkeit Die örtliche Zuständigkeit des LG Düsseldorf ergibt sich aus §§ 12, 17 ZPO. 3. Sachliche Zuständigkeit Gemäß §§ 23, 71 Abs. 1 GVG sind die Landgerichte sachlich zuständig für Streitigkeiten über Ansprüche, deren Gegenstand an Geld oder Geldeswert die Summe von fünftausend Euro übersteigt. A und B machen Unterlassungsansprüche geltend. Bei Unterlassungsklagen ist der Wert des Rechtsstreits i.S.d. § 3 ZPO nach dem Interesse des Rechtsinhabers an der Vermeidung zukünftiger Rechtsverletzungen zu bestimmen.6 A und B tragen vor, dass neben einem bereits entstandenen Schaden in sechsstelliger Höhe auch in Zukunft ein vergleichbarer Schaden durch die behaupteten Rechtsverletzungen zu befürchten sei. Der Wert des Rechtsstreits liegt damit über fünftausend Euro. Das LG Düsseldorf ist mithin auch sachlich zuständig. 4. Ergebnis Das LG Düsseldorf ist für die Klage gegen C sowohl international als auch örtlich und sachlich zuständig. II. Klage gegen D Zu prüfen ist, ob das LG Düsseldorf für die Klage gegen D zuständig ist. 1. Internationale Zuständigkeit Auch für die Klage gegen D ist die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte nach der EuGVVO zu bestimmen, sofern diese anwendbar ist. a) Anwendbarkeit der EuGVVO Die sachliche Anwendbarkeit der EuGVVO ergibt sich – ebenso wie für die Klage gegen C – aus Art. 1 Abs. 1 EuGVVO. Auch bei diesen Ansprüchen handelt es sich um Zivil- und Handelssachen i.S.d. Art. 1 Abs. 1 EuGVVO. D hat ihren Wohnsitz i.S.d. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 lit. a EuGVVO in Paris/Frankreich und somit im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, sodass der räumlich-persönliche Anwendungsbereich der EuGVVO für die Klage gegen D gem. Art. 2 Abs. 1, 3 Abs. 1 EuGVVO eröffnet ist. Die zeitliche Anwendbarkeit der EuGVVO ergibt sich aus Art. 66 Abs. 1, 76 EuGVVO. Der Anwendungsbereich der EuGVVO ist mithin eröffnet. 6 BGH NJW-RR 1990, 1322; Herget, in: Zöller, Kommentar zur ZPO, 30. Aufl. 2014, § 3 ZPO Rn. 16; Bendtsen, in: Saenger, Kommentar zur ZPO, 5. Aufl. 2013, § 3 ZPO Rn. 15. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 379 ÜBUNGSFÄLLE Benjamin Hansen b) Zuständigkeit nach der EuGVVO Eine ausschließliche Zuständigkeit deutscher Gerichte gem. Art. 22 EuGVVO ist nicht ersichtlich. Auch hat D ausdrücklich die Zuständigkeit des LG Düsseldorf gerügt, sodass auch eine rügelose Einlassung im Sinne des Art. 24 EuGVVO verneint werden muss (vgl. I. 1. b] bb]). Schließlich haben A bzw. B und D keine Gerichtstandssvereinbarung i.S.d. Art. 23 EuGVVO abgeschlossen. aa) Art. 2 Abs. 1 EuGVVO Für die Klage gegen D kann sich die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte nicht aus dem allgemeinen Gerichtsstand des Art. 2 Abs. 1 EuGVVO ergeben. So hat D ihren Wohnsitz nicht im Gerichtsstaat Deutschland, sondern in Frankreich. bb) Art. 6 Nr. 1 EuGVVO Die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte könnte sich jedoch aus Art. 6 Nr. 1 EuGVVO ergeben. Danach kann unter bestimmten Voraussetzungen, wenn mehrere Personen zusammen verklagt werden, eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, vor dem Gericht des Ortes verklagt werden, an dem einer der Beklagten seinen Wohnsitz hat. Ausreichend ist dabei, wenn irgendeiner von mehreren Beklagten seinen Wohnsitz und damit einen allgemeinen Gerichtsstand im Gerichtsstaat hat.7 C, D und E werden von A und B zusammen verklagt. D hat ihren Wohnsitz in Frankreich, also im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats. C hat ihren Wohnsitz und damit einen allgemeinen Gerichtsstand in Deutschland. Mithin kann D auch in Deutschland verklagt werden, sofern die sonstigen Voraussetzungen des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO erfüllt sind. So müsste zwischen den Klagen gegen C und D eine so enge Beziehung gegeben sein, dass eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um zu vermeiden, dass in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten (sog. Konnexität8). Ziel des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO ist dabei die Förderung einer geordneten Rechtspflege sowie die Vermeidung von Parallelverfahren.9 Als Ausnahme zum allgemeinen Gerichtsstand ist Art. 6 Nr. 1 EuGVVO grundsätzlich restriktiv auszulegen.10 Allerdings dürfen auch keine zu hohen Anforderungen an die Konnexität gestellt werden. So hat es der EuGH für Art. 6 Nr. 1 EuGVVO bereits ausreichen lassen, wenn ein Klagebegehren gegen einen Beklagten vertraglicher, dasjenige gegen einen anderen 7 Adolphsen, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 2011, Kap. 3 VI. 1. a). 8 Stadler (Fn. 3), Art. 6 EuGVVO Rn. 2; Gottwald (Fn. 4), Art. 6 EuGVVO Rn. 23; Dörner (Fn. 5), Art. 6 EuGVVO Rn. 4. 9 Vgl. die Erwägungsgründe 12 und 15 der EuGVVO. 10 EuGH, Slg. I 2007, 8319 (8352 f. Rn. 35) – Freeport = NJW 2007, 3702 (3705) m. Anm. Sujecki/Dutilh; EuGH, Urt. v. 11.4.2013 – C-645/11, Rn. 53 (Sapir) = EuZW 2013, 503 (505) m. Anm. Dietze; EuGH, Urt. v. 17.12.2012 – C-616/12, Rn. 21 (Solvay) = EuZW 2012, 837 (838). Beklagten hingegen deliktischer Natur ist.11 Wann der erforderliche Zusammenhang zwischen mehreren Klagen besteht, ist zwar letztlich eine Frage des Einzelfalls.12 Anerkannt ist jedoch, dass die Konnexität dann zu bejahen ist, wenn die Beklagten kollusiv zusammengewirkt haben.13 Vorliegend sollen C und D der E gemeinsam technische Zeichnungen und Schriftstücke von A und B unbefugt zur Verfügung gestellt haben. Dabei würde es sich um ein – kollusives – Zusammenwirken der Beklagten handeln. Ob ein solches tatsächlich stattgefunden hat, ist für die Frage der internationalen Zuständigkeit jedoch unerheblich und erst im Rahmen der Begründetheit zu prüfen. Für die Konnexität in Art. 6 Nr. 1 EuGVVO genügt die schlüssige Behauptung des Klägers, dass ein solches Zusammenwirken stattgefunden hat.14 A und B tragen ein solches Zusammenwirken von C und D schlüssig vor. Nach teilweise vertretener Ansicht soll der Missbrauchsvorbehalt des Art. 6 Nr. 2 EuGVVO, wonach eine internationale Zuständigkeit zu verneinen ist, wenn die Klage nur erhoben wurde, um eine Person dem für sie zuständigen Gericht zu entziehen – entgegen dem Wortlaut – auch auf Art. 6 Nr. 1 EuGVVO Anwendung finden.15 Unabhängig davon, ob dieser Ansicht gefolgt werden kann,16 liegen hier schon die Voraussetzungen des Missbrauchsverbots nicht vor. So haben A und 11 EuGH, Slg. I 2007, 8319 (8359 Rn. 57) – Freeport. EuGH, Slg. 1988, 5565 (5584 Rn. 12) – Kalfelis = NJW 1988, 3088 (3089) m. Anm. Geimer; EuGH, Slg. I 2011, 12594 (12620 Rn. 83) – Painer = EuZW 2012, 182 (185) m. Anm. Roth. 13 Vgl. Kropholler/v. Hein (Fn. 3), Art. 6 EuGVVO Rn. 10, mit Verweis auf OGH ÖJZ 2008, 114; siehe auch Stadler (Fn. 3), Art. 6 EuGVVO Rn. 2a, die Fälle der Gesamtschuldnerschaft als „unproblematisch“ von Art. 6 Nr 1 EuGVVO erfasst sieht. 14 Simotta, in: Fasching, Kommentar zu den Zivilprozessgesetzen, 2. Aufl. 2011, Bd. 5/1, Art. 6 EuGVVO Rn. 23; vgl. Leible, in: Rauscher, Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht – Kommentar zum EuZPR/EuIPR, 2011, Art. 6 EuGVVO Rn. 10d; Stadler (Fn. 3), Art 6 EuGVVO Rn 3. 15 OGH GRUR Int. 2013, 569 (572); Wagner, in: Stein/Jonas, Kommentar zur ZPO, 22. Aufl. 2011, Art. 6 EuGVVO Rn. 42 f.; Mäsch, IPRax 2005, 509 (514). 16 Der EuGH hatte im Fall Freeport (EuGH, Slg. I 2007, 8340 [8357 Rn. 51 ff.]) eine Prüfung des Missbrauchsvorbehalts im Rahmen von Art. 6 Nr. 1 EuGVVO noch ausdrücklich abgelehnt, zustimmend Gottwald (Fn. 4), Art. 6 EuGVVO Rn. 16. In zwei neueren Entscheidungen hat der EuGH bei der Prüfung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO – wohl in Abkehr seiner Rechtsprechung in Freeport – jedoch auch Missbrauchserwägungen angeführt, siehe Rs. Painer (EuGH, Slg. I 2011, 12594 [12619 Rn. 78]) und Solvay (EuGH, Urt. v. 17.12.2012 – C-616/12, Rn. 22). Siehe dazu auch schon die früheren Entscheidungen des EuGH, Slg. 1988, 5565 (5583 Rn. 8 f.) – Kalfelis; EuGH, Slg. I 1998, 6511 (6548 Rn. 47) – Réunion européenne = EuZW 1999, 59 (62), sowie EuGH, Slg. I 2006, 6840 (6850 f. Rn. 32) – Reisch Montage = EuZW 2006, 667 (669). 12 _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 380 Übungsfall: Schmutzige Methoden wegen sauberer Energie B die D nicht nur deshalb verklagt, um diese ihrem allgemeinen Gerichtsstand zu entziehen, sondern um ein einheitliches Urteil gegen C, D und E vor dem LG Düsseldorf zu erreichen. Somit sind die Voraussetzungen des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO erfüllt, sodass die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte auch für die Klage gegen D gegeben ist. 2. Örtliche Zuständigkeit Neben der internationalen Zuständigkeit regelt Art. 6 Nr. 1 EuGVVO auch die örtliche Zuständigkeit.17 Mithin ist das LG Düsseldorf gem. Art. 6 Nr. 1 EuGVVO auch für die Klage gegen D örtlich zuständig. 3. Sachliche Zuständigkeit Die sachliche Zuständigkeit des LG Düsseldorf ergibt sich aus den §§ 23, 71 Abs. 1 GVG, § 3 ZPO (vgl. I. 3.). 4. Ergebnis Das LG Düsseldorf ist für die Klage gegen D international, örtlich und sachlich zuständig. III. Klage gegen E Fraglich ist, ob das LG Düsseldorf auch für die Klage gegen E zuständig ist. 1. Internationale/örtliche Zuständigkeit Die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte könnte auch für die Klage gegen E nach der EuGVVO zu beurteilen sein, sofern diese anwendbar ist. a) Anwendbarkeit der EuGVVO aa) Sachlich Hinsichtlich der sachlichen Anwendbarkeit gem. Art. 1 Abs. 1 EuGVVO bestehen – wie schon bei den Klagen gegen C und D – keine Bedenken. bb) Räumlich-persönlich Es müsste auch der räumlich-persönliche Anwendungsbereich der EuGVVO eröffnet sein. Dies ist gem. Art. 2 Abs. 1, 3 Abs.1 EuGVVO der Fall, wenn der Beklagte seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat. Die Beklagte E hat ihren Wohnsitz i.S.d. Art. 60 Abs. 1 EuGVVO jedoch nicht im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates, sondern in Brasilien, also in einem Drittstaat, sodass der räumlich-persönliche Anwendungsbereich der EuGVVO nicht nach Art. 2 Abs. 1, 3 Abs. 1 EuGVVO eröffnet ist. Gemäß Art. 4 Abs. 1 EuGVVO bestimmt sich, vorbehaltlich der Art. 22 und 23 EuGVVO, die Zuständigkeit der Gerichte in einem solchen Fall nach den eigenen, d.h. nationalen Gesetzen des angerufenen Gerichts. Eine ausschließliche Zuständigkeit deutscher Gerichte gem. Art. 22 EuGVVO ist vorliegend nicht ersichtlich. Insbesondere 17 Kropholler/v. Hein (Fn. 3), Art. 6 EuGVVO Rn. 5; Adolphsen (Fn. 7), Kap. 3 § 1 VI. 1.; Gottwald (Fn. 4), Art 6 EuGVVO Rn 2. ZIVILRECHT geht es nicht um eine Streitigkeit i.S.d. Art. 22 Nr. 4 EuGVVO. Auch eine Gerichtsstandsvereinbarung i.S.d. Art. 23 EuGVVO haben A, B und E nicht getroffen. Neben den in Art. 4 Abs. 1 EuGVVO genannten Ausnahmen der Art. 22 und 23 EuGVVO, können auch Art. 9 Abs. 2, 15 Abs. 2, 18 Abs. 2 und Art. 24 EuGVVO zu einer räumlich-persönlichen Anwendbarkeit der EuGVVO führen, wenn der Beklagte keinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat.18 Allerdings ergeben sich auch für die Voraussetzungen dieser Vorschriften keine Anhaltspunkte; insbesondere hat sich auch E nicht rügelos i.S.d. Art. 24 EuGVVO eingelassen (vgl. I. 1. b] bb]). Fraglich ist, ob für den besonderen Fall der Streitgenossenschaft neben den bereits angeführten, anerkannten Ausnahmen von Art. 2 Abs. 1, 3 Abs. 1 EuGVVO, der räumlich-persönliche Anwendungsbereich der EuGVVO auch über Art. 6 Nr. 1 EuGVVO zu eröffnen sein könnte. Eine direkte Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO kommt aufgrund des eindeutigen Wortlauts, der einen Wohnsitz des Beklagten im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats voraussetzt, zwar nicht in Betracht.19 Denkbar erscheint es jedoch, Art. 6 Nr. 1 EuGVVO auf Fälle mit mehreren Beklagten, von denen einer seinen Wohnsitz in einem Drittstaat hat, analog anzuwenden. Für eine Analogie bedarf es einer planwidrigen Regelungslücke und einer vergleichbaren Interessenlage.20 Eine vergleichbare Interessenlage wird dabei von vielen Seiten bejaht. Es sei kaum nachvollziehbar, warum ein Beklagter mit Sitz in einem Drittstaat besser gestellt werden solle, als ein Beklagter mit Sitz in einem Mitgliedstaat; immerhin solle die EuGVVO Personen mit Sitz in einem Mitgliedstaat tendenziell privilegieren und nicht benachteiligen.21 Ferner müsste in der EuGVVO hinsichtlich der Bestimmung des Gerichtsstands für mitbeklagte Streitgenossen mit Wohnsitz in einem Drittstaat eine planwidrige Regelungslücke bestehen. Fraglich ist bereits, ob eine Regelungslücke für diesen Fall bejaht werden kann. Zwar gibt es in der EuGVVO keine Vorschrift, die den Fall von Streitgenossen mit Wohnsitz in einem Drittstaat ausdrücklich regelt.22 Allerdings sieht Art. 4 18 Stadler (Fn. 3), Art. 4 EuGVVO Rn. 1; Gottwald (Fn. 4), Art. 4 EuGVVO Rn. 2; Hüßtege, in: Thomas/Putzo, Kommentar zur ZPO, 35. Aufl. 2014, Art. 4 EuGVVO Rn. 1. 19 Stadler (Fn. 3), Art 6 EuGVVO Rn. 3. 20 Sprau, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 73. Aufl. 2014, Einl. vor § 1 Rn. 48; Prütting, in: Prütting/Wegen/Weinreich, Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2013, Einl. vor § 1 Rn. 43. 21 Kropholler/v. Hein (Fn. 3), Art. 6 EuGVVO Rn. 7; Gottwald (Fn. 4), Art. 6 EuGVVO Rn. 4; Leible (Fn. 14), Art. 6 EuGVVO Rn. 7; Adolphsen (Fn. 7), Kap. 3 VI. 1. a); Geimer, in: Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 3. Aufl. 2010, Art. 6 Rn. 4 ff. 22 Eine solche Vorschrift wird es auch in der Neufassung der EuGVVO nicht geben. Zwar war noch im Entwurf zur Reform der EuGVVO eine Ausdehnung der besonderen Gerichtsstände der Art 5 ff. EuGVVO auf Beklagte mit Wohnsitz in Drittstaaten vorgesehen, vgl. Art. 4 Abs. 2 des Vorschlags der _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 381 ÜBUNGSFÄLLE Benjamin Hansen Abs. 1 EuGVVO vor, dass sich für Beklagte, die keinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, die Zuständigkeit der Gerichte eines jeden Mitgliedstaats – vorbehaltlich der Art. 22 und 23 – nach dessen eigenen Gesetzen, also nach den nationalen Zuständigkeitsvorschriften, richtet.23 Vor diesem Hintergrund wird bereits das Bestehen einer Regelungslücke verneint; Art. 4 Abs. 1 EuGVO habe abschließenden Charakter.24 Nachdem der Verordnungsgeber im Rahmen der Neufassung der EuGVVO den Anwendungsbereich nicht auf Personen mit Wohnsitz in einem Drittstaat erstreckt hat,25 kann – unabhängig von der Frage, ob eine Regelungslücke besteht – jedenfalls nicht mehr von der Planwidrigkeit einer solchen Lücke ausgegangen werden.26 Eine analoge Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO kommt demnach nicht in Betracht. cc) Zwischenergebnis Der Anwendungsbereich der EuGVVO ist nicht eröffnet. b) Zuständigkeit nach § 32 ZPO Die internationale Zuständigkeit ist somit gem. Art. 4 Abs. 1 EuGVO in Verbindung mit den doppelt funktional anwendbaren Vorschriften der ZPO27 zu bestimmen. Dabei indiziert die örtliche Zuständigkeit auch die internationale Zuständigkeit.28 Vorliegend kommt eine Zuständigkeit gem. § 32 ZPO in Betracht. Gemäß § 32 ZPO ist für Klagen aus unerlaubten Handlungen das Gericht zuständig, in dessen Bezirk die Handlung „begangen“ ist. Begehungsort im Sinne des § 32 ZPO ist neben dem Handlungsort auch der Erfolgsort (sog. Ubiquitätsprinzip), so dass eine Zuständigkeit wahlweise dort gegeben ist, wo die Verletzungshandlung begangen oder wo in ein ge- Europäischen Kommission für die Neufassung der EuGVVO (KOM [2010] 748 endg.). Diese Pläne wurden letztendlich aber nicht umgesetzt, dazu von Hein, RIW 2013, 97 (100 f.) m.w.N. 23 Vgl. auch Erwägungsgrund 9 der EuGVVO. 24 EuGH, Urt. v. 11.4.2013 – C-645/11 Rn. 49 ff. (Sapir). Zuvor bereits Generalanwältin Trstenjak in ihren Schlussanträgen v. 28.11.2012 in Rn. 118 f. (BeckRS 2012, 82520). Zust. Wais, LMK 2013, 347220, und Dietze, EuZW 2013, 506; im Anschluss an die Entscheidung des EuGH jetzt auch der BGH, Urt. v. 27.9.2013 – V ZR 232/10, Rn. 9 = BeckRS 2013, 21945. 25 Siehe Fn. 22. 26 Wais, LMK 2013, 347220; Stadler (Fn. 3), Art. 6 EuGVVO Rn. 3. 27 Dazu Heinrich, in: Musielak, Kommentar zur ZPO, 11. Aufl. 2014, § 12 ZPO Rn. 17; Patzina, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 4. Aufl. 2013, § 12 ZPO Rn. 89 ff. 28 BGHZ 184, 365; Toussaint, in: Beck’scher Online-Kommentar zur ZPO, Ed. 12, Stand: 15.3.2014, § 12 ZPO Rn. 16 ff.; Behr, GRUR Int. 1992, 604. schütztes Rechtsgut eingegriffen wurde.29 Erfasst werden neben Schadensersatzansprüchen auch Unterlassungsansprüche; für die Begründung der Zuständigkeit genügt die schlüssige Behauptung von Tatsachen, auf deren Grundlage sich eine im Gerichtsbezirk begangene unerlaubte Handlung ergibt.30 A und B behaupten, dass E – ggf. als Mittäter von C und D – ihre Rechte durch Vervielfältigung und Verbreitung bestimmter technischer Zeichnungen und Schriftstücke verletzt habe. Als Erfolgsort kommt Düsseldorf nicht in Betracht. Weder A noch B haben ihren Sitz als mutmaßliche Geschädigte in Deutschland. Düsseldorf könnte jedoch Handlungsort hinsichtlich der behaupteten Rechtsverletzungen sein. E selbst ist im Zusammenhang mit dem streitgegenständlichen Verhalten – soweit ersichtlich – zwar nie in Düsseldorf tätig geworden. Jedoch hat C als eine der mutmaßlichen Schädigerinnen ihren Sitz in Düsseldorf. Die Zuständigkeit des LG Düsseldorf für die Klage gegen E käme in Betracht, wenn sich E den Düsseldorfer Handlungsort der C zuständigkeitsbegründend zurechnen lassen müsste. Während der BGH für § 32 ZPO eine solche wechselseitige Handlungsortzurechnung in ständiger Rechtsprechung bejaht,31 hat sich der EuGH für Art. 5 Nr. 3 EuGVVO gegen eine zuständigkeitsbegründende Zurechnung des Handelns anderer Beteiligter entschieden.32 Begründet hat der EuGH diese Entscheidung insbesondere mit der Systematik (restriktive Auslegung der besonderen Gerichtsstände) und Zielsetzung (Vorhersehbarkeit der Gerichtsstände) der EuGVVO.33 Vor dem Hintergrund dieser EuGVVO-spezifischen Argumentation muss die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache „Melzer“ nicht auf § 32 ZPO übertragen werden.34 I.R.d. § 32 ZPO ist eine wechselseitige Handlungsortzurechnung gegenüber Personen mit Wohnsitz in einem Drittstaat also weiterhin möglich.35 Mithin können der E als eine in einem Drittstaat (Brasilien) ansässige Beklagte die Handlungen der in Düsseldorf ansässigen C zuständigkeitsbegründend zugerechnet werden. Somit 29 BGH NJW 2011, 2059 m. Anm. Brand; Toussaint (Fn. 28), § 32 ZPO Rn. 8a; Heinrich (Fn. 27), § 32 ZPO Rn. 15. Hingegen kann der bloße Schadensort keine internationale Zuständigkeit von Gerichten begründen, BGH NJW 1980, 1224 (1225); Vollkommer, in: Zöller, Kommentar zur ZPO, 30. Aufl. 2014, § 32 ZPO Rn. 16. 30 BGH NJW 2011, 2059 f.; Vollkommer (Fn. 29), § 32 ZPO Rn. 14, 16; vgl. Toussaint (Fn. 28), § 32 ZPO Rn. 7. 31 BGH NJW 1995, 1225 (1226); BGH WM 2011, 1028; BGH NJW-RR 2011, 548; BGH RIW 2011, 406. 32 EuGH NJW 2013, 2099 (2101) – Melzer. Siehe dazu auch die überwiegend kritischen Anmerkungen in der Literatur: v. Hein, IPRax 2013, 505; Weller, LMK 2013, 348154; Wagner, EuZW 2013, 546 f. Zustimmend hingegen Müller, NJW 2013, 2101. 33 EuGH, Urt. v. 16.5.2013 – C-228/11 Rn. 23 ff. und 35 f. – Melzer; dazu Weller, LMK 2013, 348154; v. Hein, IPRax 2013, 505 (507 ff.). 34 v. Hein, IPRax 2013, 505 (514). 35 v. Hein, IPRax 2013, 505 (514). _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 382 Übungsfall: Schmutzige Methoden wegen sauberer Energie ZIVILRECHT ist das LG Düsseldorf gem. § 32 ZPO sowohl international als auch örtlich für die Klage gegen E zuständig. 2. Räumlich Die Rom II-VO ist als loi uniforme nach Art. 1 Abs. 1, 3 Rom II-VO auch räumlich anwendbar. 2. Sachliche Zuständigkeit Sachlich ist das LG Düsseldorf zuständig gem. §§ 23, 71 Abs. 1 GVG, § 3 ZPO (vgl. I. 3.). 3. Zeitlich Die Verletzungshandlungen, die den von A und B geltend gemachten Ansprüchen zu Grunde liegen, ereigneten sich im November 2008 und früher. Fraglich ist, ob die Rom II-VO auf diese Ereignisse zeitlich anwendbar ist. 3. Ergebnis Das LG Düsseldorf ist für die Klage gegen E zuständig. IV. Gesamtergebnis Aufgabe 1 Das LG Düsseldorf ist sowohl für die Klage gegen C als auch für die Klagen gegen D und E zuständig. Lösungsvorschlag für Aufgabe 2 Fraglich ist, welches Recht auf die von A und B geltend gemachten Ansprüche Anwendung findet. A und B stützen ihre Ansprüche sowohl auf urheberrechtliche als auch auf lauterkeitsrechtliche Vorschriften. I. Anwendbarkeit der Rom II-VO36 Die Frage, welches Recht auf die von A und B geltend gemachten Ansprüche anwendbar ist, bestimmt sich nach der Rom II-VO, wenn diese anwendbar ist. 1. Sachlich Die Rom II-VO ist anwendbar auf außervertragliche Schuldverhältnisse in Zivil- und Handelssachen, Art. 1 Abs. 1 Rom II-VO. Der Begriff „außervertragliche Schuldverhältnisse“ ist autonom auszulegen.37 Darunter fallen sowohl urheberrechtliche als auch lauterkeitsrechtliche Ansprüche.38 Gem. Art. 2 Abs. 2, Abs. 3 Rom II-VO sind auch Unterlassungsansprüche vom Anwendungsbereich der Rom II-VO erfasst.39 Eine Ausnahme nach Art. 1 Abs. 2 Rom-VO ist nicht ersichtlich. Mithin ist die Rom II-VO sachlich anwendbar. 36 An dieser Stelle könnte auch ein Prüfungseinstieg über Art. 3 EGBGB erfolgen. Dies ist allerdings wegen des generellen Anwendungsvorrangs des Unionsrechts (vgl. dazu die grundlegende Entscheidung des EuGH (Slg. 1964, 1251 [1269] – Costa/E.N.E.L. = BeckEuRS 1964, 5203) nicht erforderlich; Art. 3 EGBGB ist rein deklaratorischer Natur, siehe dazu auch Rauscher/Pabst, NJW 2009, 3614 (3619). Aus diesem Grund wird hier direkt mit der Prüfung der Anwendbarkeit der Rom II-VO begonnen. 37 Vgl. Erwägungsgrund 11 der Rom II-VO; Thorn, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 73. Aufl. 2014, Art. 1 Rom IIVO Rn. 2. 38 Sack, WRP 2008, 845; ders., WRP 2008, 1405. 39 Thorn (Fn. 37), Art. 2 Rom II-VO Rn. 3; Junker, in: Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl. 2010, Art. 2 Rom IIVO Rn. 7; Wurmnest, in: Juris-Praxis-Kommentar, 6. Aufl. 2012, Art. 2 Rom II-VO Rn. 6; von Hein, ZEuP 2009, 6 (13). a) Maßgebender Zeitpunkt Nach Art. 31 Rom II-VO wird die Verordnung auf schadensbegründende Ereignisse angewandt, die nach ihrem Inkrafttreten eingetreten sind. Dabei ist nicht auf den Zeitpunkt des formellen Inkrafttretens i.S.v. Art. 297 Abs. 1 UAbs. 3 AEUV, also auf den zwanzigsten Tag nach der Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union (hier am 20.8.2007), abzustellen, sondern auf den Wortlaut des Art. 32 Rom II-VO.40 Dieser bestimmt den Geltungsbeginn der Verordnung auf den 11.1.2009 und damit auf einen Zeitpunkt nach November 2008. b) Besonderheit für Unterlassungsansprüche Fraglich ist jedoch, ob die Rom II-VO auf Unterlassungsansprüche angewendet werden kann, über die nach dem 11.1.2009 zu entscheiden ist, die aber aus einem vor diesem Zeitpunkt gesetzten Verhalten abgeleitet werden. Nach einer Auffassung soll es nicht auf den Zeitpunkt der Geltendmachung des Unterlassungsanspruchs ankommen; maßgeblich sei allein, ob der Eintritt des schadensbegründenden Ereignisses bereits vor dem 11.1.2009 wahrscheinlich war. Sei dies der Fall, so sei die Anwendbarkeit der Rom II-VO auch dann zu verneinen, wenn die Unterlassungsansprüche erstmals am oder nach dem 11.1.2009 gerichtlich geltend gemacht wurden.41 Die von A und B behaupteten, schadensbegründenden Ereignisse waren bereits im November 2008 und früher eingetreten, d.h. zeitlich vor Geltungsbeginn der Rom II-VO am 11.1.2009. Das auf die Unterlassungsansprüche anwendbare Recht wäre demnach nicht nach den Kollisionsnormen der Rom II-VO zu bestimmen, sondern nach nationalen Regelungen des Internationalen Privatrechts. Nach anderer Auffassung sollen Unterlassungsansprüche, über die nach Geltungsbeginn der Rom II-VO zu entscheiden ist, auch nach den Regeln dieser Verordnung zu beurteilen sein 40 EuGH, Slg. I 2011, 11603 (11635 Rn. 37) – Homawoo = NJW 2012, 441 (442); Pabst, in: Juris-Praxis-Kommentar, 6. Aufl. 2012, Art. 32 Rom II-VO Rn. 1; Spickhoff, in: Beck‘scher Online Kommentar zum BGB, Ed. 31, Stand: 1.2. 2013, Art. 32 Rom II-VO Rn. 2; Sujecki, EuZW 2011, 815. 41 Junker (Fn. 39), Art. 32 Rom II-VO Rn. 12; v. Hein, ZEuP 2009, 6 (11 f.); Jakob/Picht, in: Rauscher, Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht – Kommentar zum EuZPR/ EuIPR, 2011, Art. 31, 32 Rom II-VO Rn. 4; Spickhoff (Fn. 40), Art. 32 Rom II-VO Rn. 3. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 383 ÜBUNGSFÄLLE Benjamin Hansen und zwar unabhängig davon, ob der Schadenseintritt bereits vorher wahrscheinlich war oder nicht.42 Nach dieser Ansicht wäre das – auf die von A und B geltend gemachten Ansprüche – anwendbare Recht nach der Rom II-VO zu beurteilen, da A und B die Unterlassungsansprüche erst nach dem 11.1.2009, nämlich im Februar 2012 gerichtlich geltend gemacht haben. Da beide Ansichten zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, bedarf es einer Entscheidung, welcher Auffassung gefolgt werden soll. Für die erste Ansicht spricht zwar, dass Art. 31 Rom IIVO für die zeitliche Anwendbarkeit der Verordnung auf den Eintritt des schadensbegründenden Ereignisses und nicht auf die Geltendmachung von Ansprüchen abstellt.43 Allerdings ist zu berücksichtigen, dass Unterlassungsansprüche stets auf den – wahrscheinlichen – Eintritt zukünftiger Ereignisse gerichtet sind, es bei diesen Ansprüchen also um ein zukünftiges Verhalten des Anspruchsgegners geht. Vor diesem Hintergrund erscheint es sachgerechter, die Rom IIVO auf Unterlassungsansprüche anzuwenden, die aus einem Verhalten abgeleitet werden, welches sich vor dem 11.1.2009 ereignet hat, über die aber erst nach dem diesem Datum entschieden wird.44 c) Zwischenergebnis Mithin ist die Rom II-VO auch zeitlich auf die von A und B geltend gemachten Unterlassungsansprüche anwendbar. 4. Zwischenergebnis Der Anwendungsbereich der Rom II-VO ist eröffnet. Vorrangig anwendbare Rechtsakte i.S.d. Art. 27, 28 Rom II-VO sind nicht ersichtlich. II. Anwendbares Recht nach der Rom II-VO A und B machen urheberrechtliche und lauterkeitsrechtliche Ansprüche geltend. 1. Urheberrechtliche Ansprüche Fraglich ist, nach welcher Vorschrift das auf die urheberrechtlichen Ansprüche anwendbare Recht zu bestimmen ist. a) Art. 14 Abs. 1 Rom II-VO Die Parteien haben keine Rechtswahl gemäß Art. 14 Abs. 1 Rom II-VO getroffen. Eine solche Rechtswahl wäre für urheberrechtliche Ansprüche ohnehin gem. Art. 8 Abs. 3 Rom IIVO unbeachtlich. b) Art. 8 Abs. 1 Rom II-VO 42 In Betracht kommt somit die Bestimmung des anwendbaren Rechts nach Art. 8 Abs. 1 Rom II-VO. Danach ist auf außervertragliche Schuldverhältnisse aus einer Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums nach dem Grundsatz der lex loci protectionis das Recht des Staates anzuwenden, für den der Schutz beansprucht wird (sog. Schutzlandprinzip45). A und B stützen die geltend gemachten Unterlassungsansprüche unter anderem auf die Verletzung von Urheberrechten. Urheberrechte sind Rechte des geistigen Eigentums i.S.d. Art. 8 Rom II-VO.46 Dabei beanspruchen die Klägerinnen urheberrechtlichen Schutz für Luxemburg und die Schweiz, also für mehrere Rechtsordnungen. In einem solchen Fall, wenn also immaterialgüterrechtlicher Schutz für verschiedene Rechtsordnungen beansprucht wird, ist eine Mosaikbeurteilung vorzunehmen.47 Danach findet auf die von A und B geltend gemachten – urheberrechtlichen – Ansprüche sowohl luxemburgisches als auch schweizerisches Recht Anwendung. c) Zwischenergebnis Nach Art. 8 Abs. 1 Rom II-VO ist auf die von A und B geltend gemachten, auf Urheberrecht beruhenden Ansprüche, sowohl luxemburgisches (hinsichtlich der von A geltend gemachten Ansprüche) als auch schweizerisches Recht (hinsichtlich der von B geltend gemachten Ansprüche) anwendbar. Unter dem gemäß Art. 8 Abs. 1 Rom II-VO anzuwendenden Recht sind gemäß Art. 24 Rom II-VO die Sachnormen des jeweiligen Staates zu verstehen; eine Rück- oder Weiterverweisung auf eine andere Rechtsordnung kommt somit nicht in Betracht. 2. Lauterkeitsrechtliche Ansprüche Zu prüfen ist, welches Recht auf die von A und B geltend gemachten lauterkeitsrechtlichen Ansprüche anwendbar ist. a) Art. 14 Abs. 1 Rom II-VO Die Parteien haben keine Rechtswahl im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Rom II-VO getroffen. Zwar wird für bilaterale Wettbewerbsverletzungen die Möglichkeit einer Rechtswahl trotz des eindeutigen Ausschlusses in Art. 6 Abs. 4 Rom II-VO teilweise bejaht.48 Unabhängig davon, ob vorliegend die Voraussetzungen einer bilateralen Wettbewerbsverletzung erfüllt sind (dazu sogleich) und ob dieser Ansicht gefolgt werden kann, bestehen im vorliegenden Fall keine Anhaltspunkte für eine solche Vereinbarung. 45 BGH NJW 2009, 3371 (3372); OGH GRUR Int. 2012, 468 (471). 43 Vgl. Junker (Fn. 39), Art. 32 Rom II-VO Rn. 12; v. Hein, ZEuP 2009, 6 (11). 44 OGH GRUR Int. 2012, 468 (471); vgl. BGH NJW 2009, 3371 (3372). Thorn (Fn. 37), Art. 8 Rom II-VO Rn. 1; Spickhoff (Fn. 40), Art. 8 Rom II-VO Rn. 4. 46 Vgl. Erwägungsgrund 26 der Rom II-VO. 47 Siehe dazu OGH GRUR Int. 2013, 668 (670); OGH GRUR Int. 2012, 468 (472); Thorn (Fn. 37), Art. 8 Rom II-VO Rn. 7; Sack, WRP 2008, 1405 (1414). 48 Spickhoff (Fn. 40), Art. 6 Rom II-VO Rn. 8; Thorn (Fn. 37), Art. 6 Rom II-VO Rn. 19; a.A. v. Hein, RabelsZ 73 (2009), 461 (500); Sack, GRUR Int. 2013, 601 (603); ders., WRP 2008, 845 (851). _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 384 Übungsfall: Schmutzige Methoden wegen sauberer Energie b) Art. 6 Abs. 2 Rom II-VO Das auf die lauterkeitsrechtlichen Ansprüche anwendbare Recht könnte jedoch nach Art. 6 Abs. 2 Rom II-VO zu beurteilen sein. Art. 6 Rom II-VO enthält sowohl Kollisionsnormen für das Lauterkeitsrecht (Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Rom II-VO) als auch für das Kartellprivatrecht (Art. 6 Abs. 3 Rom II-VO). Zur Abgrenzung der beiden Rechtsgebiete kommt es darauf an, ob Gegenstand des Verfahrens die Regulierung eines bestimmten Verhaltens von Mitbewerbern auf einem Wettbewerbsmarkt ist (Lauterkeitsrecht) oder ob ein solcher Markt erst hergestellt bzw. erhalten werden soll (Kartellprivatrecht).49 A und B wehren sich gegen ein bestimmtes Verhalten seitens ihrer Mitbewerber C, D und E auf dem Markt der Solartechnik, nämlich gegen die Vervielfältigung und die Verbreitung von technischen Zeichnungen und Schriftstücken. Mit den geltend gemachten Unterlassungsansprüchen verfolgen A und B also das Ziel, das Verhalten auf dem Markt zu regulieren. Ihnen geht es nicht darum, einen solchen Markt herzustellen oder zu erhalten, d.h. nicht um kartellrechtliche Ziele im Sinne des Art. 6 Abs. 3 Rom II-VO. Eine weitere Abgrenzung ist zwischen Art. 6 Abs. 1 Rom II-VO und Art. 6 Abs. 2 Rom II-VO vorzunehmen. Während Art. 6 Abs. 1 Rom II-VO eine allgemeine Regelung für unlauteres Wettbewerbsverhalten enthält, betrifft Art. 6 Abs. 2 Rom II-VO nur solche Wettbewerbshandlungen, die ausschließlich die Interessen eines bestimmten Wettbewerbers beeinträchtigen (sog. bilaterales unlauteres Wettbewerbsverhalten).50 Dabei ist Art. 6 Abs. 2 Rom II-VO ebenfalls einschlägig, wenn sich das wettbewerbswidrige Verhalten gegen zwei – bestimmte – Konkurrenten eines Konzerns richtet.51 Die von A und B behauptete Vervielfältigung und Verbreitung von technischen Zeichnungen und Schriftstücken stellt ein ausschließlich gegen ihre Interessen gerichtetes Verhalten der Beklagten da. Auswirkungen auf den Markt der Solartechnik sind allenfalls mittelbar. Dies steht einer Einordnung als rein betriebsbezogene, bilaterale Wettbewerbshandlung jedoch nicht entgegen. Der Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 2 Rom II-VO umfasst auch gezielt gegen einen Konkurrenten gerichtete Wettbewerbshandlungen mit mittelbarem „Auch-Marktbezug“.52 Das auf die lauterkeitsrechtlichen Ansprüche anwendbare Recht richtet sich demnach nicht nach dem Marktortprinzip des Art. 6 Abs. 1 Rom II-VO, sondern gemäß Art. 6 Abs. 2 Rom II-VO nach dem allgemeinen Deliktsstatut des Art. 4 Rom II-VO. 49 Vgl. Thorn (Fn. 37), Art. 6 Rom II-VO Rn. 5; vgl. Spickhoff (Fn. 40), Art 6. Rom II-VO Rn. 3. 50 Sack, WRP 2008, 845, 846; Spickhoff (Fn. 40), Art. 6 Rom II-VO Rn. 4 ff. 51 OGH GRUR Int. 2012, 468 (472). 52 BGH GRUR Int. 2010, 882 (884); Thorn (Fn. 37), Art. 6 Rom II-VO Rn. 17; Sack, GRUR Int. 2012, 601 (605); Lindacher, GRUR Int. 2008, 453 (457). ZIVILRECHT Innerhalb der allgemeinen Kollisionsnorm des Art. 4 Rom II-VO ist vorrangig Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO zu prüfen.53 Diese Vorschrift bestimmt das anwendbare Recht für die Fälle, in denen der Geschädigte und der (mutmaßliche) Schädiger ihren gewöhnlichen Aufenthalt zum Zeitpunkt des Schadenseintritts in demselben Staat haben. Alle Beteiligten des Rechtsstreits haben ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des Art. 23 Abs. 1 Rom II-VO in unterschiedlichen Staaten. Eine Anknüpfung nach Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO scheidet demnach aus. Folglich ist das auf die lauterkeitsrechtlichen Ansprüche anwendbare Recht nach Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO zu bestimmen. Gemäß Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO ist das Recht des Staates anzuwenden, in dem der Schaden eintritt, unabhängig davon, in welchem Staat das schadensbegründende Ereignis oder indirekte Schadensfolgen eingetreten sind. Maßgeblich ist also allein der Erfolgsort.54 Fraglich ist, wie der Erfolgsort im Rahmen von Art. 6 Abs. 2 Rom II-VO zu bestimmen ist. Denkbar erscheint, als Erfolgsort i.S.d. Art. 6 Abs. 2 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO – wie für Art. 6 Abs. 1 Rom II-VO – den Marktort zu verstehen.55 Für diese Ansicht spricht, dass Art. 6 Abs. 1 Rom II-VO nach Erwägungsgrund 21 der Rom II-VO keine Ausnahme von der allgemeinen Regel nach Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO darstellen, sondern diese lediglich konkretisieren soll.56 Die überwiegende Auffassung geht hingegen davon aus, dass der Erfolgsort des Art. 6 Abs. 2 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO am Ort der Niederlassung der betroffenen Geschädigten zu lokalisieren ist.57 Folgte man der ersten Auffassung, liefe die umfassende Verweisung auf Art. 4 Rom II-VO in Art. 6 Abs. 2 Rom IIVO teilweise ins Leere. So verweist diese Vorschrift auch auf Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO. Sollte der Erfolgsort im Rahmen des Art. 6 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO ebenso verstanden werden, wie für Art. 6 Abs. 1 Rom II-VO, so hätte Art. 6 Abs. 2 Rom II-VO nur auf Art. 4 Abs. 2 und Abs. 3 Rom II-VO verweisen können. Dies zeigt, dass der Erfolgsort für bilaterale Wettbewerbsverletzungen abweichend vom Marktortprinzip zu bestimmen sein sollte.58 53 Junker (Fn. 39), Art. 4 Rom II-VO Rn. 7 f.; Thorn (Fn. 37), Art. 4 Rom II-VO Rn. 4. 54 Spickhoff (Fn. 40), Art. 4 Rom II-VO Rn. 6; Junker (Fn. 39), Art. 4 Rom II-VO Rn. 18; ders., NJW 2007, 3675 (3678). 55 Fezer/Koos, in: Staudinger, Internationales Wirtschaftsrecht, 2010, Rn. 662; ähnlich Spickhoff (Fn. 40), Art. 6 Rom II-VO Rn. 6. 56 Fezer/Koos (Fn. 55), Rn. 662. 57 OGH GRUR Int. 2012, 468 (472); Drexl, in: Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl. 2010, Internationales Recht gegen den unlauteren Wettbewerb Rn. 157; Sack, WRP 2008, 845 (850); wohl auch Dörner, in: Schulze u.a., Handkommentar zum BGB, 7. Aufl. 2012, Art. 6 Rom II-VO Rn. 7. 58 Vgl. OGH GRUR Int. 2012, 468 (472); Unberath/Cziupka, in: Rauscher, Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht – Kommentar zum EuZPR/EuIPR, 2011, Art. 6 Rom II-VO Rn. 46. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 385 ÜBUNGSFÄLLE Benjamin Hansen Damit streiten die besseren Argumente dafür, den Erfolgsort im Sinne des Art. 6 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO am Ort der Niederlassung der betroffenen Wettbewerber zu lokalisieren. A hat ihren Sitz im Sinne des Art. 23 Abs. 1 Rom II-VO und damit die für Art. 6 Abs. 2 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 Rom IIVO relevante Niederlassung in Luxemburg, B in Zürich. Daraus ergibt sich, dass auf die von A geltend gemachten lauterkeitsrechtlichen Ansprüche luxemburgisches Recht Anwendung findet; die von B geltend gemachten Ansprüche sind hingegen nach schweizerischem Recht zu beurteilen. Eine offensichtlich engere Verbindung gemäß Art. 6 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 Rom II-VO ist nicht ersichtlich. Somit bleibt es dabei, dass auf die von A geltend gemachten lauterkeitsrechtlichen Ansprüche luxemburgisches Recht Anwendung findet und auf die von B wegen unlauteren Wettbewerbsverhaltens geltend gemachten Ansprüche schweizerisches Recht. Anwendbar ist gem. Art. 24 Rom II-VO das jeweilige Sachrecht. III. Gesamtergebnis Aufgabe 2 Die von A und B geltend gemachten urheberrechtlichen Ansprüche sind nach luxemburgischem bzw. schweizerischem Recht zu beurteilen. Auf die lauterkeitsrechtlichen Ansprüche der A ist luxemburgisches Recht anwendbar, auf die der B schweizerisches Recht. _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 386 Anfängerhausarbeit: Verzinsungspflicht für Kartellgeldbußen natürlicher Personen* Von Prof. Dr. Markus Ludwigs, Wiss. Mit. Richard Lauer, Würzburg** Konkrete Normenkontrolle – Allgemeiner Gleichheitssatz – Garantie effektiven Rechtsschutzes – Unschuldsvermutung – Grundsatz des ne bis in idem Sachverhalt Ende Januar 2013 trat eine Neufassung von § 81 Abs. 6 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) in Kraft, mit der die Verzinsungspflicht von Kartellgeldbußen auch auf natürliche Personen erstreckt wurde. Die Regelung lautet wie folgt (Änderungen kursiv): „(6) Im Bußgeldbescheid festgesetzte Geldbußen gegen natürliche Personen sowie juristische Personen und Personenvereinigungen sind zu verzinsen; die Verzinsung beginnt zwei Wochen nach Zustellung des Bußgeldbescheides. § 288 Absatz 1 Satz 2 und § 289 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs sind entsprechend anzuwenden.“ Zur Begründung heißt es im Gesetzesentwurf: „Wer gegen Kartellrecht verstößt, muss mit empfindlichen Geldbußen rechnen. Werden die kartellbehördlich verhängten Geldbußen nicht zeitnah beglichen, wird der Bußgeldschuldner mit einer Verzinsungspflicht gemäß § 81 Abs. 6 GWB belastet. Hiermit soll der verbreiteten Praxis entgegengewirkt werden, Einspruch gegen den Bußgeldbescheid einzulegen, nur um ihn kurz vor der gerichtlichen Entscheidung zurückzunehmen. Durch ein solches Vorgehen wird die Zahlung der Geldbuße hinausgezögert, wobei der Zeitgewinn regelmäßig zu erheblichen Zinsvorteilen führt. Die Verzinsungspflicht entfaltet somit erstens eine Abschreckungswirkung vor dieser missbräuchlichen Einlegung von Rechtsbehelfen. Zweitens werden entstandene Zinsvorteile abgeschöpft. Die Regelung des § 81 Abs. 6 GWB muss auch gegenüber natürlichen Personen gelten, da auch bei ihnen ein Anreiz bestehen könnte, die Zahlung der Geldbuße hinauszuzögern.“ Im April 2013 fielen dem zuständigen Bundeskartellamt (BKartA) nach einem anonymen Hinweis ungewöhnliche Preisänderungen bei den Produkten Fass- und Flaschenbier in der Bierbrauerei des Einzelkaufmannes Gorandy (G) auf. Nach Durchsuchen der Büroräume des G ergab sich, dass dieser mit anderen Bierbrauereien seit Februar 2013 Absprachen über beabsichtigte Preiserhöhungen getroffen hatte. Das BKartA setzte daraufhin mit Bescheid vom 25.4.2013 gegen G eine Geldbuße in Höhe von 27.500 Euro wegen vor* Die Hausarbeit wurde im Sommersemester 2014 an der Universität Würzburg gestellt. Für wertvolle Diskussionen danken die Verf. Herrn Wiss. Mitarbeiter Johannes Grell. ** Prof. Dr. Markus Ludwigs ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Europarecht an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Richard Lauer ist Wiss. Mitarbeiter und Doktorand an diesem Lehrstuhl. sätzlichen Verstoßes gegen das Kartellverbot fest. Hiergegen legte G Einspruch ein. Bevor es aber zu einer Entscheidung des zuständigen Kartellgerichts kommen konnte, nahm G den Einspruch aus Angst vor einer gerichtlichen Erhöhung des Bußgeldes zurück und zahlte in der Folgezeit das Bußgeld in Höhe von 27.500 Euro. Am 18.12.2013 forderte das BKartA sodann G auf, die – korrekt berechneten – Zinsen in Höhe von 750 Euro auf das festgesetzte Bußgeld gemäß § 81 Abs. 6 GWB n.F. zu bezahlen. Hiergegen erhob G am 27.12.2013 Einwendungen vor dem zuständigen Oberlandesgericht (OLG). Das OLG setzte das Verfahren aus, da es die Neufassung von § 81 Abs. 6 GWB für unvereinbar mit dem Grundgesetz hielt, und legte dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Frage am 31.1.2014 zur Entscheidung vor. Das OLG sieht vor allem den Gleichheitssatz in mehrfacher Hinsicht verletzt. Erstens sei es unzulässig, natürliche Personen mit juristischen Personen und Personenvereinigungen gleichzusetzen. Hierbei handele es sich um eine nicht zu rechtfertigende Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem. Insoweit weist das Gericht wahrheitsgemäß darauf hin, dass in der Praxis die gegen natürliche Personen verhängten Geldbußen in der Höhe nicht annähernd das Niveau erreichen, wie gegenüber juristischen Personen und Personenvereinigungen. Zweitens resultiert nach Ansicht des OLG ein Verstoß daraus, dass – was in der Sache zutrifft – natürliche Personen als Schuldner einer Geldbuße in anderen Rechtsgebieten (d.h. außerhalb des Kartellrechts) keine Verzinsungspflicht trifft. Bei § 81 Abs. 6 GWB n.F. handele es sich um eine nicht zu rechtfertigende Sondernorm. Neben der gleichheitsrechtlichen Argumentation rekurriert das OLG darauf, dass § 81 Abs. 6 GWB n.F. eine unzumutbare Erschwerung des Rechtsschutzes für natürliche Personen zur Folge habe. Es bestehe die Gefahr, dass von der Einlegung eines Einspruchs aus Furcht vor einer drohenden Zinsbelastung abgesehen werde. Im Übrigen müsse die von einer Kartellgeldbuße betroffene natürliche Person in Erwägung ziehen, dass sie nach Einspruchserhebung einer möglicherweise drohenden gerichtlichen Erhöhung des Bußgeldes nur auf Kosten einer Verzinsung der angegriffenen Geldbuße zu entgehen vermag. Einzelne Betroffene könnten hierdurch von der Inanspruchnahme von Rechtsschutz abgehalten werden. Des Weiteren nimmt das OLG auch eine Verletzung der Unschuldsvermutung an, weil die Verzinsungspflicht bei Einspruchserhebung zwei Wochen nach Zustellung des Bescheids zu laufen beginne, obwohl die Geldbuße infolge der Einspruchserhebung gerade nicht bestandskräftig werde. Außerdem sei auch der Art. 103 Abs. 3 GG verletzt, da für die natürliche Person durch die Verzinsungspflicht neben der Geldbuße eine zusätzliche Sanktion entstünde. Schließlich weist das Gericht darauf hin, dass das Gesetz auch formell verfassungswidrig sei, weil der Gesetzentwurf – was in der Sache zutrifft – zwar von der Bundesregierung ausgearbeitet, zur Beschleunigung des Gesetzgebungsverfahrens aber von einer der Regierungsfraktionen in den Bundestag eingebracht wurde. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 387 ÜBUNGSFALL Markus Ludwigs/Richard Lauer Wie wird das Bundesverfassungsgericht über die Vorlage des Oberlandesgerichts vom 31.1.2014 entscheiden? den Antrag nach Art. 100 Abs. 1 GG beim BVerfG, so dass die Vorlageberechtigung zu bejahen ist. Bearbeitervermerk In einem Rechtsgutachten ist auf alle im Sachverhalt aufgeworfenen Probleme einzugehen, notfalls hilfsgutachtlich. Andere als die vom OLG vorgetragenen Gründe sind nicht zu erörtern. Für den vorliegenden Fall ist davon auszugehen, dass das Urteil des BVerfG v. 19.12.2012 – 1 BvL 18/11 zu § 81 Abs. 6 GWB a.F. in keiner Hinsicht entgegenstehende Rechtsoder Gesetzeskraft entfaltet. III. Vorlagegegenstand Als vorlagefähige Norm kommen nur formelle, nachkonstitutionelle Bundes- oder Landesgesetze in Betracht. Bei § 81 Abs. 6 GWB n.F. handelt es sich um ein vom Bundestag (unter Mitwirkung des Bundesrats) erlassenes formelles Bundesgesetz. Die Neufassung des § 81 Abs. 6 GWB erfolgte laut Sachverhalt Ende Januar 2013 und hat daher – ebenso wie die am 1.1.1958 in Kraft getretene Urfassung des GWB – nachkonstitutionellen Charakter (vgl. Art. 145 Abs. 2 GG). Es handelt sich damit um eine vorlagefähige Norm. Schwerpunkte und Bewertung der Klausur Die Schwerpunkte der prozessual in eine konkrete Normenkontrolle eingekleideten staatsrechtlichen Anfängerhausarbeit liegen in der Prüfung des allgemeinen Gleichheitssatzes und der Garantie effektiven Rechtsschutzes. Mit Blick auf Art. 3 Abs. 1 GG gilt es präzise zwischen der Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte und der Gleichbehandlung nicht vergleichbarer Sachverhalte zu differenzieren. Darüber hinaus ist auf Rechtfertigungsebene der jeweils einschlägige Prüfungsmaßstab zu bestimmen. Die Schwierigkeit bei Art. 19 Abs. 4 GG besteht in der Frage, ob ein Eingriff oder eine gesetzliche Ausgestaltung des Rechtsweges vorliegt. Abgerundet wird die Klausur durch eine Prüfung der im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Unschuldsvermutung und des Verbots der Doppelbestrafung (ne bis in idem) aus Art. 103 Abs. 3 GG. Von den Studierenden wurde eine Verarbeitung des Sachverhalts, die reflektierte Berücksichtigung der BVerfG-Entscheidung zu juristischen Personen und Personenvereinigungen (Beschl. v. 19.12.2012 – 1 BvL 18/11 = NJW 2013, 1418), eine problembewusste Argumentation und ein sauberer Gutachtenstil erwartet. In der Hausarbeit wurde ein Durchschnitt von 6,85 Punkten erreicht. Die Durchfallquote lag bei 11,5 %. Lösung Das BVerfG wird die Neufassung des § 81 Abs. 6 GWB gemäß § 82 Abs. 1 i.V.m. § 78 BVerfGG für nichtig erklären, wenn die Vorlage des OLG vom 31.1.2014 als konkrete Normenkontrolle gemäß Art. 100 Abs. 1 GG, §§ 13 Nr. 11, 80 ff. BVerfGG zulässig und begründet ist. A. Zulässigkeit I. Zuständigkeit Die Zuständigkeit des BVerfG für konkrete Normenkontrollen folgt aus Art. 100 Abs. 1 GG, §§ 13 Nr. 11, 80 ff. BVerfGG. II. Vorlageberechtigung Den Antrag nach Art. 100 Abs. 1 GG können nur Gerichte stellen. Darunter fallen alle Spruchstellen, die sachlich unabhängig in einem formell gültigen Gesetz mit den Aufgaben eines Gerichts betraut und als Gerichte (vgl. Art. 92 GG) bezeichnet sind.1 Vorliegend stellt ein OLG (§§ 115 ff. GVG) 1 BVerfGE 6, 55 (63); 30, 170 (171 f.); aus der Literatur statt vieler Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, IV. Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes Das OLG muss gemäß Art. 100 Abs. 1 GG von der Verfassungswidrigkeit des vorzulegenden Gesetzes überzeugt sein. Bloße Zweifel oder Bedenken hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit reichen nicht aus.2 Laut Sachverhalt hielt das OLG die Neufassung von § 81 Abs. 6 GWB für unvereinbar mit dem Grundgesetz, so dass auch diese Voraussetzung erfüllt ist. V. Entscheidungserheblichkeit des Gesetzes Art. 100 Abs. 1 GG setzt weiterhin voraus, dass es auf die „Gültigkeit“ des Gesetzes bei der Entscheidung ankommt. Hiervon ist auszugehen, wenn sich bei Anwendung des § 81 Abs. 6 GWB n.F. ein anderes Ergebnis ergibt als bei dessen Nichtanwendung.3 Im vorliegenden Fall sind die Voraussetzungen des § 81 Abs. 6 GWB n.F. gegeben. G ist als Einzelkaufmann (§ 1 Abs. 1 HGB) eine natürliche Person, die ein Handelsgewerbe (§ 1 Abs. 2 HGB) und damit ein Unternehmen betreibt. Er wurde ursprünglich wegen vorsätzlichen Verstoßes gegen das Kartellverbot (§ 1 GWB) durch Bescheid vom 25.4.2013 mit einer Geldbuße in Höhe von 27.500 Euro belastet. G erhob Einspruch, nahm diesen aber im Laufe des gerichtlichen Verfahrens zurück und zahlte die Geldbuße. Für die Zeit von der Einspruchserhebung bis zur Zahlung der Geldbuße unterliegt G damit der Zinszahlungspflicht nach § 81 Abs. 6 GWB in seiner Neufassung. Wäre § 81 Abs. 6 GWB n.F. verfassungswidrig und nichtig, unterläge G dagegen keiner Zinszahlungspflicht in Höhe von 750 Euro. Die Entscheidung des Gerichtes würde anders ausfallen. Für die fachgerichtliche Entscheidung kommt es mithin gemäß Art. 100 Abs. 1 GG auf die Gültigkeit des § 81 Abs. 6 GWB n.F. an. Rn. 579; Pieroth, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, 13. Aufl. 2014, Art. 100 Rn. 5. 2 St. Rspr.; vgl. z.B. BVerfGE 78, 104 (117); 86, 52 (57); 107, 218 (232); Ipsen, Staatsrecht I, 25. Aufl. 2013, Rn. 945; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Stellung, Verfahren, Entscheidungen, 9. Aufl. 2012, Rn. 145. 3 BVerfGE 22, 175 (176 f.); 91, 118 (121); Hillgruber/Goos (Fn. 1), Rn. 602. _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 388 Anfängerhausarbeit: Verzinsungspflicht für Kartellgeldbußen VI. Form Die Form der Vorlage zum BVerfG richtet sich nach §§ 80 Abs. 2 S. 1, 23 Abs. 1 S. 1 BVerfGG. Das vorlegende Gericht hat (schriftlich) zu begründen, inwiefern seine Entscheidung von der Gültigkeit der Rechtsvorschrift abhängig und mit welchen übergeordneten Rechtsnormen sie unvereinbar ist.4 Der Vorlagebeschluss muss zudem aus sich heraus ohne Bezugnahme auf die Akten (§ 80 Abs. 2 S. 2 BVerfGG) verständlich sein.5 Im Fall führt das OLG zur Begründung aus, mit welchen übergeordneten Rechtsnormen es die Neufassung des § 81 Abs. 6 GWB für unvereinbar hält. Von einer Darlegung der Entscheidungserheblichkeit des Gesetzes und der Verständlichkeit des Vorlagebeschlusses ist mangels gegenteiliger Angaben im Sachverhalt auszugehen. Der Antrag des OLG auf konkrete Normenkontrolle ist damit zulässig. B. Begründetheit Die konkrete Normenkontrolle des OLG ist begründet, wenn § 81 Abs. 6 GWB n.F. formell und/oder materiell mit dem Grundgesetz unvereinbar ist, Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG. Laut Bearbeitervermerk ist die Prüfung auf die im Sachverhalt vom OLG vorgetragenen Gründe zu beschränken.6 I. Formelle Verfassungsmäßigkeit Fraglich ist zunächst, ob die Neufassung des § 81 Abs. 6 GWB formell verfassungsmäßig ist. Dafür müsste der Bundesgesetzgeber die Gesetzgebungskompetenz gehabt haben und die Norm müsste in einem ordnungsgemäßen Verfahren zustande gekommen sein. 1. Gesetzgebungskompetenz In Betracht kommt eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes gemäß Art. 72, 74 GG. Für die kartellrechtliche Norm des § 81 Abs. 6 GWB müsste dann ein Kompetenztitel des Art. 74 Abs. 1 GG einschlägig sein. Denkbar erscheint hier insbesondere eine Subsumtion unter die „Verhütung des Missbrauchs wirtschaftlicher Machtstellung“ nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 16 GG. Als problematisch könnte sich aber insoweit erweisen, dass die Verzinsungspflicht an den Bußgeldbescheid anknüpft, der eine repressive Maßnahme darstellt. Im Schrifttum ist umstritten, ob Art. 74 Abs. 1 Nr. 16 GG neben der Vorbeugung, Prävention und Gefahrenabwehr auch die Schadensbeseitigung und Repression umfasst.7 Für ein enges Verständnis lässt sich auf den ersten Blick der Wortlaut 4 BVerfGE 68, 311 (316); 83, 111 (116). Vgl. BVerfGE 69, 185 (187); 93, 121 (132); Pieroth (Fn. 1), Art. 100 Rn. 16. 6 Zur grundsätzlich fehlenden Bindung des BVerfG an die vom vorlegenden Gericht geltend gemachten Nichtigkeitsgründe vgl. BVerfGE 67, 1 (11); 93, 121 (133); 120, 125 (144); Schlaich/Korioth (Fn. 2), Rn. 163. 7 Näher insb. Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 6. Aufl. 2010, Art. 74 Rn. 116 m.w.N. 5 ÖFFENTLICHES RECHT der Vorschrift („Verhütung“) anführen. Andererseits spricht die teleologische Auslegung für eine Einbeziehung auch der Beseitigung bzw. Ahndung des Missbrauchs wirtschaftlicher Machtstellungen in den Kompetenztitel.8 Der Grund hierfür ist, dass „die Verfassung nicht das eine bekämpfen, das andere aber tolerieren will“.9 Selbst wenn man hier also unter Rekurs auf die Verknüpfung der – für sich betrachtet präventiven (weil auf Abschreckung vor missbräuchlicher Rechtsbehelfseinlegung bzw. auf Vorteilsabschöpfung ausgerichteten) – Zinszahlungspflicht mit dem Bußgeldbescheid von einer repressiven Maßnahme ausgehen wollte, würde dies an der Einschlägigkeit des Art. 74 Abs. 1 Nr. 16 GG nichts ändern. Der Bund hat somit im Rahmen seiner Gesetzgebungskompetenz gehandelt.10 2. Gesetzgebungsverfahren Im Weiteren ist fraglich, ob das Gesetzgebungsverfahren i.S.d. Art. 76 ff. GG ordnungsgemäß durchlaufen wurde. Das OLG macht insoweit geltend, dass die Neufassung des § 81 Abs. 6 GWB zwar von der Bundesregierung ausgearbeitet, dann aber zu Beschleunigungszwecken von einer Regierungsfraktion „aus der Mitte des Bundestages“ gemäß Art. 76 Abs. 1 Alt. 2 GG eingebracht wurde. Die Konsequenzen einer solchen „verkappten“ Regierungsvorlage, die eine vorherige Zuleitung des Gesetzentwurfs an den Bundesrat nach Art. 76 Abs. 2 S. 1 GG entbehrlich macht, sind im Schrifttum umstritten. Nach einer Ansicht ist ein solches Vorgehen als unzulässige Umgehung des Art. 76 Abs. 2 S. 1 GG zu qualifizieren. Die Regelung soll daher analog angewendet werden.11 Für diese Sichtweise wird vorgebracht, dass Zweck des Art. 76 Abs. 2 S. 1 GG die Ermöglichung einer frühzeitigen sachverständigen Kontrolle durch den Bundesrat sei. Für den Fall einer besonderen Eilbedürftigkeit treffe bereits Art. 76 Abs. 2 S. 4 GG hinreichend Vorsorge. Eine differenzierende Ansicht will demgegenüber danach unterscheiden, ob die Einbringung der Vorlage von der Regie8 In diese Richtung BGH NJW 1987, 266 (267); Oeter (Fn. 7), Art. 74 Rn. 116; Pieroth (Fn. 1), Art. 74 Rn. 40; Seiler, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), Beck‘scher Online-Kommentar GG, Edition 21 (Stand: 1.6.2014), Art. 74 Rn. 57; a.A. Maunz, in: Maunz/Dürig (Begr.), Grundgesetz, Kommentar, 69. EL 2013, Art. 74 Rn. 192. 9 Stettner, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. 2, 2006, Art. 74 Rn. 78. 10 Vertretbar wäre es hier auch, die Einschlägigkeit des Art. 74 Abs. 1 Nr. 16 GG mit der Begründung zu verneinen, dass es beim Kartellverbot des § 1 GWB (dessen Verletzung zum Bußgeldbescheid und damit letztlich auch zur Zinszahlungspflicht geführt hat) nicht auf das Vorliegen einer „wirtschaftlichen Machtstellung“ ankommt. Dann wäre aber an Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG (Recht der Wirtschaft) zu denken, wobei zusätzlich eine Prüfung des Art. 72 Abs. 2 GG (dessen Voraussetzungen hier vorliegen) erfolgen müsste. 11 Vgl. Dietlein, in: Epping/Hillgruber (Fn. 8), Art. 76 GG Rn. 31; Hömig, in: Hömig (Hrsg.), Grundgesetz, 9. Aufl. 2010, Art. 76 Rn. 6; Masing, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 7), Art. 76 Rn. 97 ff. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 389 ÜBUNGSFALL Markus Ludwigs/Richard Lauer rungsfraktion aus sachlichen Gründen oder gezielt zur Umgehung des Art. 76 Abs. 2 S. 1 GG erfolgt.12 Nur im letztgenannten (Umgehungs-)Fall sei eine analoge Anwendung des Art. 76 Abs. 2 S. 1 GG angezeigt. Eine derartige Differenzierung erscheint in der Praxis allerdings kaum durchführbar und kann daher nicht überzeugen.13 Die herrschende Meinung sieht in einer „verkappten“ Regierungsvorlage keine unzulässige Umgehung.14 Ein Bedürfnis nach analoger Anwendung von Art. 76 Abs. 2 S. 1 GG wird folgerichtig verneint. Hierfür spricht im Ausgangspunkt bereits der formal an „Vorlagen der Bundesregierung“ anknüpfende Wortlaut des Art. 76 Abs. 2 S. 1 GG. Indem sich die einzelnen Abgeordneten eine von der Regierung erarbeitete Vorlage zu eigen machen, übernehmen sie die politische Verantwortung. Dies stellt einen zulässigen Gebrauch vom Gesetzesinitiativrecht der Abgeordneten nach Art. 76 Abs. 1 Alt. 2 GG dar. Im Übrigen werden die Rechte des Bundesrates im weiteren Gesetzgebungsverfahren ausreichend gewahrt. Zudem verfügt dieser im Rahmen des Art. 43 Abs. 2 GG über eine weitere Mitwirkungsmöglichkeit. Schließlich bleiben die Einspruchs- und Zustimmungsrechte des Bundesrates unberührt, Art. 77 GG. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das Gesetzgebungsverfahren i.S.d. Art. 76 ff. GG ordnungsgemäß durchlaufen wurde. Die Neufassung des § 81 Abs. 6 GWB ist formell verfassungsmäßig.15 II. Materielle Verfassungsmäßigkeit Klärungsbedürftig ist sodann, ob § 81 Abs. 6 GWB n.F. auch materiell verfassungsmäßig ist. Dies setzt voraus, dass die 12 Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2013, § 17 Rn. 62 f.; Mann, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 6. Aufl. 2011, Art. 76 Rn. 24 ff.; Stettner, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 76 Rn. 13. 13 Vgl. Kersten, in: Maunz/Dürig (Fn. 8), Art. 76 Rn. 113. 14 BVerfGE 30, 250 (260 f.); Degenhart, Staatsrecht I, 29. Aufl. 2013, Rn. 219; Ipsen (Fn. 2), Rn. 226; Kersten (Fn. 13), Art. 76 Rn. 113; Pieroth (Fn. 1), Art. 76 Rn. 3; Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Hofmann/Hopfauf (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 12. Aufl. 2011, Art. 76 Rn. 39, 45. 15 Geht ein Bearbeiter/eine Bearbeiterin (mit entsprechender Begründung vertretbar) von einer Unzulässigkeit der „verkappten“ Regierungsvorlage aus, ist anschließend die Schwere des Verfahrensmangels anzusprechen. Das Gesetz ist bei einem Verstoß gegen Vorgaben des Art. 76 GG nur dann nichtig, wenn es sich um eine verfassungsrechtlich zwingende Regelung handelt und der Gesetzesbeschluss auf dem Verstoß hiergegen beruht, BVerfGE 44, 308 (313); Kersten (Fn. 13), Art. 76 Rn. 117. Vorliegend ist insoweit zu beachten, dass die Stellungnahme des Bundesrates gemäß Art. 76 Abs. 2 S. 1, 2 GG nur vorläufig ist und keine anderen Organe bindet, vgl. Pieroth (Fn. 1), Art. 76 Rn. 7. Somit stellt die Umgehung des Art. 76 Abs. 2 S. 1 GG keinen substantiellen Verfahrensmangel und damit auch keinen zur Ungültigkeit des Gesetzes führenden Verstoß gegen eine verfassungsrechtlich zwingende Regelung dar, siehe Dietlein (Fn. 11), Art. 76 Rn. 32; Masing (Fn. 11), Art. 76 Rn. 102. Regelung in inhaltlicher Hinsicht nicht gegen das Grundgesetz verstößt. 1. Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG Vorliegend kommt ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG sowohl im Hinblick auf eine unzulässige Gleichbehandlung als auch wegen einer unzulässigen Ungleichbehandlung in Betracht. Die Einschlägigkeit vorrangiger spezieller Gleichheitssätze ist nicht ersichtlich. a) Unzulässige Gleichbehandlung Ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz könnte zunächst im Hinblick auf die Gleichstellung natürlicher Personen mit juristischen Personen und Personenvereinigungen gegeben sein. Der Gleichheitssatz gebietet, „Gleiches gleich und Ungleiches seiner Eigenart entsprechend verschieden zu behandeln“16. Vorliegend könnte mithin eine unzulässige Gleichbehandlung nicht vergleichbarer Sachverhalte vorliegen. aa) Gleichbehandlung nicht vergleichbarer Sachverhalte In einem ersten Schritt ist zu klären, ob eine Gleichbehandlung nicht vergleichbarer Sachverhalte vorliegt. (1) Gleichbehandlung Von einer Gleichbehandlung ist auszugehen, wenn für die beiden zu vergleichenden Gruppen eine gleiche Rechtsfolge eintritt.17 Für natürliche Personen und juristische Personen bzw. Personenvereinigungen kann in ihrer jeweiligen Eigenschaft als Bußgeldschuldner dieselbe Rechtsfolge, nämlich die Pflicht zur Verzinsung des Bußgeldes entstehen. Infolge der Neufassung des § 81 Abs. 6 GWB trifft diese Pflicht auch natürliche Personen. Die Verzinsungspflicht des Bußgeldes beginnt zwei Wochen nach Zustellung des Bußgeldbescheids und läuft bis zur endgültigen Zahlung des Bußgeldes bzw. bei Einspruchserhebung bis zum Ergehen eines rechtskräftigen Urteils des Kartellgerichts. Für beide Gruppen entsteht mithin die gleiche Rechtsfolge, nämlich die Zinszahlungspflicht. Es liegt folglich eine rechtliche Gleichbehandlung natürlicher Personen einerseits sowie juristischer Personen und Personenvereinigungen andererseits vor. (2) Nicht vergleichbare Sachverhalte Des Weiteren müsste es sich um zwei nicht vergleichbare Sachverhalte handeln.18 Dagegen könnte sprechen, dass jeweils 16 BVerfGE 3, 58 (135); 42, 64 (72); Epping, Grundrechte, 5. Aufl. 2012, Rn. 777. 17 Vgl. Epping (Fn. 16), Rn. 784 f.; Englisch, in: Stern/Becker, Grundrechte-Kommentar, 2009, Art. 3 Rn. 41. 18 Teilweise wird vertreten, dass an dieser Stelle noch näher zu prüfen ist, ob es sich auch um wesentlich ungleiche Sachverhalte handelt (vgl. z.B. Michael/Morlok, Grundrechte, 3. Aufl. 2012, Rn. 791). Nach wohl herrschender Meinung (Heun, in: Dreier [Hrsg.], Grundgesetz, Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 3 Rn. 24; Jarass, in: Jarass/Pieroth [Fn. 1], Art. 3 Rn. 7; Osterloh, in: Sachs [Fn. 12], Art. 3 Rn. 82; _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 390 Anfängerhausarbeit: Verzinsungspflicht für Kartellgeldbußen dieselbe Fallgestaltung in Rede steht.19 Die Verzinsungspflicht knüpft an ein bußgeldbewehrtes kartellrechtswidriges Verhalten natürlicher Personen wie auch juristischer Personen und Personenvereinigungen an. Auch bei natürlichen Personen besteht zumindest die theoretische Möglichkeit, dass die Geldbuße eine Höhe erreicht, bei der es sich lohnt, missbräuchlich einen Rechtsbehelf einzulegen, um durch den entstehenden Zeitgewinn Zinsvorteile zu erzielen. Gegen diese Argumentation und für das Vorliegen eines ungleichen Sachverhalts lässt sich aber vor allem die Praxis der Verhängung von Kartellgeldbußen anführen. Laut Sachverhalt erreichen diese gegenüber natürlichen Personen nicht annähernd das Niveau, wie bei juristischen Personen und Personenvereinigungen. Infolge der deutlich geringeren Höhe der Geldbußen bleiben auch die durch eine Verzögerung des Eintritts der Bestandskraft erzielbaren finanziellen Vorteile begrenzt. Außerdem können bei der Durchführung eines Einspruchsverfahrens durch die Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung (vgl. § 73 Abs. 1 OWiG) erhebliche persönliche Belastungen für natürliche Personen entstehen.20 Juristische Personen und Personenvereinigungen sind nicht in gleichem Maße von persönlichen Anschuldigungen, dem öffentlichen Interesse und eventuell auch einer Berichterstattung in den Medien belastet.21 Zusammenfassend ergibt sich, dass für natürliche Personen erkennbar kein vergleichbarer Anreiz zur missbräuchlichen Einspruchseinlegung besteht. Vor diesem Hintergrund spricht mehr dafür, vom Vorliegen ungleicher Sachverhalte auszugehen.22 Scherzberg, in: Ehlers/Schoch [Hrsg.], Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2009, § 13 Rn. 176) wird das Merkmal der „Wesentlichkeit“ dagegen durch die Prüfung der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung inzident festgestellt; nach einem dritten Ansatz fallen die Prüfung des Vorliegens vergleichbarer Sachverhalte einerseits und der „wesentlichen Gleichheit“ andererseits zusammen (in diese Richtung Pieroth/Schlink/ Kingreen/Poscher, Staatsrecht II, 29. Aufl. 2013, Rn. 463; BVerfG NJW 2013, 1418 [1421 Rn. 63]). 19 Vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 30.5.2011 – V-1 Kart 1/11 (OWi), Rn. 38 (juris); Meinhold-Heerlein/Engelhoven, NZKart 2013, 104 (107); Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Wettbewerbsrecht, Bd. 2, 4. Aufl. 2007, § 81 GWB Rn. 465; Vollmer, wistra 2013, 289 (294). 20 BVerfG NJW 2013, 1418 (Rn. 57, 62). 21 In seiner Entscheidung vom 19.12.2012 (zur Verfassungskonformität einer Verzinsungspflicht für juristische Personen und Personenvereinigungen) unterscheidet das BVerfG weiter zwischen natürlichen Personen mit und ohne Unternehmenseigenschaft (NJW 2013, 1418 [1420 f. Rn. 49 ff., 58 ff.]). Ein Eingehen hierauf wurde von den Bearbeiterinnen und Bearbeitern nicht erwartet, zumal sich hieraus für den vorliegenden Fall nichts Abweichendes ergibt. 22 A.A. mit entsprechender Begründung vertretbar. ÖFFENTLICHES RECHT bb) Rechtfertigung der Gleichbehandlung Zu klären bleibt, ob die festgestellte Gleichbehandlung von Ungleichem gerechtfertigt ist. Hier gilt es zunächst, den einschlägigen Prüfungsmaßstab zu bestimmen. Im Rahmen der Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung trotz gleicher Sachverhalte wird regelmäßig zwischen der auf das Vorliegen eines vernünftigen, sachlich einleuchtenden Grundes abstellenden „Willkürformel“23 und der am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ausgerichteten „Neuen Formel“24 differenziert.25 Zu beachten ist freilich, dass die Willkür- und Verhältnismäßigkeitsprüfung in der jüngeren Rechtsprechung des BVerfG nicht mehr als Gegensätze, sondern als Teile eines einheitlichen Rechtfertigungsmaßstabs begriffen werden.26 Danach ergeben sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz „je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die stufenlos von gelockerten, auf das Willkürverbot beschränkten Bindungen bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen reichen können.“27 Ungeklärt ist, ob die Unterscheidung zwischen Willkürprüfung und strenger Verhältnismäßigkeitsprüfung (im Rahmen eines einheitlichen, stufenlosen Prüfungsmaßstabs) auch in den Fällen der Gleichbehandlung trotz Ungleichheit relevant ist. Hiergegen spricht indes der Umstand, dass der primäre Fokus des Art. 3 Abs. 1 GG auf der Verhinderung und Beseitigung von Ungleichbehandlungen liegt. Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass bei einer Gleichbehandlung trotz ungleicher Sachverhalte typischerweise (und so auch hier) die großzügigeren Anforderungen der Willkürformel anzulegen sind.28 Zu fragen ist damit nach dem Vorliegen eines vernünftigen Grundes für die Gleichbehandlung. Ein sachlich einleuchtender Grund könnte der im Gesetzesentwurf angeführte mögliche Anreiz bei natürlichen Personen sein, die Zahlung der Geldbuße durch Erhebung eines Rechtsbehelfs möglichst lange hinauszuzögern. Die Verzinsungspflicht soll insoweit eine Abschreckungs- und Abschöpfungswirkung entfalten. Zu bedenken ist indes, dass dabei lediglich mit der Möglichkeit („da auch bei ihnen ein Anreiz bestehen könnte“) der missbräuchlichen Einspruchserhebung durch natürliche Personen argumentiert wird. In der Praxis schwindet diese Möglichkeit dagegen, insbesondere wegen der wesentlich niedrigeren Höhe der Geldbußen (s.o.), signifikant.29 Der Anreiz für natürliche Personen zur Zinsersparnis kommt daher – auch unter Berücksichtigung des gesetzgeberischen Prognosespielraums – nicht als sachlicher Grund in Betracht. 23 Erstmalig BVerfGE 1, 14 (52). Grundlegend BVerfGE 55, 72 (88). 25 siehe noch näher unter b) bb) m.w.N. 26 Instruktiv Kischel, in: Epping/Hillgruber (Fn. 8), Art. 3 Rn. 24 ff., 28 f., 30 ff.; vgl. auch Britz, NJW 2014, 346 (347). 27 BVerfGE 129, 49 (Ls. 1); BVerfG, NJW 2013, 1418 (1419 Rn. 45). 28 In diese Richtung auch Jarass (Fn. 18), Art. 3 Rn. 28; Kloepfer, Verfassungsrecht II, 2010, § 59 Rn. 95; a.A. mit entsprechender Begründung vertretbar. 29 Vgl. BVerfG, NJW 2013, 1418 (1420 f. Rn. 51 ff., 59 ff.). 24 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 391 ÜBUNGSFALL Markus Ludwigs/Richard Lauer Sonstige sachliche Gründe für die Gleichbehandlung natürlicher Personen mit juristischen Personen und Personenvereinigungen sind nicht ersichtlich. Die in § 81 Abs. 6 GWB n.F. angeordnete Einbeziehung natürlicher Personen in die Zinspflicht stellt damit eine nicht zu rechtfertigende Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem dar. Hieraus resultiert ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG. b) Unzulässige Ungleichbehandlung Daneben kommt ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz auch mit Blick darauf in Betracht, dass in keinem anderen Rechtsgebiet natürliche Personen einer Verzinsungspflicht ihrer Geldbußen unterliegen. Hierin könnte eine unzulässige Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem liegen. aa) Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte (1) Ungleichbehandlung Eine Ungleichbehandlung liegt vor, wenn für bestimmte Vergleichsgruppen unterschiedliche Rechtsfolgen eintreten.30 Die Vergleichsgruppen sind vorliegend natürliche Personen in ihrer Eigenschaft als Kartellbußgeldschuldner einerseits und als Bußgeldschuldner in einem anderen Rechtsgebiet (z.B. im Umweltrecht) andererseits. Der gemeinsame Oberbegriff ist somit die natürliche Person in ihrer Eigenschaft als Bußgeldschuldner. Nach § 81 Abs. 6 GWB n.F. unterliegen natürliche Personen in ihrer Eigenschaft als kartellrechtliche Bußgeldschuldner der Verzinsungspflicht. Dabei handelt es sich um eine dem deutschen Ordnungswidrigkeitenrecht ansonsten nicht bekannte Sondernorm. In anderen Rechtsgebieten wird bei Bußgeldschulden für begangene Ordnungswidrigkeiten keine Verzinsungspflicht auferlegt.31 Demnach liegt eine unterschiedliche Rechtsfolge und folglich eine Ungleichbehandlung vor. (2) Vergleichbare Sachverhalte Weitergehend müsste es sich um eine Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte handeln. Gegen das Vorliegen eines gleichen Sachverhalts könnte vorgebracht werden, dass es an einem zusammenhängenden rechtlichen Ordnungssystem fehlt.32 Die jeweiligen Geldbußen gehören unterschiedlichen rechtlichen Ordnungsbereichen an, die in keinem systematischen Zusammenhang stehen. Die jeweiligen Ordnungswidrigkeitstatbestände bilden nur einen Annex des jeweiligen Fachrechts. Die unterschiedlichen Rechtsgebiete sind aber gerade nicht vergleichbar. Gegen diese Argumentation und für das Vorliegen gleicher Sachverhalte spricht aber, dass die Verzinsung der Geldbuße gerade nicht (wie es das BVerfG annimmt33) die Tatbestandsebene, sondern die Rechtsfolgen von Ordnungswidrigkeiten 30 Vgl. Epping (Fn. 16), Rn. 781 ff. BVerfG NJW 2013, 1418 (1421 Rn. 63). 32 Vgl. BVerfG NJW 2013, 1418 (1421 Rn. 63 f., im Kontext der Verzinsungspflicht für juristische Personen und Personenvereinigungen). 33 Vgl. BVerfG NJW 2013, 1418 (1421 Rn. 63 f.). 31 betrifft.34 In beiden Fällen handelt es sich um denselben Sachverhalt: eine Geldbuße auf der Rechtsfolgenseite als Sanktion für auf der Tatbestandsebene vorangegangenes rechtswidriges Verhalten. Nach hier zugrunde gelegter Auffassung ist demnach eine Ungleichbehandlung trotz vergleichbarer Sachverhalte gegeben.35 bb) Rechtfertigung der Ungleichbehandlung Zu klären bleibt damit, ob diese Ungleichbehandlung trotz vergleichbarer Sachverhalte gerechtfertigt ist. (1) Prüfungsmaßstab Auch hier gilt es zunächst, den Prüfungsmaßstab für die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung zu bestimmen. Wie bereits ausgeführt wurde, reicht die Kontrolldichte stufenlos von gelockerten, auf ein Willkürverbot beschränkten Bindungen bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen. Bei der Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte bestimmt sich die Frage, welche Kontrolldichte anzulegen ist, nach der Intensität der Ungleichbehandlung.36 Bei geringer Intensität findet eine Willkürprüfung statt, bei hoher Intensität kommt eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung zur Anwendung. Die Intensität der Ungleichbehandlung wird anhand verschiedener Kriterien ermittelt.37 Für eine strengere Bindung des Gesetzgebers spricht es z.B., wenn die Ungleichbehandlung der beiden Gruppen an Persönlichkeitsmerkmale anknüpft oder wenn Freiheitsrechte betroffen sind. Die Intensität ist dagegen geringer, je mehr der Betroffene das Kriterium der Ungleichbehandlung beeinflussen kann oder je weniger es einem der Kriterien in Art. 3 Abs. 3 GG entspricht. Im vorliegenden Fall könnte zugunsten einer größeren Intensität der Ungleichbehandlung und für eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung geltend gemacht werden, dass eine mittelbar personenbezogene Ungleichbehandlung in Rede steht (Kartellbußgeldschuldner, sonstige Bußgeldschuldner).38 Des Weiteren lässt sich für eine strengere Kontrolle vorbringen, 34 Vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 30.5.2011 – V-1 Kart 1/11 (OWi), Rn. 41 (juris); siehe auch Dannecker/Biermann (Fn. 19), § 81 GWB Rn. 465; Heinichen, EWiR 2013, 149 (150); König, in: Göhler (Hrsg.), Ordnungswidrigkeitengesetz, 16. Aufl. 2012, § 17 Rn. 48d; Sachs, JuS 2013, 856 (857); Vollmer, wistra 2013, 289 (294 f.). 35 A.A. mit entsprechender Begründung vertretbar. 36 Vgl. BVerfGE 103, 310 (318 f.); 118, 79 (100); Jarass (Fn. 18), Art. 3 GG Rn. 20 ff.; instruktiv: Kischel, in: Epping/ Hillgruber (Fn. 8), Art. 3 Rn. 14-14.4 m.w.N., der auch auf alternative Abgrenzungskonzepte im Schrifttum eingeht. 37 Vgl. Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher (Fn. 18), Rn. 470 ff.; ausführlich zuletzt Britz, NJW 2014, 346 (349 f.); siehe auch BVerfG NJW 2013, 1418 (1419 Rn. 45). 38 Vgl. (im Kontext der Ungleichbehandlung von juristischen Personen und Personenvereinigungen) OLG Düsseldorf, Beschl. v. 30.5.2011 – V-1 Kart 1/11 (OWi), Rn. 42 (juris); Vollmer, wistra 2013, 289 (294 f.); Meinhold-Herrlein/Engelhoven, NZKart 2013, 104 (107). _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 392 Anfängerhausarbeit: Verzinsungspflicht für Kartellgeldbußen dass durch die Verzinsungspflicht für natürliche Personen auch Freiheitsrechte (zumindest Art. 2 Abs. 1 GG) betroffen sind. Gegen diese Ansicht und für die Annahme einer geringeren Intensität der Ungleichbehandlung mit daraus resultierender Vornahme einer Willkürprüfung spricht indes vor allem der Umstand, dass das Unterscheidungskriterium gerade nicht personenbezogen ist. Angeknüpft wird vielmehr stets an ein rechtswidriges Verhalten, das von dem Betroffenen beeinflussbar ist. Bei der Anknüpfung an das rechtwidrige Verhalten einer natürlichen Person in einem bestimmten Rechtsgebiet handelt es sich gerade nicht um ein Persönlichkeitsmerkmal. Hinzu kommt, dass das Unterscheidungskriterium vorliegend auch nicht den Kriterien aus Art. 3 Abs. 3 GG entspricht. Es spricht daher mehr dafür, nur von einer Ungleichbehandlung geringerer Intensität auszugehen. Die Kontrolldichte im Rahmen der Rechtfertigung bleibt auf eine Willkürprüfung beschränkt.39 (2) Vorliegen eines sachlichen Grundes Klärungsbedürftig ist somit, ob ein vernünftiger, sachlich einleuchtender Rechtfertigungsgrund vorliegt. Dieser könnte in dem – durch den Gesetzentwurf zum Ausdruck gebrachten – Sinn und Zweck der kartellrechtlichen Verzinsungspflicht bestehen, entstandene Zinsvorteile abzuschöpfen. Dem lässt sich aber schon entgegenhalten, dass auch bei Bußgeldern aus anderen Rechtsgebieten Zinsvorteile (in ähnlich geringer Höhe) durch eine Verzögerung des Eintritts der Bestandskraft entstehen könnten.40 Der Abschöpfungszweck kann somit nicht als vernünftiger, sachlich einleuchtender Differenzierungsgrund angeführt werden. Als hinreichender Grund kommt ferner die – ebenfalls im Gesetzentwurf adressierte – Abschreckungswirkung wegen eines möglichen Anreizes zur missbräuchlichen Rechtsbehelfseinlegung durch natürliche Personen in Betracht. Dagegen spricht jedoch, dass auch außerhalb des Kartellrechts ähnliche Bußgeldandrohungen bestehen und demnach auch dort ein solcher Anreiz theoretisch in Betracht käme.41 Im Übrigen werden in der Praxis gegen natürliche Personen im Kartellrecht typischerweise gerade keine besonders hohen Bußgelder verhängt (s.o.), folglich entfällt ein substantieller Anreiz zur missbräuchlichen Rechtsbehelfseinlegung.42 Es besteht mithin bei natürlichen Personen kein Grund, kartellrechtliche Bußgeldschuldner von der Einspruchseinlegung abzuschrecken, Bußgeldschuldner in anderen Rechtsbereichen dagegen nicht.43 39 A.A. mit entsprechender Begründung vertretbar. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 30.5.2011 – V-1 Kart 1/11 (OWi), Rn. 44 f. (juris); Meinhold-Heerlein/Engelhoven, NZKart 2013, 104 (107). 41 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 30.5.2011 – V-1 Kart 1/11 (OWi), Rn. 44 f. (juris). 42 Vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 30.5.2011 – V-1 Kart 1/11 (OWi), Rn. 44 f. (juris); Meinhold-Heerlein/Engelhoven, NZKart 2013, 104 (107). 43 Vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 30.5.2011 – V-1 Kart 1/11 (OWi), Rn. 44 f. (juris). 40 ÖFFENTLICHES RECHT Es liegen folglich keine Gründe vor, die die ungleichen Rechtsfolgen rechtfertigen könnten. Die ungerechtfertigte Ungleichbehandlung natürlicher Personen als kartellrechtliche Bußgeldschuldner einerseits und als Bußgeldschuldner in anderen Rechtsgebieten andererseits bedeutet einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG. c) Ergebnis zu Art. 3 Abs. 1 GG Durch die Neufassung des § 81 Abs. 6 GWB wird in zweifacher Hinsicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen. Zum einen liegt eine ungerechtfertigte Gleichbehandlung natürlicher Personen mit juristischen Personen und Personenvereinigungen, zum anderen eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung natürlicher Personen als kartellrechtliche Bußgeldschuldner mit natürlichen Personen als Bußgeldschuldner aus anderen Rechtsgebieten vor. 2. Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG Die Neufassung des § 81 Abs. 6 GWB könnte ferner gegen die Rechtschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG verstoßen. a) Schutzbereich44 Art. 19 Abs. 4 GG schützt die Gewährleistung des Rechtsweges bei (möglichen) Verletzungen subjektiver Rechte durch die öffentliche Gewalt. Vorliegend ist hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals der Verletzung durch die öffentliche Gewalt i.S.d. Art. 19 Abs. 4 GG auf den kartellbehördlichen Bußgeldbescheid abzustellen. Bei einem rechtwidrigen Bescheid muss dem Bußgeldschuldner der Rechtsweg offen stehen. Der Bußgeldbescheid wird durch die Exekutive erlassen, die unstreitig unter das Tatbestandsmerkmal der öffentlichen Gewalt i.S.d. Art. 19 Abs. 4 GG fällt.45 Ein etwaiger rechtswidriger Bußgeldbescheid stellt folglich eine Verletzung durch die öffentliche Gewalt dar.46 Der Schutzbereich des Art. 19 Abs. 4 GG ist eröffnet. b) Eingriff oder Ausgestaltung Das normale Eingriffsschema findet im Rahmen von Art. 19 Abs. 4 GG keine Anwendung.47 Zu prüfen ist vielmehr, ob es 44 Möglich ist hier auch die Prüfung des Art. 19 Abs. 4 GG in Form eines Leistungsgrundrechts (Anspruchsvoraussetzungen, Anspruchsinhalt); vgl. z.B. bei Manssen, Staatsrecht II, 11. Aufl. 2014, Rn. 763 ff.; wie hier Hufen, Staatsrecht II, 4. Aufl. 2014, § 44 Rn. 3 ff., 7, 8; Pieroth/Schlink/Kingreen/ Poscher (Fn. 18), Rn. 1098 ff., 1113 f., 1115 f.; instruktiv zu den unterschiedlichen Schutzrichtungen des Art. 19 Abs. 4 GG Schulze-Fielitz, in: Dreier (Fn. 18), Art. 19 Abs. 4 Rn. 84 m.w.N. 45 Zum Begriff der öffentlichen Gewalt statt vieler Ipsen, Staatsrecht II, 16. Aufl. 2013, Rn. 879 ff. 46 Dagegen war hier nicht auf § 81 Abs. 6 GWB bzw. auf den Verzinsungsbescheid abzustellen. Die Verzinsungspflicht ist erst als möglicher Eingriff in Art. 19 Abs. 4 GG anzusprechen, da sie den Bußgeldschuldner evtl. in seinem Rechtsschutz gegen den Bußgeldbescheid beeinträchtigt. 47 Hufen (Fn. 44), § 44 Rn. 7. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 393 ÜBUNGSFALL Markus Ludwigs/Richard Lauer sich bei der Neufassung des § 81 Abs. 6 GG um einen Eingriff oder um eine gesetzliche Ausgestaltung des Rechtsweges handelt.48 Zwar wird die Abgrenzung zwischen Eingriff und Ausgestaltung kontrovers diskutiert49; abwehrrechtlich formuliert50 lässt sich aber davon sprechen, dass jedenfalls dann ein Eingriff vorliegt, wenn die Grenzen der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber überschritten sind.51 Dies ist der Fall, wenn eine unangemessene, dem Rechtsschutzsuchenden unzumutbare Erschwerung des Zugangs zu den Gerichten bzw. des Verfahrens vorliegt.52 Klärungsbedürftig ist demnach, ob die Neufassung des § 81 Abs. 6 GWB eine Beeinträchtigung des effektiven Rechtsschutzes in Form einer unangemessenen und unzumutbaren Erschwerung des Zugangs zu den Gerichten darstellt. Insoweit ist zwischen zwei Fallvarianten zu differenzieren. aa) Fallvariante 1: Befürchtung der zusätzlichen Belastung mit Zinsen Die Verzinsungspflicht könnte zunächst eine (unzumutbare) Beeinträchtigung des Art. 19 Abs. 4 GG darstellen, weil der Bußgeldschuldner aus Angst vor der zusätzlichen finanziellen Belastung mit Zinsen eine Einspruchseinlegung unterlässt. Gegen das Vorliegen einer unzumutbaren Erschwerung des Zugangs zu den Gerichten (und eines hieraus resultierenden Eingriffs in Art. 19 Abs. 4 GG) spricht jedoch, dass im Falle der Rechtswegbeschreitung bis zu einem kartellgerichtlichen Urteil eine Verzinsungspflicht gerade nicht existiert. Zum einen entstehen die Zinsen auf das kartellbehördliche Bußgeld nur bei vorheriger Einspruchsrücknahme. Zum anderen unterliegt die kartellgerichtlich verhängte Geldbuße mit Blick auf den eindeutigen Gesetzeswortlaut des § 81 Abs. 6 GWB keiner Verzinsungspflicht.53 Bei Aufrechterhaltung des eingelegten Einspruchs bis zum Ergehen eines kartellgerichtlichen Ur48 Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher (Fn. 18), Rn. 1113. Vgl. für einen Überblick z.B. Hecker, Marktoptimierende Wirtschaftsaufsicht, 2007, S. 191 ff.; Kroll-Ludwigs, Die Rolle der Parteiautonomie im Europäischen Kollisionsrecht, 2013, S. 226 ff.; eingehende Kritik an der These strikter Exklusivität von Eingriff und Ausgestaltung bei Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, 2005, S. 666 ff. 50 Vgl. insoweit auch Schulze-Fielitz, in: Dreier (Fn. 18), Art. 19 Abs. 4 Rn. 84; kritisch Cornils (Fn. 49), S. 465 ff., 487 f. 51 BVerfGE 60, 253 (269); 109, 279 (364); Burrichter, in: FS Bechtold, 2006, S. 97 (103); Hufen (Fn. 44), § 44 Rn. 7; Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher (Fn. 18), Rn. 1113; pointiert Cornils (Fn. 49), S. 464, der – in kritischer Perspektive – von Fällen „umschlagender“ Ausgestaltungen spricht. 52 BVerfGE 60, 253 (269); 69, 381 (385 f.); 77, 275 (284); 109, 279 (364); Jarass (Fn. 18), Art. 19 Rn. 50; Pieroth/ Schlink/Kingreen/Poscher (Fn. 18), Rn. 1113; Schulze-Fielitz (Fn. 50), Art. 19 Abs. 4 Rn. 84. 53 Ausführlich OLG Düsseldorf, Beschl. v. 30.5.2011 – V-1 Kart 1/11 (OWi), Rn. 17 ff. (juris); siehe auch BVerfG NJW 2013, 1418 (1421 f. Rn. 65, 74), unter Verweis auf die überwiegende Meinung im kartellrechtlichen Schrifttum. 49 teiles ist eine zusätzliche finanzielle Belastung mit Zinsen somit nicht zu erwarten. Die Verzinsungspflicht stellt folglich für den Fall, dass der Bußgeldschuldner aus Angst vor einer zusätzlichen finanziellen Belastung eine Einspruchseinlegung von vornherein unterlässt, keinen Eingriff in Art. 19 Abs. 4 GG dar. bb) Fallvariante 2: Risiko einer sich abzeichnenden kartellgerichtlichen Verböserung Fraglich ist aber weiterhin, ob die Verzinsungspflicht bei einer sich abzeichnenden kartellgerichtlichen Verböserung (reformatio in peius) während des anhängigen Einspruchsverfahrens eine (unzumutbare) Beeinträchtigung des Art. 19 Abs. 4 GG darstellt. Die von einer Kartellgeldbuße betroffene natürliche Person kann nach Einspruchserhebung einer möglicherweise drohenden kartellgerichtlichen Erhöhung des Bußgeldes (vgl. § 71 Abs. 1 OWiG) nur auf Kosten einer Verzinsung der Geldbuße entgehen. Eine Einspruchsrücknahme wegen der absehbaren Verböserung durch das Kartellgericht führt zum Eintritt der Bestandskraft der Geldbuße und somit zu einer rückwirkenden Verzinsung nach § 81 Abs. 6 GWB n.F. Einzelne natürliche Personen könnten deshalb von der Inanspruchnahme von Rechtsschutz abgehalten werden. Die Verzinsungspflicht aus § 81 Abs. 6 GWB entfaltet mithin eine rechtsschutzhemmende Wirkung.54 Hierin liegt eine Beeinträchtigung der Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG. Um festzustellen, dass ein Eingriff und keine bloße Ausgestaltung vorliegt (s.o.), müsste sich die Verzinsungspflicht mit ihrer rechtsschutzhemmenden Wirkung allerdings weitergehend als unzumutbare Erschwerung des Zugangs zu den Gerichten darstellen.55 Für die Einordnung der Verzinsungspflicht als zumutbare Erschwerung des Rechtsschutzes könnte argumentiert werden, dass die Höhe der möglicherweise anfallenden Zinsen – zumindest abstrakt betrachtet – grundsätzlich im Voraus für den Bußgeldschuldner überschaubar ist.56 Zudem lässt sich vorbringen, dass die zu zahlenden Bußgelder bei natürlichen Personen deutlich geringer ausfallen als bei juristischen Personen und Personenvereinigungen. Sie erreichen keine Größenordnung, die den Rechtsweg für natürliche Personen spürbar erschweren würde. Außerdem könnten die durch den Zeitgewinn erzielten Zinsgewinne die später zu zahlenden Zinsen ausgleichen. Im Übrigen besteht für den Bußgeldschuldner die Möglichkeit, der Zinszahlungspflicht zu entgehen, indem er die geforderte Bußgeldsumme sofort im Vorhinein nach Erhalt des Bescheides zahlt und nach Erfolg seines Einspruchs zurückfordert. Für das Vorliegen einer unzumutbaren Erschwerung des Rechtsschutzes durch die Verzinsungspflicht spricht indes, dass der Betroffene gerade keinen Einfluss auf die genaue 54 BVerfG NJW 2013, 1418 (1423 Rn. 79). Siehe insoweit auch BVerfG NJW 1976, 141; BVerfG NJW 2013, 1418 (1423 Rn. 79). 56 Vgl. (für juristische Personen und Personenvereinigungen): BVerfG NJW 2013, 1418 (1424 Rn. 84); OLG Düsseldorf, Beschl. v. 30.5.2011 – V-1 Kart 1/11 (OWi), Rn. 27 (juris). 55 _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 394 Anfängerhausarbeit: Verzinsungspflicht für Kartellgeldbußen Dauer des Rechtsbehelfsverfahrens und somit auch nicht auf die konkrete Höhe seiner Zinsschuld hat.57 Hinzu kommt, dass der Sinn und Zweck der Neufassung des § 81 Abs. 6 GWB bei natürlichen Personen gerade nicht erreicht wird (s.o.). Die Abschreckungs- und die Abschöpfungswirkung der Verzinsungspflicht für natürliche Personen laufen wegen der in der Praxis festzustellenden niedrigen Bußgelder gegen natürliche Personen vielmehr weitgehend ins Leere. Dies zugrunde gelegt, muss aber jede mit der Zinszahlungspflicht einhergehende Erschwerung des Rechtsschutzes als unzumutbar erscheinen. Da die Neufassung ihren Sinn und Zweck verfehlt, ist sie als Beschränkung des Zugangs zu den Gerichten nicht zumutbar. Folglich liegt nicht nur eine bloße Ausgestaltung, sondern ein Eingriff in die Rechtsschutzgarantie vor.58 c) Rechtfertigung Art. 19 Abs. 4 GG ist ein vorbehaltslos gewährtes Grundrecht. Eingriffe können ihre verfassungsrechtliche Rechtfertigung nur in kollidierendem Verfassungsrecht, z.B. in der Rechtspflege oder im Grundsatz der Rechtssicherheit, finden.59 Zweifelhaft erscheint allerdings schon, ob trotz der festgestellten unzumutbaren Erschwerung des Rechtsweges (s.o.) überhaupt noch eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung in Betracht kommt. In Teilen des Schrifttums wird insoweit die These propagiert60, wonach jeder Eingriff in die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG zugleich eine verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigende Verletzung bedeutet. Dem ist hier insofern zuzustimmen, als bereits die Unzumutbarkeit der Beschränkung des Zugangs zu den Gerichten festgestellt wurde (s.o.). Daher kann die Frage, ob vorliegend überhaupt kollidierendes Verfassungsrecht als Anknüpfungspunkt für eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung in Betracht käme, dahinstehen. d) Ergebnis zu Art. 19 Abs. 4 GG Die Neufassung des § 81 Abs. 6 GWB verstößt nach alledem auch gegen die Rechtschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG. 3. Verstoß gegen die Unschuldsvermutung Die Neufassung des § 81 Abs. 6 GWB könnte darüber hinaus die verfassungsrechtlich garantierte Unschuldsvermutung ver57 So, im Kontext der Verzinsungspflicht für juristische Personen und Personenvereinigungen, z.B. Achenbach, in: Frankfurter Kommentar Kartellrecht, 79. EL 2013, § 81 GWB Rn. 327; Burrichter (Fn. 51), S. 105 f.; Cramer/Pananis, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Kartellrecht, Kommentar, 2. Aufl. 2009, § 81 GWB Rn. 76; Dannecker/Biermann (Fn. 19), § 81 GWB Rn. 462; König (Fn. 34), § 17 Rn. 48d; Meinhold-Heerlein/Engelhoven, NZKart 2013, 104 (107 f.); Vollmer, wistra 2013, 289 (295 f.). 58 A.A. mit entsprechender Begründung vertretbar. 59 Vgl. Jarass (Fn. 18), Art. 19 Rn. 53; Schulze-Fielitz (Fn. 50), Art. 19 Abs. 4 Rn. 140; Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher (Fn. 18), Rn. 1115. 60 Vgl. Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher (Fn. 18), Rn. 1115. ÖFFENTLICHES RECHT letzen. Die Unschuldsvermutung ist als solche zwar nicht explizit im Grundgesetz normiert, wird aber aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3, 28 Abs. 1 S. 1 GG) hergeleitet.61 a) Schutzbereich Die Unschuldsvermutung schützt den Betroffenen vor Nachteilen, die einem Schuldspruch oder einer Strafe entsprechen, ohne dass ein Schuldnachweis durch ein vorausgegangenes prozessordnungsgemäßes Verfahren vorliegt.62 Zugleich verlangt sie den rechtskräftigen Nachweis der Tat und der Schuld des Betroffenen.63 Die Unschuldsvermutung gilt dabei auch für die jeweilige natürliche Person in ihrer Eigenschaft als (Kartell-)Bußgeldschuldner.64 b) Beeinträchtigung Fraglich ist, ob die Neufassung des § 81 Abs. 6 GWB auch zu einer Beeinträchtigung der Unschuldsvermutung führt. Dies wäre dann der Fall, wenn hieraus ein Nachteil für natürliche Personen als Bußgeldschuldner resultiert, obwohl der gesetzliche Nachweis der Schuld noch nicht erbracht wurde. Nach zum Teil vertretener Ansicht stellt die Verzinsungspflicht eine zur Geldbuße hinzutretende Sanktion und somit einen eigenständigen Nachteil dar.65 Da die Verzinsungspflicht bereits zwei Wochen nach Zustellung des Bußgeldbescheids beginne und somit eine noch nicht bestandskräftig geahndete Ordnungswidrigkeit erfasse, sei der gesetzliche Nachweis der Schuld nicht erbracht. Hierdurch werde die Unschuldsvermutung beeinträchtigt. Nach anderer Ansicht ist indes bereits der Sanktionscharakter der Verzinsungspflicht fraglich.66 Insoweit kann im vorliegenden Fall auch auf den Gesetzentwurf verwiesen werden, wonach die Neufassung des § 81 Abs. 6 GWB eine Abschreckungs- und Abschöpfungswirkung entfalten und folglich gerade keine zusätzliche Sanktion begründen soll. Jedenfalls ist die Unschuldsvermutung aber deshalb nicht beeinträchtigt, weil die Fälligkeit der zu zahlenden Zinsen erst mit Bestandskraft des Bußgeldbescheids eintritt. Bei Erfolg der Rechtswegbeschreitung entfällt die Zinspflicht mithin rückwirkend, von Anfang an sind somit keine Zinsen geschuldet.67 61 BVerfGE 38, 105 (115); Jarass (Fn. 18), Art. 20 Rn. 108; siehe daneben noch Art. 6 Abs. 2 EMRK und Art. 48 Abs. 1 GRCh. 62 Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf (Fn. 14), Art. 20 Rn. 63. 63 BVerfG NJW 2013, 1418 (1424 Rn. 90); Jarass (Fn. 18), Art. 20 Rn. 108. 64 Vgl. BVerfGE 9, 167 (170); BVerfG NJW 2013, 1418 (1424 Rn. 90). 65 Siehe insb. (im Kontext der Verzinsungspflicht für juristische Personen und Personenvereinigungen) Achenbach (Fn. 57), § 81 GWB Rn. 327; ähnlich auch Dannecker/Biermann (Fn. 19), § 81 GWB Rn. 463; König (Fn. 34), § 17 Rn. 48d. 66 Meinhold-Heerlein/Engelhoven, NZKart 2013, 104 (107); zweifelnd auch BVerfG NJW 2013, 1418 (1424 f. Rn. 91). 67 Vgl. BVerfG NJW 2013, 1418 (1424 f. Rn. 91). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 395 ÜBUNGSFALL Markus Ludwigs/Richard Lauer Die Neufassung des § 81 Abs. 6 GWB führt damit zu keiner Verletzung der verfassungsrechtlich garantierten Unschuldsvermutung.68 4. Verstoß gegen Art. 103 Abs. 3 GG bzw. gegen rechtsstaatliche Grundsätze Schließlich könnte § 81 Abs. 6 GWB n.F. den verfassungsrechtlichen Grundsatz des „ne bis in idem“ verletzen. Art. 103 Abs. 3 GG verbietet eine mehrmalige Bestrafung wegen derselben Tat. Unter die „allgemeinen Strafgesetze“ des Art. 103 Abs. 3 GG fallen indes nur Kriminalstrafen, nicht aber Ordnungswidrigkeitentatbestände.69 Ein solcher steht vorliegend in Form des § 81 Abs. 2 Nr. 1 GWB (vorsätzlicher Verstoß gegen das Kartellverbot des § 1 GWB) in Rede. Auch im Bereich der Ordnungswidrigkeiten können sich jedoch aus allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätzen (z.B. dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz) Beschränkungen einer erneuten oder doppelten Sanktionierung ergeben.70 Zum Teil wird sogar für eine analoge Anwendung von Art. 103 Abs. 3 GG plädiert.71 Klärungsbedürftig ist insoweit aber zunächst, ob der Verzinsungspflicht aus § 81 Abs. 6 GWB n.F. für natürliche Personen überhaupt ein selbständiger, zur verhängten Geldbuße hinzutretender Sanktionscharakter zukommt. Dagegen spricht, dass die Verzinsungspflicht keine zusätzliche Ahndungswirkung entfalten soll. Ziel ist es vielmehr, „die Angemessenheit der Sanktion, deren Vollstreckbarkeit durch den Einspruch hinausgeschoben wird, trotz der eingetretenen Verzögerung aufrechtzuerhalten, um auf diese Weise von der rechtsmissbräuchlichen Einlegung des Rechtsbehelfs abzuhalten“.72 Hieraus wird deutlich, dass mit der Verzinsungspflicht nur eine Abschreckungs- und eine Abschöpfungswirkung angestrebt werden. Mangels Sanktionscharakters können sich damit aber auch aus allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätzen (bzw. aus einer analogen Anwendung von Art. 103 Abs. 3 GG) keine Beschränkungen unter dem Gesichtspunkt einer unzulässigen Doppelbestrafung ergeben. C. Entscheidung des BVerfG Aufgrund der dargelegten Verfassungsverstöße wird das BVerfG die Neufassung des § 81 Abs. 6 GWB nach § 82 Abs. 1 i.V.m. § 78 BVerfGG für nichtig erklären. Das vorlegende OLG ist gemäß § 31 Abs. 1, 2 BVerfGG an die – Gesetzeskraft entfaltende – Entscheidung des BVerfG über die Nichtigkeit der Neufassung des § 81 Abs. 6 GWB gebunden. 5. Ergebnis zur materiellen Verfassungsmäßigkeit Die Neufassung des § 81 Abs. 6 GWB verstößt in zweifacher Hinsicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG sowie darüber hinaus gegen Art. 19 Abs. 4 GG. Sie ist folglich materiell verfassungswidrig. II. Ergebnis der Begründetheit § 81 Abs. 6 GWB n.F. ist zwar formell, nicht aber materiell verfassungskonform. Die zulässige Vorlage des OLG ist daher auch begründet. 68 A.A. mit entsprechender Begründung vertretbar. BVerfGE 43, 101 (105); OLG Jena NStZ 2006, 319; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig (Fn. 8), Art. 103 Abs. 3 Rn. 289; a.A. unter Rekurs auf die kompetenzrechtliche Systematik des Grundgesetzes (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG) Pieroth/ Schlink/Kingreen/Poscher (Fn. 18), Rn. 1212. 70 Schmidt-Aßmann (Fn. 69), Art. 103 Abs. 3 Rn. 276, 289. 71 Einschränkend Schmidt-Aßmann (Fn. 69), Art. 103 Abs. 3 Rn. 289. 72 BVerfG NJW 2013, 1418 (1425 Rn. 94). 69 _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 396 Übungsfall: „Vertauscht, verkehrt, verfahren“* Von Wiss. Mitarbeiter Dr. Marcus Bergmann, Wiss. Hilfskraft Annabell Blaue, Halle (Saale)** Sachverhalt A und B treffen sich nach Feierabend in ihrer Stammkneipe, um etwas zu trinken. A kam mit seinem neuen BMW, B mit seinem neuen hochwertigen Rennrad, das er am Morgen für 2.300 € gekauft hatte. Als A schließlich am späten Abend aufbrechen will, rät B ihm davon ab, noch Auto zu fahren. Schließlich habe A viel mehr getrunken als B. A ist sich daraufhin auch nicht sicher, noch Auto fahren zu können. B hingegen fühlt sich durch den Alkohol völlig unbeeinträchtigt. Daher kommen beide überein, vorsichtshalber die Fahrzeuge zu tauschen. Tatsächlich beträgt der Blutalkoholgehalt des A 1,5 ‰, der Blutalkoholgehalt des B aber nur 1,2 ‰. Diese konkreten Werte kennen die beiden aber nicht. A radelt also mit dem Fahrrad des B nach Hause. Unterwegs fährt er auf dem Radweg mit zügiger Geschwindigkeit an einer dichten Hecke entlang. In dieser Hecke versteckt sich der elfjährige K. Als er den A näher kommen hört, bekommt er Angst und will die Hecke verlassen. Dabei verschätzt sich K aber in der Entfernung zu A. Als K aus der Hecke auf den Radweg springt, landet er unmittelbar vor dem Fahrrad. Deshalb kann A, der langsam und aufmerksam fährt, nicht mehr bremsen und nicht mehr ausweichen. Infolgedessen fährt er K über den linken Fuß. Vor Schmerzen schreit K protestierend auf. A reagiert voller Schrecken auf das jähe Auftauchen des K, indem er den Lenker herumreißt und dadurch auf die Straße fährt. Von dem Vorfall und dem Schrei ist A derartig erschrocken, dass er einige Sekunden lang wie erstarrt ist und das Fahrrad einfach weiter rollen lässt. Deshalb nimmt er wenige Meter weiter bei einem Zebrastreifen den Passanten P gar nicht wahr, der auf diesem die Straße überquert. Hier wäre es zu einem Zusammenstoß gekommen, wenn nicht P im letzten Augenblick zur Seite gesprungen wäre. Inzwischen hat B das Auto gestartet. Noch auf dem Parkplatz kommt es allerdings zu einer brenzligen Situation: Versehentlich legt B statt des Rückwärtsganges einen Vorwärtsgang ein. Als er dann auch noch infolge verringerter Koordinationsfähigkeit das Gaspedal voll durchtritt, schießt der Wagen statt nach hinten nach vorn. Nur mit knapper Not kann B einen Zusammenstoß mit dem alten, verrosteten Fahrrad des Gastwirtes W vermeiden, das an einen Holzpfahl auf dem Parkplatz angekettet ist, und biegt schwungvoll auf die Straße ein. * Der Fall wurde im Sommersemester 2013 an der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg als Probeklausur im Examensklausurenkurs gestellt. 26 % der Teilnehmer erreichten ein „Ausreichend“, 28 % ein „Befriedigend“, 10 % ein „Vollbefriedigend“ und 5,1 % ein „Gut“. Die Durchfallquote lag bei 31 %, die erzielte Durchschnittsnote lag bei 6,15 Punkten. ** Der Autor ist Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht von Prof. Dr. Christian Schröder an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Die Autorin arbeitet als Wiss. Hilfskraft an diesem Lehrstuhl. Kurz darauf kommt B auf seinem Heimweg am Haus des A vorbei. Er will sehen, ob noch Licht brennt. Dies nimmt seine Konzentration so in Anspruch, dass er aufgrund seines alkoholisierten Zustands nicht mehr in der Lage ist, auf den Fahrbahnrand zu achten. Infolgedessen fährt er über den Bordstein und erfasst mit dem Auto das Rennrad, das A am von einer nahen Straßenlaterne beleuchteten Grundstücksrand abgestellt hatte. Das Rennrad zerbricht. Ein Bruchstück lässt den rechten Außenspiegel zersplittern. Nur durch Zufall bleiben der Lack des Autos und der Motor unbeschädigt, die übrigen Fahrradbruchstücke fliegen um Haaresbreite vorbei und verteilen sich auf dem Fußweg. B merkt von alledem nichts, weil er zu alkoholisiert ist, und fährt ahnungslos weiter nach Hause. K, der kurze Zeit später ebenfalls vorüber kommt, achtet nicht sehr auf den Fußweg, weil er sich darauf konzentriert, den linken Fuß nicht zu belasten, der ansonsten stark schmerzt. Daher ist er sehr überrascht, als es im Licht der Laterne plötzlich die Fahrradteile bemerkt, bleibt stehen und sieht sich um. Inzwischen hat A, der das Scheppern der Metallteile bei der Kollision mit dem Auto gehört hatte, sein Haus verlassen, um nachzusehen. Er entdeckt den K, der inmitten der Fahrradtrümmer hockt und diese gerade untersucht. A vermutet daraufhin, K habe das Fahrrad aus Rache zertrümmert. Erregt zieht A den K an den Haaren in die Höhe, um ihn zur Rede zu stellen. Dabei geht A davon aus, dass K weder fliehen noch die Feststellung seiner Identität verhindern will. Das Haareziehen schmerzt K – wie von A vorausgesehen – heftig, aber nur kurzzeitig. Durch den Vorgang ist K jedoch so erschrocken, dass er den linken Fuß belastet, vor Schmerzen aufschreit, reflexartig das Gewicht auf den rechten Fuß verlagert, dadurch das Gleichgewicht verliert und rückwärts zu Boden stürzt. Dabei landet er auf einem spitzen Metallteil des Fahrrads, das sich in seinen Leib bohrt. A läuft schockiert ins Haus, um den Notruf zu wählen. Noch während A mit der Notrufzentrale spricht, verstirbt K. Wie haben A und B sich nach dem StGB strafbar gemacht? Ggf. erforderliche Strafanträge sind gestellt, §§ 142, 211, 212 StGB und Unterlassungsstraftaten sind nicht zu prüfen. Weil B leichte Schlangenlinien fährt, wird er kurz darauf von Polizeihauptkommissar S angehalten. S vermutet eine zumindest leichte Alkoholisierung. Weil es nach 22:00 Uhr ist und bis 7:00 Uhr weder ein Staatsanwalt noch ein Richter erreicht werden kann, will S die Beweislage sichern und die Alkoholkonzentration im Atem des B messen. B weigert sich aber, in das Gerät zu pusten. Kann S die Atemalkoholkonzentrationsmessung erzwingen? Was kann S alternativ anordnen? Nennen Sie die etwaige Rechtsgrundlage und prüfen Sie die Voraussetzungen. Lösung mit Hinweisen A. Einleitende Hinweise Die Klausur ist zum einen in Umfang und Schwierigkeitsgrad nicht als sonderlich schwer einzustufen. Streitstände werden _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 397 ÜBUNGSFALL Marcus Bergmann/Annabell Blaue nur in gewissem Umfang abgefragt, es handelt sich dabei größtenteils um Standardfragen. Auf der anderen Seite ist sorgfältiges Subsumieren erforderlich, da zahlreiche Tatbestände letztlich gerade nicht erfüllt sind. Dies ist den Bearbeitern entgangen, die zu oberflächlich prüften. Des Weiteren sind mehrfach Fahrlässigkeitsdelikte zu prüfen, was den meisten Bearbeitern schwer gefallen ist. Straßenverkehrsdelikte, die den Schwerpunkt des Falles bilden, sind zudem eine Materie, die oft bei der Prüfungsvorbereitung etwas stiefmütterlich behandelt werden. In der Summe ist der Fall daher als durchaus anspruchsvoll einzustufen. Die bloße Beantwortung der prozessualen Zusatzfrage allein reichte zum Bestehen nicht aus. Eine sehr gute und sorgfältige Antwort wurde aber mit bis zu zwei Notenpunkten (zusätzlich zu denen für die Falllösung) honoriert. Vorab noch einige Hinweise zur Prüfung von Fahrlässigkeitsdelikten der gutachterlichen Lösung vorangestellt werden. Dies soll dem Leser die Möglichkeit eröffnen, diese Prüfung noch einmal im Zusammenhang zu rekapitulieren. Außerdem sollen auf diesem Wege strukturelle Zusammenhänge zwischen dem allgemeinen Fahrlässigkeitsdelikt und den Straßenverkehrsdelikten – vor allem mit Blick auf die Fragen der objektiven Zurechnung – aufgezeigt werden, die in der Einzelprüfung nicht deutlich genug zum Vorschein kämen. Im Rahmen des Gutachtens wird aber auf diese vorangestellten Hinweise verwiesen, um die Prüfung zu erläutern. I. Hinweis zum Aufbau 1. Hier wurde ein klassischer Aufbau zugrunde gelegt, der im Tatbestand keine Einteilung in objektiv und subjektiv vornimmt, sondern nur nach der objektiven Sorgfaltspflichtverletzung fragt.1 Die subjektive Sorgfaltspflichtverletzung wird im Rahmen der Schuld geprüft. Dies ergibt das folgende allgemeine Prüfungsschema für ein fahrlässiges Erfolgsdelikt2 (z.B. die fahrlässige Körperverletzung, § 229 StGB): I. Tatbestandsmäßigkeit Verursachung des tatbestandsmäßigen Erfolges Objektive Sorgfaltspflichtverletzung bei objektiver Vorhersehbarkeit des Erfolges Weitere objektive Zurechnung Pflichtwidrigkeitszusammenhang Ggf. Schutzzweckzusammenhang Ggf. weitere Gründe, die die objektive Zurechnung ausschließen II. Rechtswidrigkeit III. Schuld Subjektive Sorgfaltspflichtverletzung bei subjektiver Vorhersehbarkeit des Erfolges Ggf. Vorliegen von Entschuldigungsgründen, insb. Unzumutbarkeit pflichtgemäßen Verhaltens IV. Ggf. Strafantragserfordernis V. Ergebnis 1 Einen solchen Aufbau empfiehlt auch Rengier, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2014, § 52 Rn. 11 f. 2 Vgl. Rengier (Fn. 1), § 52 Rn. 12. 2. Gut vertretbar ist allerdings auch ein alternativer Aufbau, der einen objektiven vom subjektiven Tatbestand trennt und im objektiven Tatbestand nach der objektiven Sorgfaltspflichtverletzung fragt, im subjektiven aber nach der subjektiven.3 Die Bearbeiter müssen aber konsequent bleiben und den einmal gewählten Aufbau jeder Fahrlässigkeitsprüfung zugrunde legen. II. Hinweis zur Bestimmung der Sorgfaltspflichtverletzung 1. Welche Sorgfalt anzuwenden ist, kann sich zum einen daraus ergeben, dass eine sogenannte „Sondernorm“ außerhalb des StGB existiert, aus der sich die anzuwendende Sorgfalt im konkreten Fall ergibt,4 so z.B. § 26 StVO. Allein der Verstoß gegen diese Sondernorm genügt jedoch noch nicht für die Strafbarkeit. Vielmehr muss auch ein so genannter Schutzzweckzusammenhang bestehen, d.h. die Sondernorm muss auch gerade dazu dienen, Erfolge wie den eingetretenen zu verhindern.5 So soll § 26 Abs. 1 StVO z.B. dazu dienen, dass Passanten einen Fußgängerüberweg überqueren können, ohne von Fahrzeugen verletzt oder gar getötet zu werden.6 Nur wenn ein solcher Schutzzweckzusammenhang besteht und der Kausalverlauf in seinen wesentlichen Grundzügen vorhersehbar war, kann weiter geprüft werden. 2. Ein anderer Weg besteht darin, aus der Verbotsnorm selbst das Gebot zu bestimmen, wie sich ein gewissenhaft handelnder und besonnener Dritter in der Lage des Täters verhalten hätte (z.B.: § 229 StGB: „Verhalte dich so sorgfältig, dass du niemanden verletzt!“; § 222 StGB: „Verhalte dich so sorgfältig, dass niemand zu Tode kommt!“).7 Dieses Verhalten des besonnenen Dritten ist dann maßstäblich und gibt die objektive Sorgfaltspflicht vor. Bei einer solchen Prüfung muss zunächst überlegt werden, wie sich ein besonnener Dritter in der konkreten Lage des Täters verhalten hätte.8 Ferner muss berücksichtigt werden, inwieweit der Kausalverlauf in seinen wesentlichen Grundzügen vorhersehbar war, denn danach bestimmt sich, welche Sorgfalt überhaupt erwartet werden kann.9 Dabei reicht jedoch die generelle Vorhersehbarkeit theoretischer Kausalverläufe nicht aus. Vielmehr darf man grundsätzlich darauf vertrauen, dass sich andere Personen verkehrsgerecht verhalten.10 3 So etwa Gaede, in: Matt/Renzikowski (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar, 2013, § 15 Rn. 34. 4 Vgl. Schröder, NStZ 2006, 669. 5 Rengier (Fn. 1), § 52 Rn. 37 ff.; vgl. Schröder, NStZ 2006, 669 (670). 6 Krumm, in: Haus/Krumm/Quarch (Hrsg.), Nomos Kommentar, Gesamtes Verkehrsrecht, 2014, § 26 Rn. 3 und Rn. 13. 7 Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 43. Aufl. 2013, Rn. 667. 8 Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 7), Rn. 669. 9 Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 7), Rn. 667a. 10 Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 7), Rn. 671 ff. _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 398 Übungsfall: „Vertauscht, verkehrt, verfahren“ III. Hinweis zur Bestimmung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs Der Pflichtwidrigkeitszusammenhang steht für die QuasiKausalität der Sorgfaltspflichtverletzung für den eingetretenen Erfolg.11 In der Prüfung ist zu fragen, ob der Erfolg auch eingetreten (oder vermeidbar gewesen) wäre, wenn man das pflichtgemäße Verhalten hinzu denkt.12 IV. Hinweis zum gefahrspezifischen Zurechnungszusammenhang 1. Die Straßenverkehrsdelikte stellen zwar auch auf einen Erfolgseintritt ab, und zwar die konkrete Gefahr für Leib oder Leben oder für fremde Sachen von bedeutendem Wert.13 Zusätzlich beschreiben sie aber auch das Verhalten, durch das dieser Erfolg herbeigeführt wird, etwa indem § 315c Abs. 1 Nr. 1 StGB darauf abstellt, dass jemand ein Fahrzeug im Straßenverkehr führt, obwohl er nicht in der Lage ist, es sicher zu führen. Das Gesetz selbst beschreibt auf diese Weise das pflichtwidrige Verhalten. Auch in diesen Fällen ist zu prüfen, ob gerade die Pflichtverletzung quasi kausal für den eingetretenen Erfolg war – also ob der Pflichtwidrigkeitszusammenhang bestand.14 2. Zudem muss das in § 315c Abs. 1 Nr. 1 StGB enthaltene Verbot, ein Fahrzeug nicht zu führen, wenn man zum sicheren Führen nicht in der Lage ist, gerade dazu dienen, Erfolge wie den eingetretenen zu verhindern – sodass ein Schutzzweckzusammenhang bestehen muss.15 3. Im Ergebnis ist hier also keine andere Prüfung anzustellen als bei einem fahrlässigen Erfolgsdelikt, sofern auf eine Sondernormverletzung abgestellt wird. Das liegt daran, dass § 315c StGB die Sondernorm gewissermaßen selbst enthält, indem das Gesetz das pflichtwidrige Verhalten selbst umschreibt. Trotzdem wird dieser Zusammenhang zwischen pflichtwidrigem Verhalten und Erfolg hier anders bezeichnet, und zwar als Zurechnungszusammenhang16 oder als Ursachenzusammenhang17. 4. Diese Prüfung ist keine Besonderheit des § 315c StGB. Immer dann, wenn das Gesetz eine pflichtwidrige Handlung und einen dadurch herbeigeführten Erfolg beschreibt, müssen Pflichtwidrigkeitszusammenhang und Schutzzweckzusammenhang geprüft werden. Dies gilt etwa auch für die Körperverletzung mit Todesfolge (§§ 223 Abs. 1, 227 Abs. 1 StGB), nur wird hier vom spezifischen Gefahrverwirklichungszusammenhang18 oder vom Unmittelbarkeitszusammenhang19 ge11 STRAFRECHT sprochen. Im Ausgangspunkt sind damit die oben angesprochenen Regeln der objektiven Zurechnung gemeint, umstritten ist nur, ob diese für erfolgsqualifizierte Delikte noch weiter zugespitzt werden müssen.20 B. Tatkomplex 1: Über den Fuß des K Hinweis 1: Die Einteilung in Tatkomplexe bietet sich zwar an, ist aber nicht zwingend. I. Strafbarkeit des A wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a Alt. 1, Abs. 3 Nr. 2 StGB Hinweis 2: Es ist kein Fehler, wenn zunächst nur das Vorsatzdelikt des § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a Alt. 1 StGB geprüft wird. Wer dies prüft, muss es im objektiven Tatbestand scheitern lassen. Da das Fahrlässigkeits-Fahrlässigkeits-Delikt an derselben Stelle scheitern muss, muss dieses danach nicht auch noch geprüft werden. A könnte sich gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a Alt. 1, Abs. 3 Nr. 2 StGB strafbar gemacht haben, indem er mit dem Fahrrad des B betrunken nach Hause fuhr und dabei dem K über den Fuß fuhr. 1. Tatbestand Mit dem Fahrrad führte A ein Fahrzeug im Straßenverkehr. Hinweis 3: Eine ausführliche Prüfung mit Subsumtion ist angesichts des klaren Sachverhalts entbehrlich. Eine sorgfältige Subsumtion ist daher kein Fehler, aber möglicherweise ein Zeichen ungünstiger Schwerpunktsetzung. Hierdurch können Bearbeiter gegen Ende der Klausur in unnötigen Zeitdruck geraten. Sodann müsste A infolge des Genusses alkoholischer Getränke nicht mehr in der Lage gewesen sein, sein Fahrrad sicher zu führen. Hinweis 4: Dies wird abgekürzt als „Fahruntüchtigkeit“21 oder „Fahrunsicherheit“22 bezeichnet. Beides meint dasselbe, die Begriffe sind gleichwertig. Fahrunsicherheit liegt vor, wenn die Gesamtleistungsfähigkeit des Fahrers durch Enthemmung sowie infolge geistig-seeli- Rengier (Fn. 1), § 52 Rn. 31 ff. Rengier (Fn. 1), § 52 Rn. 26 ff. 13 Dazu, dass dies ein Erfolg ist, vgl. Rengier, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 15. Aufl. 2014, § 44 Rn. 1 und Rn. 10. 14 Vgl. Rengier (Fn. 13), § 44 Rn. 23 f. 15 Rengier (Fn. 13), § 44 Rn. 23. 16 Rengier (Fn. 13), § 44 Rn. 23. 17 Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 61. Aufl. 2014, § 315c Rn. 16. 18 Rengier (Fn. 13), § 16 Rn. 5. 19 Kindhäuser, Strafgesetzbuch, Lehr- und Praxiskommentar, 5. Aufl. 2013, § 227 Rn. 6. 12 20 Vgl. dazu Rengier (Fn. 13), § 16 Rn. 6 und Rn. 9 ff. Vgl. Kindhäuser (Fn. 19), § 315c Rn. 3. 22 Vgl. König, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 11, 12. Aufl. 2008, § 316 Rn. 11; Kroke/Bergmann, Rauschmittel im Straf- und Strafprozessrecht, 2013, S. 8, abrufbar im Internet: http://www.fh¬polizei.sachsen¬anhalt.de/fileadmin/Bibliothe k/Politik_und_Verwaltung/MI/Polizei/fhs/Publikationen/wiss ensch._Schriften/Asl_Manuskript_Rauschmittel_Kroke_Berg mann__2_.pdf. 21 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 399 ÜBUNGSFALL Marcus Bergmann/Annabell Blaue scher oder körperlicher Leistungsausfälle so weit herabgesetzt ist, dass er nicht mehr fähig ist, sein Fahrzeug über eine längere Strecke sicher zu führen.23 A hat in seiner Stammkneipe Alkohol getrunken, sodass sein Blutalkoholgehalt 1,5 ‰ beträgt. Die absolute unwiderlegliche Fahrunsicherheit bei Radfahrern ist ab einem Grenzwert von 1,6 ‰ gegeben.24 Diesen Grenzwert erreicht A nicht, sodass nur noch relative Fahruntüchtigkeit in Betracht kommt. Dazu müssten zusätzliche Beweiszeichen vorliegen, die auf eine Fahrunsicherheit schließen lassen.25 Indiz ist hier die den Grenzwert von 0,3 ‰26 überschreitende BAK von 1,5 ‰. Etwaige Ausfallerscheinungen wie z.B. eine auffällige Fahrweise oder ungewöhnliche Fahrfehler sind bei A nicht erkennbar. Zwar kann A nicht mehr rechtzeitig bremsen oder ausweichen, sodass er dem K über die Füße fährt. Dies müsste jedoch auch rauschbedingt erfolgt sein. K landete so dicht vor dem Rad des A, dass dieser weder bremsen noch ausweichen konnte. Dass seine Alkoholisierung Einfluss darauf hatte, lässt sich dem Sachverhalt nicht entnehmen. Vielmehr fuhr er langsam und aufmerksam. Demzufolge wäre auch einem nüchternen Fahrer ein rechtzeitiges Ausweichen oder Bremsen nicht möglich gewesen wäre. Dass A dem K über den Fuß fuhr, ist somit kein Beweiszeichen dafür, dass sein Reaktionsvermögen rauschbedingt beeinträchtigt war. Falsch fährt demnach, wer das Vorrecht des Fußgängers nicht beachtet. A nahm P gar nicht wahr, welcher gerade über den Zebrastreifen lief, und rollte geradewegs auf diesen zu, sodass P zur Seite springen musste. Somit beachtet A das Vorrecht des Fußgängers nicht, sodass er einen Fahrfehler beging. Allerdings geriet A auf die Straße, nachdem er K über den Fuß gefahren war. Infolgedessen war A erschrocken und kurzzeitig wie erstarrt, sodass er P gar nicht wahrnahm. Sein Verhalten ist auf die Schrecksituation zurückzuführen. Ein Zusammenhang zu seiner Alkoholisierung ist gerade nicht erkennbar. Also handelt es sich auch hierbei nicht um einen rauschbedingten Fahrfehler. Hinweis 8: Auch hier ist ein anderes Ergebnis nur schwer vertretbar. Relative Fahrunsicherheit ist folglich mangels rauschbedingten Fahrfehlers des A ebenfalls abzulehnen. A führte somit ein Fahrzeug und war auch noch in der Lage, es sicher zu führen. Der Tatbestand ist somit nicht erfüllt. Hinweis 9: Wer die relative Fahruntüchtigkeit mit Blick auf das Verhalten am Zebrastreifen annimmt, muss eine konkrete Gefahr für den Leib eines anderen Menschen bejahen. Allerdings müsste dann zumindest der Pflichtwidrigkeitszusammenhang28 zwischen der Fahruntüchtigkeit und der konkreten Gefahr verneint werden, weil die Gefahr für K nicht „dadurch“ (sondern durch den Einschätzungsfehler des K) verursacht wurde. Sollten Bearbeiter auch dies übersehen, ist die Fahrlässigkeit selbst abzulehnen, vgl. dazu die Prüfung der fahrlässigen Körperverletzung unter III. Hinweis 5: Mit dem Sachverhalt dürfte ein gegenteiliges Subsumtionsergebnis nur dann vertretbar sein, wenn substantiell begründet wird, weshalb das Reaktionsvermögen rauschbedingt beeinträchtigt ist. Eine bloße Behauptung reicht dafür nicht aus. Als weitere Ausfallerscheinung kommt das spätere Verhalten des A am Fußgängerüberweg in Betracht. Hinweis 6: Obwohl dieses Verhalten sich erst nach der hier zu prüfenden Handlung ereignet, kann es als Beweiszeichen für eine Fahruntüchtigkeit in Betracht kommen.27 Dies haben viele Bearbeiter übersehen, was aber nicht negativ bewertet wurde. Gemäß § 26 Abs. 1 StVO haben Fahrzeuge den Fußgängern das Überqueren durch Nutzung des Fußgängerüberweges zu ermöglichen, wenn nötig müssen sie hierzu warten. 2. Ergebnis A hat sich nicht nach § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a Alt 1, Abs. 3 Nr. 2 StGB strafbar gemacht II. Strafbarkeit des A wegen Trunkenheit im Verkehr nach § 316 Abs. 1 StGB Eine Strafbarkeit des A wegen Trunkenheit im Verkehr scheidet mangels Fahruntüchtigkeit ebenfalls aus. Hinweis 10: Eine ausführliche Prüfung ist deshalb entbehrlich, eine Feststellung genügt. Sollten Bearbeiter hierauf gar nicht eingegangen sein, wurde dies nicht negativ bewertet. Falls Bearbeiter das Gutachten direkt mit der Prüfung des § 316 StGB begonnen hatten, war hier zu erörtern, dass A nicht fahruntüchtig war. Wegen der Subsidiaritätsklausel in § 316 StGB sollte diese Prüfung allerdings erst nach § 315c StGB erfolgen. Hinweis 7: Die StVO-Norm musste nicht genannt werden. 23 Wessels/Hettinger, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 37. Aufl. 2013, Rn. 986. 24 Vgl. Rengier (Fn. 13), § 43 Rn. 9 m.w.N. zur Rspr. 25 Rengier (Fn. 13), § 43 Rn. 10; Wessels/Hettinger (Fn. 23), Rn. 989. 26 0,3 Promille bilden den Mindestwert, ab dem von alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit ausgegangen werden kann, vgl. Rengier (Fn. 13), § 43 Rn. 10; Wessels/Hettinger (Fn. 23), Rn. 989; Kroke/Bergmann (Fn. 22), S. 9. 27 Vgl. dazu Wessels/Hettinger (Fn. 23), Rn. 989, wonach es auf eine Gesamtwürdigung aller Einzelfallumstände ankommt. Hinweis 11: Eine Strafbarkeit des A wegen (gefährlicher) Körperverletzung scheidet ebenfalls aus. A bemerkte den 28 Allgemein wird dieser Zusammenhang als „Zurechnungszusammenhang“ oder als „Ursachenzusammenhang“ bezeichnet, vgl. dazu den einleitenden Hinweis oben unter A. IV. 3. _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 400 Übungsfall: „Vertauscht, verkehrt, verfahren“ K überhaupt nicht und wollte ihn nicht verletzen, sodass er offensichtlich ohne Vorsatz handelt.29 Die (ausführliche) Prüfung der §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB ist daher entbehrlich. Es kann direkt mit der Prüfung des § 229 StGB begonnen werden. keine Reduzierung der Geschwindigkeit zu erwarten. A ist aufmerksam und langsam gefahren, sodass er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt gewahrt und damit keine objektive Sorgfaltspflichtverletzung begangen hat. Hinweis 12: Eine gute Subsumtion wird sich nicht auf eine pauschale Feststellung von Sorgfaltspflichten beschränken, sondern diese aus der objektiven Vorhersehbarkeit abzuleiten versuchen. Unvertretbar ist es für diesen Fall, eine objektive Vorhersehbarkeit anzunehmen. In jedem Fall verhält sich A sorgfaltsgemäß, da er langsam und aufmerksam fährt. Sollten Bearbeiter zuvor (fehlerhaft) eine Fahruntüchtigkeit angenommen haben, dann müssen diese Bearbeiter hier allerdings anders prüfen und auf das Fahren in fahruntüchtigem Zustand als Sorgfaltspflichtverletzung abstellen. Diese Bearbeiter müssen dann aber den Pflichtwidrigkeitszusammenhang im Rahmen der weiteren objektiven Zurechnung scheitern lassen, da der Erfolgseintritt nicht auf der Alkoholisierung beruhte, sondern auch für A im nüchternen Zustand unvermeidbar gewesen wäre.36 Eine gegenteilige Behauptung findet keine Stütze im Sachverhalt! III. Strafbarkeit des A wegen fahrlässiger Körperverletzung nach § 229 StGB A könnte sich gemäß § 229 StGB strafbar gemacht haben, indem er dem K über den linken Fuß fuhr. 1. Tatbestand a) Erfolgseintritt Zunächst müsste bei K ein Körperverletzungserfolg eingetreten sein. Dazu müsste A den K an der Gesundheit geschädigt oder körperlich misshandelt haben, § 223 Abs. 1 StGB. A fuhr dem K mit seinem Rad über dessen Fuß. Dies stellt eine üble und unangemessene Behandlung dar.30 Dabei erleidet K Schmerzen, sodass sein Körperempfinden im Vergleich zu vor der Tat negativ beeinträchtigt wurde. Mit dem Überschreiten der Schmerzschwelle war diese Beeinträchtigung erheblich.31 Ferner musste K nach dem Vorfall humpeln und konnte seinen Fuß nicht mehr belasten. Somit lag eine negative Beeinträchtigung seiner somatischen Funktionsfähigkeit sowie eine Verletzung der körperlichen Integrität vor,32 sodass A den K körperlich misshandelt hat. Damit einher geht, dass A bei K einen pathologisch, vom Normalzustand negativ abweichenden Zustand hervorrief,33 ihn mithin an der Gesundheit schädigte. Folglich hat A bei K einen Körperverletzungserfolg verursacht. b) Objektive Sorgfaltspflichtverletzung bei objektiver Vorhersehbarkeit des Erfolges Sodann müsste A bei objektiver Vorhersehbarkeit des Erfolgseintritts seine Sorgfaltspflichten verletzt haben, d.h. er müsste die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen haben.34 Art und Umfang der anzuwendenden Sorgfalt bemessen sich nach den Anforderungen, die an einen besonnenen und gewissenhaften handelnden Dritten in der konkreten Lage des Täters zu stellen sind.35 A fährt auf dem Radweg an einer dichten, nicht einsehbaren Hecke entlang. Ein gewissenhaft und besonnen handelnder Dritter in der Lage des A hätte die Hecke als schlecht einsehbare Stelle erkannt. Ein besonnener und gewissenhafter Dritter in der Lage des A hätte dies daher mangels besonderer Umstände wie z.B. die Nähe zu einem Kinderspielplatz nicht vorhergesehen. Somit war der Erfolgseintritt nicht objektiv vorhersehbar und von einem sorgfältigen Verkehrsteilnehmer in der konkreten Lage des A 29 Zur Definition von Vorsatz vgl. Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 7), Rn. 203; Rengier (Fn. 1), § 14 Rn. 5. 30 Vgl. zur Definition Fischer (Fn. 17), § 223 Rn. 4. 31 Zur Definition Fischer (Fn. 17), § 223 Rn. 5. 32 Zur Definition Fischer (Fn. 17), § 223 Rn. 7. 33 Definition nach Fischer (Fn. 17), § 223 Rn. 8. 34 Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 7), Rn. 667. 35 Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 7), Rn. 669. STRAFRECHT Hinweis 13: Ein ganz grober Fehler, der deutlich negativ zu bewerten ist, liegt vor, wenn Bearbeiter eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung damit begründeten, dass § 223 StGB (oder § 229 StGB) das Herbeiführen einer Körperverletzung verbiete. § 223 StGB enthält (mit Blick auf § 229 StGB) keine Sorgfaltspflicht (gebietet also keine Sorgfalt im Umgang mit anderen Menschen), sondern eine Unterlassungspflicht (die es gebietet, bestimmte Erfolge nicht herbeizuführen)! Diese Bearbeiter zeigen, dass sie das Fahrlässigkeitsdelikt nicht hinreichend verstanden haben. 2. Ergebnis A hat sich nicht gemäß § 229 StGB strafbar gemacht. IV. Ergebnis Im 1. Tatkomplex hat sich A nicht strafbar gemacht. C. Tatkomplex 2: Am Zebrastreifen Hinweis 14: Dieser Tatkomplex lässt sich auch mit dem zuvor geprüften Tatkomplex zusammenfassen. I. Strafbarkeit des A wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a Alt. 1, Abs. 3 Nr. 2 StGB Eine Strafbarkeit nach § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a Alt. 1, Abs. 3 Nr. 2 StGB scheidet mangels rauschbedingten Fahrfehlers des A aus, vgl. B. I. 1. Hinweis 15: Dies muss nicht zwingend angesprochen werden, wenn sich bereits aus der Prüfung unter I. ergibt, dass A keinen rauschbedingten Fahrfehler begangen hat. 36 Vgl. dazu auch oben Hinweis 9. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 401 ÜBUNGSFALL Marcus Bergmann/Annabell Blaue Sollte dort aber noch nicht geprüft worden sein, ob der Fahrfehler am Zebrastreifen ein Indiz für eine relative Fahruntüchtigkeit ist,37 muss dies nun nachgeholt werden. II. Strafbarkeit des A wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. c, Abs. 3 Nr. 2 StGB A könnte sich nach § 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. c, Abs. 3 Nr. 2 StGB strafbar gemacht haben, indem er bei einem Zebrastreifen eine Ausweichbewegung auf die Straße machte und dadurch den P beinahe erfasste. 1. Tatbestand a) Pflichtwidrige38 Tathandlung Dazu müsste A zunächst im Straßenverkehr grob verkehrswidrig an einem Fußgängerüberweg falsch gefahren sein. Bei der Straße handelt es sich um eine solche des öffentlichen Straßenverkehrs. scheinlichkeit eines Schadenseintritts und somit eine konkrete Gefahr für Leib (oder Leben) einer anderen Person.41 c) Objektive Sorgfaltspflichtverletzung bei objektiver Vorhersehbarkeit des Erfolges A hätte die objektiv bestehende Sorgfaltspflicht bei objektiver Vorhersehbarkeit des Erfolges verletzt haben müssen. Hinweis 17: Im Folgenden wird die Prüfung anhand einer Sondernorm vorgestellt, vgl. dazu den einleitenden Hinweis unter A. II. 1. Nach § 26 Abs. 1 StVO haben Fahrzeuge den Fußgängern das Überqueren durch Nutzung des Fußgängerüberweges zu ermöglichen, wenn nötig müssen sie hierzu warten. Dies hat A nicht getan. Somit hat er die objektiv bestehende Sorgfaltspflicht verletzt. Hinweis 18: Der andere, gleichermaßen vertretbare Ansatz, die Pflichtverletzung aus der Vorhersehbarkeit abzuleiten (vgl. dazu den einleitenden Hinweis unter A. II. 2), könnte so geprüft werden: Ein umsichtig handelnder Dritter in der Lage des A hätte erkannt, dass er sich einem Zebrastreifen nähert und dass Fußgänger hier Vorrang haben. Er hätte daher vorhergesehen, dass ein ungebremstes Weiterfahren zu einem groben Verkehrsverstoß führen kann. Somit wäre für ihn die Handlung objektiv vorhersehbar gewesen. Hinweis 16: Auch hier sind ausführlichere Ausführungen entbehrlich, weil dies evident ist. Fußgängerüberwege i.S.d. § 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. c StGB sind solche, die durch Zebrastreifen gekennzeichnet sind (§ 41 StVO, Zeichen 293). P überquert auf einem solchen Zebrastreifen, mithin auf einem Fußgängerüberweg, die Straße. Wie schon unter B. I. 1. aufgezeigt, beging A hier einen Fahrfehler, fuhr also falsch. Diesen Verkehrsverstoß müsste A zudem grob verkehrswidrig begangen haben. Ein grob verkehrswidriges Verhalten setzt einen objektiv besonders schweren Verstoß gegen Verkehrsvorschriften voraus.39 A macht plötzlich eine Ausweichbewegung auf die Straße, ohne sich einen Überblick über die dortigen Verhältnisse zu verschaffen. Er achtet nicht auf andere Verkehrsteilnehmer. Ein solches plötzliches und unachtsames Ausweichen auf eine Straße, zudem noch in alkoholisiertem Zustand, kann schwerwiegende Verletzungen nach sich ziehen. Also hat A objektiv besonders schwerwiegend gegen Verkehrsvorschriften verstoßen. Demnach ist der Verkehrsverstoß des A grob verkehrswidrig. A fuhr also grob verkehrswidrig an einem Fußgängerüberweg falsch. Außerdem hätte ein umsichtig handelnder Dritter vorhergesehen, dass andere Personen die Straße über den Zebrastreifen überqueren könnten. Somit hätte er auch konkrete Erfolge wie den „Beinahe-Unfall“ vorhergesehen. Hinweis 19: Wer die Pflichtverletzung aus der Vorhersehbarkeit ableitet, schreibt weiter: Deshalb hätte er das Rad nicht einfach auf der Straße weiter rollen lassen, sondern wäre stehen geblieben oder hätte sich zumindest einen Überblick über andere Verkehrsteilnehmer verschafft. Dies alles tat A nicht, somit hat er objektiv die ihn treffende Sorgfaltspflicht bei objektiver Vorhersehbarkeit des Erfolges verletzt. Hinweis 20: Hier ist es auch gut vertretbar, bereits eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung zu verneinen, wenn man den Schrecken des A in die Betrachtung einbezieht. Auch ein besonnener, wenngleich sehr erschrockener Dritter hätte in dieser Situation nicht anders handeln können. b) Konkrete Gefahr Dadurch kam es zu einem „Beinahe-Unfall“ mit P, also lag ein Zustand vor, in dem der Eintritt eines Schadens derart nahe lag, dass es lediglich dem Zufall zu verdanken ist, dass er nicht eintrat.40 Es bestand also die nahe liegende Wahr- 37 Vgl. dazu auch oben Hinweis 6. Vgl. dazu den einführenden Hinweis unter A. II. 39 Rengier (Fn. 13), § 44 Rn. 8. 40 Zu dieser Definition für eine konkrete Gefahr Rengier (Fn. 13), § 44 Rn. 10 ff. 38 41 Zu dieser alternativen Definition für eine konkrete Gefahr vgl. Fischer (Fn. 17), § 315c Rn. 15a. _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 402 Übungsfall: „Vertauscht, verkehrt, verfahren“ d) Objektive Zurechnung (Zurechnungszusammenhang)42 aa) Pflichtwidrigkeitszusammenhang43 Hätte sich A aufmerksam umgesehen oder wäre stehen geblieben, so hätte P den Fußgängerüberweg ungestört nutzen können, sodass der Erfolg bei pflichtgemäßem Alternativverhalten vermeidbar44 und somit auch der Pflichtwidrigkeitszusammenhang gegeben war. bb) Schutzzweckzusammenhang45 Außerdem müsste der Schutzzweckzusammenhang gegeben sein.46 Der Schutzzweckzusammenhang ist dann gegeben, wenn die verletzte Sorgfaltsnorm gerade dazu diente, solche Erfolge wie den eingetretenen „Beinahe-Unfall“ zu verhindern.47 § 26 Abs. 1 StVO soll Fußgängern das gefahrlose Überqueren der Straße durch Nutzung des Fußgängerüberweges ermöglichen. Diese Norm dient deshalb gerade dazu, Gefahren für Passanten und Körperverletzungserfolge zu verhindern, sodass auch der Schutzzweckzusammenhang gegeben ist. f) Rücksichtslosigkeit Rücksichtslosigkeit ist bei fahrlässigem Verhalten anzunehmen, wenn sich der Fahrer seiner Pflichten zwar bewusst ist, sich aber aus Gleichgültigkeit nicht auf diese besinnt, Bedenken gegen sein Verhalten aus Gleichgültigkeit gar nicht aufkommen lässt und unbekümmert „drauflos fährt“.48 As Verhalten ist jedoch auf einen psychischen Ausnahmezustand zurückzuführen, nicht auf eine Gleichgültigkeit den übrigen Verkehrsteilnehmern gegenüber. Er fährt gerade nicht unbekümmert „drauflos“. Folglich verhält er sich nicht rücksichtslos. Hinweis 21: Wer dies übersah oder fehlerhaft (und daher unvertretbar) annahm, musste die Fahrlässigkeit dann zumindest in der Schuld49 scheitern lassen, weil es aufgrund der Schrecksituation dem A subjektiv nicht möglich war, die Sorgfaltspflicht einzuhalten. Sollten Bearbeiter auch dies übersehen haben, wog dies als schwerer Fehler. g) Zwischenergebnis Somit ist der Tatbestand des § 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. c StGB nicht erfüllt. 42 Vgl. zum Begriff oben den einleitenden Hinweis unter A. IV. 43 Siehe dazu den einleitenden Hinweis unter A. IV. 1. 44 Dies ist Maßstab des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs, vgl. Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 7), Rn. 676. 45 Siehe dazu den einleitenden Hinweis unter A. IV. 2. 46 Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 7), Rn. 674. 47 Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 7), Rn. 674. 48 Wessels/Hettinger (Fn. 23), Rn. 998. 49 Zum Ort der Prüfung der subjektiven Sorgfaltspflichtverletzung bei subjektiver Vorhersehbarkeit des Erfolges siehe den einleitenden Hinweis unter A. I. STRAFRECHT 2. Ergebnis A hat sich nicht gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. c, Abs. 3 Nr. 2 StGB strafbar gemacht. III. Ergebnis Auch im 2. Tatkomplex hat sich A nicht strafbar gemacht. D. Tatkomplex 3: Auf dem Parkplatz I. Strafbarkeit des B wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a Alt. 1, Abs. 3 Nr. 2 StGB B könnte sich gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a Alt. 1, Abs. 3 Nr. 2 StGB strafbar gemacht haben, indem er versehentlich den Vorwärtsgang einlegte und nach vorne schoss, sodass er fast mit dem Fahrrad des W zusammenstieß. 1. Tatbestand a) Führen eines Fahrzeugs im Straßenverkehr Dazu ist zunächst notwendig, dass B im Straßenverkehr ein Fahrzeug führte, obwohl er infolge des Genusses alkoholischer Getränke fahrunsicher war. Das Geschehen spielte sich auf dem Parkplatz vor der Kneipe ab. Dieser steht zwar im Privateigentum des W, ist jedoch für jedermann zugänglich und zumindest jedem Gast zur Benutzung freigegeben,50 folglich gehört der Parkplatz zum öffentlichen Straßenverkehr. Sodann müsste B das Fahrzeug geführt haben. B legt den Vorwärtsgang ein und drückt das Gaspedal durch, sodass das Auto, ein Fahrzeug, nach vorne schoss. Demnach hat B alle notwendigen technischen Vorrichtungen bedient, um das Auto in Bewegung zu setzen.51 Somit führte B das Auto. Hinweis 22: Hier genügt auch eine Feststellung. b) Fahruntüchtigkeit Ferner müsste B infolge des Genusses alkoholischer Getränke fahrunsicher52 gewesen sein. B hat in der Kneipe Alkohol getrunken und infolgedessen einen Blutalkoholgehalt von 1,2 ‰. Absolute Fahrunsicherheit wird unwiderleglich ab einer BAK von 1,1 ‰ angenommen.53 Mit Erreichen dieses Grenzwertes ist B damit (absolut) fahrunsicher. c) Konkrete Gefahr Sodann müsste B durch das Führen des Fahrzeugs Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremder Sachen von bedeutendem Wert gefährdet haben. aa) Fahrrad des W In Betracht kommt hier eine konkrete Gefahr für das Fahrrad des W. Eine konkrete Gefahr liegt bei einem Zustand vor, in dem der Eintritt eines Schadens derart nahe liegt, dass es 50 Zur Definition vgl. Wessels/Hettinger (Fn. 23), Rn. 978. Zu dieser Definition Wessels/Hettinger (Fn. 23), Rn. 984. 52 Vgl. zu diesem Begriff oben Hinweis 4. 53 Wessels/Hettinger (Fn. 23), Rn. 987; vgl. auch Kroke/Bergmann (Fn. 22), S. 7. 51 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 403 ÜBUNGSFALL Marcus Bergmann/Annabell Blaue lediglich dem Zufall zu verdanken ist, wenn der Schaden doch nicht eintritt.54 Indem B mit dem Wagen nach vorne schoss, traf er fast das abgestellte Fahrrad. Dieses Rad, eine Sache, steht im Eigentum des W, mithin im Eigentum zumindest auch eines anderen als B selbst,55 sodass es für diesen fremd war. Einen Zusammenstoß konnte B nur mit knapper Not verhindern, sodass dem Rad eine konkrete Gefahr drohte, zumindest beschädigt zu werden. Diese fremde Sache müsste nunmehr auch einen bedeutenden Wert gehabt haben. Dies wird ab einem Wert von 750 € angenommen.56 Teilweise zeigen sich auch Tendenzen, die einen bedeutenden Wert ab 1300 €annehmen.57 Das Rad ist bereits verrostet und sehr alt. Somit liegt dessen Wert jedenfalls unterhalb der Grenze von 750 €, sodass es sich dabei nach allen Ansichten nicht um eine Sache von bedeutendem Wert handelte. bb) Auto des A (1) Fremde Sache von bedeutendem Wert Stattdessen könnte B eine konkrete Gefahr für das Auto verursacht haben. Dazu müsste das Auto eine fremde Sache von bedeutendem Wert sein. Das Fahrzeug, eine Sache, gehört dem A und steht somit im Eigentum zumindest eines anderen als B selbst, sodass es für diesen fremd ist. Ferner übersteigt der dem Auto innewohnende Wert die Grenze von 1300 €, sodass es sich nach jeder Ansicht um eine Sache von bedeutendem Wert handelt. Indem B das Fahrrad des A umfährt, zersplittert der rechte Außenspiegel des Autos. Dass Lack und Motor unbeschädigt bleiben, ist allein dem Zufall zu verdanken. Die drohenden Schäden hätten ebenfalls die Grenze von 1300 € überschritten. Es drohte also auch konkret ein Schadensausmaß bedeutenden Wertes.58 Somit hat B eine konkrete Gefahr für das Auto verursacht. (2) Tauglichkeit des geführten Fahrzeugs als Gefährdungsobjekt Fraglich ist jedoch, ob das dem B nicht gehörende, aber von ihm geführte Fahrzeug überhaupt vom Schutzbereich erfasst wird und damit taugliches Gefährdungsobjekt sein kann. Dies ist umstritten. (a) Kein taugliches Tatobjekt aufgrund Tatmitteleigenschaft Nach einer Ansicht kann das Fahrzeug als Tatmittel nicht zugleich Gefährdungsobjekt sein. Der Schutzbereich des § 315c StGB ist nach dieser Ansicht nicht betroffen, folglich ist das Auto des A kein taugliches Tatobjekt.59 (b) Taugliches Tatobjekt Nach anderer Ansicht fällt auch das vom Täter geführte Fahrzeug in den Schutzbereich des § 315c StGB, sodass das Auto des A taugliches Tatobjekt sein kann.60 (c) Streitentscheid Da beide Ansichten zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen, ist ein Streitentscheid erforderlich. Schon der der Wortlaut verlangt, dass der Täter „ein Fahrzeug führt […] und dadurch […] fremde Sachen […] gefährdet“. Bereits diese Formulierung legt nahe, dass das Fahrzeug von den gefährdeten Sachen zu unterscheiden sein muss. Daher stellt das Fahrzeug lediglich das notwendige Mittel dar, mit dem der Täter die Tat begeht.61 Vor dem Hintergrund des Schutzzwecks (allg. Straßenverkehrssicherheit, nicht jedoch Eigentumsschutz)62 der Norm scheidet es demnach aus dem Schutzbereich aus.63 Die Strafbarkeit hinge anderenfalls vom Zufall ab, z.B. wenn der Täter das Fahrzeug lediglich unter Eigentumsvorbehalt kauft.64 Hat er die letzte Rate bereits gezahlt, so ist das Fahrzeug nicht mehr fremd, sodass sich der Täter bei Einbeziehung des selbst geführten Fahrzeuges in den Schutzbereich nicht strafbar macht; lediglich wenn er die letzte Rate zufällig noch nicht gezahlt hat und das Fahrzeug somit noch fremd ist, käme eine Bestrafung in Betracht. Noch deutlicher wird die Zufälligkeit dieser Regelung, wenn der Täter dem Verkäufer eine Einzugsermächtigung erteilt hat. Nun entzieht sich der konkrete Zeitpunkt des Eigentumsüberganges seiner Herrschaft und wahrscheinlich auch seiner Kenntnis. Vertraut er darauf, bereits Eigentümer zu sein, obwohl tatsächlich der Kaufpreis noch nicht vollständig auf dem Konto des Verkäufers eingetroffen ist, so müsste man ihm vorhalten, fahrlässig eine fremde Sache von bedeutendem Wert gefährdet zu haben. Die Strafbarkeit von derartigen Zufälligkeiten abhängig zu machen, ist aber nicht Sinn der Vorschrift. Zudem nimmt eine Person erst am besonderen verkehrsrechtlichen Schutz teil, wenn sie sich selbst in den Verkehrsbereich eingebracht hat.65 Auch dies ist jedenfalls bei demjenigen, der dem Täter ein Fahrzeug unter Eigentumsvorbehalt verkauft hat, nicht der Fall. Somit ist die erstgenannte Ansicht vorzugswürdig, sodass das vom Täter geführte Fahrzeug als Gefährdungsobjekt ausscheidet. Hinweis 23: a) Ebenso gut kann auch der zweiten Ansicht gefolgt werden, sodass der von B geführte PKW als Gefährdungsobjekt in Betracht kommt. 60 54 Rengier (Fn. 13), § 44 Rn. 10 ff. 55 Zu dieser Definition vgl. Wessels/Hillenkamp, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 36. Aufl. 2013, Rn. 79; Rengier, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 16. Aufl. 2014, § 2 Rn. 6. 56 BGHSt 48, 23. 57 Fischer (Fn. 17), § 315 Rn. 16a; Rengier (Fn. 13), § 44 Rn. 21. 58 Vgl. zu diesem Erfordernis Rengier (Fn. 13), § 44 Rn. 21. 59 Rengier (Fn. 13), § 44 Rn. 22. König (Fn. 22), § 315c StGB Rn. 168. So auch Renzikowski, in: Matt/Renzikowski (Fn. 3), § 315c Rn. 19. 62 Vgl. zum Schutzzweck Renzikowski (Fn. 61), § 315c Rn. 19; König (Fn. 22), § 315c Rn. 3. 63 Vergleichbar Heine, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 2014, Vor §§ 306 ff. Rn. 11. 64 König (Fn. 22), § 315c Rn. 167; Heine (Fn. 63), Vor §§ 306 ff. Rn. 11. 65 BGHSt 27, 40 (43); vgl. König (Fn. 22), § 315c Rn. 167. 61 _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 404 Übungsfall: „Vertauscht, verkehrt, verfahren“ In der Literatur wird dies u.a. wie folgt begründet: Es existiere kein allgemeiner Grundsatz, nach dem das Tatmittel nicht zugleich auch geeignetes Gefährdungs- oder Verletzungsgegenstand sein könne.66 Der Normzweck widerspreche nicht der Einbeziehung des vom Täter geführten Kfz in den Schutzbereich, da sich die Gefährlichkeit des Täterverhaltens für die Straßenverkehrssicherheit nicht greifbarer zeigt, nur weil der Täter einen anderen Gegenstand als das von ihm geführte fremde Fahrzeug beschädigt.67 Auch der Gesichtspunkt der verkehrsbezogenen Beteiligung Dritter erscheine nicht tragbar, weil sich der gefährdete Dritte nach allgemeiner Auffassung gar nicht im öffentlichen Verkehrsraum befinden oder gar am Verkehrsvorgang beteiligt sein muss. Außerdem seien fremde Sachwerte unzweifelhaft geeignete Gefährdungsobjekte, obwohl sich diese nicht in den Verkehr einzubringen pflegen.68 b) Folgt man nun der zweiten Ansicht, so wäre die Fahrlässigkeit bezüglich des pflichtwidrigen Handelns69 und der fahrlässigen Gefahrherbeiführung zu prüfen, diese liegt im Ergebnis ebenfalls vor (vgl. dazu unten die Prüfung unter II.). Hätte B vor Fahrtantritt kritisch seine Fahrtüchtigkeit überprüft, dann wäre die Gefahrverursachung auch vermeidbar gewesen. Insoweit ist auch der Zurechnungszusammenhang70 gegeben. Rechtswidrigkeit und Schuld sind im Übrigen unproblematisch. 1. Tatbestand a) Pflichtwidrige Tathandlung nach § 316 Abs. 1 StGB Wie bereits geprüft, führt B ein Fahrzeug im Verkehr, obwohl er infolge des Genusses alkoholischer Getränke nicht mehr in der Lage ist, dieses sicher zu führen. b) Objektive Vorhersehbarkeit der Pflichtverletzung Hinweis 25: Das Fahren in fahrunsicherem Zustand stellt bereits die Sorgfaltspflichtverletzung dar.71 Da § 316 StGB ein schlichtes Tätigkeitsdelikt ist,72 also keinen Erfolgseintritt, sondern bloß die Vornahme der Tathandlung verlangt, muss man daher nun nur noch fragen, ob es objektiv vorhersehbar war, die Sorgfaltspflicht zu verletzen. Sodann müsste die Pflichtverletzung objektiv vorhersehbar gewesen sein. B stieg betrunken in den Wagen, um nach Hause zu fahren. Dass man infolge des Genusses alkoholischer Getränke eine erhöhte BAK, so wie bei B, aufweist und dadurch die Koordinationsfähigkeit vermindert wird, liegt nicht außerhalb jeder Lebenserfahrung. Es ist vielmehr vorhersehbar, dass es leicht zu Fahrfehlern kommen kann. Ein besonnen Handelnder in der Situation des B hätte dies somit vorhergesehen. Somit war die Sorgfaltspflichtverletzung objektiv vorhersehbar. Somit ist der Tatbestand des § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a Alt. 1, Abs. 3 Nr. 2 StGB nicht erfüllt. Hinweis 26: Da § 316 Abs. 1 StGB keinen Erfolg kennt, sondern nur die Pflichtverletzung, kann man keinen Pflichtwidrigkeitszusammenhang zwischen Handlung und Erfolg prüfen. Dasselbe gilt für den Schutzzweckzusammenhang. Diese Punkte entfallen hier daher. 2. Ergebnis B hat sich nicht nach § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a Alt. 1, Abs. 3 Nr. 2 StGB strafbar gemacht. Hinweis 24: Wurde das Tatfahrzeug als vom Schutzbereich des § 315c StGB erfasst angesehen und die Strafbarkeit des B gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a Alt. 1, Abs. 3 Nr. 2 StGB bejaht, so tritt die zugleich verwirklichte fahrlässige Trunkenheit im Verkehr (§ 316 Abs. 1, Abs. 2 StGB) wegen der in § 316 Abs. 1 StGB angeordneten Subsidiarität dahinter zurück. Es genügt dann, dieses Delikt und seine Subsidiarität in den Konkurrenzen anzusprechen. c) Zwischenergebnis Der Tatbestand ist folglich erfüllt. 2. Rechtswidrigkeit Rechtfertigungsgründe sind nicht ersichtlich, sodass B rechtswidrig handelt. 3. Schuld II. Strafbarkeit des B wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr nach § 316 Abs. 1, Abs. 2 StGB B könnte sich gemäß § 316 Abs. 1, Abs. 2 StGB strafbar gemacht haben, indem er betrunken mit dem Kfz auf dem Parkplatz nach vorne schnellt. 66 STRAFRECHT Hinweis 27: Mit einer BAK von 1,2 ‰ liegt keine Aufhebung der Steuerungsfähigkeit, mithin keine Schuldunfähigkeit i.S.d. § 20 StGB vor, welche ab einem Grenzwert von 3,0 ‰ angenommen wird.73 Damit ist B jedenfalls schuldfähig. Hierauf muss im Gutachten aber nicht eingegangen werden. Bearbeiter, die diesen Punkt kurz ansprachen, erhielten aber ein Lob. Das Vorliegen von Entschuldigungsgründen ist nicht ersichtlich. König (Fn. 22), § 315c Rn. 168a. König (Fn. 22), § 315c Rn. 168b. 68 König (Fn. 22), § 315c Rn. 168c. 69 Vgl. dazu den einleitenden Hinweis unter A. IV. 1. 70 Vgl. zu diesem Begriff den einleitenden Hinweis unter A. IV. 3. 67 71 Vgl. dazu auch die einleitenden Hinweise unter A. IV. 1. König (Fn. 22), § 316 Rn. 2. 73 Fischer (Fn. 17), § 20 Rn. 19 ff.; vgl. Kroke/Bergmann (Fn. 22), S. 14 f. 72 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 405 ÜBUNGSFALL Marcus Bergmann/Annabell Blaue Zudem müsste die Pflichtverletzung für B auch subjektiv vorhersehbar gewesen sein.74 B konnte nach seinen Geisteskräften wissen, welche Folgen ein übermäßiger Alkoholgenuss auf die Fahrtüchtigkeit hat. Somit war die Pflichtverletzung für B auch subjektiv vorhersehbar. Somit handelt B schuldhaft. 4. Ergebnis B hat sich gemäß § 316 Abs. 1, Abs. 2 StGB wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr strafbar gemacht. III. Ergebnis B hat sich im 3. Tatkomplex wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr nach § 316 Abs. 1, Abs. 2 StGB strafbar gemacht.75 E. Tatkomplex 4: Über das Fahrrad I. Strafbarkeit des B wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a Alt. 1, Abs. 3 Nr. 2 StGB B könnte sich gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a, Abs. 3 Nr. 2 StGB strafbar gemacht haben, indem er mit dem Auto des A sein Fahrrad umgefahren hat. Hinweis 28: Auch hier ist es in Ordnung, statt eines Fahrlässigkeits-Fahrlässigkeits-Delikts das Vorsatzdelikt zu prüfen (vgl. Hinweis 2). Da dieses tatbestandlich scheitert, ist dann eine weitere Prüfung der Fahrlässigkeits-Varianten entbehrlich, weil sich die Voraussetzungen nicht ändern. 1. Tatbestand a) Pflichtwidrige Tathandlung B fährt mit dem Auto auf der Straße und gerät anschließend auf den benachbarten Bordstein. Somit führte er im öffentlichen Straßenverkehr ein Fahrzeug. Wie bereits oben geprüft, ist B wegen seiner BAK von 1,2 ‰ nicht mehr in der Lage, dieses sicher zu führen. b) Konkrete Gefährdung Sodann müsste B infolgedessen eine konkrete Gefahr für Leib oder Leben eines anderen Menschen oder einer fremden Sache von bedeutendem Wert verursacht haben. Hinweis 29: Eine Gefahr von Fußgängern wie K musste nicht geprüft werden, hier ist es zu keinem „Beinahe-Unfall“ infolge der Alkoholisierung des B gekommen. Möglicherweise könnte B mit seinem Verhalten eine konkrete Gefahr für das auf dem Gehweg stehende Rad verursacht haben. Dazu müsste es sich bei dem Rad um eine fremde Sache von bedeutendem Wert handeln. Das Rad, eine Sache, hatte B am Morgen für 2.300 € käuflich erworben, sodass es eine Sache von mehr als 1.300 € und somit von bedeutendem Wert ist. Seitdem steht es aber in seinem Eigentum. Mithin ist es für B nicht fremd. Somit scheidet das Rennrad als Gefährdungsobjekt aus. Dass der von B geführte PKW des A kein taugliches Tatobjekt im Rahmen des § 315c StGB ist, wurde bereits oben unter D. I. 1. festgestellt. Hinweis 30: Wer oben unter D. I. 1. der Meinung gefolgt ist, dass der PKW des A als Tatobjekt der Gefährdung in Betracht kommt, verweist hier nach oben und gelangt auf diese Weise erneut zur Vollendung des Tatbestandes und zur Strafbarkeit. Hier anders zu entscheiden als zuvor ist völlig unvertretbar und ein sehr grober Fehler! Die Fahrlässigkeit wird ähnlich begründet wie zuvor unter D. II., ein Verweis ist möglich. Folglich liegt keine konkrete Gefährdung i.S.d. § 315c StGB vor. c) Zwischenergebnis Somit ist der Tatbestand nicht erfüllt ist. 2. Ergebnis B hat sich nicht nach § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a Alt. 1, Abs. 3 Nr. 2 StGB strafbar gemacht. Hinweis 31: Auch diese Prüfung durfte noch knapper ausfallen, solange die relevanten Punkte zur konkreten Gefahr angesprochen wurden. II. Strafbarkeit des B wegen fahrlässigen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr nach § 315b Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 StGB Hinweis 32: Es wurde nicht als Fehler bewertet, wenn Bearbeiter dies nicht prüften. Eine ansprechende Prüfung wurde aber wohlwollend (in der Art eines Bonus) berücksichtigt. B könnte sich gemäß § 315b Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 StGB strafbar gemacht haben, indem er mit dem Auto sein Rad erfasste, sodass der Außenspiegel zersplitterte und das Rad zerbrach. 1. Tatbestand a) Beschädigen oder Zerstören von Fahrzeugen Dazu müsste B Fahrzeuge zerstört oder beschädigt haben. Durch den Zusammenstoß zwischen PKW und Rad zerspringt der Spiegel des Autos und das Rad zerbricht. Somit wurde das Auto beschädigt und das Rad zerstört. Also wurden Fahrzeuge beschädigt bzw. zerstört. 74 Dieser Punkt kann auch in einem subjektiven Tatbestand geprüft werden, vgl. dazu die einleitenden Hinweise unter A. I. 2. 75 Vgl. hierzu auch Hinweis 24. _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 406 Übungsfall: „Vertauscht, verkehrt, verfahren“ b) Verkehrsfremder Eingriff Dies müsste auf einem verkehrsfremden Eingriff, bei Verhalten im Straßenverkehr auf einem über verkehrswidriges Verhalten hinausgehenden bewusst zweckwidrigen Einsatz eines Fahrzeugs mit Schädigungsvorsatz, beruhen.76 B hatte allerdings weder Schädigungsvorsatz noch verkehrsfeindliche Absicht, er nahm lediglich (verkehrswidrig) am Straßenverkehr teil. Somit mangelt es am verkehrsfremden Eingriff. Hinweis 33: Schon deshalb lag es nahe, dieses Delikt gar nicht erst zu prüfen. Zahlreiche Bearbeiter haben allerdings die Prüfung in sehr knapper Form vorgenommen, den Eingriff bejaht und dann noch die Folgen des Eingriffs geprüft. Diese bestehen darin, die Sicherheit des Straßenverkehrs und dadurch wiederum Leib oder Leben eines anderen Menschen oder eine fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet zu haben.77 Das Anfahren des Rades, das sowohl die Schäden am Rad als auch am Auto hervorruft, ist aber ein einheitlicher Vorgang, der sich nicht in eine zeitlich vorgelagerte Zerstörung des Fahrrades und eine zeitlich nachgelagerte Beschädigung des Autos trennen lässt. Die Struktur des Delikts verlangt gerade, dass durch die Beschädigung eines Fahrzeugs die Sicherheit des Straßenverkehrs beeinträchtigt wurde und wiederum dadurch eine konkrete Gefahr eintrat, sodass insoweit eine gewisse Zäsur bzw. Zweiaktigkeit erforderlich ist. Daran fehlt es hier. Bearbeiter, die die Struktur des Deliktes nicht verstanden haben, mögen es ausreichen lasse, erneut auf die Schäden am Fahrrad bzw. Auto abzustellen. Das ist ein grober Fehler.78 2. Ergebnis B hat sich nicht gemäß § 315b Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 StGB strafbar gemacht. III. Strafbarkeit des B nach § 315b Abs. 1 Nr. 2, Abs. 5 StGB wegen fahrlässigen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr B könnte sich gemäß § 315b Abs. 1 Nr. 2, Abs. 5 StGB wegen fahrlässigen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr strafbar gemacht haben, indem er das Rad zertrümmert hat, sodass die Trümmerteile auf dem Gehweg liegen. Hinweis 34: Es wurde auch hier (vgl. Hinweis 32) nicht als Fehler bewertet, wenn Bearbeiter dies nicht prüften. Eine ansprechende, knappe Prüfung wurde aber als Bonus wohlwollend berücksichtigt, dafür reichte hier allerdings auch ein Satz, der erneut auf das Fehlen eines verkehrsfremden Eingriffs oder jedenfalls einer (weiteren) konkreten Gefahr hinwies. Die Prüfung konnte zudem schon gemeinsam mit der Prüfung unter E. II. oder vor dieser erfolgen. 1. Tatbestand Dazu müsste B die Sicherheit des Straßenverkehrs dadurch beeinträchtigt haben, dass er Hindernisse bereitet hat. Unter Hindernisbereiten ist grundsätzlich jede Einwirkung zu verstehen, die geeignet ist, den reibungslosen Verkehrsablauf zu bremsen oder zu verzögern.79 B hat das Fahrrad erfasst, welches infolgedessen zertrümmert. Nunmehr liegen diese Teile auf dem Gehweg. Dadurch können Fußgänger den Fußweg nur eingeschränkt nutzen. Die Splitterteile eignen sich dazu, den Fußgängerverkehr zu verzögern bzw. erheblich zu erschweren und zu beschränken, sodass B ein Hindernis i.S.d. § 315b Abs. 1 Nr. 2 StGB bereitet hat. Dies beruhte aber ebenfalls nicht auf einem verkehrsfremden Eingriff. Zudem sind dadurch keine weiteren (Beinahe-)Unfälle verursacht worden,80 somit lag auch keine konkrete Gefahr für andere Personen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert vor. 2. Ergebnis B hat sich nicht gemäß § 315b Abs. 1 Nr. 2, Abs. 5 StGB strafbar gemacht. IV. Strafbarkeit des B nach § 316 Abs. 1, Abs. 2 StGB wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr B hat sich jedoch gemäߧ 316 Abs. 1, Abs. 2 StGB strafbar gemacht, vgl. dazu oben unter D. II. V. Ergebnis Im 4. Tatkomplex hat sich B wegen einer fahrlässigen Trunkenheit im Verkehr nach § 316 Abs. 1, Abs. 2 strafbar gemacht. F. Tatkomplex 5: Haareziehen und Tod des K I. Strafbarkeit des A wegen Körperverletzung nach § 223 Abs. 1 StGB A könnte sich nach § 223 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben, indem er dem K an den Haaren zieht, sodass dieser Schmerzen erleidet. 1. Tatbestand a) Objektiver Tatbestand Dazu müsste A den K körperlich misshandelt oder an seiner Gesundheit geschädigt haben. Gesundheitsschädigung ist das Hervorrufen, Steigern oder Aufrechterhalten eines pathologischen Zustandes.81 Der körperliche Zustand des K weicht nach dem Haareziehen des A nicht negativ vom Normalzustand ab. Folglich hat A den K nicht an seiner Gesundheit geschädigt. Körperliche Misshandlung ist jede üble und unangemessene Behandlung, durch die das körperliche Wohlbefinden oder die körperliche Unversehrtheit mehr als nur unerheblich beeinträchtigt wird.82 A zieht dem K erregt an den Haaren in 76 79 77 80 Fischer (Fn. 17), § 315b Rn. 9 f. Zu diesem Verhältnis vgl. Rengier (Fn. 13), § 45 Rn. 5. 78 Deutlich in diesem Zusammenhang auch Rengier (Fn. 13), § 45 Rn. 5. STRAFRECHT König (Fn. 22), § 315b Rn. 27. Vgl. dazu die vorangegangene Prüfung und Hinweis 33. 81 Wessels/Hettinger (Fn. 23), Rn. 257. 82 Wessels/Hettinger (Fn. 23), Rn. 255. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 407 ÜBUNGSFALL Marcus Bergmann/Annabell Blaue die Höhe. Dies ist eine üble und unangemessene Behandlung. Infolgedessen erleidet K Schmerzen und schreit auf. Somit wird sein Körperempfinden im Vergleich zu vor der Tat negativ beeinflusst. Schmerzen überschreiten die Schwelle zur Erheblichkeit, auch wenn sie lediglich von kurzer Dauer sind.83 Hinweis 37: Darauf musste nicht dezidiert eingegangen werden, jedenfalls genügte hier ein kurzer Hinweis. Verfehlt wäre die Darstellung des Meinungsstreites über die Behandlung des Erlaubnistatbestandsirrtums,90 da nach der Vorstellung des A eine Rechtfertigung über § 127 Abs. 1 StPO ausscheidet. Hinweis 35: Angesichts der sehr kurzen Dauer des Schmerzes ist es allerdings auch vertretbar, die Erheblichkeit abzulehnen. Andere Rechtsfertigungsgründe sind nicht ersichtlich. A handelte folglich rechtswidrig. Im Übrigen bleiben die körperliche Integrität und die somatische Funktionsfähigkeit des K unbeeinflusst.84 Jedenfalls hat A den K körperlich misshandelt, sodass der objektive Tatbestand erfüllt ist. b) Subjektiver Tatbestand Sodann müsste A vorsätzlich gehandelt haben. A wollte den K an den Haaren ziehen, um es zur Rede zu stellen. Dabei sah A voraus, dass K Schmerzen erleidet, worauf es ihm gerade ankam. Somit handelt A vorsätzlich. 2. Rechtswidrigkeit A ist nicht nach § 127 Abs. 1 StPO gerechtfertigt. Eine tatsächlich durch K begangene Straftat hat sich nicht ereignet, sodass mit den Ansichten, die einen Verdacht nicht ausreichen lassen,85 die Rechtfertigung bereits an diesem Merkmal scheitert. Mit der Gegenansicht86 kann man zwar ein Betreffen auf frischer Tat bejahen, dann fehlt es aber sowohl am Fluchtverdacht als auch an der Unmöglichkeit sofortiger Identitätsfeststellung, mithin an einem Festnahmegrund.87 Zudem ist das Haareziehen nicht förderlich dafür, einen Festnahmezweck mit Blick auf K zu verfolgen, und schon deshalb keine geeignete Festnahmehandlung.88 Objektiv muss § 127 Abs. 1 StPO daher scheitern. Hinweis 36: § 127 Abs. 1 StPO sollte zumindest kurz angesprochen werden, da der Sachverhalt deutlich auf diese Norm hinweist. Allerdings genügte es, die Norm knapp anzulehnen. Eine sorgfältige Prüfung mit Streitdarstellung und Entscheidung erhielt aber Lob. A stellt sich auch nicht Umstände vor, die ihn nach § 127 Abs. 1 StPO rechtfertigen würden, sodass auch ein Irrtum und somit ein Erlaubnistatbestandsirrtum ausscheidet.89 3. Schuld In Ermangelung von Entschuldigungsgründen handelte A schuldhaft. 4. Strafantragserfordernis Gemäß § 230 Abs. 1 StGB ist ein Strafantrag erforderlich, dieser wurde gestellt. 5. Ergebnis A hat sich nach § 223 Abs. 1 StGB wegen Körperverletzung strafbar gemacht. II. Strafbarkeit des A wegen Körperverletzung mit Todesfolge nach §§ 223 Abs. 1, 227 Abs. 1 StGB A könnte sich gemäß §§ 223 Abs. 1, 227 Abs. 1 StGB wegen Körperverletzung mit Todesfolge strafbar gemacht haben, indem er K an den Haaren zieht und dieses stirbt. Hinweis 38: Es ist auch vertretbar, vor den Körperverletzungsdelikten die fahrlässige Tötung zu prüfen. Sollten Bearbeiter diese abgelehnt haben, ist die Körperverletzung mit Todesfolge nicht mehr zu prüfen. 1. Tatbestand a) Körperverletzung nach § 223 Abs. 1 StGB (Grunddelikt) Wie bereits oben geprüft, hat A den K körperlich misshandelt. b) Eintritt und Verursachung des Todes Infolge der durch A begangenen Körperverletzung erschrak K, stürzte und verstarb. Folglich hat A durch die Körperverletzung den Tod des K bewirkt. Hinweis 39: Dies allein führte jedoch nicht zum Tod des K. Vielmehr tritt hinzu, dass B das Fahrrad umfuhr und es unterließ, den Gehweg von den herumliegenden Trümmern zu säubern, sodass K auf ein spitzes Metallstück des zerstörten Rades fallen konnte und wenig später seinen Verletzungen erlegen ist. Somit hat A den Tod des K gemeinsam mit der durch B gesetzten Bedingung verursacht. Dies ist ein Fall der kumulativen Kausalität.91 Darauf muss im Gutachten nicht eingegangen werden, weil 83 Wessels/Hettinger (Fn. 23), Rn. 256. Vgl. zu diesen Anforderungen Wessels/Hettinger (Fn. 23), Rn. 256. 85 Satzger, Jura 2009, 109; Meyer-Goßner/Schmidt, Strafprozessordnung, Kommentar, 56. Aufl. 2013, § 127 Rn. 4. 86 Rengier (Fn. 1), § 22 Rn. 10. 87 Vgl. dazu Rengier (Fn. 1), § 22 Rn. 13. 88 Dazu Rengier (Fn. 1), § 22 Rn. 14. 89 Zu diesen Anforderungen Rengier (Fn. 1), § 30 Rn. 5. 84 90 Einen lesenswerten Überblick über das Meinungsspektrum liefert Scheffer, Jura 1993, 617. 91 Dazu allgemein Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 7), Rn. 158; Rengier (Fn. 1), § 13 Rn. 34. _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 408 Übungsfall: „Vertauscht, verkehrt, verfahren“ die Kausalität von As Verhalten für den Tod des K dadurch unberührt bleibt. Denn allein die von B gesetzte Gefahr hätte den Tod des K nicht herbeiführen können. Weder die Handlung des A, noch die des B kann hinweg gedacht werden, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele, sodass beide Handlungen (kumulativ) kausal für den Erfolg sind. c) Objektive Vorhersehbarkeit des Erfolges Hinweis 40: Die (vorsätzliche) Körperverletzung ist bereits das sorgfaltspflichtwidrige Verhalten,92 insoweit handelt es sich auch bei §§ 223 Abs. 1, 227 StGB um ein Delikt mit gesetzlicher Beschreibung der Sorgfaltspflicht, um eine inkludierte Sondernorm.93 Deshalb ist nun im Rahmen der Fahrlässigkeit nur noch die Vorhersehbarkeit des Erfolges zu prüfen.94 Der Erfolgseintritt müsste objektiv vorhersehbar gewesen sein. Maßstab ist ein besonnener Dritter. Ein besonnener Dritter hätte sich daran erinnert, dass K, welches von A ja wieder erkannt wurde, durch das Fahren über den Fuß körperlich angeschlagen sein könnte. Aufgrund dieser Umstände hätte ein besonnener Dritter die Möglichkeit vorhergesehen, dass sich K bei einem Haareziehen inmitten der Trümmer weitere Verletzungen durch einen Sturz oder unachtsame Bewegungen infolge eines Handgemenges zuziehen könnte. Angesichts der zahlreichen Trümmer hätte ein besonnener Dritter vorhergesehen, dass ein Sturz in einer solchen Umgebung für ein Kind schwere Verletzungen bis hin zum Tod bewirken kann. Also hätte ein besonnener Dritter den Erfolg vorhergesehen, sodass er objektiv vorhersehbar war. Hinweis 41: Mit entsprechender Begründung ist ein abweichendes Ergebnis gut vertretbar. Dass die Bearbeiter dann das folgende Problem nicht mehr bearbeiteten, ist irrelevant. Allerdings mussten sie ihr abweichendes Ergebnis durch Subsumtion begründen; eine bloße Feststellung, dass das Verhalten nicht fahrlässig sei, genügte nicht. Insbesondere musste man kurz darauf eingehen, dass A ja um die Verletzung des K am Fuß wusste. Man konnte allerdings gut und auch knapp argumentieren, dass ein besonnener Dritter zwar mit einem Sturz gerechnet hätte, nicht aber damit, dass dieser ausgerechnet so auf ein Metallteil erfolgt, dass dies zu einer tödlichen Verletzung führt. 92 Fischer (Fn. 17), § 227 Rn. 7a. Vgl. dazu die einleitenden Hinweise oben unter A. IV. 1. 94 Ebenso Fischer (Fn. 17), § 227 Rn. 7a. 93 STRAFRECHT c) Objektive Zurechnung (Zurechnungszusammenhang)95 Umstritten ist, ob der fahrlässig bewirkte Tod des Opfers auf den konkreten Körperverletzungserfolg oder die bloße Körperverletzungshandlung zurückgeführt werden muss. aa) Handlungstheorie Nach der Handlungstheorie genügt es, dass der fahrlässig bewirkte Tod des Opfers auf die Körperverletzungshandlung als solche zurückzuführen ist, d.h. dass ein unmittelbarer Zusammenhang lediglich zwischen der Körperverletzungshandlung und dem fahrlässig bewirkten Tod des Opfers bestehen muss.96 Mit einzubeziehen sei demnach der gesamte Vorgang, also auch die die Verletzung bewirkende oder begleitende Ausführungshandlung.97 A zog den K kräftig an den Haaren. Davon war dieser so erschrocken, dass es seinen verletzten Fuß belastete und dadurch sein Gewicht reflexartig verlagerte und infolgedessen sein Gleichgewicht verlor. Insofern führte zwar das sich an die Verletzungshandlung anschließende Verhalten des Opfers zu dem tödlichen Ausgang. Dieses beruhte aber als unfreiwillige Schreckreaktion auf der Körperverletzungshandlung, sodass dieses Verhalten des K den Zurechnungszusammenhang nicht unterbricht.98 Hinweis 42: Wer eher dem – vom BGH inzwischen aber aufgegebenen – Gedanken der Entscheidung im sog. „Rötzel-Fall“ folgt und eine Unmittelbarkeit zwischen Handlung und Todeserfolg verlangt,99 kann hier auch zum gegenteiligen Ergebnis kommen. Somit besteht zwischen der Verletzungshandlung des A und dem Tod des K nach dieser Ansicht ein Zurechnungszusammenhang. bb) Letalitätstheorie Nach anderer Ansicht muss der Zurechnungszusammenhang zwischen dem konkreten Körperverletzungserfolg und dem fahrlässig bewirkten Tod des Opfers bestehen,100 d.h. der konkrete Körperverletzungserfolg muss in einem fortgesetzten pathologischen Prozess zum Tod des Opfers führen, sodass sich die der konkreten Verletzung nach ihrer Art und Schwere 95 Vgl. zum Begriff oben den einleitenden Hinweis unter A. IV. 3. Dieser Zusammenhang wird in Bezug auf § 227 StGB auch Gefahrzusammenhang, Gefahrverwirklichungszusammenhang oder – früher durch die Rechtsprechung – Unmittelbarkeitszusammenhang genannt, vgl. dazu den Überblick bei Fischer (Fn. 17), § 227 Rn. 3; Rengier (Fn. 13), § 16 Rn. 5. 96 BGH NStZ 2008, 178. 97 Vgl. BGHSt 48, 34 (38). 98 Dazu, dass derartige unfreie Reaktionen dem Zurechnungszusammenhang nicht entgegenstehen, Rengier (Fn. 13), § 16 Rn. 17 f. und Rn. 21. 99 BGH NJW 1971, 152. 100 Rengier (Fn. 13), § 16 Rn. 10. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 409 ÜBUNGSFALL Marcus Bergmann/Annabell Blaue innewohnende Gefahr im Tod des Opfers verwirklicht haben muss.101 Das Ziehen an den Haaren verursachte zwar heftige, aber nur kurzfristige Schmerzen. Weitere pathologische Folgen ergeben sich daraus nicht. Somit beruht der Tod des K nicht unmittelbar auf der konkreten Körperverletzung durch A, sodass nach der Letalitätstheorie ein Zurechnungszusammenhang nicht besteht. cc) Streitentscheidung Da die genannten Ansichten zu unterschiedlichen Ergebnisse führen, ist ein Streitentscheid erforderlich. Gegen die Handlungstheorie spricht, dass der Zurechnungszusammenhang letztlich den Schutzzweckzusammenhang abbildet.102 Die in § 227 StGB enthaltenen Sorgfaltspflicht (§§ 223 bis 226 StGB)103 verfolgt aber den Schutzzweck, die „dem Grundtatbestand […] eigentümliche Gefahr“104 zu vermeiden. Diese ruht nicht darin, dass Opfer von Körperverletzungsdelikten sich durch Schreckreaktionen selbst töten, sondern darin, dass die Intensität einer Körperverletzungshandlung schwer eingeschätzt bzw. die Konstitution des Opfers unterschätzt und daher ein bloß verletzend gemeintes Verhalten tödlich sein kann. Somit ist die Handlungstheorie abzulehnen. Also besteht kein Zurechnungszusammenhang zwischen der Körperverletzung nach § 223 Abs. 1 StGB und dem Tod des K. Hinweis 43: Wer der gegenteiligen Ansicht folgte, sah den Tatbestand als erfüllt an. Die Rechtswidrigkeit lag unproblematisch vor, in der Schuld war dann noch auf die subjektive Vorhersehbarkeit des Todeserfolges einzugehen.105 2. Ergebnis A hat sich nicht nach §§ 223 Abs. 1, 227 Abs. 1 StGB wegen Körperverletzung mit Todesfolge strafbar gemacht. 2. Rechtswidrigkeit Rechtfertigungsgründe liegen nicht vor, also handelte A rechtswidrig. 4. Schuld Entschuldigungsgründe sind nicht ersichtlich. Sodann müsste der Erfolg für A auch subjektiv vorhersehbar gewesen sein.106 A hat die Teile des zerstörten Rades herumliegen sehen. Ferner wusste er, dass K bereits am linken Fuß verletzt ist, er selbst hat dazu beigetragen. Somit war auch für ihn vorhersehbar, dass K von seinem rasenden Angriff erschrickt und unkoordiniert zu Boden fallen und sich tödlich verletzen kann. Mithin war der Erfolg für A subjektiv voraussehbar. Also handelte A schuldhaft. 4. Ergebnis A hat sich nach § 222 StGB wegen fahrlässiger Tötung strafbar gemacht. Hinweis 44: Diese Prüfung kann auch noch deutlich kürzer ausfallen. Wer zuvor im Rahmen von §§ 223 Abs. 1, 227 StGB die Fahrlässigkeit verneint hat, sollte § 222 StGB zudem ohnehin nicht prüfen. Zulässig ist es außerdem, § 222 vor § 227 StGB zu prüfen, dann müssen die Ausführungen zur Erfolgsverursachung und zur Fahrlässigkeit entsprechend in die Prüfung des § 222 StGB verlagert werden. IV. Strafbarkeit des B wegen fahrlässiger Tötung nach § 222 StGB B könnte sich nach § 222 StGB wegen fahrlässiger Tötung strafbar gemacht haben, indem er die Trümmerteile erzeugte, sodass K dadurch tödlich verletzt wurde. III. Strafbarkeit des A wegen fahrlässiger Tötung nach § 222 StGB A könnte sich nach § 222 StGB wegen fahrlässiger Tötung strafbar gemacht haben, indem er den K so an den Haaren zog, dass dieser erschrocken sein Gleichgewicht verlor und stürzte, sodass er wenig später seinen Verletzungen erlag. 1. Tatbestand Wie bereits oben festgestellt stirbt K infolge des Sturzes, sodass der Todeserfolg eingetreten ist. A handelte, wie geprüft auch fahrlässig. Hätte er K zunächst aus dem Gefahrenbereich bugsiert, wäre der Erfolg nicht eingetreten, sodass auch der Pflichtwidrigkeitszusammenhang vorliegt. 101 Momsen, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar, 2. Aufl. 2014, § 227 Rn. 10 ff. 102 In diesem Sinne stellt auch der BGH NJW 1971, 152 (153), dezidiert Überlegungen zum Schutzzweck an. 103 Vgl. den einleitenden Hinweis unter A.IV. 4. 104 BGH NJW 1971, 152 (153). 105 Vgl. zum Aufbau auch den obigen Hinweis 39 und den einleitenden Hinweis unter A. I. 1. Hinweis 45: Dies sollte zumindest kurz angesprochen werden, da die entsprechende Kausalität bis zum Erfolg fortwirkt. Dieses Delikt kann auch schon unter E. geprüft werden, weil dort die relevante Handlung des B – das Zerfahren des Rades – beschrieben wird. 1. Tatbestand a) Erfolgseintritt Wie bereits oben festgestellt, ist K seinen Verletzungen erlegen, sodass ein Todeserfolg eingetreten ist. b) Objektiver Vorhersehbarkeit des Erfolges Sodann müsste der Erfolg objektiv vorhersehbar gewesen sein. Maßstab ist ein objektiver, besonnener Dritter. Ein besonnener Dritter hätte erkannt, dass Trümmerteile auf dem Gehweg den Fußgängerverkehr behindern können. Dass ein Dritter einen Passanten auf dem Gehweg tätlich angreift, sodass dieser infolgedessen erschrocken ist und tödlich stürzt, liegt aber 106 Vgl. oben den Hinweis 43 und den einleitenden Hinweis unter A. I. 1. _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 410 Übungsfall: „Vertauscht, verkehrt, verfahren“ außerhalb dessen, wonach nach dem allgemeinen Lauf der Dinge zu rechnen ist. Vielmehr liegt hier eine Verkettung vieler unglücklicher, miteinander verzahnter Umstände vor, die so in ihrem wesentlichen Verlauf nach zumutbarer Würdigung aller Umstände nicht objektiv vorhersehbar sind. Die allgemeine Lebenserfahrung gibt keinen Anlass zu der Annahme, dass ein Passant auf diese Weise mit tödlichen Folgen auf eines der herumliegenden Trümmerteile fällt. Ein besonnener Dritter hätte angesichts der Straßenbeleuchtung nicht einmal die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass ein Fußgänger stolpern oder sich an den Metallteilen verletzen könnte. Daher war der Todeserfolg nicht objektiv vorhersehbar. Hinweis 46: Selbst wenn man – was schwer vertretbar sein dürfte – die Fahrlässigkeit bejaht, wäre die objektive Zurechnung hier wegen des Dazwischentretens eines Dritten auszuschließen. Mit der vorsätzlichen Körperverletzung hat A eine neue selbstständige rechtlich relevante Gefahr geschaffen, die sich nunmehr im tatbestandsmäßigen Todeserfolg bei K realisiert hat.107 Das Dazwischentreten eines Dritten mit derartig gravierenden Folgen ist dem B mithin nicht in Rechnung zu stellen. 2. Ergebnis B hat sich nicht nach § 222 StGB wegen fahrlässiger Tötung strafbar gemacht. V. Ergebnis Im 5. Tatkomplex hat A sich wegen Körperverletzung und fahrlässiger Tötung strafbar gemacht. Zur Klarstellung verdrängt das fahrlässige Tötungsdelikt die Körperverletzung nicht, sondern steht dazu in Tateinheit.108 B hat sich nicht strafbar gemacht. G. Gesamtergebnis A hat sich wegen fahrlässiger Tötung in Tateinheit mit Körperverletzung strafbar gemacht. Im 3. und im 4. Tatkomplex wurde eine Strafbarkeit des B wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr nach § 316 Abs. 1, Abs. 2 StGB festgestellt. Hierbei könnte es sich um ein Dauerdelikt handeln, sodass nur eine tatbestandliche Handlung und somit nur eine einzige Straftat vorliegt.109 Eine Trunkenheitsfahrt endet grundsätzlich erst mit der Ankunft am Zielort.110 Sie bildet aber dann keine durchgehende Handlung, wenn die Fahrt unterbrochen und aufgrund eines neuen Tatentschlusses fortgesetzt wurde, was insbesondere bei einer Weiterfahrt nach Kenntnisnahme von einem Unfall im Rahmen einer Unfallflucht angenommen wird.111 B allerdings nahm gar keine Kenntnis von dem Zusammenstoß mit dem 107 Zu dieser die objektive Zurechnung unterbrechenden Figur allgemein Rengier (Fn. 1), § 52 Rn. 57 ff. 108 BGH NJW 1995, 3194 (3195). 109 Vgl. dazu Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 7), Rn. 761. 110 Vgl. Fischer (Fn. 17), § 316 Rn. 56. 111 Zu den Anforderungen detailliert Fischer (Fn. 17), § 316 Rn. 56. STRAFRECHT Rennrad. Somit lag die mit der Kenntnisnahme von einem Unfall verbundene Zäsur nicht vor, die die Weiterfahrt auf einem erneuten Tatentschluss (zur Unfallflucht) beruhen lässt. Stattdessen fuhr B einfach weiter. Er setzte seine bereits begonnene Fahrt fort, die nach wie vor auf dem einheitlichen Entschluss beruhte, von der Kneipe nach Hause zu fahren. Also lag eine durchgehende Handlung vor, die erst mit der Ankunft zu Hause endete. Somit bildete die Fahrt eine einheitliche Trunkenheitsfahrt im Sinne eines Dauerdeliktes, sodass sich B insgesamt nur einmal wegen einer fahrlässigen Trunkenheitsfahrt strafbar gemacht hat. H. Prozessuale Zusatzfrage Die Atemalkoholmessung setzt eine Mitwirkung des B voraus. Zu dieser Mitwirkung darf B aber nicht gezwungen werden.112 Ein solcher Zwang wäre eine verbotene Ermittlungsmethode, vgl. auch § 136a Abs. 1 S. 2 StPO, die gegen die Selbstbelastungsfreiheit verstieße („nemo tenetur se ipsum accusare“).113 Stattdessen könnte S eine Blutentnahme anordnen und ggf. zwangsweise durchsetzen. Die zwangsweise Blutentnahme ist nur unter den engen Voraussetzungen des § 81a StPO zulässig. Sie muss nach § 81a Abs. 1 S. 2 StPO durch einen approbierten Arzt erfolgen.114 Hinweis 47: Diese Voraussetzung mussten die Bearbeiter nicht benennen. Die Anordnung ist grundsätzlich nach § 81a Abs. 2 StPO dem Richter vorbehalten. Für S ist sie unter zwei Voraussetzungen möglich: Er muss zum einen Ermittlungsperson der Staatsanwaltschaft nach § 152 GVG sein. Dies ist für einen Polizeihauptkommissar der Fall. Hinweis 48: Diesen Punkt durften die Bearbeiter, die dies nicht wussten, auch ruhig offen lassen. Sie mussten nur auf die Voraussetzung selbst hinweisen. Außerdem müsste Gefahr im Verzug vorliegen.115 Da ein Richter erst nach etlichen Stunden wieder erreicht werden kann, besteht die Gefahr, dass sich eine für den Nachweis der Strafbarkeit relevante Blutalkoholkonzentration dann nicht mehr wird nachweisen lassen. Hinweis 49: Hier sind einige Bearbeiter auch noch auf die Rückrechnungsregeln eingegangen, um deutlich zu machen, dass in einem Zeitraum von bis zu 9 Stunden (22:00112 König (Fn. 22), § 316 Rn. 45; Kroke/Bergmann (Fn. 22), S. 19. 113 Eschelbach, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier (Hrsg.), Strafprozessordnung, Kommentar, 2014, § 136 Rn. 43, und § 136a Rn. 25; vgl. auch Kroke/Bergmann (Fn. 22), S. 18 ff. 114 Vgl. Senge, in: Hannich (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, 7. Aufl. 2013, § 81a Rn. 7; Kroke/Bergmann (Fn. 22), S. 23 f. 115 Darauf müssen konkrete Anhaltspunkte des Einzelfalls hindeuten, vgl. Kroke/Bergmann (Fn. 22), S. 26 ff. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 411 ÜBUNGSFALL Marcus Bergmann/Annabell Blaue 7:00 Uhr) ein Abbau von 0,7 bis 2,0 ‰ diskutiert wird.116 Dies verdient Lob! Somit liegt in einem Abwarten eine Gefahr im Verzug für das Ermittlungsergebnis vor, also sind die Voraussetzungen des § 81a Abs. 2 StPO gegeben. Hinweis 50: Großes Lob verdienten sich die Bearbeiter, die darauf hinwiesen, dass S in jedem Fall einen Richter zu erreichen versuchen muss, bevor er von seiner Eilzuständigkeit Gebrauch macht.117 Dies musste aber nicht erwähnt werden. S muss hingegen nicht versuchen, einen Staatsanwalt zu erreichen. In der Praxis wird zwar aufgrund der Zuständigkeitsverteilungen innerhalb der Ermittlungsbehörden Rücksprache mit einem Staatsanwalt (ggf. im Notdienst) gehalten, der dann einen Antrag bei einem Richter zu stellen versucht, aber dies ist nicht notwendig, damit S von seiner Eilbefugnis nach § 81a Abs. 2 StPO wirksam Gebrauch machen kann.118 116 In der Praxis ist die Rückrechnung immer in die Abwägung, ob Gefahr im Verzug vorliegt, einzubeziehen, vgl. Kroke/ Bergmann (Fn. 22), S. 28. 117 Dazu ausführlicher Kroke/Bergmann (Fn. 22), S. 27 ff., insbesondere S. 30 ff. 118 Zum Ganzen ausführlich Metz, NStZ 2012, 242 (244 ff.). _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 412 Übungsklausur: „I am the danger“* Von Wiss. Mitarbeiter Jacob Böhringer, Wiss. Mitarbeiter Markus Wagner, Gießen** Die Klausur war Gegenstand der Übung für Fortgeschrittene an der Justus-Liebig-Universität Gießen im Sommersemester 2014. Die Schwerpunkte liegen im Bereich der Irrtumslehre, der Mittäterschaft sowie der Mordmerkmale. Die Bearbeiter erzielten im Durchschnitt 3,35 Punkte. Die Durchfallquote lag bei 58,99 %. Sachverhalt Der an Lungenkrebs erkrankte Chemielehrer C sorgt sich um die finanzielle Situation seiner Familie nach seinem zu befürchtenden baldigen Ableben. Um vorzusorgen, nutzt er seine Fachkenntnisse und baut mit seinem ehemaligen Schüler S ein Drogenlabor auf. C und S stellen dort Methamphetamin her, das S gewinnbringend vertreibt. Den Erlös teilen S und C sich hälftig. Der regionale Methamphetamin-Markt ist jedoch hart umkämpft. Der größte Konkurrent von C und S ist K. Als ihre Umsätze einzubrechen beginnen, beschließen C und S, K zu töten, um ihre frühere Monopolstellung zurück zu erlangen. Zu diesem Zweck bitten sie K um ein Treffen, woraufhin dieser sie in sein entlegenes Haus einlädt, wo sich außer K nur dessen schwer kranker und an den Rollstuhl gefesselter Onkel O aufhält. K bereitet für O und seine Gäste Burritos zu. Als die vier Portionen auf dem Tisch stehen, nutzt S – wie vereinbart – einen unbeobachteten Augenblick und streut ein giftiges Pulver, das C zuvor hergestellt hatte, in die Portion des K. Als alle am Tisch sitzen und gerade mit dem Essen beginnen wollen, bemerkt O, dass er gerne auf dem Platz des K sitzen möchte, weil er von dort einen besseren Blick auf den Fernseher habe. K will seinem Onkel diesen Wunsch nicht abschlagen und tauscht seinen Platz mit O, der daraufhin nichtsahnend den vergifteten Burrito verspeist. Dies ist C und S zwar höchst unerwünscht; sie unternehmen jedoch nichts, um ihren eigentlichen Plan nicht zu offenbaren. Nach dem Essen wenden sich C, S und K dem Geschäftlichen zu. O sieht währenddessen weiter fern. Da das Gift langsam zu wirken beginnt, verliert er das Bewusstsein; K geht davon aus, dass sein Onkel lediglich – was nicht ungewöhnlich ist – eingeschlafen sei. Da das Gespräch mit K ergebnislos bleibt und die unbewaffneten C und S über keine weitere Möglichkeit verfügen, K noch zu töten, verlassen sie dessen Haus und kehren in ihr Labor zurück. Dort beschließen sie, der Polizei einen anony* Der Sachverhalt der Klausur ist an eine Episode der amerikanischen Fernsehserie „Breaking Bad“ (Staffel 2, Folge 2) angelehnt. Das titelgebende Zitat stammt ebenfalls aus dieser Serie (Staffel 4, Folge 6). ** Die Autoren sind beide Wiss. Mitarbeiter an der Professur für Deutsches, Europäisches und Internationales Straf- und Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Umweltstrafrecht (Prof. Dr. Thomas Rotsch) am Fachbereich Rechtswissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen. Sie danken dem Lehrstuhlinhaber herzlich für wertvolle Kritik und Anregungen. men Hinweis auf den Betäubungsmittelhandel des K sowie dessen Aufenthaltsort zu geben, um ihn auf diese Art und Weise doch noch vom Markt zu verdrängen. Dabei gehen sie zutreffend davon aus, dass O zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr gerettet werden kann. Einige Zeit nachdem K seine Gäste verabschiedet hat, versucht er, seinen Onkel zu wecken. Da ihm dies nicht gelingt, erkennt er den kritischen Zustand des O. K verlässt daraufhin sein Haus, um Hilfe zu holen. Dabei begegnet er dem Polizisten P, der den anonymen Hinweis von C und S erhalten hatte. Als P den K erblickt, will er diesen festnehmen. Daraufhin eröffnet K das Feuer auf P, das dieser erwidert. Im Zuge der Schießerei wird K durch einen Kopfschuss getötet. O verstirbt wenige Minuten später an der Vergiftung. Aufgabe Hat C sich nach dem StGB strafbar gemacht? Bearbeitervermerk Eventuell erforderliche Strafanträge sind gestellt. Körperverletzungs- und Freiheitsberaubungsdelikte sowie die §§ 145d, 164, 185 ff. StGB sind nicht zu prüfen. Lösung Hinweis: Ob zuerst die Strafbarkeit wegen vollendeter Tötung zu Lasten des K oder diejenige zu Lasten des O geprüft wird, hat auf den Fortgang der Prüfung keinerlei Auswirkungen. I. § 212 Abs. 1 StGB zu Lasten des K (Beigabe des Giftpulvers) Hinweis: Es kommen verschiedene Mordmerkmale in Betracht. Daher stellt sich hier die Frage, ob § 212 StGB und § 211 StGB gemeinsam oder getrennt zu prüfen sind. Dies hängt davon ab, zu welchem Ergebnis die Prüfung kommen wird: Scheidet bereits § 212 StGB aus (etwa weil es am Vorsatz fehlt oder die Tat gerechtfertigt ist), ist eine gemeinsame Prüfung verfehlt, weil dann bereits kein qualifizierbares Grunddelikt vorliegt und jegliche Ausführungen zu den Mordmerkmalen im Ergebnis überflüssig sind (Rotsch, Strafrechtliche Klausurenlehre, 2013, Rn. 992). Da sich hier ein Zurechnungsproblem stellt, bietet sich daher eine getrennte Prüfung an. C könnte sich wegen Totschlags zu Lasten des K gem. § 212 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben, indem er ein giftiges Pulver herstellte und S das Giftpulver in den Burrito streute. Hinweis: Wird die Prüfung am Ende zu dem Ergebnis kommen, dass eine Strafbarkeit wegen des betreffenden Delikts ausscheidet bzw. steht fest, dass eine Kollision mit anderen Delikten ausscheidet, kann der Obersatz mit _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 413 ÜBUNGSFALL Jacob Böhringer/Markus Wagner „wegen … strafbar“ formuliert werden. Wird das Delikt hingegen bejaht und liegen daneben die Voraussetzungen weiterer Straftatbestände vor, muss die Formulierung „eines/einer … schuldig“ verwendet werden, weil die eigentliche Frage nach der Strafbarkeit dann erst nach Auflösung der Konkurrenzen beantwortet werden kann (vgl. Rotsch, Strafrechtliche Klausurenlehre, 2013, Rn. 139). K ist tot. Er starb aber nicht infolge einer Vergiftung, sondern aufgrund eines Kopfschusses. Fraglich ist daher, ob die Beigabe des Giftpulvers für den Tod des K kausal war. Kausalität liegt nach der condicio sine qua non-Formel dann vor, wenn die Handlung des Täters nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele.1 Die Vergiftung des O veranlasste K, das Haus zu verlassen um Hilfe zu holen; währenddessen traf er auf P, von dem er letztlich erschossen wurde. Damit war die Beigabe des Giftes auch kausal für den Tod des K. Hinweis: Vertretbar ist es auch, hier einen überholenden Kausalverlauf2 anzunehmen und somit (bereits) die Kausalität der Giftbeimischung für den Tod des K abzulehnen. Der Tod des K müsste C darüber hinaus aber auch objektiv zurechenbar sein. Dies ist dann der Fall, wenn C durch sein Verhalten eine rechtlich missbilligte Gefahr geschaffen hat, die sich im konkreten Erfolgseintritt realisiert hat.3 Mit der Vergiftung des Burritos wurde zwar eine rechtlich missbilligte Gefahr gesetzt. Im Tod des K realisiert sich jedoch gerade nicht diejenige Gefahr, die von dem Gift ausgeht. Der Schuss des P stellt ein eigenverantwortliches Dazwischentreten eines Dritten dar, das den Zurechnungszusammenhang unterbricht.4 Es fehlt daher an der objektiven Zurechnung des Taterfolges. Anzeige nicht auf eine Tötung des K hin. Die Notwehrsituation des P wurde nicht durch C, sondern allein durch K selbst geschaffen. II. § 212 Abs. 1 StGB zu Lasten des O (Beigabe des Giftpulvers) C könnte sich wegen eines Totschlags zu Lasten des O gem. § 212 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben, indem er ein giftiges Pulver herstellte und S das Giftpulver in den Burrito streute. Hinweis: Ein Problem bei der Formulierung des Obersatzes (und der Überschrift) ist die Frage, ob die (voraussichtliche) Beteiligungsform des C klargestellt werden soll. Wie sich jedoch zeigen wird, kann man dies hier offen lassen. 1. Tatbestand a) Objektiver Tatbestand aa) C müsste einen anderen Menschen getötet haben. O, ein anderer Mensch, ist tot. Sein Tod (in der konkreten Form der Vergiftung) wäre ausgeblieben, wenn S das Giftpulver nicht in den Burrito gestreut hätte. Da C dieses Giftpulver hergestellt hat, ist sein Verhalten für den Tod des O kausal i.S.d. condicio sine qua non-Formel. bb) Der Tod des O müsste C darüber hinaus objektiv zurechenbar sein. Indem C ein giftiges Pulver hergestellt hat und S dieses vereinbarungsgemäß in den Burrito streute, wurde eine Gefahr für Leib und Leben derjenigen Person geschaffen, die diesen Burrito verspeist. Da O auch gerade aufgrund der Vergiftung verstarb, hat sich eben diese Gefahr realisiert. Der Tod des O ist C damit auch objektiv zurechenbar. Hinweis: Unangebracht ist es hier, eine Unterbrechung des Zurechnungszusammenhanges deshalb zu erörtern, weil nicht C, sondern S das Giftpulver in den Burrito streut. Denn anders als in den „klassischen“ Konstellationen dieser Fallgruppe der objektiven Zurechnung5 arbeiten C und S zusammen. Die Arbeitsteilung zwischen C und S ist vielmehr eine Frage der Beteiligungsform (hier: ob C Mittäter oder Gehilfe des S ist). Ob C Täter ist oder nicht, sollte auf einer eigenständigen Prüfungsstufe nach dem subjektiven Tatbestand geprüft werden, um eine Vermischung von objektiven und subjektiven Prüfungspunkten zu vermeiden (vgl. Rotsch, Strafrechtliche Klausurenlehre, 2013, Rn. 312). Da – wie sich sogleich zeigen wird – die Strafbarkeit bereits am Vorliegen des subjektiven Tatbestands scheitert, hat dieses Vorgehen auch den Vorteil, dass im Rahmen der Prüfung der vollendeten Tat überhaupt keine Ausführungen zur Mittäterschaft erfolgen, die hier vollkommen überflüssig wären. Hinweis: Der BGH verwendet die Lehre von der objektiven Zurechnung (noch) nicht. Er würde diese Problematik im subjektiven Tatbestand als Irrtum über den Kausalverlauf verorten (zu den Auswirkungen auf die Fallbearbeitung Wagner/Drachsler, ZJS 2011, 530 [531 ff.]). Eine Strafbarkeit des C wegen vollendeten Totschlags zu Lasten des K gem. § 212 Abs. 1 StGB scheidet daher aus. Hinweis: Die Annahme einer Tötung des K durch P in mittelbarer Täterschaft ist hier äußerst fernliegend und sollte nicht erörtert werden. C wirkt mit der anonymen 1 Vgl. Kühl, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2012, § 4 Rn. 9. 2 Vgl. Kühl (Fn. 1), § 4 Rn. 33. 3 Vgl. Kühl (Fn. 1), § 4 Rn. 43. 4 Vgl. Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 15 Rn. 169 ff.; Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1, 4. Aufl. 2006, § 11 Rn. 138 ff. b) Subjektiver Tatbestand Fraglich ist jedoch, ob C vorsätzlich (§ 15 StGB) handelte. Vorsatz ist der Wille zur Tatbestandsverwirklichung bei 5 Dazu Kühl (Fn. 1), § 4 Rn. 84 ff. _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 414 Übungsklausur: „I am the danger“ Kenntnis aller objektiven Umstände.6 C kannte die letale Wirkung seines Giftes und wollte auch gerade einen Menschen – nämlich K – damit töten. Problematisch ist daher, wie es sich auf den subjektiven Tatbestand auswirkt, dass nicht K, sondern O den vergifteten Burrito verspeiste und an der Vergiftung verstarb. Hinweis: Falsch ist es, an dieser Stelle darauf abzustellen, dass C nach dem Platztausch zwischen K und O auch den Tod des O in Kauf nahm. Der Vorsatz muss „bei Begehung der Tat“ (§ 16 Abs. 1 S. 1 StGB), also im Zeitpunkt der tatbestandlichen Ausführungshandlung vorliegen (sog. Koinzidenzprinzip bzw. Simultaneitätsprinzip).7 Eine nachträgliche Änderung des Vorsatzes (sog. dolus subsequens) ist unbeachtlich.8 Da der Anknüpfungspunkt im Obersatz allein die Beimischung des Giftpulvers ist, darf an dieser Stelle auch nur allein der in diesem Zeitpunkt bestehende Vorsatz berücksichtigt werden (allgemein Rotsch, Strafrechtliche Klausurenlehre, 2013, Rn. 500). Dieser Grundsatz darf auch nicht dadurch unterlaufen werden, dass beide Verhaltensweisen (hier: die Beimischung des Giftpulvers und die nachfolgende Untätigkeit während des Essens) zu einem „Gesamtgeschehen“ zusammengefasst werden und somit künstlich eine einheitliche Tathandlung konstruiert wird.9 Der subjektive Tatbestand könnte gem. § 16 Abs. 1 S. 1 StGB entfallen. Dies setzt voraus, dass C „bei Begehung der Tat einen Umstand nicht [kannte], der zum gesetzlichen Tatbestand gehört“. Hinweis: Es handelt sich hier – vermeintlich – um das Problem, ob bei einer Personenverwechslung im Rahmen eines sog. „Fernwirkungsfalles“ ein error in persona oder eine aberratio ictus vorliegt.10 Dennoch sollten die Bearbeiter nicht sofort bei Beginn der Erörterung des subjektiven Tatbestandes mit diesen Begriffen arbeiten, sondern erst das Problem im Wege der Subsumtion unter den Normtext herleiten. aa) Error in persona oder aberratio ictus? Kein Umstand, „der zum gesetzlichen Tatbestand gehört“, ist im Rahmen des § 212 Abs. 1 StGB die Identität der getöteten Person. § 212 Abs. 1 StGB spricht nur von „eine[m] anderen Menschen“; welcher Mensch konkret getötet wird, ist irrelevant. Dementsprechend muss die Identität der getöteten Person nicht vom Vorsatz umfasst sein; ein entsprechender Irrtum ist unbeachtlich (sog. error in persona).11 Dies gilt aber nur, wenn der Täter sich über die Identität des anvisierten Opfers irrt; eine andere Frage ist die Behandlung derjenigen Fallkonstellation, in der der Täter das anvisierte Opfer schon nicht trifft, sondern sein Angriff fehlgeht (sog. aberratio ictus [= lat.: „der verirrte Pfeil“]).12 Denn dann liegt kein Irrtum über das Tatobjekt („andere Person“), sondern hinsichtlich des vom Täter angestoßenen Geschehens vor.13 Die Abgrenzung dieser beiden Irrtumsformen ist vor allem dann kompliziert, wenn die Konkretisierung des Opfers nur mittelbar – also über ein bestimmtes Objekt – erfolgt. So hat etwa der BGH einen error in persona in einem Fall angenommen, in dem der Täter eine Sprengfalle an einem Wagen angebracht hatte, der tatsächlich einer anderen Person gehörte als derjenigen, die der Täter töten wollte. Zur Begründung hat der BGH ausgeführt, die Tat sei auf diejenige Person konkretisiert worden, die in den Wagen einsteigt.14 Bereits für diesen Fall wird von beachtlichen Stimmen in der Literatur angenommen, es handle sich nicht um einen error in persona, sondern vielmehr um eine aberratio ictus, weil anderenfalls die Vorsatzkonkretisierung zu weit vorverlagert würde.15 Ungeachtet dessen ist der hier zu untersuchende Sachverhalt gegenüber den „klassischen“ Fernwirkungs-Fällen anders gelagert: Zwar geben C und S mit der Beimischung des Giftpulvers das Geschehen weitestgehend aus der Hand und warten darauf, dass die Tat durch ein Verhalten des nichtsahnenden Opfers vollendet wird. Allerdings konkretisiert sich die Tat nicht auf den Burrito selbst (und damit mittelbar die Person, die diesen zu sich nehmen wird), sondern auf den Sitzplatz, an dem die vergiftete Portion steht. Dieser Unterschied ergibt sich daraus, dass – anders als in den herkömmlichen Fernwirkungs-Fällen – die Möglichkeit zur optischen Wahrnehmung besteht. Hinweis: Hier zeigt sich wieder besonders deutlich, welche Risiken es birgt, die Ergebnisse bekannter Fallkonstellationen höchstrichterlicher Rechtsprechung unbesehen auf einen unbekannten, vermeintlich parallel gelagerten Sachverhalt zu übertragen. Damit ist der vorliegende Sachverhalt eher mit derjenigen Konstellation vergleichbar, in der C in die Richtung des Sitzplatzes des K schießt, diesen aber verfehlen und O aufgrund eines Querschlägers getroffen wird. In einer solchen Fallkonstellation liegt aber unbestritten eine aberratio ictus vor. Hinweis: Die Annahme eines error in persona ist ebenfalls vertretbar. Wird ein solcher angenommen, darf jedoch nicht der Fehler gemacht werden, zusätzlich noch eine versuchte Tötung zu Lasten des K zu prüfen. Denn wenn man eine Strafbarkeit wegen vollendeter Tötung des O aufgrund eines unbeachtlichen error in persona annimmt, 6 Exemplarisch Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 43. Aufl. 2013, Rn. 203. 7 Vgl. Kühl (Fn. 1), § 5 Rn. 20 m.w.N. 8 Vgl. Kühl (Fn. 1), § 5 Rn. 21, 23 ff. m.w.N. 9 Vgl. Rotsch, Strafrechtliche Klausurenlehre, 2013, Rn. 501; Kühl (Fn. 1), § 5 Rn. 26. 10 Dazu etwa Kühl (Fn. 1), § 13 Rn. 27 f. m.w.N. 11 Vgl. Kühl (Fn. 1), § 13 Rn. 20 ff. STRAFRECHT 12 Etwa Kühl (Fn. 1), § 13 Rn. 29. Etwa Roxin (Fn. 4), § 12 Rn. 160. 14 Vgl. BGH NStZ 1998, 294 (295). 15 Vgl. Heinrich, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 2, 2. Aufl. 2010, Rn. 1112 m.w.N. 13 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 415 ÜBUNGSFALL Jacob Böhringer/Markus Wagner ist der Vorsatz zur Tötung eines Menschen bereits verbraucht. Zu prüfen ist dann ein Mord zu Lasten des O. bb) Rechtliche Behandlung der aberratio ictus Fraglich ist aber nun immer noch, wie eine solche aberratio ictus rechtlich zu behandeln ist.16 (1) Gleichbehandlung von aberratio ictus und error in persona Eine teilweise vertretene Auffassung will den error in persona und die aberratio ictus gleich behandeln: Sind das angepeilte und das getroffene Objekt gleichwertig, sei der Irrtum unbeachtlich.17 Da O und K beide Menschen i.S.d. § 212 Abs. 1 StGB sind, liegt nach dieser Auffassung kein vorsatzausschließender Irrtum vor. (2) Behandlung als Unterfall des Irrtums über den Kausalverlauf Eine andere Auffassung sieht die aberratio ictus als Unterfall des Irrtums über den Kausalverlauf an. Danach ist sie immer dann unbeachtlich, wenn das Fehlgehen der Tat vorhersehbar war.18 Eine solche Vorhersehbarkeit ist hier nicht gegeben: Da – insbesondere weil O an den Rollstuhl gefesselt ist und somit nicht einfach seinen Platz wechseln kann – die Sitzordnung am Tisch feststand und keinerlei Anhaltspunkte bestanden, dass diese geändert werden würde, war ein Wechsel der Sitzplätze (und der damit verbundene Tausch der auf dem Tisch stehenden Teller) von O und K nicht vorherzusehen. Nach dieser Auffassung liegt eine wesentliche Abweichung des Kausalverlaufs vor, weshalb der diesbezügliche Irrtum den subjektiven Tatbestand ausschließt. (3) Ausschluss der Vollendungsstrafbarkeit bei Verfehlen des konkretisierten Tatobjekts Die überwiegende Ansicht geht davon aus, dass der Täter bei einer aberratio ictus sich hinsichtlich des anvisierten Tatobjekts nur eines Versuchs schuldig machen kann; hinsichtlich des getroffenen Tatobjekts könne – soweit eine solche vom Gesetz vorgesehen ist – eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit in Betracht kommen.19 (4) Differenzierung nach höchstpersönlichen und nichthöchstpersönlichen Rechtsgütern Eine differenzierende Auffassung unterscheidet nach der Art des betroffenen Rechtsguts: Während bei höchstpersönlichen Rechtsgütern (z.B. Leben) nur ein Versuch in Betracht kommen soll (Anwendung der Auffassung unter [3]), sei der Irrtum bei individualitätsunabhängigen Rechtsgütern (z.B. Vermögen) unbeachtlich (Anwendung der Auffassung unter [1]).20 Auch nach dieser Auffassung kommt hier keine Strafbarkeit wegen vollendeter Tat in Betracht, weil es um das Leben als höchstpersönliches Rechtsgut geht. (5) Stellungnahme Da die Auffassung, die eine Gleichbehandlung von error in persona und aberratio ictus vornimmt, zu einem anderen Ergebnis kommt als die übrigen Ansichten, ist eine Stellungnahme erforderlich. Hinweis: Zu beachten ist, dass in einem Gutachten jegliche überflüssigen Ausführungen zu vermeiden sind. Eine Argumentation, die die unter (2) bis (4) dargestellten Auffassungen gegeneinander abwägt, ist verfehlt, weil diese sich im Ergebnis nicht unterscheiden. Dieser Auffassung ist zuzugeben, dass C einen Menschen töten wollte und auch einen Menschen getötet hat; auf die Identität kommt es nach dem Gesetzeswortlaut – wie bereits ausgeführt – gerade nicht an.21 Das Erfordernis einer Konkretisierung des Tatopfers lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen; nicht der Täter, sondern das Gesetz entscheidet darüber, worauf sich sein Vorsatz beziehen muss.22 Dagegen spricht jedoch, dass dem Täter bei einer solchen Betrachtungsweise ein dolus generalis unterstellt würde.23 Zudem wird durch die Annahme einer Vollendungsstrafbarkeit letztlich nicht berücksichtigt, dass tatsächlich zwei verschiedene Rechtsgüter – nämlich das getroffene und das anvisierte – beeinträchtigt wurden. Aberratio ictus und error in persona unterscheiden sich maßgeblich dadurch, dass es bei der aberratio ictus vom Zufall abhängt, welches Rechtsgut getroffen wird.24 Diesem Aspekt werden nur diejenigen Auffassungen gerecht, die eine Vollendungsstrafbarkeit ablehnen und nur einen Versuch hinsichtlich des anvisierten Objekts annehmen. Hinweis: A.A. vertretbar. Nimmt man eine vollendete Tat an, verbieten sich im weiteren Fortgang der Bearbeitung Ausführungen zu einem Versuch zu Lasten des K sowie zu einer Strafbarkeit wegen nachfolgenden Unterlassens. 16 Eingehend Hillenkamp, 32 Probleme aus dem Strafrecht, Allgemeiner Teil, 14. Aufl. 2012, 9. Problem. 17 Vgl. etwa Frister, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2013, 11/57 ff.; Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nichtvorsatzausschließendem Irrtum, 1987, S. 491 ff. 18 So etwa Puppe, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 1, 4. Aufl. 2013, § 16 Rn. 104 ff.; wohl auch BGH NStZ 1998, 294 (295). 19 Exemplarisch Kühl (Fn. 1), § 13 Rn. 32 ff.; SternbergLieben/Schuster (Fn. 4), § 15 Rn. 57; jeweils m.w.N. 20 Maßgeblich Hillenkamp, Die Bedeutung von Vorsatzkonkretisierung bei abweichendem Tatverlauf, 1971, S. 85 ff. 21 Vgl. etwa Puppe (Fn. 18), § 16 Rn. 96; Kuhlen (Fn. 17), S. 480 ff. 22 So etwa Puppe (Fn. 18), § 16 Rn. 96. 23 Vgl. Kühl (Fn. 1), § 13 Rn. 33. 24 Vgl. Sternberg-Lieben/Schuster (Fn. 4), § 15 Rn. 57. _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 416 Übungsklausur: „I am the danger“ Zu prüfen ist dann, ob hinsichtlich der Tötung des O Mordmerkmale einschlägig sind. c) Zwischenergebnis Der subjektive Tatbestand des Totschlags ist aufgrund einer aberratio ictus nicht erfüllt. 2. Ergebnis C ist nicht wegen Totschlages zu Lasten des O gem. § 212 Abs. 1 StGB strafbar. III. §§ 211, 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB zu Lasten des K (Beigabe des Giftpulvers) C könnte sich durch dieselbe Handlung eines versuchten Mordes in Mittäterschaft gem. §§ 211, 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB schuldig gemacht haben. 1. Keine Vollendungsstrafbarkeit, Strafbarkeit des Versuchs Der tatbestandliche Erfolg – K ist tot – ist zwar eingetreten, dieser Erfolg ist aber keine Folge der Beigabe des Giftes, da aufgrund des eigenverantwortlichen Verhaltens des P eine objektive Zurechnung des Erfolgs ausscheidet (s.o. I.). Somit kommt allenfalls ein versuchter Mord in Betracht. Dieser ist strafbar gem. §§ 211 Abs. 1, 23 Abs. 1 Var. 1, 12 Abs. 1 StGB. 2. Tatentschluss25 C müsste zum Mord entschlossen gewesen sein. Ein solcher Tatentschluss umfasst den gesamten subjektiven Tatbestand des Mordes. Notwendig ist daher zunächst der Vorsatz hinsichtlich der (gemeinschaftlichen) Tötung eines anderen Menschen. Hinzu kommen entweder subjektive Mordmerkmale und/oder der Vorsatz bzgl. der Verwirklichung objektiver Mordmerkmale. a) Tötungsvorsatz Es war das erklärte Ziel des C, seinen Konkurrenten K mittels des Giftpulvers zu töten. C handelte somit vorsätzlich hinsichtlich des Todes eines anderen Menschen. b) Mordmerkmale C könnte subjektive Mordmerkmale und/oder Vorsatz hinsichtlich objektiver Mordmerkmale aufweisen. aa) Heimtücke Denkbar scheint ein Vorsatz des C zur heimtückischen Tötung des K. Heimtückisch handelt, wer „die Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers bewusst zur Tötung ausnutzt.“26 Arglos ist, wer sich im Zeitpunkt des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs keiner Gefahr für Leib und Leben ver25 Zu den subjektiven Voraussetzungen des Versuchs vgl. allgemein etwa Herzberg/Hoffmann-Holland, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, 2. Aufl. 2011, § 22 Rn. 34 ff. 26 BGH NStZ 2009, 30 (31). STRAFRECHT sieht.27 Wehrlos ist, wer infolge seiner Arglosigkeit zur Verteidigung außer Stande oder zumindest stark eingeschränkt ist.28 Fraglich ist, ob K in der Vorstellung des C arglos war. Daran könnten Zweifel bestehen, weil es sich bei K und C um verfeindete Konkurrenten auf dem regionalen Drogenmarkt handelt. Allerdings kommt es für die Heimtücke nicht darauf an, ob K mit einem Angriff hätte rechnen müssen, sondern nur, ob er – nach der Vorstellung des C – tatsächlich argwöhnisch war.29 Mit der Situation eines fingierten dauerhaften Argwohns, wie er beispielsweise für den Fall der Tötung eines Erpressers diskutiert wird,30 ist der vorliegende Sachverhalt nicht vergleichbar, weil K keine Situation provoziert hat, in der er bei einer Begegnung mit C und S jederzeit mit einem tödlichen Angriff rechnen muss. Vielmehr entsprach es gerade dem Plan des C, dass K nicht mit einem gewalttätigen Übergriff rechnete. Damit war K nach der Vorstellung des C arglos. K sollte auch nach der Vorstellung des C aufgrund der Tatsache, dass K nicht mit einem Angriff rechnete, diesem hilflos ausgesetzt sein; C wollte damit auch die Wehrlosigkeit des K bewusst ausnutzen. Grundsätzlich ist das Mordmerkmal der Heimtücke – und sind damit auch die Anforderungen an einen entsprechenden Tatentschluss – nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts restriktiv auszulegen.31 Zu diesem Zweck wurden verschiedene Ansätze entwickelt: Nach einer Auffassung soll Heimtücke nur dann vorliegen, wenn der Täter in „feindlicher Willensrichtung“ handelt.32 Ausgeschlossen werden sollen damit Tötungen, die etwa aus Mitleid erfolgen.33 Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor; vielmehr wollen C und S lediglich einen Konkurrenten auf dem Drogenmarkt beseitigen. Einer anderen Ansicht zufolge muss ein „verwerflicher Vertrauensbruch“ erfolgen.34 Hier lädt K seine beiden Konkurrenten in sein Haus und zum Essen ein, ohne weitere Maßnahmen oder Personen zu seinem Schutz heranzuziehen. Dies ist C auch bewusst. Damit ist von einem entsprechenden Vertrauen auszugehen, das durch den Tötungsversuch enttäuscht wird; auch nach dieser Auffassung liegt Vorsatz hinsichtlich einer heimtückischen Tötung vor. Auch eine „negative Typenkorrektur“35 führt zu keinem anderen Ergebnis, da C hier das „typische Bild“ eines Heimtückemörders erfüllt. 27 Etwa Küper, Strafrecht, Besonderer Teil, 8. Aufl. 2012, S. 192 m.w.N. aus Rspr. und Literatur. 28 Vgl. Küper (Fn. 27), S. 192 m.w.N. aus Rspr. und Literatur. 29 Dazu Küper (Fn. 27), S. 192. 30 Vgl. etwa BGHSt 48, 207 (210 ff.). 31 BVerfGE 45, 187. 32 BGH NStZ 2009, 30 (31). 33 Etwa BGHSt 37, 376 (377 f.). 34 Etwa Otto, Grundkurs Strafrecht, Die einzelnen Delikte, 7. Aufl. 2005, § 4 Rn. 25 ff. 35 Etwa Eser/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (Fn. 4), § 211 Rn. 10 m.w.N. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 417 ÜBUNGSFALL Jacob Böhringer/Markus Wagner Damit liegt auch Tatentschluss hinsichtlich des Mordmerkmals der Heimtücke vor. sind. C müsste also Vorsatz hinsichtlich einer gemeinschaftlichen Tatbegehung gehabt haben. bb) Gemeingefährliche Mittel Ein gemeingefährliches Mittel ist ein solches, das eine Mehrzahl von Menschen zumindest gefährdet, wobei der Täter keinen Einfluss auf die Anzahl der betroffenen Personen hat.36 Da S das Gift hier nicht z.B. in eine Trinkwasserleitung, sondern in eine einzelne Essensportion gestreut hat, ist dies nicht der Fall; dass letztlich verschiedene, nicht aber mehrere Personen gleichzeitig hätten betroffen werden können, spielt insoweit keine Rolle. Hinweis: Anders als bei der Prüfung einer vollendeten Tat greifen beim Versuch die Argumente, die für eine Erörterung der Täterschaft auf einer eigenständigen Prüfungsstufe nach dem subjektiven Tatbestand sprechen, beim Versuch nicht durch; die Täterschaftsform ist dann (subjektiv) im Rahmen des Tatentschlusses zu prüfen (vgl. Rotsch, Strafrechtliche Klausurenlehre, 2013, Rn. 199 a.E., 312). cc) Habgier C könnte habgierig gehandelt haben wollen. Unter Habgier ist ein rücksichtsloses ungehemmtes Streben nach wirtschaftlichen Vorteilen zu verstehen, die in einer Vermögensmehrung oder in einer Ersparung von Aufwendungen bestehen können.37 Erforderlich ist dabei allerdings, dass der angestrebte Vermögensvorteil unmittelbar durch die Tötung herbeigeführt wird oder zumindest „eine sonst nicht vorhandene Aussicht auf eine unmittelbare Vermögensvermehrung entsteht“.38 An einer solchen Unmittelbarkeit fehlt es aber: C und S wollen lediglich ihren Konkurrenten in der Hoffnung beseitigen, in Zukunft vielleicht von dessen Kunden profitieren zu können. Eine solche allgemeine Veränderung des „Milieus“ ist für die Annahme von Habgier jedoch nicht ausreichend.39 dd) Ermöglichungsabsicht Zudem könnte C in der Absicht gehandelt haben, eine andere Straftat zu ermöglichen, weil die Übernahme der Kunden des K die weitere Herstellung und Verkäufe von Methamphetamin erfordert. Dies ist gem. § 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BtMG mit (Kriminal-)Strafe bedroht. Dass die Taten auch tatsächlich begangen werden können, ist nicht zwangsläufig erforderlich; ausreichend ist, dass sie durch die Tötung möglicherweise erleichtert werden.40 Da dies der Vorstellung des C entspricht, handelte er mit Ermöglichungsabsicht. c) Vorsatz bzgl. gemeinschaftlicher Tatbegehung i.S.d. § 25 Abs. 2 StGB C beabsichtigte dabei jedoch nicht, das Gift selbst auf den Burrito zu streuen. Die mit S vereinbarte Beigabe des Giftes durch S könnte C jedoch zugerechnet werden, falls dieser und S nach seiner Vorstellung Mittäter i.S.d. § 25 Abs. 2 StGB Eine solche setzt nach allgemeiner Auffassung ein bewusstes und gewolltes Zusammenwirken voraus, also die Erbringung eines wesentlichen Tatbeitrages aufgrund eines gemeinsamen Tatplans.41 Wann diese Voraussetzungen vorliegen, ist freilich umstritten: aa) Die subjektive Theorie der Rechtsprechung Die Rechtsprechung beurteilt insbesondere das Vorliegen von Mittäterschaft noch immer anhand subjektiver Kriterien: Ausschlaggebend ist vor allem der Wille zur Täterschaft.42 Als Tatbeitrag soll jede Förderung der Haupttat ausreichen; diese muss nicht notwendigerweise im Ausführungsstadium geleistet werden.43 C wollte sich zum einen die Handlung des S zu eigen machen und zum anderen durch die Herstellung des Pulvers selbst einen entscheidenden Beitrag zur Tötung des K leisten. Dieses Vorgehen entsprach auch dem Plan zur Tötung des K, den C und S gefasst hatten. Demnach hatte C den Willen zur mittäterschaftlichen Begehung der Tat. bb) Die Tatherrschaftslehre Die h.L. beurteilt Täterschaft hingegen anhand des Tatherrschaftskriteriums. Danach ist Täter, wer den tatbestandlichen Geschehensablauf in den Händen hält und somit „Zentralgestalt“ des Geschehens ist.44 Da Mittäterschaft sachlogisch zumindest zwei Täter voraussetzt, kann hier von einer einzelnen Zentralgestalt nicht die Rede sein. Insofern wird auf die sog. „funktionelle“ – also gemeinsame – Tatherrschaft abgestellt.45 C beabsichtigte ein arbeitsteiliges Vorgehen mit S, um den erwünschten Erfolg – die Vergiftung des K – herbeizuführen. Nach seiner Vorstellung bestand sein Tatbeitrag in erster Linie darin, das giftige Pulver herzustellen, das sodann 41 36 Vgl. Küper (Fn. 27), S. 150. 37 Vgl. BGHSt 10, 399; BGH NSZ 1993, 385 (386). 38 BGH NStZ 1993, 385 (386); vgl. auch Schneider, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 4, 2. Aufl. 2012, § 211 Rn. 63. 39 Vgl. BGH NStZ 1993, 385 (386); Neumann, in: Kindhäuser/ Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 2, 4. Aufl. 2013, § 211 Rn. 24; Schneider (Fn. 38), § 211 Rn. 63. 40 Vgl. BGHSt 39, 20. Exemplarisch Kühl (Fn. 1), § 20 Rn. 98. Exemplarisch BGHSt 37, 289 (291) m.w.N. 43 Exemplarisch BGH NStZ-RR 2009, 199 (200). 44 Grundlegend Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 8. Aufl. 2006, S. 25 ff.; ders., Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 2, 2003, § 25 Rn. 10; zustimmend ein großer Teil der Literatur, vgl. hierzu Heine/Weißer, in: Schönke/Schröder (Fn. 4), Vor § 25 Rn. 57 m.w.N. 45 Zum Begriff der funktionellen Tatherrschaft, Roxin (Fn. 44 – Täterschaft), S. 275 ff.; ders. (Fn. 44 – AT II), § 25 Rn. 188 f. m.w.N. 42 _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 418 Übungsklausur: „I am the danger“ von S in den Burrito gestreut werden sollte. Dies entspricht dem vorher gefassten gemeinsamen Tatplan. Problematisch ist, dass der beabsichtigte Tatbeitrag des C – die Herstellung des Giftpulvers – nicht im Ausführungs-, sondern im Vorbereitungsstadium stattfinden soll. Anders als nach der Rechtsprechung des BGH46 soll nach der Mehrzahl der Vertreter der Tatherrschaftslehre ein Beitrag im Vorbereitungsstadium nur dann ausreichen, wenn dieser so gewichtig ist, dass er den Mangel eines eigenen Beitrags im Ausführungsstadium kompensiert.47 Dies ist hier der Fall: Das Gelingen des Tatplanes hängt entscheidend davon ab, dass C ein zur heimlichen Tötung geeignetes Gift herstellt. C hat daher nach seiner Vorstellung bereits aufgrund seiner Aufgabe, das Gift herzustellen, Tatherrschaft. Daher kommt es nicht mehr auf die Frage an, ob seine Anwesenheit am Tatort (und die damit verbundene Möglichkeit zum Einschreiten und Lenken) ebenfalls einen hinreichend gewichtigen Tatbeitrag begründet. hier nicht (selbst) unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung an, weil er selbst keinerlei Schritte zur unmittelbaren Gefährdung des Rechtsguts unternimmt. b) Dies widerspricht freilich der Konzeption der Mittäterschaft: Nach der vorzugswürdigen sog. Gesamtlösung wird eine dem gemeinsamen Tatplan entsprechende Handlung eines Mittäters, durch die dieser die Schwelle zum Versuchsstadium überschreitet, dem anderen Mittäter dem Gedanken des § 25 Abs. 2 StGB entsprechend als eigene zugerechnet, was zur Folge hat, dass für alle Mittäter gleichermaßen zu diesem Zeitpunkt der Versuch beginnt.50 S hat das Giftpulver in den Burrito gestreut. Damit hat er nicht nur zur tatbestandlichen (Tötungs-)Handlung angesetzt, sondern diese bereits ausgeführt. Da dieses Vorgehen exakt dem gemeinsamen Tatplan von C und S entsprach, wird diese Handlung C zugerechnet. Hinweis: Die sog. Einzellösung ist ebenfalls vertretbar. Danach scheidet eine Strafbarkeit wegen eines Versuchs in Mittäterschaft aus. Zu prüfen ist dann eine Beihilfe zur (versuchten) Tat des S. cc) Zwischenergebnis Damit ist C nach seiner Vorstellung Mittäter. Hinweis: A.A. bei einem restriktiven Mittäterschaftsverständnis sehr gut vertretbar. Lehnt man eine Tatbegehung in Mittäterschaft ab, ist eine Strafbarkeit des C wegen Beihilfe zur (versuchten) Tat des S zu prüfen. 4. Rechtswidrigkeit und Schuld C handelte rechtswidrig und schuldhaft. Hinweis: Erwägungen hinsichtlich eines rechtfertigenden Notstandes gem. § 34 StGB sind hier abwegig, weil C und S die Gefahr, die von dem Drogenboss K ausgeht, ja gerade nicht gänzlich beseitigen wollen, sondern ihr eigenes Drogengeschäft (von dem dieselbe Gefahr ausgeht) ausbauen wollen. d) Zwischenergebnis C war zur mittäterschaftlichen heimtückischen Tötung des K zum Zwecke der Ermöglichung weiterer Straftaten entschlossen. 3. Unmittelbares Ansetzen Fraglich ist, ob C i.S.d. § 22 StGB unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung angesetzt hat. Unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung setzt derjenige an, der nach seiner Vorstellung ohne wesentliche Zwischenschritte und ohne zeitliche und räumliche Zäsur das Rechtsgut gefährdet, also die Schwelle zum „Jetzt geht’s los“ überschreitet.48 Dies ist hier problematisch: Denn nicht er, sondern S hat das Gift in das Essen gestreut und somit die eigentliche tatbestandliche Handlung vorgenommen. Unter welchen Voraussetzungen ein Mittäter unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung ansetzt, ist umstritten: a) Nach der sog. Einzellösung ist das unmittelbare Ansetzen für jeden Mittäter gesondert zu prüfen.49 Danach setzt C 46 Exemplarisch BGHSt 37, 289 (292) m.w.N. aus der Rspr. In diesem Sinne Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 6), Rn. 529; Heine/Weißer (Fn. 44), § 25 Rn. 67; Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1993, 21/48; a.A. Roxin (Fn. 44 – AT II), § 25 Rn. 198 ff. (siehe ebenda § 25 Rn. 201 ff. für eine ausführliche Darstellung und Auseinandersetzung mit den vertretenen Ansichten); kritisch Rotsch, „Einheitstäterschaft“ statt Tatherrschaft, 2009, S. 363. 48 Exemplarisch Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 6), Rn. 601. 49 Etwa Roxin (Fn. 44 – AT II), § 29 Rn. 297 ff. 47 STRAFRECHT 5. Rücktritt Denkbar scheint ein strafbefreiender Rücktritt vom Versuch gem. § 24 Abs. 2 StGB, da C und S keine weiteren Schritte zur Tötung des K unternehmen. Hinweis: § 24 Abs. 2 StGB regelt den Rücktritt für den Fall, dass Mehrere an der Tat beteiligt sind, nicht für den Fall, dass mehrere Tatbeteiligte zurücktreten. Es findet also nicht deshalb § 24 Abs. 2 StGB (anstelle des § 24 Abs. 1 StGB) Anwendung, weil sowohl C als auch S von ihrem Vorhaben ablassen, sondern weil sie zuvor beide in den Versuch involviert waren (vgl. dazu Rotsch, Strafrechtliche Klausurenlehre, 2013, Rn. 224). Als ungeschriebene Voraussetzung des § 24 StGB ist dafür zunächst erforderlich, dass der Versuch nicht fehlgeschlagen ist.51 Hinweis: Vgl. die zutreffende Kritik an der Notwendigkeit und Leistungsfähigkeit dieses ungeschriebenen Merkmals bei Putzke, ZJS 2013, 620. 50 Etwa Rotsch (Fn. 9), Rn. 53 m.w.N. Exemplarisch Eser/Bosch, in: Schönke/Schröder (Fn. 4), § 24 Rn. 7 m.w.N. (auch zur Gegenauffassung). 51 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 419 ÜBUNGSFALL Jacob Böhringer/Markus Wagner Ein Versuch ist fehlgeschlagen, wenn der Täter (objektiv zutreffend) erkennt oder auch nur fälschlicherweise davon ausgeht, dass er die Tat mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln nicht ohne zeitliche Zäsur vollenden kann.52 Hinweis: Dies gilt nicht nur im Rahmen des § 24 Abs. 1 StGB, sondern auch bei § 24 Abs. 2 StGB (vgl. nur Rotsch, Strafrechtliche Klausurenlehre, 2013, Rn. 229). C erkennt zutreffend, dass S und er – da sie kein weiteres Gift mehr bei sich haben und auch im Übrigen unbewaffnet sind – gegenwärtig keine Möglichkeit mehr haben, K zu töten. Damit liegt ein fehlgeschlagener Versuch vor. Ein Rücktritt gem. § 24 Abs. 2 StGB scheidet daher aus. 6. Ergebnis C hat sich eines versuchten Mordes in Mittäterschaft zu Lasten des K gem. §§ 211, 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB schuldig gemacht, als S das von C hergestellte Giftpulver in den Burrito des K streute. Hinweis: Folgt man der hier vertretenen Auffassung hinsichtlich der rechtlichen Behandlung einer aberratio ictus, ist an dieser Stelle grds. eine Fahrlässigkeitstat zu Lasten des getroffenen Tatobjekts – hier: § 222 StGB zu Lasten des O – zu prüfen. Da aber C nach wie vor anwesend ist und sich bewusst dazu entschließt, nicht in das Geschehen einzugreifen, ist hier denkbar, dass nicht nur eine fahrlässige Tötung, sondern sogar eine vorsätzliche Tötung durch Unterlassen gegeben ist. Ist dies der Fall, geht sie der fahrlässigen Tötung vor und sollte daher vorrangig geprüft werden. Bilden die Bearbeiter allerdings – gut vertretbar – zwei Tatkomplexe (1. Beimischung des Giftes; 2. Während des Essens), ist eine Prüfung des § 222 StGB an dieser Stelle vertretbar; im Rahmen der Prüfung der Tötung durch Unterlassen kann dann in Bezug auf die Ingerenzgarantenstellung auf diese Ausführungen verwiesen werden. Die fahrlässige Tötung wird dann im Rahmen der Konkurrenzen von der vorsätzlichen Tötung verdrängt. Hinweis: Prüft man an dieser Stelle eine fahrlässige Tötung, darf keinesfalls leichtfertig die Vorschrift des § 25 Abs. 2 StGB (erst recht in Überschrift und Obersatz) ins Spiel gebracht werden. Zwar scheint die wohl überwiegende Auffassung mittlerweile das Konstrukt einer fahrlässigen Mittäterschaft anzuerkennen;53 ohne nähere Auseinandersetzung mit den damit verbundenen Problemen ist aber das Abstellen auf eine solche Rechtsfigur in der Klausur hochproblematisch und sollte dringend vermieden werden! IV. §§ 211, 212 Abs. 1, 13 StGB zu Lasten des O (Kein Eingreifen während des Essens) C könnte sich eines Mordes durch Unterlassen gem. §§ 211, 212 Abs. 1, 13 StGB schuldig gemacht haben, indem er nicht eingriff, als O den vergifteten Burrito verspeiste. Hinweis: Diese Prüfung ist nur dann erforderlich und sinnvoll, wenn nicht bereits eine vollendete vorsätzliche Tötung des O durch aktives Tun angenommen wurde (etwa durch Annahme eines unbeachtlichen error in persona). 1. Tatbestand a) Objektiver Tatbestand aa) Tötung eines anderen Menschen (durch Unterlassen) O ist tot. Dieser Erfolg müsste kausal und objektiv zurechenbar auf ein Verhalten des C zurückzuführen sein. Während des Essens kommt insoweit nur ein Unterlassen in Frage. Hinweis: Freilich ist der Tod des O auch kausal auf ein aktives Verhalten des C – nämlich die Herstellung des Giftes – zurückzuführen. Weder zu diesem Zeitpunkt noch im Zeitpunkt der Beimischung des Giftes durch S hatte C allerdings Vorsatz hinsichtlich einer Tötung des O (s.o. II.). Anders als ein aktives Tun kann ein Unterlassen im Rahmen eines unechten Unterlassungsdelikts nur dann ein strafrechtsrelevantes Verhalten darstellen, wenn der Unterlassende zum Handeln verpflichtet war. Gem. § 13 Abs. 1 StGB ist insoweit eine sog. Garantenstellung erforderlich. Da zwischen C und O keinerlei Obhutsverhältnis o.Ä. besteht, kommt hier nur eine Garantenstellung aus pflichtwidrigem Vorverhalten in Betracht (sog. Ingerenz). Ingerenz liegt nach überwiegender Auffassung dann vor, wenn der Unterlassende durch sorgfaltswidriges (Vor-)Verhalten eine nahe Gefahr für ein Rechtsgut geschaffen hat.54 Aus diesem Vorverhalten ergibt sich dann für den Unterlassenden die strafbewehrte Pflicht, die von ihm geschaffene Gefahr des Eintritts eines tatbestandsmäßigen Erfolges zu beseitigen. Ein solches pflichtwidriges Verhalten könnte in dem Versuch zu sehen sein, K zu vergiften. Dies müsste jedoch auch O gegenüber pflichtwidrig sein. C und S bedienen sich mit dem Gift eines Tötungsmittels, das ein Mitwirkungsverhalten des Opfers voraussetzt. Zwar wurde K über seinen Sitzplatz individualisiert und anvisiert, jedoch kann das Opferverhalten und das „Zuschnappen der Falle“ ab dem Zeitpunkt nicht mehr beeinflusst werden, in dem nur noch das Opferverhalten über den Erfolg der Tat entscheidet. Verhält sich das Opfer nicht wie vorhergesehen, ist eine Schädigung Dritter nicht auszuschließen. Die Verwendung eines solchen Mittels ist demnach im Falle des Fehlgehens der Tat jedem potentiellen Opfer gegenüber pflichtwidrig. 52 Vgl. Kühl (Fn. 1), § 16 Rn. 11 m.w.N. Vgl. die Nachweise sowie Kritik an diesen Auffassungen bei Rotsch, in: Paeffgen u.a. (Hrsg.), Strafrechtsanalyse und Konstruktion, Festschrift für Ingeborg Puppe zum 70. Geburtstag, 2011, S. 887. 53 54 Exemplarisch Stree/Bosch, in: Schönke/Schröder (Fn. 4), § 13 Rn. 32 m.w.N. _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 420 Übungsklausur: „I am the danger“ In der versuchten Vergiftung des K ist also ein Ingerenz begründendes pflichtwidriges Vorverhalten zu sehen; dies ist C auch zurechenbar. Hinweis: Damit kommt es auf den Streit, ob auch pflichtgemäßes Vorverhalten eine Garantenstellung aus Ingerenz begründen kann, nicht an (vgl. dazu Hillenkamp, 32 Probleme aus dem Strafrecht, Allgemeiner Teil, 14. Aufl. 2012, 29. Problem). Damit liegt eine Garantenstellung aus Ingerenz vor. Seiner Handlungspflicht ist C nicht nachgekommen. Ein strafrechtlich relevantes Unterlassen ist damit gegeben. Dies hat den Tod des O auch (quasi-)kausal55 sowie objektiv zurechenbar56 verursacht. dert.59 C und S lassen zu, dass O die vergiftete Portion verspeist, weil sie ihr ursprüngliches Vorhaben – die beabsichtigte Tötung des K – nicht offenbaren wollen. Es geht ihnen also nicht darum, der Strafverfolgung wegen der versuchten Tötung des K zu entgehen, sondern K von ihrem Vorhaben in Unkenntnis zu lassen, was ihnen die Möglichkeit eröffnet, einen erneuten Tötungsversuch unternehmen zu können, mit dem K nicht rechnet. Mit der Rechtsprechung des BGH kann dies jedoch richtigerweise keine Rolle spielen: Das Mordmerkmal der Verdeckungsabsicht dient nicht dem Schutz der Rechtspflege, sondern verschärft die Strafe aufgrund der Verknüpfung der Tötung mit anderem Unrecht.60 Daher ist es unschädlich, dass nicht davon auszugehen ist, dass K im Falle einer Offenbarung des Tötungsversuchs die Strafverfolgungsbehörden informiert hätte. Hinweis: Lehnt man eine Ingerenzgarantenstellung ab, ist § 222 StGB (durch aktives Tun) zu Lasten des O aufgrund der Giftbeimischung zu prüfen (dazu s.o. unter III. a.E.). Ein solches Vorgehen ist zwar vertretbar, klausurtaktisch allerdings ungeschickt, weil man sich so die – sogleich zu erörternden – Probleme im Rahmen der Prüfung der Verdeckungsabsicht „abschneidet“. bb) Heimtücke Da C die Arg- und Wehrlosigkeit des O nur in Kauf nimmt, jedoch gerade nicht bewusst ausnutzt, scheidet eine heimtückische Tötung aus.57 b) Subjektiver Tatbestand aa) Tötungsvorsatz C hatte Vorsatz in Form des sicheren Wissens (dolus directus 2. Grades). bb) Verdeckungsabsicht In Betracht kommt das Mordmerkmal „zur Verdeckung einer Straftat“, weil C nicht eingreift, um die versuchte Tötung des K (s.o. III.) nicht zu offenbaren. Dass C keine Tötungsabsicht hat, ist insoweit unschädlich.58 Es kommt nur darauf an, dass hinsichtlich der Verdeckung dolus directus 1. Grades vorliegt. Dies ist dem Grunde nach der Fall; es kommt C darauf an, dass die versuchte Tötung des K nicht ans Licht kommt. Fraglich ist dabei aber, ob es für die Annahme der Verdeckungsabsicht relevant ist, dass das Motiv des Täters darauf gerichtet sein muss, gerade strafrechtliche Konsequenzen zu vermeiden. Dies wird von weiten Teilen der Literatur gefor- STRAFRECHT Hinweis: A.A. gut vertretbar. Insbesondere lässt hier der Sachverhalt auch eine andere Deutung der Motive des C für das Nichteinschreiten während des Essens zu. Entscheidend ist eine schlüssige Argumentation anhand der sich aus dem Sachverhalt ergebenden Informationen über die Gesamtsituation. Weiterhin stellt sich die Frage, ob Verdeckungsabsicht auch bei Tötungen durch Unterlassen möglich ist. Während der BGH früher davon ausging, dass Unterlassen und Verdeckungsabsicht sich gegenseitig ausschließen,61 wurde diese Auffassung inzwischen aufgegeben.62 Anders als in denjenigen Fällen, in denen der Täter das fahrlässig verletzte Unfallopfer im Stich lässt, um seiner Ergreifung zu entgehen, lässt sich hier gegen eine Verdeckungsabsicht nicht einwenden, dass der Tod sich nur reflexhaft aus der der Verdeckung dienenden Flucht ergebe.63 Folglich handelte C in Verdeckungsabsicht. Hinweis: Auch hier ist die Gegenauffassung gut vertretbar. 2. Rechtswidrigkeit und Schuld C handelte rechtswidrig und schuldhaft. Hinweis: Ausführungen zu §§ 34, 35 StGB sind fernliegend. Eine Rechtfertigung oder Entschuldigung muss hier jedenfalls daran scheitern, dass C die Konfliktsituation selbst verursacht hat. Erwägungen hinsichtlich des nemo tenetur-Grundsatzes scheitern zum einen daran, dass keine Strafverfolgungsorgane anwesend sind; zum anderen geht 59 55 Vgl. zur Begrifflichkeit Kühl (Fn. 1), § 18 Rn. 35 f. Zur objektiven Zurechnung bei unechten Unterlassungsdelikten Kölbel, JuS 2006, 309. 57 Generell krit. zur Heimtücke bei Tötungen durch Unterlassen vgl. Neumann (Fn. 39), § 211 Rn. 72a m.w.N. 58 Siehe etwa Küper (Fn. 27), 348 f.; Neumann (Fn. 39), § 211 Rn. 101 m.w.N. 56 Vgl. Buttel/Rotsch, JuS 1996, 327 (329); Heghmanns, Strafrecht für alle Semester, Besonderer Teil, 2009, Rn. 212; Schneider (Fn. 38), § 211 Rn. 225; Theile, ZJS 2011, 405 (407 f.). 60 Vgl. BGHSt 41, 8 (9 f.); BGH NStZ 1999, 243; BGH NStZ 1999, 615. 61 Etwa BGHSt 7, 287. 62 Vgl. BGH NStZ 1992, 125; BGHSt 38, 356 (361); 41, 358. 63 Etwa (gegen die Rspr. des BGH in diesen Fällen) Neumann (Fn. 39), § 211 Rn. 104 m.w.N. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 421 ÜBUNGSFALL Jacob Böhringer/Markus Wagner die Tötung weit über eine Selbstbelastung hinaus, was auch durch die Annahme der Verdeckungsabsicht deutlich wird. 3. Ergebnis C ist eines Mordes durch Unterlassen gem. §§ 211, 212 Abs. 1, 13 StGB schuldig. Hinweis: Nicht zielführend sind Ausführungen zu § 323c StGB: Bejaht man eine vorsätzliche Tötung des O durch Unterlassen, tritt eine eventuell einschlägige unterlassene Hilfeleistung jedenfalls hinter dieser zurück.64 Lehnt man eine solche ab, ist jedenfalls eine fahrlässige Tötung des O durch die Beigabe des Giftpulvers zu bejahen, die ihrerseits § 323c StGB verdrängt.65 Auf die Frage, ob auch eine solche Hilfeleistung noch zumutbar ist, die zwangsläufig zu einer Offenlegung der eigenen Beteiligung an der Tat führt, die für das Opfer den Unglücksfall begründet,66 kommt es daher im Ergebnis nicht an. V. § 123 Abs. 1 Var. 1 StGB C könnte sich wegen Hausfriedensbruchs gem. § 123 Abs. 1 Var. 1 StGB strafbar gemacht haben, indem er in Tötungsabsicht das Haus des K betrat. Das Haus des K ist als befriedetes Besitztum ein taugliches Tatobjekt. Fraglich ist freilich, ob C in dieses auch widerrechtlich eingedrungen ist. Eindringen ist das Betreten des befriedeten Besitztums entgegen den erklärten (oder mutmaßlichen) Willen des Berechtigten.67 K hat C zu sich eingeladen. Dies stellt insoweit ein tatbestandsausschließendes Einverständnis dar.68 An der Wirksamkeit eines solchen Einverständnisses könnte jedoch dann zu zweifeln sein, wenn – wie hier – die eingeladene Person dem Berechtigten Absichten verschweigt, bei deren Kenntnis der Berechtigte eine Einladung nie ausgesprochen hätte.69 Eine derartige Reduktion des tatbestandsausschließenden Einverständnisses kann jedoch nicht überzeugen, da § 123 StGB nur den tatsächlichen, nicht aber den hypothetischen Willen des Berechtigten schützt.70 Somit schließt das Einverständnis des K eine Strafbarkeit des C wegen Hausfriedensbruchs aus. VI. Konkurrenzen und Gesamtergebnis C hat sich durch die Vergiftung des Burritos eines versuchten Mordes zu Lasten des K gem. §§ 211, 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB sowie durch das anschließende Nichteingreifen eines Mordes durch Unterlassen zu Lasten des O gem. §§ 211, 212 Abs. 1, 13 StGB schuldig gemacht. Fraglich ist, wie sich diese beiden Taten zueinander verhalten. Denkbar ist eine Handlungseinheit kraft einer „Handlung im natürlichen Sinne“; diese setzt eine einheitliche Willensbetätigung voraus.71 Dies ist jedoch nicht der Fall: C fasst, als O den vergifteten Burrito zu sich nimmt, den neuen Tatentschluss, nicht einzugreifen. In Betracht kommt jedoch eine normative Handlungseinheit. Eine solche erfordert nach der Rechtsprechung des BGH eine gleichartige Begehungsweise und einen unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang, der für einen Dritten ein erkennbar einheitliches Geschehen nahe legt.72 Diese Voraussetzungen sind hier gegeben: Das Unterlassen während des Essen folgt der Giftbeimischung unmittelbar nach und stellt sich auch in der Sache als dessen logisch Konsequenz dar. Daher ist hier Handlungseinheit anzunehmen. Hinweis: A.A. vertretbar. Lehnt man eine normative Handlungseinheit ab, liegt Handlungsmehrheit vor. Da keine Gesetzeskonkurrenz besteht, stehen die Taten dann in Tatmehrheit gem. § 53 StGB. Da keine Gesetzeskonkurrenz vorliegt, stehen die beiden Taten damit in Tateinheit, § 52 StGB. C ist daher insgesamt strafbar gem. §§ 211, 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1; 211, 212 Abs. 1, 13; 52 StGB. 64 Vgl. exemplarisch Sternberg-Lieben/Hecker, in: Schönke/ Schröder (Fn. 4), § 323c Rn. 30 m.w.N. 65 Etwa Sternberg-Lieben/Hecker (Fn. 64), § 323c Rn. 30. 66 Vgl. dazu Freund, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 5, 2. Aufl. 2014, § 323c Rn. 98 ff. m.w.N. 67 Vgl. Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (Fn. 4), § 123 Rn. 12 m.w.N. aus Rspr. und Lit. 68 Etwa Küper (Fn. 27), S. 121. 69 Vgl. insoweit die Ausführungen zu verdeckten Ermittlern bspw. bei Sternberg-Lieben (Fn. 67), § 123 Rn. 22. 70 Vgl. Küper (Fn. 27), S. 122. 71 72 Dazu allgemein Kühl (Fn. 1), § 21 Rn. 7. Vgl. BGHSt 10, 231; dazu Kühl (Fn. 1), § 21 Rn. 10 ff. _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 422 BGH, Urt. v. 16.5.2014 – V ZR 181/13 Gsell _____________________________________________________________________________________ E nt s ch ei d ung s be sp rec h u ng Beseitigungsanspruch aus § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB bei Störung des Grundstückseigentums durch unterirdische Stromleitungen Ein Eigentümer, der die Inanspruchnahme seines Grundstücks durch einen Nachbarn (hier: durch unterirdisch verlegte Leitungen) jahrzehntelang gestattet hat, verliert hierdurch nicht das Recht, die Gestattung zu widerrufen und anschließend seine Ansprüche aus § 1004 BGB geltend zu machen. (Amtlicher Leitsatz) BGB §§ 242, 1004 BGH, Urt. v. 16.5.2014 – V ZR 181/13 (LG Frankenthal, AG Bad Dürkheim)1 Die Entscheidung behandelt eine Grundkonstellation des negatorischen Beseitigungsanspruches aus § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB und zwar die Beeinträchtigung fremden Grundeigentums durch von Grundstücksnachbarn veranlasste Störungen. Konkret geht es um die Verjährung des Anspruches aus § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB und deren Wirkungen sowie die Voraussetzungen einer Verwirkung. Allerdings liefert das Urteil über diese Einzelaspekte hinaus einen anschaulichen Beleg für die rechtlichen Auswirkungen der unterschiedlichen dogmatischen Positionen in dem Grundsatzstreit um das richtige Verständnis der negatorischen Beseitigungshaftung, wie er seit Erscheinen der Bonner Dissertation Eduard Pickers aus dem Jahre 19722 andauert. Es ist gerade deshalb für Studierende besonders lehrreich. I. Einleitung In dem vorliegend vom BGH entschiedenen Streitfall geht es um benachbarte Grundstücke. Das klägerische Grundstück ist unbebaut, während auf den Grundstücken der beklagten Nachbarn Wochenendhäuser stehen. Die Klägerin, die ihr Grundstück erst im Jahre 2011 erworben hat, verlangt von den Nachbareigentümern die Beseitigung von Stromleitungen. Diese waren im Jahre 1979 von einem Zählerkasten auf einem Wirtschaftsweg aus unter Durchquerung des klägerischen Grundstückes zu den Grundstücken der Beklagten verlegt worden. Dies geschah seinerzeit in Eigenregie durch die Beklagten, aber mit Zustimmung des damaligen Eigentümers des klägerischen Grundstückes. Eine dingliche Absicherung der Gestattung durch eine Grunddienstbarkeit nach § 1018 BGB oder eine beschränkt-persönlichen Dienstbarkeit nach § 1090 BGB war nicht erfolgt. Dabei liegt der Fall offenbar so, dass ein Anschluss der Grundstücke der Beklagten an das Stromnetz auch ohne Inanspruchnahme fremder Grundstücke möglich wäre und dies, ohne unverhältnismäßige Kosten zu verursachen. Auch wenn sich der BGH in casu nicht mehr mit den Voraussetzungen der Eigentumsbeeinträchtigung gem. § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB befasst, sondern allein mit den Wirkungen der Verjährung des Beseitigungsanspruches sowie den Voraussetzungen einer Verwirkung, so bietet der zugrunde liegende Sachverhalt doch Anlass, den Grundsatzstreit um Natur und Reichweite der negatorischen Haftung anschaulich zu machen. Denn wenn man den Fall nicht auf der Grundlage der ständigen Rechtsprechung, sondern nach der von Picker begründeten sog. Theorie von der Rechtsusurpation löst, dann ist vorliegend möglicherweise schon eine Eigentumsbeeinträchtigung durch die Beklagten zu verneinen und besteht ihnen gegenüber ggf. gar kein Beseitigungsanspruch aus § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB. Davon abgesehen unterfällt ein solcher Anspruch nach Auffassung von Picker bei Störung von Grundstückseigentum, anders als vorliegend vom BGH angenommen, § 902 Abs. 1 S. 1 BGB, ist also unverjährbar.3 II. Weites Verständnis des negatorischen Beseitigungsanspruches durch die Rspr. im Sinne einer Kausalhaftung 1. Großzügige Bejahung einer abwehrfähigen Eigentumsbeeinträchtigung Die Rechtsprechung bejaht traditionell die Voraussetzungen des § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB großzügig im Sinne einer verschuldensunabhängigen Kausalhaftung schon dann, wenn das Verhalten einer Person oder der Zustand ihrer Sache zu einer Beeinträchtigung fremden Eigentums geführt hat.4 Eine Eigentumsbeeinträchtigung wird damit in jedem dem Inhalt des Eigentums widersprechenden Zustand gesehen.5 Waren beispielsweise von einer Halde Gesteinsmassen auf das Nachbargrundstück gerutscht, so hielt schon das Reichsgericht die Eigentümer der Halde für verpflichtet, den Schutt vom Nachbargrundstück zu entfernen und den früheren Zustand des Grundstückes wieder herzustellen.6 § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB gewährt nach diesem Verständnis einen mehr oder weniger weitreichenden Folgenbeseitigungsanspruch. 2. Problem der Abgrenzung zur verschuldensabhängigen Deliktshaftung Die niedrigen Anforderungen der Rechtsprechung an die zu beseitigende Eigentumsbeeinträchtigung i.S.v. § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB verursacht allerdings einen Grundkonflikt mit dem Grundsatz, dass sich nach dem BGB nur derjenige schadensersatzpflichtig macht, der schuldhaft gehandelt hat. Die Recht- 1 Die Entscheidung ist abrufbar unter: http://juris.bundesgerichtshof.de/cgibin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&sid= dd50731f6b4aeb03d0d32f24d04f7d4a&nr=68175&pos=0&a nz=1&Blank=1.pdf (10.7.2014). 2 Picker, Der negatorische Beseitigungsanspruch, 1972; näher dazu auch jüngst Katzenstein, VersR 2013, 815 mit umfangr. Nachw. 3 Näher Picker, JuS 1974, 357; Katzenstein, VersR 2013, 815 (821 f.). 4 Nachw. bei Picker (Fn. 2), S. 19 ff.; Baldus, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2013, § 1004 Rn. 57 ff. 5 So die ständige Rspr., siehe nur BGH NJW 2005, 1366 (1367) m.w.N. 6 RGZ 51, 408 (411). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 423 BGH, Urt. v. 16.5.2014 – V ZR 181/13 Gsell _____________________________________________________________________________________ sprechung hat auf der Grundlage ihres weiten Verständnisses des § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB mithin das Problem, den negatorischen Beseitigungsanspruch insbesondere von der deliktsrechtlichen Schadensersatzhaftung abzugrenzen. Dabei ist zwar auch in der Rechtsprechung anerkannt, dass nicht sämtliche Folgen einer Eigentumsstörung nach § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB verschuldensunabhängig beseitigt werden müssen. Der Störer soll nur die fortdauernde Eigentumsbeeinträchtigung beseitigen müssen, wozu jedenfalls die Störungsquelle rechne sowie die Beseitigung solcher Eigentumsbeeinträchtigungen, die zwangsläufig durch die Beseitigung der primären Störung entstünden. Weitere Störungsfolgen sollen dagegen nicht nach § 1004 BGB zu beseitigen sein.7 Danach ist beispielsweise bei vom Nachbargrundstück auf einen Tennisplatz herüberwachsenden Pappelwurzeln die Beseitigung der störenden Baumwurzeln geschuldet sowie die anschließende Wiederherstellung der Tennisplätze, deren Beschädigung zwangsläufig durch das Beseitigen des Wurzelwerks eintritt.8 Eine zuverlässige trennscharfe Abgrenzung der nicht zu beseitigenden weiteren Folgen ist der Rechtsprechung aber niemals gelungen.9 III. Pickers engere Theorie von der Rechtsusurpation 1. Abwehrfähige Eigentumsbeeinträchtigung nur bei Rechtsusurpation Im Gegensatz zur Rechtsprechung sieht Picker in § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB keinen „kleinen“ Schadensersatzanspruch, sondern parallel zu § 985 BGB einen auf die Verwirklichung des Eigentums gerichteten dinglichen Anspruch. Danach ist § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB anders als ein Schadensersatzanspruch nicht auf Haftung wegen eines in der Vergangenheit liegenden verpflichtenden Verhaltens gerichtet, sondern auf Beseitigung einer gegenwärtigen Beeinträchtigung des dinglichen Rechts10 im Sinne einer „tatsächliche[n] Inanspruchnahme des Eigentums durch einen Dritten11“. Eine solche ergibt sich nicht bereits aus einer in der Vergangenheit liegenden physischen Beeinträchtigung der Sache, sondern erfordert eine „Rechtsusurpation“, d.h. eine aktuelle Inanspruchnahme der Eigentümerposition durch einen Dritten. Es muss „das Eigentum von einer fremden Rechtssphäre überlagert“ werden, ein „‚Stück Eigentum‘ durch einen Dritten ausgeübt“ werden, „das, was dem Gestörten fehlt, der Störer inneha[ben]“.12 2. Anspruch allein auf Rückzug in den eigenen Rechtskreis Parallel dazu, dass die Theorie von der Rechtsusurpation die Voraussetzungen einer Eigentumsbeeinträchtigung deutlich restriktiver fasst als die Rechtsprechung, begrenzt sie auch 7 Siehe nur BGH NJW 2005, 1366 (1367 f.) m.w.N. BGHZ 135, 235, zit. nach juris Rn. 10. 9 Dies belegt anschaulich die Fallgruppe der Bodenkontamination, lesenswert dazu etwa die in Fn. 7 zitierte Entscheidung. 10 Picker, JuS 1974, 357 (359). 11 Picker (Fn. 2), S. 50. 12 Picker (Fn. 2), S. 50 f. 8 den Inhalt des Beseitigungsanspruchs eng. Danach erschöpft sich der Anspruch aus § 1004 Abs. 1 S. 1 darin, dass der Störer „der Ausübung des Eigentums durch den Berechtigten in Zukunft nicht mehr im Wege steht“. Geschuldet wird keine Folgenbeseitigung, sondern „die Aufgabe der rechtsusurpierenden Position“, „die Korrektur des eigenen Rechtskreises“.13 In dem Pappel-Beispiel14 müsste der Eigentümer des mit Pappeln bewachsenen Grundstückes sich also nach der Theorie von der Rechtsusurpation allenfalls15 an seine Grundstücksgrenze zurückziehen und dafür sorgen, dass von seinem Grundstück keine Wurzeln mehr zum Nachbarn. Die Wurzeln auf dem Nachbargrundstück müsste er ebenfalls entfernen, da diese wesentliche Bestandteile der Pappeln und damit nach § 94 Abs. 1 S. 1 BGB auch des Pappel-Grundstücks geblieben sind.16 Folglich liegt insoweit eine Rechtsusurpation vor, weil der Eigentümer des Grundstücks, auf dem die Pappeln stehen, für die weiterhin ihm gehörenden hinüberragenden Wurzeln das fremde Nachbargrundstück in Anspruch nimmt.17 Der Beseitigung der hinüber gewachsenen Wurzeln könnte er sich allerdings entziehen durch das Fällen der Bäume und die Aufgabe des Eigentums an den Wurzeln.18 Denn dann würde er nicht mehr länger für eigene Sachen (konkret: eigene Baumwurzeln) das fremde Grundstück des Nachbarn in Anspruch nehmen. Der Nachbar könnte diese – nicht mehr dem Eigentümer des Pappel-Grundstückes gehörenden Wurzeln – vielmehr nach § 903 BGB in Ausübung seiner Grundstückseigentümer-Befugnisse selbst beseitigen, ohne in fremdes Eigentum einzugreifen. Dagegen hätte der Eigentümer des Grundstückes mit den Pappeln keinesfalls den Belag der nachbarlichen Tennisplätze zu erneuern. Denn dieser Belag ist nach § 94 Abs. 1 S. 1 BGB wesentlicher Bestandteil des Nachbargrundstücks, so dass es insoweit an einer Rechtsusurpation durch den Eigentümer des PappelGrundstückes fehlt. 13 Picker (Fn. 2), S. 157. Siehe vor und mit Fn. 8. 15 Sofern allerdings die Pappeln überhaupt gar nie von Menschenhand gepflanzt worden wären, sondern natürlich gewachsen wären, könnte der Nachbar nicht einmal dies verlangen, da es sich dann bei der Wurzeleinwirkung um eine natürliche Eigenschaft seines Grundstücks handeln würde, siehe Picker (Fn. 2), S. 104 f. 16 Vgl. zu den Eigentumsverhältnissen in solchen Fällen hinüberwachsender Baumwurzeln J.F. Baur, in: Soergel, Kommentar zum BGB, 13. Aufl. 2002, § 910 Rn. 2 m.w.N. 17 Zum Verhältnis zum Selbsthilferecht aus § 910 BGB siehe Picker (Fn. 2), S. 168 ff.; ders., JuS 1974, 357 (359 ff.), für Konkurrenz zwischen Selbsthilferecht und Anspruch aus § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB auch der BGH, siehe nur BGHZ 60, 235. 18 Zum Wegfall der störenden Beeinträchtigung durch Dereliktion Picker (Fn. 2), S. 113 ff.; abl. etwa Baldus (Fn. 4), § 1004 Rn. 81 ff. m.w.N. 14 _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 424 BGH, Urt. v. 16.5.2014 – V ZR 181/13 Gsell _____________________________________________________________________________________ 3. Theorie von der Rechtsusurpation dogmatisch überzeugender Pickers Theorie von der Rechtsusurpation vermeidet nicht nur Abgrenzungsprobleme zur deliktsrechtlichen Schadensersatzhaftung, sondern vermag die Ratio der verschuldensunabhängigen Haftung aus § 1004 BGB als auf Eigentumsverwirklichung gerichteten dinglichen Anspruch parallel zur Vindikation aus § 985 BGB schlüssig zu erklären. Hält man das deliktsrechtliche Verschuldenserfordernis nicht grundsätzlich für korrekturbedürftig, so kann man ihr auch nicht vorwerfen, dass sie zu unbilligen Ergebnissen führe.19 Sie findet deshalb zu Recht zunehmend Anhänger in der Literatur und billigenden Eingang in die Kommentarliteratur.20 IV. Voraussetzungen der Eigentumsbeeinträchtigung im Streitfall Folgt man Pickers Auffassung, so ist auch in dem der vorliegenden Entscheidung zugrunde liegenden Streitfall zweifelhaft, ob überhaupt eine nach § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB abwehrfähige Eigentumsbeeinträchtigung vorliegt. Die Entscheidung setzt sich auf der Grundlage der ständigen Rechtsprechung mit der Frage der Rechtsusurpation nicht auseinander. Eine Anmaßung fremden Eigentums im Sinne einer Rechtsusurpation ergibt sich nicht bereits aus dem Umstand, dass die Beklagten bzw. deren Rechtsvorgänger die Stromkabel in der Vergangenheit verlegt haben. Sie würde vielmehr voraussetzen, dass deren Lage im Grundstück der Klägerin aktuell eine Anmaßung von Eigentümerbefugnissen darstellt, die nach § 903 BGB rechtlich allein der Klägerin zugewiesen sind.21 Das ist aber dann nicht der Fall, wenn die Stromleitungen nach § 94 Abs. 1 S. 1 BGB Eigentum der Klägerin wurden, was sich dem Urteil jedoch nicht zweifelsfrei entnehmen lässt.22 Dann steht es der Klägerin im Rahmen ihrer Eigentümerbefugnisse nach § 903 S. 1 BGB ohnehin grundsätzlich23 frei, die Leitungen zu beseitigen. Eine Überlagerung der Eigentümerbefugnisse der Klägerin durch die Rechtssphäre der Beklagten ist dann nicht gegeben, mithin eine Beeinträchtigung nach § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB zu verneinen. Stünden die Stromleitungen hingegen als sog. Scheinbestandteile im Sinne von § 95 Abs. 1 S. 1BGB im Eigentum der Beklagten, 19 Siehe aber etwa Baldus (Fn. 4), § 1004 Rn. 81, der allein eine Aufrechterhaltung der Störerhaftung trotz Dereliktion für akzeptanzfähig hält. 20 Siehe nur Gursky, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2012, § 1004 Rn. 3 ff.; im Grundsatz auch Baldus (Fn. 4), § 1004 Rn. 6, 81 ff., 93, der aber den Störer anders als Picker trotz Aufgabe des Eigentums (Dereliktion) weiter haften lassen möchte; w. Nachw. zum Meinungsstand bei Katzenstein, VersR 2013, 815 (818 Rn. 29.). 21 Kritisch gegenüber der mangelnden Klärung der Eigentumslage an den unerwünschten Gegenständen in BGH NJW 2011, 1068 Katzenstein, VersR 2013, 815 (816 f.). 22 In BGH, Urt. v. 16.5.2014 – V ZR 181/13, Rn. 5 der Entscheidungsgründe heißt es lediglich, dass es sich nicht um Leitungen des Energieversorgers handle. 23 Zur mangelnden Bindung an die vom Voreigentümer erteilte schuldrechtliche Gestattung siehe sogleich unter VI. weil sie nur zu einem vorübergehenden Zweck im Grundstück der Klägerin verlegt worden wären, dann wäre eine Inanspruchnahme des klägerischen Eigentums durch die Beklagten gegeben und wären die Beklagten nach § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB dazu verpflichtet, sich in ihren Rechtskreis zurückzuziehen. Zu diesem Zweck hätten sie die Leistungen zu entfernen. Alternativ dazu könnten sie das Eigentum an den Leitungen aufgeben mit der Folge, dass der Anspruch aus § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB erlöschen würde, weil die Klägerin dann nicht mehr länger durch entgegenstehendes fremdes Eigentum der Beklagten rechtlich gehindert wäre, selbst Hand anzulegen und die Leitungen zu beseitigen. V. Verjährbarkeit des Beseitigungsanspruches des Grundstückseigentümers? 1. BGH: Keine Unverjährbarkeit, aber dauerhaftes Selbsthilferecht Was nun die Frage der Verjährung des vorliegend vom BGH bejahten Beseitigungsanspruches aus § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB anbelangt, so bestätigt der BGH seine bisherige Rechtsprechung.24 Danach unterliegt auch der Anspruch des Grundstückseigentümers aus § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB der Verjährung und es greift insoweit also die Unverjährbarkeitsanordnung in § 902 Abs. 1 S. 1 BGB nicht ein. Die Verjährung hat nach Auffassung des BGH jedoch nicht die Folge, dass der Eigentümer des gestörten Grundstückes die Beeinträchtigung auch in Zukunft hinzunehmen habe, begründet also keine Duldungspflicht nach § 1004 Abs. 2 BGB gegenüber den Störern, sondern führt lediglich dazu, dass der Anspruch auf Beseitigung nicht mehr durchsetzbar ist. Der Eigentümer bleibt aber nach § 903 S. 1 BGB berechtigt, die Beeinträchtigung seines Eigentums durch Entfernung des störenden Gegenstandes von seinem Grundstück selbst zu beseitigen. 2. Theorie von der Rechtsusurpation: Unverjährbarkeit nach § 902 Abs. 1 S. 1 BGB Zu dem Ergebnis, dass die Klägerin dauerhaft berechtigt ist, die störenden Stromleitungen selbst zu beseitigen, gelangt man auch auf der Grundlage der Theorie von der Rechtusurpation, dies allerdings nur, wenn man unterstellt, dass kein Anspruch aus § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB gegeben ist, weil die Stromleitungen in das Eigentum der Klägerin gelangt sind.25 Denn dann ist die Klägerin schlicht kraft ihrer Eigentümerbefugnisse aus § 903 S. 1 BGB grundsätzlich befugt, die Stromleitungen zu entfernen. Die mit dem Eigentum als absolutem Recht einhergehenden Befugnisse nach § 903 BGB verjähren als solche schon deshalb nicht, weil es sich dabei nicht um Ansprüche handelt.26 Stehen hingegen die im Grundstück der Klägerin liegenden Stromleitungen im Eigentum der Beklagten und ist deshalb ein Anspruch aus § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB gegeben,27 so 24 Grdlgd. BGHZ 60, 235, und ferner BGH, Urt. v. 16.5.2014 – V ZR 181/13, Rn. 8. 25 Dazu näher unter IV. 26 Siehe § 194 Abs. 1 BGB. 27 Näher dazu unter IV. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 425 BGH, Urt. v. 16.5.2014 – V ZR 181/13 Gsell _____________________________________________________________________________________ hat die Klägerin nach der Theorie der Rechtsusurpation grundsätzlich28 gerade kein Selbsthilferecht zur Beseitigung, sondern ist eben auf den Beseitigungsanspruch aus § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB verwiesen.29 Allerdings ist, anders als vom BGH angenommen, nach der Theorie von der Rechtsusurpation § 902 Abs. 1 S. 1 BGB anwendbar, der negatorische Beseitigungsanspruch des Grundstückseigentümers also unverjährbar.30 Dies ist auch folgerichtig. Denn setzt § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB hiernach eine fortwährende rechtliche Inanspruchnahme fremden Eigentums voraus und kann auch nur der Rückzug des Störers in den eigenen Rechtskreis verlangt werden, dann geht es gerade nicht um Schadensersatz, der nach § 902 Abs. 1 S. 2 BGB von der Unverjährbarkeit ausgenommen ist, sondern um eine andauernde rechtswidrige Verkürzung der dem im Grundbuch eingetragenen Eigentümer als solchem zustehenden Befugnisse.31 VI. Keine Bindung des Einzelrechtsnachfolgers an die Gestattung der Störung durch den Voreigentümer Das vom BGH im aktuellen Urteil bejahte und unter der Prämisse eines Eigentumserwerbs der Klägerin an den störenden Stromkabeln im Ergebnis auch nach der Theorie von der Rechtsusurpation gegebene Selbsthilferecht der Klägerin auf deren Entfernung32 würde allerdings entfallen, wenn eine Duldungspflicht aus § 1004 Abs. 2 BGB bestünde.33 Zu Recht verneint jedoch der BGH mangels dinglicher Absicherung eine Bindung der Klägerin als Einzelrechtsnachfolgerin an die vom Voreigentümer erteilte Gestattung.34 Zutreffend konstatiert der Senat weiter, dass kein Miet- oder Pachtvertrag mit den Beklagten vorliegt und deshalb die Klägerin auch nicht nach § 566 BGB (in Verbindung mit § 578 Abs. 1 bzw. §§ 581 Abs. 2, 593b BGB) an schuldrechtliche Verpflichtungen des Voreigentümers gegenüber den Beklagten gebunden sei.35 Schließlich stellt der BGH richtig fest, dass auch im Kaufvertrag zwischen dem ehemaligen Eigentümer und der Klägerin keine Duldungspflicht der Klägerin begründet wurde, was entweder eine Schuldübernahme nach § 415 BGB oder die Vereinbarung einer Duldungspflicht zugunsten den Beklagten als Dritten nach § 328 BGB vorausgesetzt hätte.36 Dabei betont der BGH zutreffend, dass die bloße Kenntnis des Käufers von der Beeinträchtigung der Kaufsache nicht den Schluss 28 Siehe aber vor und mit Fn. 17. Ausf. gegen ein Selbsthilferecht in solchen Situationen Katzenstein, VersR 2013, 815 (820 f.). 30 Siehe die Nachw. in Fn. 3. 31 Näher zur Unverjährbarkeit des negatorischen Beseitigungsanspruches des Grundstückseigentümers auf der Grundlage der Theorie von der Rechtsusurpation Picker, JuS 1974, 357; Katzenstein, VersR 2013, 815. 32 Siehe oben V. 2. 33 Siehe BGH, Urt. v. 16.5.2014 – V ZR 181/13, Rn. 9. 34 Siehe BGH, Urt. v. 16.5.2014 – V ZR 181/13, Rn. 12, unter Verweis auf BGH NJW-RR 2008, 827 Rn. 7. 35 Siehe BGH, Urt. v. 16.5.2014 – V ZR 181/13, Rn. 13. 36 Siehe BGH, Urt. v. 16.5.2014 – V ZR 181/13, Rn. 13. 29 auf eine konkludente Schuldübernahme- oder Schuldbeitrittsvereinbarung zulässt.37 VII. Keine Verwirkung des Selbsthilferechts Die aktuelle Entscheidung setzt sich schließlich noch mit der Frage auseinander, ob der Eigentümer die vom BGH bejahte Selbsthilfebefugnis nach § 242 BGB verwirkt hat.38 Insoweit überzeugt es, wenn der BGH eine illoyal verspätete Geltendmachung des Selbsthilferechts aufgrund jahrzehntelanger Duldung der Stromkabel durch den Voreigentümer des klägerischen Grundstücks schon deshalb verneint, weil dieser den Beklagten die Verlegung der Stromleitungen erlaubt hatte und sich folglich für ihn die Inanspruchnahme seines Grundstückes als rechtmäßig darstellte.39 Zutreffend weist der BGH in diesem Kontext darauf hin, dass der Eigentümer durch eine solche jahrzehntelange Duldung der Nutzung seines Grundstückes nicht das Recht verliert, die Gestattung zu widerrufen, weil andernfalls ein Grundstückseigentümer, schon um einen Rechtsverlust durch Verwirkung zu vermeiden, nach einer gewissen Zeitspanne gegen den Nachbarn vorgehen müsste, auch wenn im Übrigen kein Anlass zum Widerruf der Gestattung oder zur Kündigung eines Leih- oder Duldungsvertrages bestehe.40 Dabei weist der Senat schließlich noch darauf hin, dass bei Verträgen über die Verlegung von Leitungen, die darauf angelegt sind, nicht vor dem Wegfall ihres Zwecks entfernt zu werden, eine freie Widerruflichkeit einer Gestattung zwar möglicherweise verneint werden müsse und diese nur ggf. nur nach § 605 Nr. 1 BGB wegen eines nicht vorhergesehenen Eigenbedarfs oder nach § 314 Abs. 1 BGB aus wichtigem Grund gekündigt werden könnte. Dies ändere jedoch nichts daran, dass auch bei diesen Leitungen die Befugnis zur Nutzung des Grundstücks auf einem Vertrag mit dem Eigentümer beruhe und mit dem Ende des Vertragsverhältnisses erlösche. VIII. Fazit Sieht man in § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB anders als die Rechtsprechung keine Kausalhaftung für rechtswidrige Störungen, sondern mit Picker einen der Verwirklichung des Eigentums dienenden dinglichen Anspruch, so setzt eine Eigentumsbeeinträchtigung i.S.v. § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB die andauernde Anmaßung fremder Eigentümerbefugnisse voraus und kann vom Störer ggf. nur der Rückzug in den eigenen Rechtskreis verlangt werden. In Fällen, in denen sich auf einem Grundstück unerwünschte Gegenstände wie Stromleitungen, Blätter, Wurzeln, Gebäudeteile, Schutt etc. befinden, kommt es danach darauf an, in wessen Eigentum diese stehen. 37 Siehe BGH, Urt. v. 16.5.2014 – V ZR 181/13, Rn. 15 m.w.N. 38 Siehe BGH, Urt. v. 16.5.2014 – V ZR 181/13, Rn. 16 ff. 39 Siehe BGH, Urt. v. 16.5.2014 – V ZR 181/13, Rn. 20 f. 40 Siehe BGH, Urt. v. 16.5.2014 – V ZR 181/13, Rn. 21. _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 426 BGH, Urt. v. 16.5.2014 – V ZR 181/13 Gsell _____________________________________________________________________________________ Wo diese Gegenstände, so wie möglicherweise im Streitfall,41 nicht (mehr) dem Eigentümer des Nachbargrundstückes gehören, von dem aus sie auf das gestörte Grundstück gelangten, kann dessen Eigentümer mangels andauernder Beeinträchtigung seines Eigentums durch den Nachbarn i.S.v. § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB von diesem keine Beseitigung verlangen. Vielmehr kann und muss sich der Eigentümer des Grundstückes, auf dem sich die Gegenstände befinden, in Ausübung seiner als solchen unverjährbaren Eigentümerbefugnisse nach § 903 BGB grundsätzlich selbst helfen, soweit er sich nicht dem Eigentümer des Nachbargrundstückes gegenüber zur Duldung verpflichtet hat, wobei eine nur schuldrechtliche Gestattung den Einzelrechtsnachfolger des Eigentümers des gestörten Grundstückes nicht bindet. Liegt dagegen eine Rechtsusurpation in Gestalt einer Inanspruchnahme eines fremden Grundstückes für das Deponieren eigener Sachen vor, so fehlt es entgegen dem BGH grundsätzlich an einem Selbsthilferecht, greift aber § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB zugunsten des Grundstückseigentümers ein, wobei auch hier entgegen der Rechtsprechung nur ein Rückzug des Störers in den eigenen Rechtskreis verlangt werden kann. Anders als vom BGH angenommen, ist dieser, eine dauernde Verkürzung der Eigentümerbefugnisse verhindernde Anspruch ggf. nach § 902 Abs. 1 S. 1 BGB unverjährbar. Prof. Dr. Beate Gsell, München 41 Dazu, dass das Urteil die Eigentumsverhältnisse an den Stromleitungen offen lässt, siehe unter IV. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 427 OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 Fehling/Waldmann _____________________________________________________________________________________ E nt s ch ei d ung s be sp rec h u ng Nachbarklage gegen baurechtliche Befreiung – Asylbewerberunterkunft 1. Die Befristung einer Befreiung – hier für die Dauer von zwei Jahren – von den Festsetzungen eines Bebauungsplans schließt nicht aus, dass die Grundzüge der Planung durch die Befreiung berührt werden. 2. Wohn- oder wohnähnliche Nutzungen, die keinen Bezug zu einem vorhandenen Gewerbebetrieb haben, dürften in einem Gewerbebetrieb abstrakt gebietsunverträglich sein, selbst wenn sie rechtlich als Anlage für soziale Zwecke einzustufen sind. 3. Auf der Basis der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Herleitung des Gebietserhaltungsanspruchs eines Grundeigentümers besteht keine Veranlassung, Festsetzungen des Plangebers zur Art der Nutzung auf Grund von § 1 Abs. 6 BauNVO – hier den Ausschluss möglicher Ausnahmen nach § 8 Abs. 3 BauNVO – von der Berufung auf die Einhaltung der Art der festgesetzten Nutzung auszunehmen. (Amtliche Leitsätze) BauGB § 30 Abs.1, § 31 Abs. 2 BauNVO § 1 Abs. 6, § 8 Abs. 3 OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 (VG Hamburg)1 I. Problemstellung und Examensrelevanz Die auf den ersten Blick wenig spektakuläre Entscheidung hat verschiedene äußerst prüfungsrelevante Grundfragen des Bauplanungsrechts zum Gegenstand. Erstens betrifft dies die Gestaltungsmöglichkeiten des Plangebers bei den Festsetzungen im Bebauungsplan zur Art der baulichen Nutzung. Den Schwerpunkt bilden zweitens die Voraussetzungen einer (hier befristeten) Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB, besonders im Hinblick darauf, dass die Grundzüge der Planung durch die Befreiung nicht berührt werden dürfen. Drittens schließlich spielt der Nachbarschutz im Geltungsbereich eines Bebauungsplans eine Rolle, namentlich die Reichweite des so genannten Gebietserhaltungsanspruchs. Prozessual handelt es sich um den einstweiligen Rechtschutzantrag eines Nachbarn nach §§ 80, 80a VwGO, der hier freilich – bei allerdings stetiger Ausbildungsrelevanz – keine besonderen Probleme aufwirft. Im Hintergrund steht die Frage, in welche Baugebiete Asylbewerberunterkünfte integriert werden können. Ähnliche Konstellationen haben Gerichte, gerade in den letzten Jahren, 1 Der Beschluss ist abrufbar unter: http://www.rechtsprechung¬hamburg.de/jportal/portal/page/b shaprod.psml?doc.id=MWRE130002241&st=ent&showdocc ase=1 und abgedruckt in NVwZ-RR 2013, 990. schon mehrfach beschäftigt.2 Dies verleiht der Gesamtproblematik (wenn auch nicht dieser Entscheidung als solcher) auch eine gewisse politische Dimension. Im Zuge der zurzeit hohen und noch steigenden Asylbewerberzahlen in der Bundesrepublik Deutschland werden sich ähnliche, auch bauplanungsrechtliche Fragestellungen absehbar wiederholen.3 II. Inhalt der Entscheidung 1. Sachverhalt4 B hat von der Freien und Hansestadt Hamburg für Asylbewerberunterkünfte (teils in vorhandenen Gebäuden, teils in neu zu errichtenden Containeranlagen) auf dem ehemaligen Betriebs- und Recyclinghof der Stadtreinigung zwei Baugenehmigungen erhalten. Das Grundstück liegt im Geltungsbereich eines Bebauungsplans, der dort ein Gewerbegebiet festsetzt. Ansonsten nach § 8 Abs. 3 BauNVO mögliche Ausnahmen für Vergnügungsstätten sowie Anlagen für kirchliche, kulturelle, soziale und gesundheitliche Zwecke – ebenso wie für Einzelhandelsbetriebe – hat der Plangeber im Bebauungsplan ausdrücklich ausgeschlossen. Denn Zielsetzung des Plans sei, „die Gewerbeflächen für solche typischen Gewerbebetriebe zu sichern, die auf Grund ihres Flächenanspruchs und ihrer Emissionen auch auf derartige Flächen angewiesen sind. […] Aus diesem Grund [erfolge] auch ein Ausschluss [der ansonsten ausnahmsweise zulässigen] Anlagen.“5 Doch sehen die Baugenehmigungen Befreiungen gemäß § 31 Abs. 2 BauGB für die Zulassung von Anlagen für soziale Zwecke vor. Die Befreiung ist auf zwei Jahre befristet, weil man bis dahin eine andere dauerhaftere Unterbringungsmöglichkeit für Asylbewerber schaffen will. Auf dem Grundstück von N, das ebenfalls im Plangebiet liegt, werden bereits seit langem eine Spielhalle, ein BillardCafé und ein Pizzaservice betrieben. N legt gegen die dem B erteilten Baugenehmigungen Widerspruch ein und beantragt zugleich die Anordnung der aufschiebenden Wirkung. Das 2 Siehe nur beispielhaft in letzter Zeit VGH Mannheim, Beschl. v. 14.3.2013 – 8 S 2504/12 = ZfBR 2013, 583; VG Ansbach, Urt. v . 6.2.2014 – AN 9 K 13.02098; VG Hamburg, Beschl. v. 13.9.2013 – 9 E 3452/13; VG Schwerin, Beschl. v. 29.9.2012 – 2 B 409/12. 3 Siehe zu den seit 2009 steigenden Asylbewerberzahlen, die bei Erstanträgen mittlerweile die Höchststände aus der Zeit der Balkankriege wieder erreicht haben, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Aktuelle Zahlen zum Asyl, Ausgabe Juni 2014, S. 3. 4 Eine ausführliche Beschreibung der örtlichen Umgebung findet sich in der erstinstanzlichen Entscheidung des VG Hamburg, Beschl. v. 6.5.2013 – 7 E 1487/13, S. 5 ff. des amtl. Umdrucks – abrufbar unter: justiz.hamburg.de/contentblob/3959828/data/7-e-1487-13.pdf. Die geplante Asylbewerberunterbringungseinrichtung ist auch aus anderen Gründen in der Presse zu Aufmerksamkeit gekommen, vgl. z.B. Hamburger Abendblatt Online v. 2.4.2013, http://www.abendblatt.de/hamburg/article114951107/Offaka mp-Bald-sollen-die-Fluechtlinge-einziehen.html. 5 So die Planbegründung, zitiert nach OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 = NVwZ-RR 2013, 990. _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 428 OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 Fehling/Waldmann _____________________________________________________________________________________ Verwaltungsgericht ist dem gefolgt; dagegen richten sich die Beschwerden von B und der beigeladenen Freien und Hansestadt Hamburg. dann nicht auf die Festsetzungen des Bebauungsplans berufen, wenn er die gleiche Nutzung abwehren will, die er selbst ausübt.12 2. Entscheidungsgründe Das OVG Hamburg weist die Beschwerden zurück. Es bleibt also bei der vom VG getroffenen Anordnung der aufschiebenden Wirkung. Die Asylbewerberunterkünfte werden als wohnungsähnliche Anlagen für soziale Zwecke eingeordnet.6 Solche sind zwar nach § 8 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO in einem Gewerbegebiet grundsätzlich ausnahmsweise zulässig. Doch hat man diese Ausnahmemöglichkeit hier im Bebauungsplan ausgeschlossen. Deshalb hängt die Rechtmäßigkeit der Baugenehmigungen davon ab, ob die für soziale Anlagen erteilten Befreiungen gemäß § 31 Abs. 2 (Nr. 1) BauGB rechtmäßig sind. Das Gericht hält es für wahrscheinlich, dass die Notwendigkeit, für die unerwartet große Zahl von Asylbewerbern eine (Not-)Unterkunft zu finden, einen Grund des Allgemeinwohls gemäß § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB darzustellen vermag.7 Letztlich wird dies jedoch offen gelassen, weil die Befreiung zumindest daran scheitere, dass die Grundzüge der Planung berührt seien. Es sei ein zentrales Anliegen des Plangebers und nicht nur eine Nebensache gewesen, die Grundstücke im Plangebiet insbesondere für produzierendes und verarbeitendes Gewerbe vorzuhalten.8 Auch die Befristung der Befreiung auf zwei Jahre ändere nichts daran, dass die Abweichung vom Bebauungsplan so prinzipiell und gewichtig sei, dass sie eine erneute planerische Entscheidung, d.h. eine Änderung des Bebauungsplans, erfordere.9 Schließlich lasse das Erfordernis, die Grundzüge der Planung zu wahren, keine Relativierung im Wege einer wertenden Gesamtbetrachtung zusammen mit den für eine Befreiung sprechenden Gemeinwohlgründen zu. Denn insoweit handele es sich um zwei getrennt zu prüfende Tatbestandsmerkmale.10 Im Geltungsbereich eines Bebauungsplans begründe die wechselseitige Bindung aller an die dortigen Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung (das so genannte nachbarliche Austauschverhältnis) vollumfänglichen Nachbarschutz.11 Dieser Gebietserhaltungsanspruch werde auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass der Plangeber die kraft Bundesrechts drittschützende Konzeption der BauNVO durch eigene Festsetzungen modifiziert habe. Ebenso wenig schade es, dass das Grundstück von N ebenfalls zu Zwecken genutzt werde, die zumindest teilweise mit den jetzigen bauplanungsrechtlichen Festsetzungen unvereinbar seien. Der Nachbar könne sich nur III. Einordnung und kritische Würdigung der ausbildungsrelevanten Aspekte 1. Gestaltungsmöglichkeiten im Bebauungsplan a) Festsetzungen über die Art der Bebauung und Struktur der BauNVO Im Bebauungsplan sind für Gebäude vor allem (näher § 9 BauGB) Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung (Gebietstyp, §§ 2 ff. BauNVO), zum Maß der baulichen Nutzung (insbesondere Höhe, § 18 BauNVO, Geschosse, § 20 BauNVO) sowie zur offenen versus geschlossenen Bauweise (§ 22 BauNVO) und zur überbaubaren Grundstücksfläche (§ 23 BauNVO) möglich. Im vorliegenden Fall ging es indes allein um die Art der baulichen Nutzung. Für diese enthält die BauNVO einen Katalog unterschiedlicher typisierender Baugebiete (§ 1 Abs. 2), die in den § 2 ff. (insbesondere in der Zweckbeschreibung im jeweiligen Abs. 1) näher charakterisiert werden. Für jedes Baugebiet sind bestimmte Nutzungsarten, die den Gebietstyp prägen, ohne Weiteres zulässig (Regelbebauung). Ferner enthalten die Gebietsbeschreibungen (in ihrem jeweiligen Abs. 3) bestimmte weitere Nutzungen, die nur ausnahmsweise, d.h. i.V.m. § 31 Abs. 1 BauGB, nach Ermessen der Baugenehmigungsbehörde zugelassen werden können (Ausnahmenbebauung). Zu den nach Gebieten gegliederten Nutzungen der §§ 2-11 BauNVO treten schließlich, gleichsam als Querschnittsnutzungen, die nach §§ 12-14 BauNVO zulässigen Garagen und Stellplätze, freiberuflichen Nutzungen und Nebenanlagen. Durch die Festsetzung eines Gebietstyps wird die gesamte Gebietsbeschreibung (einschließlich der §§ 12-14 BauNVO) Teil des Bebauungsplans, § 1 Abs. 3 S. 2 BauNVO. Von diesen „Leitbildern“13 kann dabei der Plangeber nur eingeschränkt abweichen. Ihm steht gerade kein Recht zu, weitere Festsetzungen zur Art der Bebauung zu erfinden,14 allerdings ermöglichen § 1 Abs. 6-9 BauNVO den Gestaltungsspielraum der Plangeber erweiternde Modifikationen. Insbesondere können durch diese planungstechnische Feinsteuerung – einerseits – allgemein zulässige Nutzungen als nur ausnahmsweise oder gar nicht zulässig sowie – andererseits – nur ausnahmsweise zulässige als gar nicht zulässig oder umgekehrt als allgemein zulässig festgesetzt werden. Von dieser Feinsteuerung machte der Plangeber im vorliegenden Fall Gebrauch. Durch die entsprechende Planverordnung wurden die eigentlich nach § 8 Abs. 3 BauNVO bestehenden Ausnahmen für Vergnügungsstätten sowie Anlagen 6 Dazu näher unten III. 1. b) aa). OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 = NVwZ-RR 2013, 990 (992). 8 Näher unter Bezugnahme auf die Planbegründung und die weiteren Festsetzungen OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 = NVwZ-RR 2013, 990 (990 f.). 9 OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 = NVwZ-RR 2013, 990 (991). 10 OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 = NVwZ-RR 2013, 990 (992). 11 Dazu näher unten III. 3. b). 7 12 OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 = NVwZ-RR 2013, 990 (993). Dazu unten III. 3. c). 13 Koch/Hendler, Baurecht, Raumordnungs- und Landesplanungsrecht, 5. Aufl. 2009, § 14 Rn. 20. 14 Zum abschließenden Charakter des Gebietskatalogs („Typenzwang“) Finkelnburg/Ortloff/Kment, Öffentliches Baurecht, Bd. 1, Bauplanungsrecht, 6. Aufl. 2011, § 9 Rn. 5 m. Nachw. aus der Rspr. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium– www.zjs-online.com 429 OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 Fehling/Waldmann _____________________________________________________________________________________ für kirchliche, kulturelle, soziale und gesundheitliche Zwecke gemäß § 1 Abs. 6 Nr. 1 BauNVO nicht Teil des Bebauungsplans und die Zulässigkeit von Einzelhandelsbetrieben (als bestimmte Anlagenart der allgemein zulässigen Gewerbebetriebe) wurde gemäß § 1 Abs. 5 i.V.m. Abs. 9 BauNVO ausgeschlossen. b) Zuordnung einer Asylbewerberunterkunft zu den Nutzungsarten aa) Abgrenzung des Wohnens von Anlagen zu sozialen Zwecken In der vorliegenden Entscheidung konnte das OVG angesichts des recht eindeutigen Sachverhalts15 und mangels Entscheidungsrelevanz16 die genehmigten Vorhaben schnell den Anlagen für soziale Zwecke zuordnen.17 Doch kommt es bei der (höchstrichterlich nicht endgültig geklärten) Zuordnung von Asylbewerberunterkünften im Einzelnen auf eine sorgfältige Abgrenzung zum Wohnen an. Anlagen für soziale Zwecke sind solche, die in einem weiten Sinne der sozialen Fürsorge und der öffentlichen Wohlfahrt dienen, u.a. nämlich durch Unterstützung, Betreuung und ähnliche fürsorgerische Maßnahmen.18 Darunter fällt grundsätzlich auch die (helfend auf andere gerichtete) Unterbringung von Menschen. Planungsrechtliches Wohnen ist dagegen gekennzeichnet durch eine auf Dauer angelegte Häuslichkeit, Eigengestaltung der Haushaltsführung und des häuslichen Wirkungskreises sowie durch die Freiwilligkeit des Aufenthalts.19 Zur Eigengestaltung gehört v.a. auch ein wirksam abgeschirmter Bereich für die Entfaltung des privaten 15 Bei der Vorinstanz VG Hamburg, Beschl. v. 6.5.2013 – 7 E 1487/13, S. 3 f. des amtl. Umdrucks, scheint durch, dass sich die tatsächlichen Umstände der Unterbringung (besonders hinsichtlich der Belegungsdichte der Zimmer) aus den Akten nicht vollumfänglich ergaben. Dies vermag zwar im vorliegenden Fall eine eindeutige Zuordnung der Unterkünfte erschweren; in Anbetracht der Zahl der insgesamt unterzubringenden Asylbewerber erschloss das VG aber eine Belegung in Mehrbettzimmern. 16 Die Frage wird in erster Instanz denn auch offen gelassen, VG Hamburg, Beschl. v. 6.5.2013 – 7 E 1487/13, S. 5 des amtl. Umdrucks. In vergleichbaren Fällen die Zuordnung zuletzt ebenfalls offenlassend VGH Karlsruhe, Beschl. v. 14.3.2013 – 8 S 2504/12 = ZfBR 2013, 583 (584); VG Schwerin, Beschl. v. 29.9.2012 – 2 B 409/12, Rn. 10 (juris). 17 OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 = NVwZ-RR 2013, 990 (992). 18 Stock, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger (Hrsg.), Baugesetzbuch, 112. EL (Stand: Januar 2014), § 4 BauNVO Rn. 92 m.w.N. 19 BVerwG, Beschl. v. 25.3.1996 – 4 B 302/95 = NVwZ 1996, 893 (894); OVG Münster, Urt. v. 15.8.1995 – 11 A 850/92 = BauR 1996, 237 (238 f.); aufgegriffen z.B. vom hiesigen OVG Hamburg, Urt. v. 10.4.1997 – Bf II 72/96 = NordÖR 1999, 354. Lebens.20 Unterschiede bestehen vor allem zwischen Gemeinschaftsunterkünften und anderen Unterbringungsarten. Für (Asylbewerber-)Gemeinschaftsunterkünfte, die durch hohe Belegungsdichten, die gemeinschaftliche Nutzung von Sanitäranlagen und Küchenräumen und das Fehlen von abgegrenzten Rückzugsräumen geprägt werden, mangelt es daher schon an Häuslichkeit und einer hinreichenden Selbstbestimmung der Haushaltsführung.21 Dies wird noch unterstrichen, wenn – wie bei solchen Anlagen regelmäßig – nicht sichergestellt ist, dass nur miteinander verwandte und einander bekannte Personen gemeinsam untergebracht sind.22 Der dem besprochenen Beschluss zugrundeliegende Sachverhalt legt es nahe, dass die errichteten bzw. umgenutzten Räumlichkeiten jeweils mit mehreren Betten ausgestattet werden sollten. Dies hätte zumindest teilweise nach sich gezogen, dass auch die nur in geringerer Zahl vorhandenen Sanitärräume zusammen benutzt werden müssen. Vor diesem Hintergrund war die vom OVG sehr knapp vorgenommene Einordnung hier folgerichtig. Schärfer würde sich die Zuordnungsfrage bei einer Unterbringung von Asylbewerbern – anders als im vorliegenden Fall – in häuslichen Verhältnissen innerhalb von Wohngebäuden stellen. In einem solchen Fall wird angesichts des öffentlich-rechtlichen, überwiegend vom Asyl- und Ausländerrecht bestimmten, Nutzungsverhältnisses, teilweise die Freiwilligkeit des Unterkommens bezweifelt.23 Zur Unterkunft in Erstaufnahmeeinrichtungen sind, zum späteren „Wohnen“ in Gemeinschaftsunterkünften werden Asylbewerber sogar typischerweise verpflichtet (§ 47 bzw. § 60 Abs. 2 AsylVfG); die freiwillige Auswahl ihrer Unterkunft ist ihnen damit bei typisierender Betrachtung entzogen. Überwiegend wird aber das hinter der Nutzung stehende Rechtsregime für bodenrechtlich nur relevant gehalten, wenn es Auswirkungen auf die übrige Wohnsituation, etwa die Raumgestaltung oder Belegungsdichte, hat.24 Auch in der obergerichtlichen Rechtsprechung herrscht die Orientierung an der objektiven Beschaffenheit 20 Stock (Fn. 18), § 3 BauNVO Rn. 38 m. Nachw. aus der Rspr. 21 Stock (Fn. 18), § 3 BauNVO Rn. 52; § 4 Rn. 94 m. Nachw. aus der Rspr., z.B. OVG Hamburg, Urt. v. 10.4.1997 – Bf II 72/96 = NordÖR 1999, 354 (unter Betonung der fehlenden Intimität); OVG Münster, Beschl. v 4.11.2003 – 22 B 1345/03 = NVwZ-RR 2004, 247; VGH München, Urt. v. 13.9.2012 – 2 B 12.109 (unter Betonung der mangelnden Dauerhaftigkeit der Unterbringung). Zuletzt offen lassend, mit der Tendenz zur Anlage für soziale Zwecke, VGH Karlsruhe, Beschl. v. 14.3.2013 – 8 S 2504/12 = ZfBR 2013, 583 (584). 22 In diese Richtung OVG Hamburg, Urt. v. 10.4.1997 – Bf II 72/96 = NordÖR 1999, 354. 23 Gegen die Freiwilligkeit Fickert/Fieseler, Baunutzungsverordnung, Kommentar, 11. Aufl. 2008, § 3 Rn. 16.4 ff., inbes. 16.43; Ziegler, ZfBR 1994, 160 (162); Spindler, NVwZ 1992, 125 (129); in diese Richtung tendierend, freilich i.E. offen lassend, OVG Hamburg, Urt. v. 10.4.1997 – Bf II 72/96 = NordÖR 1999, 354. 24 Stock (Fn. 18), § 3 BauNVO Rn. 54 m.w.N.; ähnlich Fugmann-Heesing, DÖV 1996, 322 (324 f.). _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 430 OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 Fehling/Waldmann _____________________________________________________________________________________ der Wohnräume vor.25 Insgesamt überzeugt die Berücksichtigung der Nutzungsverhältnisse wegen der auf bodenrechtliche Wirkungen konzentrierten Perspektive des Bauplanungsrechts nur insoweit, als sie sich auch auf die äußeren Umstände der Unterbringung durchschlägt. Allerdings dürfen hierzu nicht nur die objektive bauliche Situation der Wohnung, also die Eignung zur Wohnnutzung, sondern auch die für die Emissionen und Bewohnerfluktuation durchaus beachtlichen Belegungsverhältnisse zählen. Wie das Bundesverwaltungsgericht die Einordnung vornehmen – und möglicherweise das Merkmal der Freiwilligkeit relativieren – wird, bleibt nach wie vor abzuwarten.26 In der Klausurpraxis, für die man keine vertieften Kenntnisse dieses Streits voraussetzen dürfte, wird eine an den für das Bauplanungsrecht leitenden bodenrechtlichen Gesichtspunkten zu angemessenen Lösungen führen. bb) Abstrakte Gebietsunverträglichkeit wohnungsähnlicher Nutzungen im Gewerbegebiet Anders als noch die Vorinstanz erwog das OVG hilfsweise die Rechtslage unter der Voraussetzung einer ausnahmsweise zulässigen Nutzung.27 Hätte der Plangeber hier die Anlagen für soziale Zwecke nicht ausgeschlossen, wäre die Erteilung einer Ausnahme nach § 31 Abs. 1 BauGB i.V.m. § 8 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO aber auch nur unter der Voraussetzung der abstrakten Gebietsverträglichkeit möglich gewesen. Die Zulässigkeit eines Vorhabens, sei es im Wege der Regelbebauung, sei es durch Ausnahmen, innerhalb eines Baugebiets der BauNVO muss sich nämlich nicht nur an den Vorschriften über die zugelassenen bestimmten Nutzungen, sondern auch an der Zweckbestimmung des jeweiligen Baugebiets messen.28 Aus der Zweckbeschreibung des § 8 Abs. 1 BauNVO (Unterbringung „nicht erheblich“ aber eben doch „belästigende[r]“ Gewerbebetriebe), sowie im Umkehrschluss aus § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO, der Wohnungen gerade bei Betriebsbezug zulässt, werde deutlich, dass im Gewerbegebiet „nicht gewohnt werden“ soll.29 Auch als wohnungsähnliche Nutzung30 ist damit 25 Vgl. die zahlreichen Nachw. aus der Rspr. bei Stock (Fn. 18), § 3 BauNVO Rn. 53 f. A.A., maßgeblich auf die „fremdbestimmte Unterbringung“ abstellend, OVG Münster, Beschl. v. 29.7.1991 – 10 B 1128/91 = NVwZ 1992, 186 (187). 26 Die Einschätzung des BVerwG, Urt. v. 17.12.1998 – 4 C 16.97 = BVerwGE 108, 190 (202), die Nutzung eines Einfamilienhauses für die Asylbewerberunterbringung sei dem „Wohnen im allgemeinen Verständnis ähnlich“, ist hierzu unergiebig. 27 Näher OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 = NVwZ-RR 2013, 990 (992). 28 St. Rspr., vgl. bspw. BVerwG, Urt. v. 2.2.2012 – 4 C 14.10 = BVerwGE 142, 1 (5 f. Rn. 16); vgl. auch BVerwG, Urt. v. 18.11.2010 – 4 C 10.09 = BVerwGE 138, 166 (171 f. Rn. 19); BVerwG, Urt. v. 21.3.2002 – 4 C 1.02 = BVerwGE 116, 155 (158). 29 OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 = NVwZ-RR 2013, 990 (992). Vgl. Söfker, in: Ernst/Zinkahn/ Bielenberg/Krautzberger (Fn. 18), § 8 BauNVO Rn. 44b. eine Asylbewerberunterkunft im Gewerbegebiet wegen abstrakter Gebietsunverträglichkeit unzulässig.31 c) Besonderheiten bei der Feststellung des Bebauungsplans im Bundesland Hamburg Grundsätzlich wird der Bebauungsplan von der planungstragenden Gemeinde als Satzung (§ 10 BauGB) beschlossen. Im Land Hamburg als Stadtstaat ohne Kommunen und ohne kommunale Satzungsautonomie muss allerdings eine andere Rechtsetzungsform an die Stelle der Satzung treten, § 246 Abs. 2 S. 1 BauGB.32 I.d.R. werden Bebauungspläne daher gemäß § 3 Abs. 1 S. 1 Gesetz über die Feststellung von Bauleitplänen und ihre Sicherung durch eine Rechtsverordnung (BauleitplanfestG), in Ausnahmefällen durch Gesetz, festgestellt.33 Daraus ergeben sich jedoch bei Inhalt und Rechtmäßigkeitsanforderungen keinerlei Unterschiede.34 d) Inzidentprüfung des Bebauungsplans Im Übrigen wäre zur vollständigen Rechtmäßigkeitskontrolle der Baugenehmigung im Rahmen von § 30 Abs. 1 i.V.m. § 31 Abs. 2 BauGB noch eine Inzidentkontrolle des Bebauungsplans erforderlich. Denn nur ein von beachtlichen Fehlern (§§ 214, 215 BauGB) freier – nicht nichtiger und damit wirksamer – Plan vermag für die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit eines Vorhabens verbindlich zu sein.35 Doch gab es hier wohl keinerlei Anhaltspunkte für (Abwägungs-)Fehler bei der Planung. 30 BVerwG, Urt. v. 17.12.1998 – 4 C 16.97 = BVerwGE 108, 190 (202). 31 So VGH Karlsruhe, Beschl. v. 14.3.2013 – 8 S 2504/12 = ZfBR 2013, 583 (585); VG Schwerin, Beschl. v. 29.9.2012 – 2 B 409/12, Rn. 16 (juris). Vgl. auch BVerwG, Beschl. v. 13.5.2002 – 4 B 86/01 = NVwZ 2002, 1384 (1385), für ein Seniorenpflegeheim; BVerwG, Urt. v. 29.4.1992 – 4 C 43/89 = NVwZ 1993, 773 (774 f.), für einen Beherbergungsbetrieb; OVG Münster, Beschl. v. 4.11.2003 – 22 B 1345/03 = NVwZ-RR 2004, 247 (248), für eine Asylbewerberunterkunft im Industriegebiet gem. § 9 BauNVO. Vorliegend schloss das OVG auch insoweit eine Befreiung mangels Vereinbarkeit mit den Grundzügen der Planung aus, OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 = NVwZ-RR 2013, 990 (992). 32 Siehe auch Koch/Hendler (Fn. 13), § 14 Rn. 8. 33 Die Verordnungsform gibt es ebenso in Berlin: § 6 Abs. 5 Gesetz zur Ausführung des Baugesetzbuchs. 34 Auch für die prinzipale Normenkontrolle nach § 47 VwGO gegen Bebauungspläne in Verordnungsform ergeben sich keine Unterschiede wegen § 47 Abs. 1 Nr. 1 VwGO („Rechtsverordnungen auf Grund des § 246 Abs. 2 des Baugesetzbuches“). Dies gilt genauso für Bebauungsplan-Gesetze, BVerfG, Beschl. v. 14.5.1985 – 2 BvR 397/82 = BVerfGE 70, 35. 35 Dazu instruktiv Koch/Hendler (Fn. 13), § 18 (insbes. Rn. 13 ff.). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium– www.zjs-online.com 431 OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 Fehling/Waldmann _____________________________________________________________________________________ 2. Die Grundzüge der Planung als Grenze der Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB Kern der Entscheidung des OVG war die Prüfung der Rechtmäßigkeit der von der Baugenehmigungsbehörde erteilten Befreiung vom Ausschluss der Ausnahme des § 8 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO.36 a) Systematik der genehmigungsbehördlichen Abweichungsmöglichkeiten aa) Befreiung und Ausnahme im System des Bauplanungsrechts Das Bauplanungsrecht kennt für Abweichungen vom an sich strikt verbindlichen Bebauungsplan einerseits Ausnahmen nach § 31 Abs. 1 BauGB, bei denen eine im Bebauungsplan (zumeist über § 1 Abs. 3 S. 2 i.V.m. §§ 2-9 Abs. 3 BauNVO) schon ausdrücklich vorgesehene Abweichung von seinen Festsetzungen im Einzelfall erteilt wird. Es kennt außerdem Befreiungen nach § 31 Abs. 2 BauGB, die im Unterschied dazu eine Abweichung von zwingenden Festsetzungen des Bebauungsplans erlauben. Beide Regelungen dienen damit – in unterschiedlichem Maße – der Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit für atypische, vom Plangeber so nicht antizipierte Situationen, für die aber eine Planänderung unangemessen aufwändig oder unpassend ist.37 Diese Flexibilisierung im Vollzug steht aber im Konflikt mit dem Sinn und Zweck des Planaufstellungsverfahrens. Der Bebauungsplan soll nur in den durch das BauGB vorgegebene Verfahren festgestellt, geändert oder aufgehoben werden. Hinter diesem Verfahren steht zunächst die verfassungsrechtlich abgesicherte Planungsautonomie der Gemeinden (Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG; § 2 Abs. 1 S. 1 BauGB). Zumal der Beschluss der Bebauungspläne (§ 10 Abs. 1 BauGB) in den Kommunen typischerweise mit dem Gemeinderat einem direkt gewählten Vertretungsorgan obliegt und so der Bauleitplanung eine erhöhte demokratische Legitimation verleiht.38 Gerade die vorgeschriebene ausführliche und frühzeitige Einbeziehung der Bürger (§ 3 BauGB) dient außerdem dem vorweggenommenen Grundrechtsschutz durch Verfahren.39 Der Gefahr, dass diese 36 Die erstinstanzliche Entscheidung beschränkte sich im Wesentlichen auf die Rechtmäßigkeit der Befreiung, VG Hamburg, Beschl. v. 6.5.2013 – 7 E 1487/13, S. 4-10 des amtl. Umdrucks. 37 Söfker (Fn. 29), § 31 BauGB Rn. 10; Koch/Hendler (Fn. 13), § 25 Rn. 36. 38 Vgl. bspw. § 58 Abs. 1 Nr. 5 NdsKommVG; Art. 32 Abs. 2 BayGO; § 24 Abs. 1 S. 2 GO BW. In der Einheitsgemeinde Hamburg werden die Planverordnungen gemäß § 1 WeiterübertragungsVO Bau durch die Bezirksämter beschlossen, woran maßgeblich die Bezirksversammlungen mitwirken, so dass auch hier eine erhöhte personale demokratische Legitimation bestehen mag; siehe genauer Koch, in: HoffmannRiem/Koch (Hrsg.), Hamburgisches Staats- und Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 2006, S. 234, 238. 39 Grundlegend zum Grundrechtsschutz durch Verfahren BVerfGE 53, 30 (Mülheim-Kärlich); im hiesigen Zusammen- Prinzipien durch Befreiungen der Genehmigungsbehörde ausgehöhlt werden, versucht § 31 Abs. 2 BauGB mit engen – aber vom Gesetzgeber zunehmend erweiterten Tatbestandsvoraussetzungen – zu begegnen.40 bb) Tatbestand der Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB § 31 Abs. 2 BauGB hat einen dreigliedrigen Tatbestand. Es gibt drei Befreiungsgründe (Abs. 2 Nrn. 1-3), insbesondere das Wohls der Allgemeinheit. Für jeden Grund verlangt die Norm aber als „vor die Klammer“ gezogenes Tatbestandsmerkmal zusätzlich, dass die Grundzüge der Planung nicht berührt werden dürfen. Außerdem fordert sie, „hinter die Klammer“ gerückt, jeweils die Vereinbarkeit der Abweichung mit den öffentlichen Belangen auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen. Wie sich aus der „kann“-Formulierung der Norm ergibt, steht die Entscheidung über Erteilung oder Versagung einer Befreiung schließlich im pflichtgemäßen (Rechtsfolge)Ermessen der Genehmigungsbehörde. Nach den umfangreichen tatbestandlichen Voraussetzungen der Befreiungen werden hier oftmals nur wenige weitere städtebaurechtliche Erwägungen eine Rolle spielen können.41 cc) Bedeutung und Auslegung der Grundzüge der Planung Den Schutz der demokratisch legitimierten Planungshoheit der Gemeinde übernimmt vor allem das Gebot, die „Grundzüge der Planung“ zu wahren.42 Diese werden berührt, wenn die Abweichung dem jeweiligen im konkreten Einzelfall zu ermittelnden planerischen Grundkonzept zuwiderläuft.43 Zu ermitteln ist also zunächst, ob die Abweichung eine Festsetzung betrifft, die für dieses Grundkonzept maßgeblich ist. Trägt eine Festsetzung das Konzept, ist eine Befreiung nur denkbar, soweit sie trotzdem nicht ins Gewicht fällt.44 Vor diesem Hintergrund verwirft das OVG denn auch eine Bestimmung der durch die Grundsätze der Planung gezogenen Grenze anhand einer wertenden Gesamtbetrachtung sowohl der planungstragenden Belange also auch des einschlägigen Befreiungsgrundes und seines Gewichts – hier das an der Herstellung von Asylbewerberunterkünften bestehende Allgemeininteresse.45 Für eine solche „Wechselwirkung“ der Befreiungsgründe mit dem Erfordernis der Wahrung der Grundzüge der Planung ist in Anbetracht der Bedeutung dieses Tatbestandsmerkmals für die Abgrenzung der baurechtlichen Planungszuständigkeit kein Raum, wie das OVG zutreffend erkennt. Vielmehr bedürfte gerade ein solcher Interessensausgleich einer planenden Abwägung nach § 1 Abs. 7 BauGB durch den dazu berufenen Plangeber. Von der Genehhang Battis, in: Battis/Krautzberger/Löhr (Hrsg.), BauGB, 12. Aufl. 2014, § 3 BauGB Rn. 4 m.w.N. 40 Vgl. Söfker (Fn. 29), § 31 BauGB Rn. 31 41 Vgl. Söfker (Fn. 29), § 31 BauGB Rn. 61; Reidt, in: Battis/ Krautzberger/Löhr (Fn. 39), § 31 Rn. 43. 42 Vgl. Reidt (Fn. 41), § 31 Rn. 29. 43 BVerwG, Beschl. v. 5.3.1999 – 4 B 5/99 = NVwZ 1999, 1110. 44 Söfker (Fn. 29), § 31 BauGB Rn. 36. 45 OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 = NVwZ-RR 2013, 990 (992 f.). _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 432 OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 Fehling/Waldmann _____________________________________________________________________________________ migungsbehörde, die über die Befreiung zu entscheiden hat, sind dagegen beide Tatbestandsmerkmale isoliert voneinander auszulegen.46 c) Wahrung der Grundzüge der Planung durch Befristung einer Befreiung Ziel der Planung hier war, wie sich ausweislich der Ausführungen des OVG deutlich ergibt, die Flächensicherung für verarbeitende und produzierende Gewerbetriebe. In Anbetracht der aus dem Plan und seiner Begründung ersichtlichen Umstände schließt das OVG sodann auch überzeugend, dass der hier gegenständliche Ausschluss der Ausnahmen dem Planungsziel der Flächensicherung für Gewerbebetriebe gerade dient.47 Damit ist er für die planerische Grundkonzeption maßgeblich. Im Rahmen der vorliegenden Beschwerde hat man die Frage aufgeworfen, inwieweit die Befristung dieser Befreiung auf zwei Jahre eine Art zeitliche Geringfügigkeit herstellt und damit die Berührung der Grundzüge ausschließt. Je kürzer die Abweichung, desto weniger bodenrechtliche Folgen hat sie tendenziell und vermag damit die langfristige Verfolgung des Plankonzepts nicht zu beeinträchtigen. Denkbar ist es also, insoweit als Bezugsgröße auf die typische Geltungsdauer eines Bebauungsplans abzustellen, wie es die Beigeladene hier annahm. Dann fielen möglicherweise demgegenüber ganz „kurze“ Abweichungen nicht ins Gewicht und berührten die Grundzüge der Planung nicht. Dem folgte das Gericht allerdings mit überzeugender Argumentation nicht.48 Statt einem Vergleich der Befreiungsdauer mit der typischen Geltungsdauer einer planerischen Konzeption hält es einen Vergleich mit der Dauer und der Leichtigkeit einer Planänderung für maßgeblich. Das OVG führt diese Auslegung zwar vordergründig auch darauf zurück, dass ein langer Zeitraum wie die durchschnittliche Geltungsdauer eines Plans (in Rede standen über 40 Jahre) zu „unüberschaubar“ für einen tauglichen Maßstab sei. Hintergründig wird sie aber vor allem wieder von der Funktion des Tatbestandsmerkmals „Grundzüge der Planung“ zur Sicherung der Autonomie des Plangebers getragen (dazu auch schon oben). Grundsätzlich sollen alle die Grundkonzeption der Planung betreffenden Entscheidungen vom Plangeber im dazu bestimmten Verfahren vorgenommen werden. Dies gilt auch für bloß vorübergehende (nachträglich in den Blick gekommenen) Nutzungen, solange es sinnvoll und nicht unverhältnismäßig ist, ein (ggf. vereinfachtes oder beschleunigtes, §§ 13, 13a BauGB) Planänderungsverfahren durchzuführen. Eine bedeutende Zeitverzögerung muss dies nicht bedeuten, da nach § 33 BauGB ein Vorhaben schon während des Änderungsverfahrens bauplanungsrechtlich genehmigungsfähig sein kann. Gerade im vorliegenden Fall wäre nach Auffassung des Gerichts eine Planänderung zur Festsetzung einer vorüberge46 Vgl. BVerwG, Beschl. v. 5.3.1999 – 4 B 5/99 = NVwZ 1999, 1110. 47 Näher OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 = NVwZ-RR 2013, 990. 48 Näher, auch zum Folgenden, OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 = NVwZ-RR 2013, 990 (991 f.). henden Zwischennutzung nach § 9 Abs. 2 BauGB i.V.m. einer vorgezogenen Genehmigung nach § 33 BauGB zeitnah möglich gewesen. Man wird also mit dem amtlichen Leitsatz folgern können, dass allein die Befristung einer Abweichung vom Plan auf einen mehr als minimalen Zeitraum die Vereinbarkeit mit den Planungsgrundzügen nicht herstellen dürfte. Denkbar, aber auch nicht zwingend, bleibt eine die Berührung der Grundzüge ausschließende Wirkung wohl nur, wenn die Befristung jedenfalls die voraussichtliche Dauer einer Planänderung bis zur Genehmigungsfähigkeit nach § 33 BauGB unterschreitet. Auch dann darf die Abweichung freilich nicht aus anderen Gründen ins Gewicht fallen. 3. Reichweite und Grenzen des Gebietserhaltungsanspruchs im System des bauplanungsrechtlichen Nachbarschutzes Zuletzt warf das Verfahren zwei Fragen zum baurechtlichen Nachbarschutz auf, den das OVG tendenziell ausweitet. a) Quellen des bauplanungsrechtlichen Drittschutzes Zum Erfolg nachbarlicher Rechtsbehelfe bedarf es nicht allein der Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung, der Nachbar muss auch in eigenen subjektiven Rechten verletzt sein, § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO. Dazu muss man im Einzelnen abgrenzen, ob die verletzten Vorschriften tatsächlich Drittschutz bezwecken und damit dem Kreis der geschützten Personen abwehrfähige Rechte zuerkennen. Die zur Herleitung von Drittschutz bemühte Schutznormtheorie, nach der eine Norm dann drittschützend ist, wenn sie nach dem Willen des Normgebers nicht nur reflexartig zumindest auch Individualinteressen zu dienen bestimmt ist, hat im Bauplanungsrecht einige Präzisierungen erfahren.49 So ist im überplanten Bereich für die Festsetzungen des Bebauungsplans zur Art der Nutzung der Gebietserhaltungsanspruch anerkannt; insoweit kann jeder, der den Einschränkungen des Plans unterliegt, die Einhaltung der Festsetzungen verlangen.50 Bei den Festsetzungen hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung und der Bauweise hängt es an dem jeweiligen Subjektivierungswillen des Plangebers, ob er Festsetzungen eine im Einzelfall durch Auslegung zu ermittelnde drittschützende Wirkung beilegt.51 Das in § 15 Abs. 1 BauNVO verkörperte Rücksichtnahmegebot kann schließlich auch Drittschutz vermitteln, soweit ein Dritter qualifiziert von einem Vorhaben betroffen ist, 49 Zur Genese des heutigen Bestands des baurechtlichen Nachbarschutzes siehe Koch/Hendler (Fn. 13), § 27 Rn. 15 ff.; im Überblick Rn. 38. 50 BVerwG, Urt. v. 16.9.1993 – 4 C 28/91 = BVerwGE 94, 151 (155 f.); BVerwG, Urt. v. 23.8.1996 – 4 C 13/94 = BVerwGE 101, 364 (374 f.). Innerhalb von planähnlichen Gebieten führt die Planfiktion des § 34 Abs. 2 BauGB ebenso zur Anwendbarkeit des Gebietserhaltungsanspruchs für die Art der Nutzung, vgl. BVerwG, Urt. v. 16.9.1993 – 4 C 28/91 = BVerwGE 94, 151 (156). 51 Bönker, in: Hoppe/Bönker/Grotefels (Hrsg.), Öffentliches Baurecht: Raumordnungsrecht, Städtebaurecht, Bauordnungsrecht, 4. Aufl. 2010, § 18 Rn. 47, 48 ff. m.w.N. aus der Rspr. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium– www.zjs-online.com 433 OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 Fehling/Waldmann _____________________________________________________________________________________ das den Festsetzungen des Plans ansonsten entspricht.52 Bei Befreiungen nach § 31 Abs. 2 BauGB vermittelt das Gebot der „Würdigung nachbarlicher Belange“ schließlich Drittschutz, im Übrigen kann sich der Nachbar auch auf jede rechtswidrige Abweichung von sonst drittschützenden Festsetzungen berufen.53 b) Drittschutz bei planerischer Feinsteuerung nach § 1 Abs. 4 ff. BauNVO Der jederzeit drittschützende Gebietserhaltungsanspruch beruht auf dem Gedanken eines wechselseitigen Austauschverhältnisses;54 weil und soweit der Eigentümer eines Grundstücks in dessen Ausnutzung öffentlich-rechtlichen Beschränkungen unterworfen ist, kann er deren Beachtung auch im Verhältnis zum Nachbar durchsetzen; beide sind zu einer „Schicksalsgemeinschaft“ verbunden. Die Beschränkung der Baufreiheit wird durch den Gebietserhaltungsanspruch ausgeglichen. Da bereits die in §§ 2 ff. BauNVO enthaltenen Gebietstypen ein solches Austauschverhältnis herstellen, ist ihre Festsetzung – auch wenn sie nur in Gestalt des vom Plangeber geschaffenen Bebauungsplans gegenüber Bürgern Wirkung erlangen – kraft Bundesrechts drittschützend. Ob dies auch für die vom jeweiligen Plangeber selbst und unterschiedlich vorgenommene „Feinsteuerung“ nach § 1 Abs. 5 ff. BauNVO durch die Modifikation der zulässigen Nutzungsarten – wie hier – gilt, wird unterschiedlich beantwortet.55 Bezweifelt wird es u.a. wegen der denkbaren Vielfalt an Motivationen, die einen Plangeber zu solchen Modifikationen veranlassen mögen.56 Hier positioniert sich das OVG konsequent (entgegen der überwiegenden obergerichtlichen Rechtsprechung) für eine Ausdehnung des Drittschutzes. Das Gericht überträgt die Begründung für den Gebietserhaltungsanspruch auch auf die planerische Feinsteuerung; diese Überlegungen gälten dort 52 Vgl. grundlegend BVerwGE 67, 334 (338). Im nicht (qualifiziert) beplanten Gebiet ergibt sich Drittschutz ggf. aus dem Rücksichtnahmegebot, das – für den Innenbereich – in § 34 Abs. 1 BauGB in Gestalt des „Einfügens“ und – für den Außenbereich – in § 35 BauGB als unbenannter „öffentlicher Belang“ verortet wird, vgl. – für § 34 BauGB – BVerwG, Urt. v. 13.2.1981 – 4 C 1/78; BVerwGE 67, 334 (337); 69, 58 (60), bzw. – für § 35 BauGB – BVerwGE 52, 122 (131) – Schweinemaststall. Zu allem Koch/Hendler (Fn. 13), § 27 Rn. 18 ff., 21 ff. 53 Bönker (Fn. 51), § 18 Rn. 54. 54 Vgl., auch zum Folgenden, BVerwG, Urt. v. 16.9.1993 – 4 C 28/91 = BVerwGE 94, 151 (155 f.); BVerwG, Urt. v. 23.8.1996 – 4 C 13/94 = BVerwGE 101, 364 (374 f.). 55 Nachweise zum Streitstand bei Fickert/Fieseler (Fn. 23), § 8 Rn. 3.12. Gegen eine Ausweitung mit ausführlicher Begründung OVG Lüneburg, Beschl. v. 11.12.2003 – 1 ME 302/03 = NVwZ 2004, 1110 (1110 ff.); vgl. VGH Mannheim, Beschl. v. 5.3.1996 – 10 S 2830/95 = NVwZ 1997, 401 (402). 56 Z.B. Söfker (Fn. 29), § 8 BauNVO Rn. 50. „nicht minder“.57 Dies überzeugt, denn das BVerwG stellt in seinen Grundsatzentscheidungen zentral auf die gegenseitige Beschränkung ab, deren Ausgleich die Einräumung des drittschützenden Anspruchs dient. Auch bei einem Verstoß gegen eine Modifikation nach § 1 Abs. 6 BauNVO droht dem Nachbarn aber die Belastung durch eine unzulässige Nutzung, die ihm selbst nicht erlaubt ist, das Austauschverhältnis ist beeinträchtigt. Es kommt insoweit gerade nicht darauf an, wessen Schutz diese feinsteuernde Modifikation dient58 (so aber VGH Mannheim), sondern nur auf ihre allseitige Beschränkungswirkung. Es ist davon auszugehen, dass der Normgeber der BauNVO bei der Einräumung der – ihrerseits sehr begrenzten – Modifikationsmöglichkeiten der § 1 Abs. 4 ff. BauNVO die daraus entstehenden Abwandlungen der Baugebietsformen „mitbedacht“ hat.59 c) Kein Ausschluss des Gebietserhaltungsanspruchs bei teilweise festsetzungswidriger Eigennutzung Die Frage nach einem Ausschluss des Gebietserhaltungsanspruchs des Nachbarn, der sein Grundstück selbst planwidrig nutzt, stellte sich hier nur dem ersten Anschein nach. Zwar mag manches für eine Beschränkung der Anspruchsvernichtung auf die Abwehr der selbst ausgeübten Nutzung beim Nachbarn sprechen, wo das begründende Austauschverhältnis fehlt60 – während es unterschiedlichen planwidrigen Nutzungen jedenfalls in Bezug auf die abzuwehrende Nutzung noch intakt bleibt. Doch nutzt N sein Grundstück hier zumindest in Bezug auf den Pizza-Service (Gewerbebetrieb aller Art, § 8 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO) plankonform. 4. Der prozessuale Hintergrund im einstweiligen Rechtschutz Für Baugenehmigungen entfällt nach § 212a Abs. 1 BauGB von Vornherein die Rechtsbehelfen üblicherweise beigegebene aufschiebende Wirkung. Sie sind mit begünstigender Wirkung für den Bauherrn und (ggf.) belastender Wirkung für den Nachbarn zugleich ein sog. Verwaltungsakt mit Doppelwirkung. Typischerweise ersucht der belastete Nachbar dagegen Rechtsschutz; möchte er die Vollziehung der einem anderen erteilten Genehmigung auch einstweilen verhindern, muss er also im Verfahren nach § 80a VwGO mit dem Antrag, die sofortige Vollziehung zugunsten seiner Rechtsbehelfe auszusetzen, vorgehen.61 Ob der Antrag bei Gericht im Wege des § 80a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 VwGO – gerichtliche Vornahme der sonst behördlichen Anordnung der Aussetzung der Vollziehung – oder im Wege der § 80a Abs. 3 S. 2 i.V.m. § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO – „originärer“ Antrag bei Gericht – statt57 OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 = NVwZ-RR 2013, 990 (993). 58 So aber VGH Mannheim, Beschl. v. 5.3.1996 – 10 S 2830/95 = NVwZ 1997, 401 (402). 59 OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 = NVwZ-RR 2013, 990 (993); Stock, in: König/Roesner/Stock (Hrsg.), BauNVO, 3. Aufl. 2014, § 8 Rn. 56. 60 Vgl. VGH München, Beschl. v. 15.3.2011 – 15 CS 11.9. 61 Dazu instruktiv und im Überblick Gersdorf, Verwaltungsprozessrecht, 4. Aufl. 2009, Rn. 164 ff. _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 434 OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 Fehling/Waldmann _____________________________________________________________________________________ haft ist, kann mangels inhaltlichen Unterschieds regelmäßig offen bleiben.62 Welchen Maßstab man in dieser prozessualen Konstellation für die Begründetheitsprüfung heranzieht, ist – wie auch bei den Verfahren nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO – umstritten.63 Vielfach wird ein zum Hauptsacheverfahren akzessorisches Stufenmodell vertreten, das den Antrag für begründet erachtet, wenn nach summarischer Prüfung entweder die Erfolgsaussichten der Hauptsacheklage voraussichtlich (deutlich) überwiegen oder bei offenen Erfolgsaussichten das sonstige Aussetzungsinteresse das Vollzugsinteresse überwiegt.64 Nach anderer Auffassung ist dagegen eine umfassende Interessenabwägung vorzunehmen, in deren Rahmen die Erfolgsaussichten in der Hauptsache nur ein, wenngleich maßgeblicher, Aspekt unter mehreren sind.65 Im Rahmen des § 80a VwGO ist die Besonderheit zu beachten, dass wegen des dreipoligen Verhältnisses private (Aussetzungs- und Vollziehungs-)Interessen auf beiden Seiten der Abwägung eine Rolle spielen, das Gericht also in eine Art schiedsrichterliche Rolle rückt. Schließlich wird vorgeschlagen, die Prüfung allein materiellakzessorisch anhand der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts und der voraussichtlichen Rechtsverletzung des Antragstellers vorzunehmen (ähnlich § 80 Abs. 4 S. 3 VwGO).66 Hier legten, soweit ersichtlich, beide Instanzen die Einheitslösung zugrunde.67 Schon angesichts der eindeutigen Erfolgsprognose überwiegt danach das Aussetzungsinteresse des Nachbarn das Vollzugsinteresse von B. Das OVG übernahm diesen Maßstab und wies ergänzend darauf hin, dass auch aus einer darüber hinausgehenden Interessenabwägung kein anderes Ergebnis folge.68 IV. Fazit Die Entscheidung zeigt, dass sich auch bei „Klassikern“ wie dem Gebietserhaltungsanspruch im Detail noch viele offene Fragen verbergen, die aber von Studierenden oder Examenskandidaten mit guter Kenntnis der Grundprinzipien und Strukturen des Bauplanungsrechts – nicht notwendigerweise wie hier – beantwortet werden können. Die hier aufgezeigten Probleme lassen sich dabei jeweils einzeln gut in Klausuren auch mit anderen Schwerpunkten integrieren. Zugleich berührt der Beschluss die derzeit (angesichts des steigenden Bedarfs wieder) relevant werdende Thematik, wie planungsrechtlich mit Asylbewerberunterkünften umzugehen ist. Das OVG schließt sich der nunmehr wohl gefestigten Linie von Literatur und Rechtsprechung an, die Asylbewerberunterkünften nicht den Wohnnutzungen zuordnet. Doch sind die befürchteten Störungs- und Konfliktpotentiale solcher Unterkünfte, die diese baurechtliche Zuordnung tragen, oftmals wohl nicht primär bodenrechtlicher Natur, sondern auch sozial und verhaltensbedingt (wobei auch Vorurteile eine Rolle spielen). Dazu tragen oft auch die äußerst beengten Lebensbedingungen der Asylbewerber bei. Zur Bewältigung all dieser Umstände ist aber das Planungsrecht nur bedingt geeignet und berufen.69 Prof. Dr. Michael Fehling, LL.M. (Berkeley), Hamburg, Wiss. Mitarbeiter Manuel Waldmann, LL.B., Hamburg 62 Die Gerichte legen sich im vorliegenden Verfahren auch nicht auf eine bestimmte Normenkette fest – VG: „§ 80a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 i.V.m. § 80 Abs. 5 S. 1 1. Var. VwGO“; OVG: „§§ 80a, 80 Abs. 5 VwGO“. 63 Auch für die im Folgenden beschriebenen Grundmodelle werden im Detail vielfache Modifikationen vertreten, ein Überblick findet sich m.w.N. bei Schoch, in: Schoch/Schneider/Bier (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 26. EL (Stand: März 2014), § 80 Rn. 371 ff., § 80a Rn. 60. 64 Z.B. Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 9. Aufl. 2013, § 32 Rn. 39; Gersdorf, in: Posser/Wolff (Hrsg.), Beck’scher OnlineKommentar VwGO, Edition 29 (Stand. Oktober 2013), § 80 Rn. 187; § 80a Rn. 69; wohl Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 13. Aufl. 2012, § 25 Rn. 1001 f.; Bostedt, in: Fehling/ Kastner/Störmer (Hrsg.), Handkommentar Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 2013, § 80a VwGO Rn. 8. 65 Z.B. Gersdorf (Fn. 61), Rn. 198; vgl. die zahlreichen Nachweise bei Schoch (Fn. 63), § 80 Rn. 372; § 80a Rn. 60. 66 Prominent Schoch (Fn. 63), § 80 Rn. 380 ff., § 80a Rn. 66. 67 VG Hamburg, Beschl. v. 6.5.2013 – 7 E 1487/13, S. 3 des amtl. Umdrucks; OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 = NVwZ-RR 2013, 990. 68 OVG Hamburg, Beschl. v. 17.6.2013 – 2 Bs 151/13 = NVwZ-RR 2013, 990 (990, 993). 69 Vgl. OVG Münster, Urt. v. 10.4.2014 – 7 D 100/12.NE, Rn. 73 ff. (juris). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium– www.zjs-online.com 435 BGH, Beschl. v. 28.1.2014 – 2 StR 495/12 Wagner _____________________________________________________________________________________ Entscheidungsbesprechung Anfragebeschluss zur Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung: Verfassungswidrigkeit der echten Wahlfeststellung 1. Die richterrechtlich entwickelte Rechtsfigur der ungleichartigen Wahlfeststellung verstößt gegen Art. 103 Abs. 2 GG. 2. Eine wahldeutige Verurteilung wegen (gewerbsmäßigen) Diebstahls oder gewerbsmäßiger Hehlerei ist daher unzulässig. (Beabsichtigte Entscheidung des Senats) GG Art. 103 Abs. 2 StGB §§ 1, 242, 259 GVG § 132 BGH, Beschl. v. 28.1.2014 – 2 StR 495/121 I. Einführung: Problemaufriss, Bedeutung der Entscheidung, Examensrelevanz In strafrechtlichen Klausuren und Hausarbeiten im Rahmen des Jurastudiums ist der Sachverhalt in der Regel vollständig vorgegeben. Die Bearbeiter können und sollen sich gänzlich darauf konzentrieren, die im Sachverhalt enthaltenen Angaben den Vorschriften des materiellen Rechts zu subsumieren. Die strafgerichtliche Praxis sieht dagegen vollständig anders aus: Der Sachverhalt, den der Richter letztlich subsumiert und so zu einer rechtlichen Entscheidung kommt, ist das Ergebnis einer Beweisaufnahme (vgl. §§ 244 ff. StPO) und der anschließenden Würdigung der vorgetragenen Tatsachen durch das Gericht (vgl. § 261 StPO). Dabei kann es vorkommen, dass das Gericht sich trotz Heranziehung aller verfügbaren Beweismittel in Bezug auf eine bestimmte Tatsache keine Überzeugung bilden kann. Tritt dieser Fall ein, gilt der Grundsatz „in dubio pro reo“ (lat.: „im Zweifel für den Angeklagten). Dieser Grundsatz ist zwar an keiner Stelle in den gesetzlichen Regelungen des Strafverfahrensrechts explizit niedergelegt,2 folgt aber letztlich im Umkehrschluss aus § 261 StPO3 sowie aus allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätzen.4 In einigen Fällen wird allerdings die Anwendung des Zweifelssatzes als unbillig empfunden. So lassen sich Sach1 Die Entscheidung ist online abrufbar unter: http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi¬bin/rechtsprechung/doc ument.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=2369b420c37d3a27d76 c2acf80cae1a2&nr=67965&pos=0&anz=1&Blank=1.pdf sowie abgedruckt in NStZ 2014, 392. 2 Klarstellend etwa Ott, in: Hannich (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 7. Aufl. 2013, § 261 Rn. 56. 3 So etwa v. Heintschel-Heinegg, in: v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar, Strafgesetzbuch, Stand: 1.12.2012, § 1 Rn. 25. 4 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 4.2.1959 – 1 BvR 197/53 = BVerfGE 9, 167 (170) = NJW 1959, 619; BVerfG, Beschl. v. 23.4. 1991 – 1 BvR 1443/87 = BVerfGE 84, 82 (87) = NJW 1991, 3139. verhaltskonstellationen denken, in denen außer Frage steht, dass der Täter durch eine von mehreren selbständigen Handlungen eine bestimmte Straftat begangen hat, es sich jedoch nicht aufklären lässt, durch welche Handlung genau dies der Fall ist. Dies ist etwa denkbar, wenn es zwischen Täter und Opfer mehrfach zu ungeschütztem Geschlechtsverkehr kommt und medizinisch nicht rekonstruiert werden kann, bei welchem dieser Sexualkontakte der Täter das Opfer mit HIV infiziert hat.5 Wendet man den in dubio pro reo-Grundsatz unbesehen auf diese Fälle an, müsste man zugunsten des Täters für jede dieser Handlungen unterstellen, dass diese den Erfolg nicht verursacht hat, und folglich jeweils auf eine Versuchsstrafbarkeit erkennen. Für diese Konstellationen besteht jedoch weitgehend Einigkeit, dass eine Verurteilung (wegen vollendeter Tat) aufgrund wahldeutiger Tatsachengrundlage möglich sein soll (sog. unechte Wahlfeststellung).6 Umgekehrt kann eine Sachverhaltsunklarheit dazu führen, dass bei den in Betracht kommenden Tatsachenvarianten unterschiedliche Tatbestände einschlägig sind. Verschafft sich etwa jemand mit gefälschten Überweisungsträgern Geld von fremden Konten, kommt es darauf an, ob die Überweisung von der Bank durch einen Mitarbeiter oder maschinell bearbeitet wird; im ersten Fall liegt ein Betrug gem. § 263 StGB, im zweiten Fall ein Computerbetrug gem. § 263a StGB vor.7 Klar ist aber, dass der Täter – gleichgültig, welchen Sachverhalt man zugrunde legt – eine strafbare Handlung vorgenommen hat. Insoweit wird diskutiert, ob es möglich ist, den Täter wahlweise nach dem einen oder dem anderen Tatbestand zu verurteilen. Die Rechtsprechung und Teile der Literatur gehen davon aus, dass eine solche wahldeutige Verurteilung (unter bestimmten Voraussetzungen) möglich sein soll. Diese Lösung des Problems bezeichnet man als echte Wahlfeststellung (auch ungleichartige Wahlfeststellung genannt). Sie ist Gegenstand der zu besprechenden Entscheidung. Der 2. Strafsenat hatte sich mit einem Fall zu befassen, in dem das Landgericht den Angeklagten wahlweise wegen Diebstahls oder (gewerbsmäßiger) Hehlerei verurteilt hat. Er hält das Rechtsinstitut der echten Wahlfeststellung für verfassungswidrig und legt daher den übrigen Strafsenaten die Frage vor, ob an der bisherigen Rechtsprechung festgehalten werden soll. Diese Entscheidung ist durchaus aufsehenerregend; schließlich soll eine jahrzehntelang etablierte Praxis abgeschafft werden, die im Einzelfall weitreichende Bedeutung für das Schicksal des jeweiligen Angeklagten haben kann. Vor diesem Hintergrund sollten auch Studierende die weitere Entwicklung dieses Vorlageverfahrens sorgsam beobachten. Die Thematik der echten Wahlfeststellung eignet sich 5 So der Sachverhalt in BGH, Urt. v. 12.10.1989 – 4 StR 318/89 = BGHSt 36, 262. 6 Vgl. etwa Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 1 Rn. 60 m.w.N.; krit. Frister, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 1, 4. Aufl. 2013, Nach § 2 Rn. 103 ff. m.w.N. 7 Zu dieser Sachverhaltskonstellation vgl. BGH, Beschl. v. 12.2.2008 – 4 StR 623/07 = NStZ 2008, 281; jüngst auch BGH, Beschl. v. 5.3.2013 – 1 StR 613/12 = NStZ 2014, 42. _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 436 BGH, Beschl. v. 28.1.2014 – 2 StR 495/12 Wagner _____________________________________________________________________________________ nicht nur hervorragend für mündliche Examensprüfungen, sondern lässt sich auch mit Leichtigkeit in einer strafrechtlichen Examensklausur abfragen. So war etwa die bereits genannte Konstellation einer Wahlfeststellung zwischen Betrug und Computerbetrug Gegenstand der strafrechtlichen Klausur in der Pflichtfachprüfung des bayerischen Staatsexamens im Termin 2013/1. II. Verfahrensgang und Entscheidung des Senats Bei einer Durchsuchung wurden bei den beiden Angeklagten verschiedene Gegenstände sichergestellt.8 Das erstinstanzliche Landgericht9 gelangte zu der Überzeugung, dass diese Gegenstände entweder (mittäterschaftlich) durch die beiden Angeklagten selbst gestohlen worden waren oder aber von einer anderen Person gestohlen und von den Angeklagten im Wege der Hehlerei erworben worden waren. Es verurteilte die Angeklagten daher wahlweise wegen Diebstahls gem. §§ 242 Abs. 1, 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 StGB oder §§ 259 Abs. 1, 260 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Für die Strafbemessung legte es den (milderen) Strafrahmen des § 243 StGB zugrunde. Die Angeklagten griffen die Verurteilung mit der Revision an. Der 2. Strafsenat sieht in der alternativen Verurteilung zwar nach Maßgabe der bisherigen Rechtsprechung des BGH keinen Rechtsfehler; er beabsichtigt jedoch, diese Rechtsprechung aufzugeben,10 da er die Konstruktion der echten Wahlfeststellung für verfassungswidrig hält.11 Zur Begründung zeichnet der Senat zunächst die Entwicklung der Rechtsfigur in Gesetzgebung und Rechtsprechung nach.12 Vor diesem Hintergrund führt er aus, letztlich führe eine wahldeutige Verurteilung dazu, dass der Angeklagte weder aufgrund des einen noch aufgrund des anderen Tatbestandes verurteilt werde, sondern aufgrund einer „ungeschriebenen dritten Norm“,13 die sich aus dem gemeinsamen Nenner der beiden Tatbestände ergebe.14 Dies sei kein rein prozessualer, sondern ein materiell-rechtlicher Effekt.15 Für das materielle Strafrecht gälten aber die Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG.16 Diesen werde die Rechtsfigur der echten Wahlfeststellung in ihrer gegenwärtig praktizierten Form nicht gerecht, weil es dafür an der notwendigen gesetzlichen Grund8 Vgl. zum Sachverhalt BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12, Rn. 2 = NStZ 2014, 392. 9 LG Meiningen, Entsch. v. 30.5.2012 – 110 Js 19 545/12 – 1 KLs. 10 BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12, Rn. 3 = NStZ 2014, 392. 11 BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12, Rn. 4= NStZ 2014, 392. 12 BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12, Rn. 5 ff. = NStZ 2014, 392 f. Dazu sogleich ausführlich unter III. 2. a). 13 BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12, Rn. 26 = NStZ 2014, 392 (394). 14 BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12, Rn. 26 ff. = NStZ 2014, 392 (394 f.). 15 BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12, Rn. 23 ff. = NStZ 2014, 392 (394 f.). 16 BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12, Rn. 23 f. = NStZ 2014, 392 (394). lage fehle.17 Art. 103 Abs. 2 GG sei auch keiner nach einer Abwägung erfolgenden einschränkenden Auslegung zugänglich, um Einzelfallgerechtigkeit zu ermöglichen.18 Dass der Gesetzgeber die Frage nach der Zulässigkeit der Wahlfeststellung seinerseits bewusst der Rechtsprechung überlassen habe,19 ändere daran nichts, weil er sich seiner verfassungsrechtlichen Verantwortung insoweit nicht entziehen könne.20 Zudem sei eine wahldeutige Verurteilung gem. Art. 103 Abs. 2 GG auch deshalb verfassungswidrig, weil es bei einem Offenlassen der Schuldfrage an der Grundlage für die Strafzumessung fehle, die nach dem Gesetzlichkeitsprinzip ebenfalls gewährleistet sein müsse.21 Aus diesem Grund fragt der 2. Strafsenat bei den übrigen Strafsenaten an, ob diese an der ursprünglichen Rechtsprechung festhalten wollen oder der Rechtsprechungsänderung zustimmen. III. Würdigung der Entscheidung Das Ergebnis sei an dieser Stelle vorweggenommen: Die Entscheidung ist sehr zu begrüßen. 1. Prozessuales Zunächst einige Bemerkungen zur prozessualen Funktion der Entscheidung: a) Die Funktion der Divergenzvorlage Eine einheitliche höchstrichterliche Rechtsprechung liegt im Interesse der Rechtssicherheit.22 Dies gilt nicht nur insoweit, als die Rechtsprechung der verschiedenen Bundesgerichte einheitlich sein sollte (vgl. Art. 95 Abs. 3 GG, §§ 1 ff. RsprEinhG), sondern auch in Bezug auf die Rechtsprechung der einzelnen Senate eines Bundesgerichts. Am Bundesgerichtshof bestehen daher neben den verschiedenen Straf- und Zivilsenaten auch der Große Senat für Strafsachen und der Große Senat für Zivilsachen (§ 132 Abs. 1 S. 1 GVG), die zusammen die Vereinigten Großen Senate bilden (§ 132 Abs. 1 S. 2 GVG). Der Große Senat für Strafsachen besteht aus dem Präsidenten des Gerichtshofs sowie aus je zwei Mitgliedern jedes Strafsenats (§ 132 Abs. 5 S. 1 Var. 2 GVG). Er muss angerufen werden, wenn ein Strafsenat von der Rechtsprechung eines anderen Strafsenats abweichen will (§ 132 Abs. 2 Var. 3 GVG). Unterlässt der Senat die Vorlage willkürlich, liegt darin sogar ein Verstoß gegen die Garantie des gesetzlichen Richters 17 BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12, Rn. 31 ff. = NStZ 2014, 392 (395). 18 BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12, Rn. 31 f. = NStZ 2014, 392 (395). 19 BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12, Rn. 33 m.w.N. = NStZ 2014, 392 (395). 20 BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12, Rn. 34. = NStZ 2014, 392 (395). 21 BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12, Rn. 35 f. = NStZ 2014, 392 (395). 22 Exemplarisch Hannich, in: Hannich (Fn. 2), GVG § 132 Rn. 1. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 437 BGH, Beschl. v. 28.1.2014 – 2 StR 495/12 Wagner _____________________________________________________________________________________ (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG).23 Der Große Senat für Strafsachen entscheidet dann ausschließlich über die (abstrakte) Rechtsfrage, nicht jedoch über den konkreten Einzelfall (§ 138 Abs. 1 S. 1 GVG). In dem konkreten Einzelfall ist jedoch die rechtliche Würdigung des Großen Senats für den erkennenden Senat bindend (§ 138 Abs. 1 S. 3 GVG). Zulässig ist eine Vorlage an den Großen Senat jedoch nur dann, „wenn der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, auf Anfrage des erkennenden Senats erklärt hat, daß er an seiner Rechtsauffassung festhält“ (§ 132 Abs. 3 S. 1 GVG). Um eine solche Anfrage handelt es sich bei der vorliegenden Entscheidung. b) Zulässigkeit des Anfragebeschlusses: Entscheidungserheblichkeit der Rechtsfrage Da für die Zulässigkeit der Anfrage zur Divergenzvorlage die Rechtsfrage für den konkreten Sachverhalt entscheidungserheblich sein muss,24 stellt sich die Frage, ob eine (echte) Wahlfeststellung zwischen Diebstahl und Hehlerei überhaupt notwendig und möglich ist. aa) Voraussetzungen der echten Wahlfeststellung nach bisheriger Rechtsprechung Die Rechtsprechung hat die folgenden sechs Voraussetzungen entwickelt, deren Vorliegen für eine echte Wahlfeststellung notwendig ist:25 (1) Zunächst ist erforderlich, dass sich endgültig nicht klären lässt, welche der denkbaren Sachverhaltsalternativen tatsächlich zutrifft.26 Auch die Möglichkeit der Wahlfeststellung entbindet das Gericht nicht von der grundsätzlichen Pflicht zur vollständigen Sachverhaltsaufklärung von Amts wegen (§ 244 Abs. 2 StPO). (2) Weiterhin muss der Angeklagte in jeder der alternativ denkbaren Sachverhaltsvarianten strafbar sein.27 Weitere mögliche Geschehnisse, bei deren Zugrundelegung der Angeklagte straffrei wäre, müssen gänzlich ausgeschlossen werden können.28 (3) Die möglichen Sachverhaltsvarianten müssen zur Folge haben, dass jeweils der eine bzw. der andere Straftatbestand Anwendung findet; die beiden Delikte müssen exklusiv alternativ vorliegen.29 (4) Zwischen den beiden Delikten darf kein Stufenverhältnis bestehen (z.B. Versuch und Vollendung, Grunddelikt 23 Etwa Hannich (Fn. 22), GVG § 132 Rn. 10 m.w.N. Etwa Hannich (Fn. 22), GVG § 132 Rn. 4 m.w.N. 25 Vgl. die übersichtliche Darstellung bei Satzger, in: Satzger/ Schluckebier/Widmaier (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar, 2. Aufl. 2014, § 1 Rn. 72 ff. m.w.N. 26 Vgl. etwa BGH, Urt. v. 4.12.1958 – 4 StR 411/58 = BGHSt 12, 386 (388) = NJW 1959, 896 (897); BGH, Urt. v. 11.11. 1966 – 4 StR 387/66 = BGHSt 21, 152 = NJW 1967, 359. 27 Etwa BGH, Urt. v. 4.12.1958 – 4 StR 411/58 = BGHSt 12, 386 (388) = NJW 1959, 896 (897). 28 Etwa BGH, Beschl. v. 24.9.1982 – 2 StR 476/82 = NJW 1983, 405. 29 Etwa BGH, Urt. v. 4.12.1958 – 4 StR 411/58 = BGHSt 12, 386 (389) = NJW 1959, 896 (897). 24 und Qualifikation); in einem solchen Fall ist nach dem Zweifelssatz nach dem milderen Delikt zu bestrafen.30 (5) Die denkbaren Sachverhaltsalternativen müssen sämtlich Gegenstand des Verfahrens sein.31 (6) Die beiden Delikte müssen „psychogisch und rechtsethisch“ gleichwertig sein.32 bb) Konsequenzen für die Wahlfeststellung zwischen Diebstahl und Hehlerei Diebstahl und Hehlerei werden in der Rechtsprechung seit langem als gleichwertig im Sinne des Kriteriums (6) angesehen.33 Die Hehlerei habe „nach allgemeiner Rechtsüberzeugung die gleiche sittliche Mißbilligung verdient wie die des Diebes“ und „auch die seelische Verfassung dieser beiden Täter, deren Verfehlungen in gleichem Maße gegen fremdes Eigentum gerichtet sind“, seien „nicht wesentlich verschieden“.34 Damit Kriterium (2) erfüllt ist, ist notwendig, dass das Gericht zur Überzeugung gelangt, dass der Angeklagte, bei dem der gestohlene Gegenstand aufgefunden wurde, jedenfalls hinsichtlich dessen deliktischer Herkunft bösgläubig war.35 Ein Stufenverhältnis im Sinne des Kriteriums (4) besteht nach der Rechtsprechung zwischen Hehlerei und Diebstahl jedenfalls nicht. Erhebliche rechtliche Zweifel bestehen allerdings hinsichtlich des Kriteriums (3): Ist – wie im vorliegenden Sachverhalt – nicht klar, ob der Angeklagte das Tatobjekt selbst gestohlen oder vom Dieb (oder einem Zwischenhehler) erworben hat, kommt auch eine eindeutige Verurteilung wegen Unterschlagung gem. § 246 Abs. 1 StGB in Betracht; dann ist aber die Wahlfeststellung überflüssig.36 Ist dagegen klar, dass der Angeklagte die Sache zwar nicht selbst dem ursprünglich Berechtigten entwendet hat, sondern ist unklar, ob er die Sache seinerseits vom Dieb gestohlen oder freiwillig von diesem erhalten hat, läge nach der ganz überwiegenden Auffassung das für die Wahlfeststellung erforderliche alternative Exklusivitätsverhältnis vor, weil nach der ganz h.M. für die Hehlerei ein einvernehmliches Zusammenwirken von Vortäter und Hehler erforderlich ist, dass bei einer Wegnahme nicht gege- 30 Etwa BGH, Urt. v. 16.12.1969 – 1 StR 339/69 = BGHSt 23, 203 (207) = NJW 1970, 668. Detailliert zu diesem Aspekt etwa Satzger (Fn. 25), § 1 Rn. 69 f., 75. 31 Etwa BGH, Beschl. v. 5.3.2013 – 1 StR 613/12 = NStZ 2014, 42 m.w.N. 32 Grundlegend BGH, Beschl. v. 15.10.1956 – GSSt 2/56 = BGHSt 9, 390 (393) = NJW 1957, 71. 33 Vgl. bereits BGH, Urt. v. 12.9.1951 – 4 StR 551/51 = BGHSt 1, 302 (304); BGH, Urt. v. 17.10.1957 – 4 StR 73/57 = NJW 1957, 1933. 34 BGH, Urt. v. 17.10.1957 – 4 StR 73/57 = NJW 1957, 1933. 35 Etwa OLG Celle, Urt. v. 12.8.1986 – 1 Ss 270/86 = NJW 1988, 1225. 36 Vgl. dazu Frister (Fn. 6), Nach § 2 Rn. 90; Altenhain, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 3, 4. Aufl. 2013, § 259 Rn. 86 m.w.N. _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 438 BGH, Beschl. v. 28.1.2014 – 2 StR 495/12 Wagner _____________________________________________________________________________________ ben ist.37 Wie bereits an anderer Stelle dargelegt, bedarf es eines solchen Einvernehmenserfordernisses nicht,38 weshalb in dieser Sachverhaltskonstellation jedenfalls auf Hehlerei erkannt werden kann, was eine Wahlfeststellung ebenfalls entbehrlich macht.39 cc) Zwischenergebnis Richtigerweise stellt sich nach dem eben Dargestellten das Problem der Wahlfeststellung im Verhältnis zwischen Diebstahl und Hehlerei eigentlich nicht. Für die Zulässigkeit des Anfragebeschlusses ist jedoch die Rechtsprechung zugrunde zu legen (anderenfalls wäre insoweit ein Anfragebeschluss erforderlich, um die Rechtsprechung im hiesigen Sinne zu ändern). Auf deren Grundlage ist die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der echten Wahlfeststellung hier zutreffenderweise entscheidungserheblich. Da keine Anhaltspunkte vorliegen, die am Vorliegen der übrigen Voraussetzungen zweifeln lassen, ist der Anfragebeschluss damit zulässig. 2. Verfassungswidrigkeit der echten Wahlfeststellung? Es stellt sich daher die Frage, ob dem Senat auch in der Sache zugestimmt werden kann. a) Historische Entwicklung Dabei ist es unerlässlich, zunächst die historische Entwicklung des Rechtsinstituts der echten Wahlfeststellung nachzuzeichnen: Die Reichsstrafprozessordnung von 1877 sah keine gesetzliche Regelung der Wahlfeststellung vor. Die Frage nach der Zulässigkeit der Wahlfeststellung war bereits zuvor in der Literatur heftig umstritten gewesen und die Entwurfsverfasser der Reichsjustizgesetze wollten diese Diskussion nicht durch eine gesetzliche Regelung unterbrechen, die einer gesicherten wissenschaftlichen Grundlage entbehrt.40 37 Vgl. etwa RG, Urt. v. 6.10.1930 – II 445/30 = RGSt 64, 326 (327); RG, Urt. v. 9.7.1918 – II 264/18 = RGSt 52, 203; RG, Urt. v. 23.3.1920 – IV 1004/19 = RGSt 54, 280 (281 f.); BGH, Beschl. v. 28.4.1998 – 4 StR 167/98 = wistra 1998, 264 (265); BGH, Beschl. v. 29.3.1977 – 1 StR 646/76 = BGHSt 27, 160 (163); BGH, Beschl. v. 20.7.2004 – 3 StR 231/04 = wistra 2005, 27 (28); BGH, Urt. v. 22.6.1960 – 2 StR 192/60 = BGHSt 15, 53 (56 f.); aus der Literatur exemplarisch Pflieger, in: Dölling/Duttge/Rössner (Hrsg.), Gesamtes Strafrecht, Handkommentar, 3. Aufl. 2013, StGB § 259 Rn. 30; Altenhain (Fn. 36), § 259 Rn. 25 ff.; Maier, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 4, 2. Aufl. 2012, § 259 Rn. 68; Lackner/ Kühl, Strafgesetzbuch, Kommentar, 28. Aufl. 2014, § 259 Rn. 10; Stree/Hecker, in: Schönke/Schröder (Fn. 6), § 259 Rn. 15; jeweils m.w.N. BGHSt 27, 45 (46) 38 Vgl. M. Wagner, ZJS 2010, 17 (18 ff.). 39 Vgl. M. Wagner, ZJS 2010, 17 (28). 40 Vgl. Hahn (Hrsg.), Die gesammten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 3: Materialien zur Strafprozeß- Anfänglich hatte das Reichsgericht eine echte Wahlfeststellung noch abgelehnt.41 Eine alternative Sachverhaltsfeststellung ließ es nur zu, wenn unterschiedliche gleichwertige Ausführungsvarianten desselben Delikts im Raum standen.42 Diese Rechtsprechung wurde durch eine Entscheidung der Vereinigten Strafsenate im Jahre 1934 gekippt.43 Die Entscheidung führt aus, grundsätzlich sei zwar „der Wille des Richters dem des Gesetzgebers untergeordnet.“44 Der Auftrag der Vereinigten Strafsenate führe aber „aus diesem regelmäßigen Aufgabenkreis hinaus“.45 Sie seien „berechtigt und verpflichtet, […] zur Ergänzung einer im Verfahrensrecht vorhandenen Gesetzeslücke […] rechtsschöpferisch tätig zu werden“.46 Dabei müssten sie „gleich dem Gesetzgeber arbeiten“.47 Zwar könne die Wahlfeststellung nicht generell zugelassen werden.48 Eine Ausnahme müsse aber für das Verhältnis von Diebstahl und Hehlerei gelten, weil ein Freispruch bei Unmöglichkeit der vollständigen Sachverhaltsaufklärung nicht hinnehmbar sei.49 Ein Jahr später wurde die Wahlfeststellung durch den Gesetzgeber uneingeschränkt zugelassen. Durch die Strafrechtsnovellen v. 28.6.193550 wurde unter anderem § 2b RStGB a.F. eingefügt, der lautete: § 2b RStGB i.d.F.v. 28.6.1935 Steht fest, daß jemand gegen eines von mehreren Strafgesetzen verstoßen hat, ist aber eine Tatfeststellung nur wahlweise möglich, so ist der Täter aus dem mildesten Gesetz zu bestrafen. ordnung, Erste Abtheilung, 2. Aufl. 1885, S. 223 m.w.N. aus der Literatur. 41 Vgl. RG, Urt. v. 9.11.1891 – 2638/91= RGSt 22, 213 (216); RG, Urt. v. 8.4.1892 – 822/92 = RGSt 23, 47; RG, Urt. v. 29.5.1902 – 1808/02 = RGSt 35, 299 (300); RG, Urt. v. 30.4.1919 – III 156/19 = RGSt 53, 231 (232). 42 Vgl. RG, Urt. v. 9.11.1891 – 2638/91= RGSt 22, 213 (216); RG, Urt. v. 8.4.1892 – 822/92 = RGSt 23, 47; RG, Urt. v. 29.5.1902 – 1808/02 = RGSt 35, 299 (300); RG, Urt. v. 30.4.1919 – III 156/19 = RGSt 53, 231 (232); RG, Urt. v. 18.6.1920 – II 476/20 = RGSt 55, 44; RG, Urt. v. 1.2.1921 – II 899/20= RGSt 55, 228 (229); RG, Urt. v. 19.4.1921 – 483/21 = RGSt 56, 35; RG, Urt. v. 4.1.1922 – II 538/22 = RGSt 57, 174. 43 RG, Beschl. v. 2.5.1934 – 1 D 1096/33 = RGSt 68, 257. 44 RG, Beschl. v. 2.5.1934 – 1 D 1096/33 = RGSt 68, 257 (259). 45 RG, Beschl. v. 2.5.1934 – 1 D 1096/33 = RGSt 68, 257 (259). 46 RG, Beschl. v. 2.5.1934 – 1 D 1096/33 = RGSt 68, 257 (259). 47 RG, Beschl. v. 2.5.1934 – 1 D 1096/33 = RGSt 68, 257 (259). 48 RG, Beschl. v. 2.5.1934 – 1 D 1096/33 = RGSt 68, 257 (260 f.). 49 RG, Beschl. v. 2.5.1934 – 1 D 1096/33 = RGSt 68, 257 (262). 50 Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs = RGBl. I 1935, S. 839. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 439 BGH, Beschl. v. 28.1.2014 – 2 StR 495/12 Wagner _____________________________________________________________________________________ Diese Regelung wurde durch eine prozessuale Regelung flankiert:51 § 267b RstPO i.d.F.v. 28.6.1935 Trifft das Gericht eine Wahlfeststellung (§ 2b des Strafgesetzbuchs), so ist der Angeklagte in der Formel nur der Verletzung des anzuwendenden Strafgesetzes schuldig zu sprechen. Die Urteilsgründe müssen angeben, welche Gesetze als verletzt in Betracht kommen. Die Tatsachen, die den Verstoß ergeben, sin festzustellen; es ist darzutun, weshalb eine eindeutige Feststellung nicht möglich ist. Sieht das Gericht entgegen einer in der Hauptverhandlung gestellten Anfrage von einer Wahlfeststellung ab, so müssen die Gründe dafür dargelegt werden. In den Fällen, die die Rechtsprechung des Reichsgerichts beschäftigt hatten, sei ein Freispruch „für das Rechtsgefühl unerträglich[]“.52 Die Regelung solle dem abhelfen. Sie gelte auch dann, wenn die beiden alternativ vorliegenden Delikte durch verschiedene Taten (im strafprozessualen Sinne) begangen wurden.53 Die Regelung hat den Zweck, den formalen Charakter des Zweifelssatzes zugunsten subjektiver Gerechtigkeitserwägungen zu suspendieren. Sie ist daher Ausdruck des typischen nationalsozialistischen Gesetzgebungsphänomens der Materialisierung54 und somit typisch nationalsozialistisches Recht.55 Dementsprechend wurde sie durch Gesetz Nr. 11 des Alliierten Kontrollrats für Deutschland v. 30.1.194656 aufgehoben.57 Der BGH sah in dieser Aufhebung keinen Grund, die Wahlfeststellung aufzugeben. Die Aufhebung der gesetzlichen Regelung bedeute nicht, dass die Wahlfeststellung unzulässig sei.58 Vielmehr knüpfte er – wie zuvor bereits der Oberste Gerichtshof für die Britische Zone59 – an die Rechtsprechung der Vereinigten Strafsenate des Reichsgerichts an und setzte sie fort.60 Der Bundesgesetzgeber verzichtete im Zuge der Strafrechtsbereinigung explizit darauf, eine Neuregelung zu schaffen, sondern überließ die Frage unter Bezugnahme auf die Nachkriegsrechtsprechung der Entwicklung in Wissenschaft und Praxis.61 Im Weiteren ging der BGH jedoch letztlich über die Rechtsprechung des Reichsgerichts hinaus, was der Große Strafsenat des BGH billigte, aus den verschiedenen Entscheidungen das Kriterium der „rechtsethischen und psychologischen Gleichwertigkeit“ herausdestillierte und zum allgemeinen Maßstab erhob.62 Vor diesem Hintergrund wurde die echte Wahlfeststellung in einer großen Zahl von Konstellationen zugelassen.63 b) Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG hinsichtlich der Anforderungen an die Tatbestandsseite eines Strafgesetzes Der Senat begründet die Verfassungswidrigkeit der Rechtsprechung zur Wahlfeststellung mit einem Verstoß gegen das Gesetzlichkeitsprinzip gem. Art. 103 Abs. 2 GG. aa) Anwendungsbereich und normativer Gehalt des Art. 103 Abs. 2 GG Art. 103 Abs. 2 GG normiert den zentralen Grundsatz eines aufgeklärten rechtsstaatlichen Strafrechts.64 Danach kann eine Tat „nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde“. Die Vorschrift besitzt zwei unterschiedliche Zweckrichtungen:65 Zum einen soll der Normadressat vorhersehen können, welches Verhalten strafbar ist (subjektiv-rechtlicher Gehalt). Zum anderen legt sie fest, dass nur der parlamentarische Gesetzgeber selbst die Entscheidung treffen darf, welche Verhaltensweisen strafbar sind (objektiv-rechtlicher Gehalt). 51 Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungsgesetzes = RGBl. I 1935, S. 844. 52 Amtliche Sonderveröffentlichungen der Deutschen Justiz, Die Strafrechtsnovellen v. 28. Juni 1935, Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs (RGBl. I S. 839), Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungsgesetzes (RGBl. I, S. 844) und amtliche Begründungen zu diesen Gesetzen, 1935, S. 31. 53 Amtliche Sonderveröffentlichungen der Deutschen Justiz (Fn. 52), S. 31. 54 Dazu Vogel, Einflüsse des Nationalsozialismus auf das Strafrecht, 2004, S. 15, 61 ff. 55 So auch die Einschätzungen bei Frister (Fn. 6), Nach § 2 Rn. 6, und Schmitz, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, 2. Aufl. 2011, Anh. zu § 1 Rn. 4; a.A. BT-Drs. I/3713, S. 19; Stuckenberg, in: v. Heintschel-Heinegg/Stöckel (Hrsg.), KMR, Kommentar zur Strafprozessordnung, 68. Lfg., Stand: August 2013, § 261 Rn. 151. 56 Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland, S. 55. 57 Dazu Etzel, Die Aufhebung von nationalsozialistischen Gesetzen durch den Alliierten Kontrollrat (1945-1948), 1992, S. 84. 58 Vgl. etwa BGH, Urt. v. 19.4.1951 – 3 StR 165/51 = BGHSt 1, 127 (128); BGH, Urt. v. 21.6.1951 – 4 StR 26/51 = BGHSt 1, 275 (276) = NJW 1952, 193. 59 Vgl. OGH BrZ, Urt. v. 20.6.1949 – StS 198/49 = OGHSt 2, 89 (93). 60 Vgl. BGH, Urt. v. 19.4.1951 – 3 StR 165/51 = BGHSt 1, 127 (128); BGH, Urt. v. 21.6.1951 – 4 StR 26/51 = BGHSt 1, 275 (276) = NJW 1952, 193. 61 BT-Drs. I/3713, S. 19. 62 Vgl. BGH, Beschl. v. 15.10.1956 – GSSt 2/56 = BGHSt 9, 390 = NJW 1957, 71. 63 Vgl. die Übersicht bei Stuckenberg (Fn. 55), § 261 Rn. 145. 64 Vgl. etwa Schünemann, Nulla poena sine lege?, Rechtstheoretische und verfassungsrechtliche Implikationen der Rechtsgewinnung im Strafrecht, 1978, S. 1 ff. m.w.N. Krit. zur Geltung des Bestimmtheitsgrundsatzes im Strafrecht Rotsch, ZJS 2008, 132 (134 f., 138). 65 Exemplarisch jüngst BVerfG, Beschl. v. 23.6.2010 – 2 BvR 2559/08, 2 BvR 105/09, 2 BvR 491/09 = BVerfGE 126, 170 (194 f.) m.w.N. _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 440 BGH, Beschl. v. 28.1.2014 – 2 StR 495/12 Wagner _____________________________________________________________________________________ Der Anwendungsbereich des Art. 103 Abs. 2 GG beschränkt sich erstens auf das materielle Strafrecht.66 Zweitens beschränkt er sich auf die Sanktionsnormen, die auch tatsächlich unmittelbar die Rechtsfolge der Strafbarkeit anordnen.67 Allerdings gilt das Gesetzlichkeitsprinzip nicht nur für die Voraussetzungen der Strafbarkeit, sondern auch für Art und Maß der Sanktion selbst.68 bb) Art. 103 Abs. 2 GG als Prüfmaßstab für die echte Wahlfeststellung Es stellt sich nun die Frage, ob die Wahlfeststellung überhaupt den sachlichen Anwendungsbereich des Art. 103 Abs. 2 GG berührt und – bejahendenfalls – dessen Anforderungen gerecht wird. Ob es sich bei der Wahlfeststellung um ein prozessuales oder um ein materiell-rechtliches Institut handelt, war seit jeher umstritten.69 Dass die gesetzliche Regelung der echten Wahlfeststellung während des Nationalsozialismus sowohl eine Vorschrift im StGB wie auch eine Vorschrift in der StPO enthielt, trifft hierüber keine dogmatisch abschließende Aussage, sondern hat bestenfalls Indizcharakter.70 Für den (ausschließlich) prozessualen Charakter der Wahlfeststellung wird angeführt, dass materiell kein Problem bestehe, weil der Angeklagte materiell ja gerade eines der beiden im Schuldspruch aufgeführten Delikte tatsächlich begangen hat.71 Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieses Delikts sowie seine Strafdrohung seien vor der Tat hinreichend bestimmt gewesen, weshalb ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG ausscheide.72 Die Tatsachenunsicherheit stelle lediglich ein Beweisproblem dar, das prozessualer Natur sei und deshalb nicht am strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzip zu messen sei.73 Über die Frage der Zulässigkeit einer mehrdeutigen Verurteilung treffe das Gesetzlichkeitsprinzip keine Aussage.74 Diese Ausführungen sind nicht haltbar: Bei der Wahlfeststellung handelt es sich gerade nicht um eine Beweisfrage. Sie kommt – anders als etwa der Zweifelssatz – erst zur Anwendung, wenn sowohl Beweisaufnahme wie auch Beweiswürdigung bereits abgeschlossen sind; ja sogar erst, nachdem das Gericht den Sachverhalt bereits den beiden in Frage kommenden Deliktstatbeständen subsumiert und festgestellt hat, dass beide Tatbestände jeweils für sich genommen nicht einschlägig sind. Dass materiell gesehen einer der Tatbestände tatsächlich verwirklicht wurde, ist insoweit irrelevant, weil Subsumtionsgrundlage des Gerichts ausschließlich die prozessordnungsgemäß festgestellten Tatsachen sind.75 Wendete das Gericht das materielle Recht ohne weiteres an, müsste es zum Ergebnis eines Freispruchs kommen. Denn für die Verurteilung wegen des einen oder des anderen Deliktes besteht keine – materielle (!) – Ermächtigungsgrundlage (nämlich ein entsprechender Deliktstatbestand); die Anforderungen der bestehenden Rechtsgrundlagen sind jeweils nicht erfüllt. Die Wahlfeststellung dient also dazu, materiell zu einem anderen Ergebnis zu kommen, als es das positive Recht eigentlich vorsieht; sie kann daher selbst zwangsläufig nur materieller Natur sein. Dies gilt umso mehr, als die Rechtsprechung zur Schließung dieser materiell-rechtlichen „Lücke“ ein ebenfalls materielles Kriterium heranzieht, nämlich dasjenige der „rechtsethischen und psychologischen Vergleichbarkeit“ der in Frage kommenden Deliktstatbestände76 (das letztlich keinen Begriffsinhalt hat, sondern nur eine leere Floskel darstellt, die der Rechtsprechung eine willkürliche Handhabung ermöglicht77). Letztlich ist damit dem Senat darin zuzustimmen, dass im Falle der echten Wahlfeststellung eine Verurteilung letztlich auch nicht darauf gestützt wird, dass eine wahldeutige Tatsachengrundlage zwei bestehenden Straftatbeständen subsumiert wird. Vielmehr gründet die Verurteilung auf einer ungeschriebenen dritten Strafnorm.78 Die Voraussetzungen dieser Norm bestehen zum einen in den tatbestandlichen Anforderungen, die den beiden wahlweise abgeurteilten Deliktstatbeständen gemeinsam sind, zum anderen in dem von der Rechtsprechung entwickelten Kriterium der rechtsethischen und psychologischen Vergleichbarkeit.79 Damit wird eine gänzlich neue Sanktionsnorm geschaffen. 66 Vgl. Kudlich, in: Kudlich/Montiel/Schuhr (Hrsg.), Gesetzlichkeit und Strafrecht, 2012, S. 233 (239 ff.) m.w.N. 67 So auch jüngst Freund, JZ 2014, 362 f.; a.A. etwa Appel, Verfassung und Strafe, Zu den verfassungsrechtlichen Grenzen staatlichen Strafens, 1998, S. 571. 68 Exemplarisch BVerfG, Beschl. v. 26.2.1969 – 2 BvL 15/68, 2 BvL 23/68 = BVerfGE 25, 269 (285 f.) = NJW 1969, 1059 (1060). 69 Vgl. die Nachweise zur älteren Literatur bei Günther, Verurteilungen im Strafprozeß trotz subsumtionsrelevanter Tatsachenzweifel, Ein Beitrag zum Institut der sog. „ungleichartigen Wahlfeststellung“, 1976, S. 168 Fn. 27. 70 So zutreffend Wolter, GA 2013, 271 (275). 71 Etwa Günther (Fn. 69), S. 168 f.; Wolter, GA 2013, 271 (276). 72 Etwa Wolter, GA 2013, 271 (274). 73 Etwa Günther (Fn. 69), S. 169. 74 Etwa Wolter, GA 2013, 271 (274); Frister (Fn. 6), Nach § 2 Rn. 77; Stuckenberg (Fn. 55), § 261 Rn. 149 m.w.N. 75 Klarstellend Freund, in: Zöller/Hilger/Küper/Roxin (Hrsg.), Gesamte Strafrechtswissenschaft in internationaler Dimension, Festschrift für Jürgen Wolter zum 70. Geburtstag am 7. September 2013, 2013, S. 35 (52). 76 Zutreffend der Senat, vgl. BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12, Rn. 27 f. = NStZ 2014, 392 (394 f.). 77 So auch Endruweit, Die Wahlfeststellung und die Problematik der Überzeugungsbildung, der Identitätsbestimmung, der Urteilssyllogistik sowie der sozialen und personalen Gleichwertigkeit von Straftaten, 1973, S. 182 ff., 198 f.; Stuckenberg (Fn. 55), § 261 Rn. 148. 78 BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12, Rn. 26 = NStZ 2014, 392 (394); so bereits zuvor etwa Endruweit (Fn. 77), S. 251 ff.; Freund (Fn. 75), S. 35 (49); Gaede, in: Leipold/ Tsambikakis/Zöller (Hrsg.), AnwaltKommentar Strafgesetzbuch, 2011, § 1 Rn. 51. 79 BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12, Rn. 26 f. = NStZ 2014, 392 (394 f.). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 441 BGH, Beschl. v. 28.1.2014 – 2 StR 495/12 Wagner _____________________________________________________________________________________ cc) Möglichkeit der Rechtfertigung des Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 2 GG Damit greift eine Verurteilung im Wege der echten Wahlfeststellung in den Schutzbereich des Art. 103 Abs. 2 GG ein. Zwar ist dessen subjektiv-rechtlicher Gehalt nicht betroffen, weil der Angeklagte vor seiner Tat eine Strafbarkeit hatte vorhersehen können.80 Die Verletzung manifestiert sich jedoch mit Blick auf den objektiv-rechtlichen Gehalt des Gesetzlichkeitsprinzips, weil die Verurteilung – wie gezeigt – eben gerade nicht aufgrund eines Deliktstatbestandes erfolgt, der vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber geschaffen wurde. Diesen Eingriff in das grundrechtsgleiche Recht des Art. 103 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich mit Erwägungen der Einzelfallgerechtigkeit rechtfertigen zu wollen,81 ist unzulässig.82 Das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip gilt absolut; das Grundgesetz hat in Bezug auf das Strafrecht die Abwägung der widerstreitenden Interessen zugunsten des Parlamentsvorbehalts und der Rechtssicherheit entschieden und sich damit gerade gegen eine absolute Einzelfallgerechtigkeit ausgesprochen.83 Vielmehr ist es gerade Aufgabe des Art. 103 Abs. 2 GG, mit seiner formalen und zwingenden Natur den Richter in den Fällen zum Freispruch zu zwingen, in denen ein solcher dem subjektiven Gerechtigkeitsempfinden widerstreben mag.84 Ebenfalls keine Rechtfertigung ergibt sich daraus, dass der Gesetzgeber zwar absichtlich auf eine gesetzliche Regelung verzichtet hat, sich damit aber nicht gegen die Wahlfeststellung aussprechen wollte, sondern die Frage der Rechtsprechung überlassen wollte.85 Über die rechtsstaatliche Gewaltenteilung darf der Gesetzgeber nicht frei disponieren; er kann sich seiner verfassungsrechtlichen Aufgabe nicht nach Belieben entziehen.86 c) Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG hinsichtlich der Anforderungen an die Rechtsfolgenseite eines Strafgesetzes Die Probleme, die die Wahlfeststellung hinsichtlich des Schuldspruchs aufwirft, setzen sich auch bei der Strafrechtsfolge fort. Nach § 46 Abs. 1 S. 1 StGB ist die Schuld die Grundlage der Strafzumessung. Wird die Strafbarkeit im Schuldspruch offengelassen, fehlt es an dieser Grundlage. Dies wird etwa deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass bei unklarer Tatsachenlage regelmäßig das Motiv des 80 Zutreffend Freund (Fn. 75), S. 35 (36). So etwa Eser/Hecker (Fn. 6), § 1 Rn. 67 f.; Dannecker, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 1, 12. Aufl. 2007, Anh. § 1 Rn. 13 ff. 82 Zutreffend BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12, Rn. 31 f. = NStZ 2014, 392 (395); bereits zuvor Stuckenberg (Fn. 55), § 261 Rn. 149; Frister (Fn. 6), Nach § 2 Rn. 76; Freund (Fn. 75), S. 35 (43, 51). 83 Zutreffend BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12, Rn. 31 f. = NStZ 2014, 392 (395). 84 Zutreffend Freund (Fn. 75), S. 35 (51). 85 S.o. III. 2. a) auf S. 439. 86 Zutreffend BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12, Rn. 33 f. = NStZ 2014, 392 (395). 81 Täter nicht ermittelt werden kann, das gem. § 46 Abs. 2 S. 2 StGB einen maßgeblichen Strafzumessungsaspekt darstellt.87 Da Art. 103 Abs. 2 GG auch die Gesetzlichkeit der Rechtsfolgenseite einer Strafnorm garantiert, verstößt die Wahlfeststellung auch vor diesem Hintergrund gegen das Grundgesetz.88 IV. Exkurs: Möglichkeit einer gesetzlichen Normierung der echten Wahlfeststellung Da de lege lata der Haupteinwand gegen die echte Wahlfeststellung das Fehlen einer gesetzlichen Regelung ist,89 stellt sich die Frage, inwiefern die Schaffung einer solchen möglich ist. 1. Regelungsmöglichkeiten im Allgemeinen Teil des StGB Eine erneute Regelung im Allgemeinen Teil des StGB90 ist aus mehreren Gründen zum Scheitern verurteilt: Versuchte der Gesetzgeber, die Rechtsprechung des BGH zu normieren,91 verstieße eine solche Regelung aufgrund mangelnder Bestimmtheit gegen Art. 103 Abs. 2 GG, weil das Kriterium der rechtsethischen und psychologischen Vergleichbarkeit keinerlei normativen Aussagegehalt besitzt.92 Aber auch wenn man versuchte, eine neu gestaltete Legitimationsgrundlage für die echte Wahlfeststellung zu schaffen, wäre diese erheblichen Problemen und Bedenken ausgesetzt. Diese ergeben sich vor allem aus straftheoretischer Perspektive: Ungelöst bleibt etwa das Problem, dass bei Unkenntnis des tatsächlichen Vorgangs und dessen strafrechtlicher Einordnung Art und Maß der Schuld unbekannt sind und es daher an einer Grundlage für die Strafzumessung fehlt.93 Doch auch unter dem Gesichtspunkt der Generalprävention94 fehlt es an der Grundlage für eine straftheoretische Rechtfertigung der echten Wahlfeststellung:95 Ist nicht klar, gegen welche Norm der Täter verstoßen hat, kann durch seine Verurteilung auch 87 So etwa Jakobs, GA 1971, 257 (268). Zutreffend BGH, Beschl. v. 28.2.2014 – 2 StR 495/12, Rn. 35 f. = NStZ 2014, 392 (395). 89 Klarstellend Freund (Fn. 75), S. 35 (56 in Fn. 79). 90 So etwa der Gesetzesvorschlag bei Wolter, GA 2013, 271 (282 ff.). 91 Kritisch auch Stuckenberg (Fn. 55), § 261 Rn. 151. 92 Demselben Vorwurf ist auch der Gesetzesvorschlag von Wolter ausgesetzt. Sein § 55a Abs. 1 S. 3 StGB-E lautet „Die Taten sind vergleichbar, wenn sie sich namentlich in den gesetzlichen Merkmalen von Unrecht und Schuld entsprechen.“ (GA 2013, 271 [282 ]). Diese Zweifel erhärten sich, wenn Wolter die Entsprechungsklausel des § 13 Abs. 1 StGB, deren Funktion und Inhalt bis heute vollständig ungeklärt sind (vgl. Kühl, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2012, § 18 Rn. 122 m.w.N.), als „sprachliches wie inhaltliches Vorbild“ für seinen Regelungsvorschlag anführt (GA 2013, 271 [284]). 93 Siehe bereits oben II. 2. c). 94 Zu diesem Strafzweck Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1, 4. Aufl. 2006, § 3 Rn. 21 ff. 95 Nicht dagegen die Spezialprävention, vgl. Frister (Fn. 6), Nach § 2 Rn. 80 m.w.N. 88 _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 442 BGH, Beschl. v. 28.1.2014 – 2 StR 495/12 Wagner _____________________________________________________________________________________ nicht die Geltung einer Norm bekräftigt werden, weshalb der generalpräventive Effekt der Strafe entfällt; der konkrete Appell an die Bevölkerung, ein bestimmtes Verhalten zu tun oder zu unterlassen, verkommt zu einer allgemeinen Aufforderung zur Rechtstreue.96 2. Regelungsmöglichkeiten im Besonderen Teil des StGB Es verbleibt nur die Möglichkeit einzelner Normierungen im Besonderen Teil des StGB. Zum einen können einzelne Tatbestandsverwirklichungsformen ein und desselben Tatbestandes durch die Konjunktion „oder“ verknüpft werden.97 Zum anderen besteht die Möglichkeit, neue Deliktstatbestände in den Bereichen zu normieren, in denen die Wahlfeststellung praktisch häufig angewandt wird (wie z.B. im Verhältnis zwischen Diebstahl und Hehlerei).98 Insoweit stellt sich dann aber das grundsätzliche Problem, ob aufgrund von Beweisschwierigkeiten neue Tatbestände des Besonderen Teils geschaffen werden dürfen.99 hung des in dubio pro reo-Grundsatzes sogar den Rechtsbeugungstatbestand gem. § 339 StGB erfüllen kann,102 wird derlei Entwicklungen leider wohl kaum verhindern können. Zudem birgt die Erkenntnis der Verfassungswidrigkeit der echten Wahlfeststellung die Gefahr, den Gesetzgeber zu unüberlegtem populistisch motiviertem Handeln zu verleiten. Es bleibt zu wünschen, dass diese eigentlich erfreuliche Entwicklung der Rechtsprechung nicht letzten Endes zur Folge hat, dass unnötige Straftatbestände oder eine sonstige Regelung geschaffen werden, die nur dazu dienen, die bisherige zweifelhafte Rechtsprechung für die Zukunft zu legitimieren. Die nächsten Jahre werden zeigen, ob dies nur fromme Wünsche sind, die von der Kriminalpolitik ungehört verhallen. Wiss. Mitarbeiter Markus Wagner, Gießen V. Fazit Prinzipiell ist es sehr zu begrüßen, dass der 2. Strafsenat von einer jahrzehntelangen verfassungswidrigen Rechtsprechungspraxis abkehren möchte. Es ist daher zu wünschen, dass die übrigen Senate dieser Entwicklung nicht entgegenstehen oder zumindest der Große Strafsenat im Falle einer Divergenzvorlage in diesem Sinne entscheidet. Zu bezweifeln ist jedoch, dass damit das letzte Wort in dieser Angelegenheit gesprochen sein wird: Wiederholt hat die Rechtsprechung in der Vergangenheit Kreativität bewiesen, wenn es darum ging, für richtig gehaltene Ergebnisse auch nach der Rüge ihrer Verfassungswidrigkeit auf anderem Wege zu erreichen.100 Im Falle der echten Wahlfeststellung besteht daher etwa das Risiko, dass das erkennende Gericht trotz bestehender tatsächlicher Zweifel vorgibt, vom Vorliegen solcher Tatsachen überzeugt zu sein, die einen der beiden in Frage stehenden Tatbestände erfüllen, um einen Freispruch zu vermeiden.101 Dass eine solche Umge96 Zutreffend Jakobs, GA 1971, 257 (269); Freund (Fn. 75), S. 35 (56); Frister (Fn. 6), Nach § 2 Rn. 81; Velten, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung, Bd. 5, 4. Aufl. 2012, § 261 Rn. 104; dagegen Stuckenberg (Fn. 55), § 261 Rn. 150; Wolter, GA 2013, 271 (277 ff.). 97 Vgl. etwa Freund (Fn. 75), S. 35 (47 f., 53). 98 Für einen solchen „pragmatische[n] Lösungsansatz“ Stuckenberg (Fn. 55), § 261 Rn. 151. 99 Zu diesem Problem jüngst etwa Bülte, JZ 2014, 603. 100 So hat etwa jüngst der 1. Strafsenat das (hochproblematische) Rechtsinstitut der omissio libera in causa herangezogen, um zum Ergebnis einer Untreuestrafbarkeit kommen zu können und dabei gleichzeitig den Anschein zu erwecken, man habe die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts (vgl. die Untreue-Entscheidung BVerfG, Beschl. v. 23.6.2010 – 2 BvR 2559/08, 2 BvR 105/09, 2 BvR 491/09 = BVerfGE 126, 170) beachtet; vgl. BGH, Beschl. v. 3.12.2013 – 1 StR 526/13 = NStZ 2014, 158; dagegen M. Wagner, ZIS 2014, 364. 101 Diese Warnung äußern auch Günther (Fn. 69), S. 165, 180, 182 f.; Montenbruck, Wahlfeststellung und Werttypus in Strafrecht und Strafprozeßrecht, Entwicklung und Erprobung eines neuen Erklärungsmodells, 1976, S. 195 f.; Dannecker (Fn. 81), Anh. § 1 Rn. 11; Freund (Fn. 75), S. 35 (55); jeweils m.w.N. 102 Vgl. BGH, Urt. v. 21.7.1970 – 1 StR 119/69 = NJW 1971, 571 (573). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 443 BGH, Urt. v. 18.2.2014 – VI ZR 383/12 Singbartl _____________________________________________________________________________________ Entscheidungsanmerkung Abschleppen eines verbotswidrig geparkten Kfz – Einbeziehung eines Dritten in Schutzwirkung des Vertrages 1. Beauftragt die Straßenverkehrsbehörde zur Vollstreckung des in einem Verkehrszeichen enthaltenen Wegfahrgebots im Wege der Ersatzvornahme einen privaten Unternehmer mit dem Abschleppen eines verbotswidrig geparkten Fahrzeugs, so wird der Unternehmer bei der Durchführung des Abschleppauftrags hoheitlich tätig. 2. Durch das Abschleppen eines verbotswidrig geparkten Fahrzeugs im Wege der Ersatzvornahme wird ein öffentlich-rechtliches Verwahrungsverhältnis begründet, auf das die §§ 276, 278, 280 ff. BGB entsprechend anzuwenden sind. 3. Der Eigentümer des verbotswidrig geparkten Fahrzeugs ist in einer solchen Fallkonstellation nicht in den Schutzbereich des zwischen dem Verwaltungsträger und den privaten Unternehmer geschlossenen Vertrages über das Abschleppen seines Fahrzeugs einbezogen. (Amtliche Leitsätze) BGB §§ 328, 839 GG Art. 34 BGH, Urt. v. 18.2.2014 – VI ZR 383/12 (LG Mannheim, AG Mannheim)1 I. Einleitung Die vorliegende Entscheidung ist nicht nur in hohem Maße ausbildungs- und examensrelevant. Vielmehr werden auch durchweg spannende juristische Probleme im Grenzbereich zwischen öffentlichem Recht und Zivilrecht besprochen. Damit ist hiesiger Fall geradezu prädestiniert, geprüft zu werden. Es steht vorliegend die zentrale Frage im Raum, ob das Abschleppunternehmen für Beschädigungen des abgeschleppten PKW dem Eigentümer zum Schadenersatz verpflichtet ist oder ob eben doch nur staatshaftungsrechtliche Ansprüche gegen die öffentliche Hand bestehen. II. Sachverhalt Der Beklagte betreibt ein Abschleppunternehmen und verbrachte im Auftrag der Stadt M das vom Kläger verbotswidrig geparkte Fahrzeug auf den Parkplatz des Ordnungsamtes. Der Kläger behauptet, sein Fahrzeug sei bei dem Abschleppvorgang beschädigt worden, wodurch ihm ein Schaden in Höhe von 3.356,36 € entstanden sei. Die auf Ersatz seines Schadens gerichtete Klage hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Mit der vom Landgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen Klageantrag weiter. 1 Die Entscheidung ist abrufbar unter: http://juris.bundesgerichtshof.de/cgibin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&nr= 67195&pos=0&anz=1 (3.7.2014). III. Kernaussagen und Würdigung 1. Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB Was einen Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB gegen den Unternehmer anbelangt, so scheitert dieser bereits an der fehlenden Passivlegitimation des hoheitlich handelnden Unternehmens. Prüft man die Voraussetzungen des § 823 Abs. 1 BGB2, dann ist zwar unstreitig eine Eigentumsverletzung gegeben. Der BGH legt nun aber dar, dass der Beklagte bei der Durchführung des ihm von der Stadt M erteilten Abschleppauftrags in Ausübung eines ihm anvertrauten öffentlichen Amtes handelte, so dass die Verantwortlichkeit für sein etwaiges Fehlverhalten allein die Stadt M treffe.3 Dies statuiert den Fall einer gesetzlich angeordneten befreienden Schuldübernahme.4 Die Verwaltung bedient sich in vielfältiger Form der Unterstützung Privater. Die einzelnen Formen der Einschaltung Privater sind vor allem im Hinblick auf ihre Entstehung und Funktion, aber auch hinsichtlich der Haftung zu unterscheiden. Die Behörde kann bestimmte Verwaltungsaufgaben erledigen, indem sie private Unternehmer durch Werkverträge (§ 631 BGB) beauftragt. Der beauftragte Unternehmer handelt dann entweder als Erfüllungsgehilfe im Hoheitsbereich oder als Verwaltungshelfer. Ein Erfüllungsgehilfe handelt im Rahmen des Auftrags selbständig, der Verwaltungshelfer hingegen tut dies gerade nicht, sondern ist absolut weisungsabhängig, d.h. er verfügt über keinerlei eigenen Entscheidungsspielraum.5 Da der Abschleppunternehmer in zeitlicher und technischer Hinsicht mit eigenem Entscheidungsspielraum ausgestattet ist, fungiert er als sog. „Erfüllungsgehilfe im Eingriffsbereich“ und ist damit ein haftungsrechtlicher Beamter i.S.d. Art. 34 GG, für den der Staat haftet. Die öffentliche Hand soll sich nämlich „jedenfalls im Rahmen der Eingriffs2 Zum Prüfungsschema mit allen wesentlichen Problemschwerpunkten zu § 823 BGB, siehe Looschelders, Schuldrecht BT, 9. Aufl. 2014, Rn. 1173-1199. 3 So expressis verbis BGH, Urt. v. 18.2.2014 – VI ZR 383/12 Rn. 4. 4 Vgl. hierzu aus der jüngeren Rechtsprechung, BeckRS 2014, 07063. 5 Hierzu grundlegend BGH NJW 2005, 286 (287); Verwaltungshelfer als sog. verlängerter Arm der Behörde und als deren bloßes Werkzeug, BGH NVwZ 2012, 381, und Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl. 2011, § 23 Rn. 60. Mangels entsprechenden Gesetzes kam von vorherein nicht in Betracht (und wird deshalb vom BGH auch nicht angesprochen), dass es sich bei dem Abschleppunternehmer um einen Beliehenen handelt. Beliehene sind gerade solche, die mit der hoheitlichen Wahrnehmung bestimmter Verwaltungsaufgaben im eigenen Namen betraut sind. Sie sind und bleiben – statusmäßig – Privatrechtssubjekte; sie können aber – funktionell – in begrenztem Umfang hoheitlich handeln. Da sie selbständig, d.h. innerhalb eines eigenen Entscheidungsraums tätig werden und im eigenen Namen handeln, sind sie Verwaltungsträger, eben so weit, wie ihr hoheitlicher Kompetenzbereich wirkt, dazu grundlegend Wöstmann, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, Neubearbeitung 2012, § 839 Rn. 44; Maurer (a.a.O.), § 23 Rn. 56; ferner BGH NJW 2005, 286 (287), und ebenso BayVGH BayVBl. 2002, 82 (83); BGH DÖV 2001, 563. _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 444 BGH, Urt. v. 18.2.2014 – VI ZR 383/12 Singbartl _____________________________________________________________________________________ verwaltung“ ihrer Amtshaftung für fehlerhaftes Verhalten eines Bediensteten nicht dadurch entziehen können, dass sie die Durchführung einer von ihr angeordneten Maßnahme durch privatrechtlichen Vertrag oder auf sonstige Weise auf eine – womöglich sogar insolvente – Privatperson überträgt („keine Flucht ins Privatrecht“).6 Taugliches Haftungssubjekt kann nach den vorstehenden Überlegungen damit nur die Stadt M sein; ein eigenständig gegen den Unternehmer gerichteter Anspruch ist abzulehnen. 2. Etwaiger Regressanspruch der Stadt gegen den Abschleppunternehmer Nicht Gegenstand des konkreten Streites, aber dennoch äußerst examensrelevant ist die Frage, wie ein etwaiger Regress der Stadt M gegen den Abschleppunternehmer aussähe. Anspruchsgrundlage ist in solchen Fällen der Werkvertrag gem. § 631 BGB in Verbindung mit § 280 BGB. Allerdings gilt es hier, eine Besonderheit zu beachten: Art. 34 S. 2 GG findet nicht ohne weiteres Anwendung, vielmehr ist in derartigen Fallkonstellationen eine einschränkende Auslegung bzw. eine teleologische Reduktion dieser Vorschrift geboten.7 Danach gilt für selbständige private Unternehmer die Rückgriffbeschränkung auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit gem. Art. 34 S. 2 GG gerade nicht. Vielmehr haftet das Abschleppunternehmen auch bei leichter Fahrlässigkeit. Dies liegt darin begründet, dass die Limitierung der Innenhaftung bei haftungsrechtlichen Beamten nach Art. 34 S. 2 GG zum einen auf dem Gedanken beruht, deren Entschlussfähigkeit und Entschlussfreudigkeit zu fördern, und zum anderen auf dem Gebot der Fürsorge gegenüber den Bediensteten. Beide Aspekte treten bei der vertraglichen Heranziehung Privater als Erfüllungsgehilfen (und erst recht beim Verwaltungshelfer) völlig zurück, da dieser keine großen Entscheidung Spielräume mehr hat.8 3. Anspruch aus Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter Ferner wird als weitere Anspruchsgrundlage gegen den Unternehmer ein etwaiger Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter bemüht.9 Die wohl diffizilste Frage in diesem Kontext ist, wie man den begünstigten Personenkreis abgrenzen kann. Einhellige Rechtsprechung und wohl auch Grundtenor in der Literatur ist, dass im Allgemeinen vier Voraussetzungen für die Einbeziehung in den vertraglichen Schutzkreis aufgestellt worden sind.10 Der Dritte muss typischerweise mit der geschuldeten Leistung in Berührung kommen wie der eigentliche Vertragspartner (Leistungsnähe). Im hiesigen Fall wurden drittbestimmte Hauptleistungspflichten aus dem Werkvertrag verletzt und dieser Schaden aus der Schlechterfüllung drohte auch erkennbar dem Dritten, namentlich dem Kläger. Der Dritte war originär Betroffener der Abschleppmaßnahme. Auch handelte es sich nicht nur um einen bloß zufälligen Leistungskontakt, sondern vielmehr war der Geschädigte dem „Pflichtenprogramm“ mindestens genauso ausgesetzt, wie die Stadt. Hingegen offengelassen hat der Senat die Frage der Gläubigernähe. Der Gläubiger muss an der sorgfältigen Ausführung der Leistung nicht nur ein eigenes, sondern auch ein berechtigtes Interesse zugunsten des Dritten haben, wobei sich der Umfang der vertraglichen Schutzwirkung nach dem Vertragszweck, nach dem Verhältnis zum Vertragsgegenstand und nach seinem objektiven Sicherheitsbedürfnis bestimmt.11 Es kann durchaus gesagt werden, dass den Autofahrer und die Stadt schon deswegen eine besondere Gläubigernähe prägt, da der Abschleppvorgang auf städtischem Grund ausgeführt 8 6 So inzwischen ständige Rechtsprechung, vgl. nur BGH NJW 2005, 286 (287) – BSE-Schnelltest I, und ebenso BGH NVwZRR 2007, 368 (369) – BSE-Schnelltest II; ebenso grundlegend zur Gesamtproblematik Wöstmann (Fn. 5), § 839 Rn. 101, und grundlegend in der Rspr. BGH NJW 1993, 1258 = BGHZ 121, 161 (166) – Abschleppunternehmer; inwieweit Privatpersonen auch im Bereich der Leistungsverwaltung in den haftungsrechtlichen Beamtenbegriff einzubeziehen sind, so dass für sie ebenfalls der Staat haftet, wurde vom BGH in seiner Ausgangsentscheidung ausdrücklich offengelassen (BGHZ 121, 161 [166]). Für eine solche Einbeziehung sprechen allerdings nicht nur die dem § 278 BGB und dem Art. 9 Abs. 1 S. 4 LStVG zugrundliegenden allgemeinen Rechtsgedanken, sondern auch, dass im Leistungsbereich ebenfalls eine „Flucht ins Privatrecht“ vermieden werden soll. Ist also eine Aufgabe, in deren Vollzug der Private eingeschaltet wird, dem hoheitlichen Funktionskreis zuzuordnen und wird der Private bei der Wahrnehmung dieser Aufgaben eben mit Wissen und Wollen der Behörden tätig, ohne die ihm zugestandenen Befugnisse vorsätzlich zu überschreiten (sog. Exzess), dann hat man ihn ebenfalls als haftungsrechtliche Beamten anzusehen, OLG Saarbrücken NVwZ-RR 2007, 481 (483), und insoweit nicht eindeutig BGH NVwZ-RR 2001, 441. 7 So grundlegend BGH NJW 2005, 286 (287 f.) – BSESchnelltest I. So auch Ehlers, JK 3/06, GG Art. 34/20; zu beachten ist jedoch mit Blick auf die selbständige Entscheidungsfreiheit eines Beliehenen, dass bei diesem eine derartige teleologische Reduktion des staatlichen Regresses gerade nicht gegeben sein kann. Allerdings ist es nach der neueren Rechtsprechung möglich, für den Beliehenen durch Gesetz einen weiterreichenden Rückgriff als in Art. 34 S. 2 GG vorgesehen, festzulegen, vgl. BVerwG NVwZ 2011, 368 = JuS 2011, 191. 9 Die Rechtsgrundlage der Schutzwirkungen zugunsten Dritter ist nach wie vor umstritten, jedenfalls hat die Rechtsprechung ausdrücklich offen gelassen, vgl. BGH NJW 1971, 1931 (1932); BGH NJW 1977, 2073 (2076), ob eine ergänzende Auslegung des Hauptvertrages gem. §§ 133,157 BGB in Betracht kommt oder ob es sich nicht doch um eine rechtsfortbildende gesetzliche Ausgestaltung des Vertragsverhältnisses nach Treu und Glauben gem. § 242 BGB handelt; vgl. exemplarisch aus der mannigfaltigen Rechtsprechung BGH NJW 2004, 3035, und aus älterer Zeit BGH NJW 1996, 2927 (2928), und exemplarisch aus der Kommentarliteratur Gottwald, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 328 Rn. 165 und Grüneberg, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 73. Aufl. 2014, § 328 Rn. 14. 10 Stellvertretend hierzu BGH NJW 2008, 2245 (2247). 11 In diesem Sinne auch Harke, Allgemeines Schuldrecht, 13. Aufl. 2010, Rn. 435; ebenso aus älterer Zeit Gernhuber, Festschrift für Arthur Nikisch, 1958, S. 249 (270). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 445 BGH, Urt. v. 18.2.2014 – VI ZR 383/12 Singbartl _____________________________________________________________________________________ worden ist und aufgrund des entstandenen öffentlich-rechtlichen Verwahrungsverhältnisses die Stadt M besondere Sorgfalts- und Rücksichtnahmepflichten gegenüber dem geschädigten Eigentümer und letztlich vor allem auch Haftungsrisiken treffen.12 In casu wurde der Falschparker von der Verpflichtung, seinen PKW zu entfernen befreit. Diese Verpflichtung besteht von der zivilrechtlichen Warte aus gesehen schon wegen §§ 1004, 862 BGB. Aber auch öffentlich-rechtlich folgt eine Wegfahrpflicht aus dem geltenden Parkverbot, da jedes Parkverbotszeichen gleichzeitig ein Wegfahrgebot enthält.13 Damit lässt sich auch die Gläubigernähe bejahen. Der Senat lässt diese Frage ausdrücklich offen und verneint jedenfalls – völlig zutreffend – die Schutzbedürftigkeit des Geschädigten aus den Grundsätzen mit Schutzwirkung zugunsten Dritter. Die Schutzbedürftigkeit des Dritten entfällt im Regelfall, wenn sein Interesse bereits durch eigene vertragliche Ansprüche abgedeckt ist.14 Im hiesigen Fall kommt ein vertraglicher Schadensersatzanspruch aus einem durch den Abschleppvorgang begründeten Verwahrungsverhältnis nach § 280 Abs. 1 BGB analog in Betracht. Anders als im Privatrecht entsteht das Rechtsverhältnis automatisch, wobei an die Stelle der Willenseinigung Privater öffentlich-rechtliche Maßnahmen treten.15 Hieran ändert auch die Einschaltung eines privaten Abschleppunternehmers nichts, auch wenn diese auf privatrechtlicher Grundlage erfolgte. Für die Würdigung kommt es nämlich einzig und allein auf das Verhältnis zwischen der für die Maßnahme verantwortlichen Behörde und dem betroffenen Bürger an, also auf das nach außen manifestierte Handeln des Abschleppunternehmers als Erfüllungsgehilfe des Trägers der öffentlichen Gewalt. Gerade als solcher geht dieser Erfüllungsgehilfe in der öffentlich-rechtlichen Rechtsbeziehung mit auf, zumal sich der Gebrauch der entsprechenden Gestaltungsspielräume gerade nicht zum Nachteil des Privaten auswirken darf (eben: „Keine Flucht ins Privatrecht!“).16 Dementsprechend hat die Stadt M für derartige schuldhafte Pflichtverletzungen einzustehen und eben Schadensersatz zu leisten, wobei ihr im Rahmen des § 280 Abs. 1 BGB – im Gegensatz zur Amtshaftung – die Beweislast für fehlendes Verschulden obliegt. 12 So auch in einem ähnlich gelagerten Fall, wo die Haftung eines von der Polizei beauftragten Abschleppunternehmers gegenüber dem Eigentümer für dessen Beschädigungen bejaht worden ist, vgl. BGH NJW 1978, 2502; ausdrücklich distanziert hat sich der Senat in der vorliegenden Entscheidung von dieser Entscheidung, vgl. BGH, Urt. v. 18.2.2014 – VI ZR 383/12, Rn. 11. 13 Problematisch in diesem Zusammenhang ist dann lediglich die Bekanntgabe von Verkehrszeichen, vgl. nur BVerwG NJW 2008, 2867. 14 In diesem Sinne auch Gottwald (Fn. 9), § 328 Rn. 185. 15 Hierzu umfassend Henssler, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 688 Rn. 59. 16 Exemplarisch aus der mannigfaltigen Rechtsprechung BGH NJW 2004, 513; ebenso BGH NJW 2006, 1804 (1805), und OLG Hamm NJW 2001, 375. 4. Anspruch aus § 7 Abs.1 StVG Im juristischen Gutachten17 ist anders als im Urteil noch auf eine etwaige Haftung gem. § 7 Abs. 1 StVG einzugehen. Doch scheitert dieser Anspruch schon daran, dass das Fahrzeug des Klägers und der Abschleppwagen eine Betriebseinheit bilden und eine Haftung sich – wegen dem Schutzweck der Norm – gerade nicht auf Schäden an dem gehaltenen oder dem mit diesem eine Betriebseinheit bildendem Fahrzeug erstreckt. 5. Anspruch aus §§ 677, 280 BGB Zu Recht enthält das Urteil des BGH keine Stellungnahme zu der Frage, ob Ansprüche des Geschädigten gegenüber dem Unternehmer gem. §§ 677, 280 BGB18 wegen der Schlechterfüllung der Geschäftsführung ohne Auftrag bestehen. Nur mit „Bauchschmerzen“ ließe sich vertreten, der Unternehmer führe ein „Auch-fremdes-Geschäft“19. Primär muss man sich vergegenwärtigen, dass dieser nur eigenen vertraglichen Verpflichtungen nachkommt und nicht in dem Pflichtenkreis eines anderen tätig wird. Allerdings muss in diesem Zusammenhang bedacht werden, dass hoheitliche Maßnahmen der Sicherheitsbehörden im Prinzip abschließend durch Landesrecht geregelt werden, so dass für eine Analogie des Bundesrechts und demnach für die §§ 677 ff. BGB von vornherein kein Raum besteht.20 Schon dies lässt vermuten, dass dies der Grund war, warum der erkennende Senat eine Schlechterfüllung aus GoA überhaupt nicht angesprochen hat. IV. Folgen für Ausbildung, Prüfung und Praxis Das Urteil ist in jeder Hinsicht begrüßenswert, stellt es doch nochmals die Voraussetzungen dar, unter welchen ein Unternehmer hoheitlich tätig wird. Der Geschädigte hätte vielmehr die Stadt M verklagen müssen, denn aufgrund des öffentlichrechtlichen Verwahrungsverhältnisses kommt es eben zu einer Anwendbarkeit der § 280 ff. BGB (analog) und damit auch zu einer Beweislastumkehr des Verschuldens zugunsten des Geschädigten.21 Führt man den hiesigen Fall fort und denkt an etwaige Regressansprüche der Stadt M gegen das Abschleppunternehmen, etwa im Falle einer Frage nach der Rechtslage, so muss man die – bestimmt nicht jedermann geläufige – Rechtsprechung zur teleologischen Reduktion des Art. 34 S. 2 GG kennen und sich mit den Erkenntnissen der jüngeren Rechtsprechung auseinandersetzen.22 Wiss. Mitarbeiter Jan Singbartl, München 17 Hierzu auch BGHZ 187, 379 (383); ebenso grundlegend Greger, Haftungsrecht des Straßenverkehrs, 4. Aufl. 2007, § 3 Rn. 252. 18 Allgemein zur Geschäftsführung ohne Auftrag Looschelders (Fn. 2), Rn. 836-871. 19 In diese Richtung auch BGH, Urt. v. 21.6.2012 – III ZR 275/11 = BeckRS 2012, 15359. 20 BVerfG NJW 2011, 3217 21 Vgl. zu diesem Problemkreis bereits unter III. 3. 22 Vgl. zu diesem Problemkreis bereits unter III. 2. und die Grundlagenentscheidung BGH NJW 2005, 286 (287 f.) – BSE-Schnelltest I. _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 446 BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11 Cornils _____________________________________________________________________________________ Entscheidungsanmerkung Verfassungswidrigkeit des ZDF-Staatsvertrages 1. Die Zusammensetzung der Aufsichtsgremien der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ist gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG am Gebot der Vielfaltsicherung auszurichten. Danach sind Personen mit möglichst unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungshorizonten aus allen Bereichen des Gemeinwesens einzubeziehen. a) Der Gesetzgeber hat dafür zu sorgen, dass bei der Bestellung der Mitglieder dieser Gremien möglichst unterschiedliche Gruppen und dabei neben großen, das öffentliche Leben bestimmenden Verbänden untereinander wechselnd auch kleinere Gruppierungen Berücksichtigung finden und auch nicht kohärent organisierte Perspektiven abgebildet werden. b) Zur Vielfaltsicherung kann der Gesetzgeber neben Mitgliedern, die von gesellschaftlichen Gruppen entsandt werden, auch Angehörige der verschiedenen staatlichen Ebenen einbeziehen. 2. Die Organisation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks muss als Ausdruck des Gebots der Vielfaltsicherung dem Gebot der Staatsferne genügen. Danach ist der Einfluss der staatlichen und staatsnahen Mitglieder in den Aufsichtsgremien konsequent zu begrenzen. a) Der Anteil der staatlichen und staatsnahen Mitglieder darf insgesamt ein Drittel der gesetzlichen Mitglieder des jeweiligen Gremiums nicht übersteigen. b) Für die weiteren Mitglieder ist die Zusammensetzung der Aufsichtsgremien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks konsequent staatsfern auszugestalten. Vertreter der Exekutive dürfen auf die Auswahl der staatsfernen Mitglieder keinen bestimmenden Einfluss haben; der Gesetzgeber hat für sie Inkompatibilitätsregelungen zu schaffen, die ihre Staatsferne in persönlicher Hinsicht gewährleisten. (Amtliche Leitsätze) GG Art. 5 Abs. 1 S. 2 ZDF-StV §§ 21 Abs. 1, 3, 4, 6, 8, 10; 24 Abs. 1, 3 BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/111 I. Einleitung Das seit längerem mit Spannung erwartete ZDF-Urteil des Ersten Senats setzt die imposante Reihe gewichtiger Rundfunkentscheidungen des BVerfG fort; entsprechend der üblichen Zählung ist Karlsruhe damit bei der 14. Entscheidung angekommen. Das Urteil schließt eine lange beklagte Baulücke im Gefüge des maßgeblich verfassungsgerichtlich geprägten Rundfunkverfassungsrechts und zwar hinsichtlich der Organisation der staatsfernen, anstaltsinternen Aufsicht über den 1 Die Entscheidung ist online abrufbar unter: https://www.bundesverfassungsgericht.de/en/decisions/fs201 40325_1bvf000111.html; abgedruckt in: K&R 2014, 334; DVBl. 2014, 649; JZ 2014, 560; ZUM 2014, 501; EuGRZ 2014, 351; NVwZ 2014, 867. öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Zwar sind auch die institutionell-organisatorischen Anforderungen der verfassungsrechtlichen Rundfunkgewährleistung (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG) in der Rechtsprechung bereits mehrfach thematisiert worden, so auch die staatsfern zu organisierende Aufsicht über den privaten2 und öffentlich-rechtlichen Rundfunk.3 Die aus Vertretern gesellschaftlicher Gruppen und Verbände, von den Kirchen bis zu Arbeitgeber-, Kultur- oder Sportverbänden, zusammengesetzten Gremien – der in der Kopfzahl deutlich größere, für die Programmaufsicht zuständige Rundfunkrat (beim ZDF: Fernsehrat) und der kleinere, im Wesentlichen für die Haushalts- und Wirtschaftlichkeitskontrolle zuständige Verwaltungsrat – bilden danach eine zwar nicht verfassungsrechtlich zwingende, aber doch besonders adäquate Gestaltungsform der anstaltsinternen Aufsicht über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Das gruppenpluralistische Aufsichtskonzept hat sich von Anbeginn an bis heute in allen deutschen Rundfunkanstalten4 behauptet und stand darüber hinaus auch Pate für das Organisationsdesign der Landesmedienanstalten, die die Aufsicht über den privaten Rundfunk führen. Nicht mehr bei allen,5 aber doch bei der Mehrzahl der Landesmedienanstalten ist das Hauptorgan eine vergleichbar den Rundfunkräten der Rundfunkanstalten pluralistisch zusammengesetzte Versammlung.6 Namentlich im NRW-Urteil von 1991 (sog. 6. Rundfunkentscheidung) entwickelte das BVerfG wichtige Grundsätze zur binnenpluralistischen Zusammensetzung der Aufsichtsgremien und zum Status des Gremienmitglieds7. Danach haben die Gremienmitglieder nicht die Aufgabe, Programminteressen der sie entsendenden Verbände durchzusetzen; sie sind ungeachtet des ständischen „Rekrutierungsprinzips“ (BVerfG) nicht gesellschafts-repräsentative Vertreter, sondern Treuhänder des Allgemeinwohls, daher notwendig weisungsfrei und unabhängig in ihrer Funktionsausübung. Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG verlangt daher auch nicht eine – ohnehin nicht erreichbare – möglichst genaue Abbildung der Gesellschaft in den Gremien, wohl aber zur institutionellen Absicherung der zentralen, grundrechtlich gebotenen Aufsichtsfunktion – Sicherung der Vielfalt im Rundfunkprogramm – eine Besetzungsregelung, 2 BVerfG, Urt. v. 4.11.1986 – 1 BvF 1/84, Rn. 155 (juris) = BVerfGE 73, 118 (183): „Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG schützt insoweit nicht nur vor unmittelbaren Einflüssen auf Auswahl, Inhalt und Gestaltung der Programme, sondern ebenso vor einer Einflussnahme, welche die Programmfreiheit mittelbar beeinträchtigen könnte“. 3 BVerfG, Urt. v. 5.2.1991 – 1 BvF 1/85, 1 BvF 1/88, Rn. 497 ff. (juris) = BVerfGE 83, 238 (332 ff.). 4 Siehe z.B. 14 SWR-StV (Rundfunkrat mit 74 Mitgliedern), § 20 SWR-StV (Verwaltungsrat mit 18 Mitgliedern). 5 §§ 9 f. MStV Berlin-Brandenburg: siebenköpfiger Medienrat der MABB; §§ 41 f. MStV HSH: 14köpfiger Medienrat der MA HSH. 6 Z.B. § 40 LMG Rhld.-Pf.: Versammlung der Landeszentrale für Medien und Kommunikation (LMK) mit 40 Mitgliedern. 7 BVerfG, Urt. v. 5.2.1991 – 1 BvF 1/85, 1 BvF 1/88, Rn. 497 ff. (juris) = BVerfGE 83, 238 (332 ff.); siehe dazu auch Cornils, ZevKR 54 (2009), 417 (428 ff.). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 447 BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11 Cornils _____________________________________________________________________________________ die dafür sorgt, dass die wesentlichen gesellschaftlichen Kräfte und Strömungen dort eine Stimme haben, insbesondere aber keine „grobe Verzerrung“ der Kräfteverhältnisse in den Räten eintritt.8 Umstritten – und in der bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur unterbelichtet9 – blieb vor diesem Hintergrund stets die Legitimation staatlicher Vertreter in den Gremien. Schon in der 1. Rundfunkentscheidung von 1961 hatte das BVerfG eher beiläufig ausgesprochen: „Art. 5 GG hindert nicht, dass auch Vertretern des Staates in den Organen des ‚neutralisierten‘ Trägers der Veranstaltungen ein angemessener Anteil eingeräumt wird.“10 Damit schien jedoch nur klar, dass das BVerfG offenbar kein Konzept möglichst staatsfreier Aufsichtsgremien zugrunde legt, nicht aber wie hoch der Anteil von Vertretern der Parlamente, Regierungen oder auch der politischen Parteien sein darf. Als gesicherte Schranke zulässigen Staatseinflusses konnte allein das Verbot einer Beherrschung des Rundfunks durch den Staat (Gebot der Staatsferne des Rundfunks zumindest als Beherrschungsverbot) gelten, wobei auch insofern die Übersetzung in zahlenmäßige Höchstgrenzen einer Beteiligung (Drittelquorum, 50 %-Schwelle o.ä.) durchaus umstritten war; dies vor allem deswegen, weil die „Bank“ der staatlichen oder von Parteien entsandten Vertreter nicht homogen nur von der Regierung eines Landes oder einer politischen Partei bestimmt, sondern – bei Mehrländeranstalten (NDR, MDR, RBB, SWR, ZDF) – föderal sowie – auch bei Einländeranstalten (WDR, BR, HR, SR, RB) – auch parteipolitisch „gebrochen“ ist, daher aber nicht ohne weiteres als monolithischer Machblock und -faktor erscheint.Tatsächlich sehen alle Rundfunkgesetze der Länder für die verschiedenen Landesrundfunkanstalten sowie das Bundes-gesetz über die Deutsche Welle in größerem oder kleinerem Umfang die Entsendung von Staats- und Parteienvertretern in die Aufsichtsgremien vor. Seit langem ist diese „Durchsetzung“ der Gremien mit Staats- und Parteienvertretern Gegenstand der Kritik gewesen.11 Nicht allein über ihre unmittelbare zahlenmäßige Stärke, sondern auch über ihren teilweise schwer fassbaren gleichsam fraktionsbildenden Einfluss in den partei-politisch ausgerichteten „Freundeskreisen“ gelang es der „Po-litik“, in den Anstalten eine von vielen für untragbar gehaltene machtvolle Stellung zu behaupten, vor allem bei den Wahlen des Spitzenpersonals (Intendant, Direktoren). Namentlich die Besetzungsregelung für die Gremi8 BVerfG, Urt. v. 5.2.1991 – 1 BvF 1/85, 1 BvF 1/88, Rn. 504 (juris) = BVerfGE 83, 238 (335). 9 Auch die Entscheidungen zum niedersächsischen Landesrundfunkgesetz, BVerfG, Urt. v. 4.11.1986 – 1 BvF 1/84, Rn. 116 (juris) = BVerfGE 73, 118 (165), und zum WDRGesetz BVerfG, Urt. v. 5.2.1991 – 1 BvF 1/85, 1 BvF 1/88, Rn. 492 ff. (juris) = BVerfGE 83, 238 (330), brachten insoweit keine wirkliche Klarstellung. 10 BVerfG, Urt. v. 28.2.1961 – 2 BvG 1/60, 2 BvG 2/60, Rn. 187 (juris) = BVerfGE 12, 205 (263). 11 Statt vieler Schmitt Glaeser, JöR 50 (2002), 169 (180 ff.); Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 4/1, 2006, S. 1709; Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 5 I, II Rn. 261. en des ZDF im ZDF-Staats-vertrag wurde wegen der hier besonders hohen Staats- und Parteienquote12 sowie der daneben noch bestehenden Bestim-mungsrechte der Ministerpräsidenten bei der Auswahl der gesellschaftlichen Vertreter13 verbreitet für verfassungswidrig gehalten.14 Aber erst der Wirbel um die – offenkundig politisch motivierte – Nichtverlängerung des Vertrages des damaligen Chefredakteurs Brender im Verwaltungsrat im Jahr 200915 setzte schließlich eine Entwicklung im Gang, die am Ende zu Normenkontrollanträgen zweier Länder – Rheinland-Pfalz und Hamburg – führte, so dass das BVerfG Gelegenheit erhielt, über die Vereinbarkeit der inkriminierten Vorschriften, insbesondere der die § 21 (Fernsehrat) und § 24 (Verwaltungs-rat) ZDF-StV umsetzenden landesrechtlichen Bestimmungen, zu entscheiden. Der Erste Senat hat diese Vorschriften im Wesentlichen antragsgemäß für mit der Verfassung unverein-bar, sie allerdings übergangsweise bis zu der erforderlichen Neuregelung, längstens bis zum 30.6.2015, für weiterhin an-wendbar erklärt. II. Entscheidungsgründe Das BVerfG beschränkt sich in seiner Kritik an den eingerissenen Zuständen in der Anstaltsorganisation nicht auf das Problem zahlenmäßiger Stärke der Staatsvertreter, auch überhaupt nicht nur auf das Thema der Staatsferne, sondern greift in seinen Aufräumarbeiten weiter aus. Insbesondere handeln die Entscheidungsgründe keineswegs nur vom ZDF, sondern errichten sie vielmehr allgemeine, für alle öffentlich-rechtlichen Anstalten geltende Grundsätze. Diese befassen sich nicht 12 Der ZDF-Fernsehrat besteht aus 77 Mitgliedern. 16 werden von den Landesregierungen bestellt, drei von der Bundesregierung, zwölf von den politischen Parteien, drei von den kommunalen Spitzenverbänden; die aus der Addition dieser Mitglieder (34) errechnete Staatsquote beträgt somit ca. 44 %. Der ZDF-Verwaltungsrat hat 14 Mitglieder, davon fünf von den Landesregierungen und ein von der Bundesregierung ernannter Vertreter; acht Mitglieder werden mit Dreifünftelmehrheit vom Fernsehrat gewählt. 13 § 21 Abs. 3 ZDF-StV: Berufung der Verbandsvertreter (mit Ausnahme der Kirchenvertreter) durch die Ministerpräsidenten aus von den Verbänden eingereichten Dreier-Personalvorschlägen; § 21 Abs. 4: Berufung von 16 Mitgliedern durch die Ministerpräsidenten aus gesellschaftlichen Bereichen gem. § 21 Abs. 1 lit. r ZDF-StV (z.B.: Bereiche des Erziehungsund Bildungswesens, der Wissenschaft, Kunst usw.). 14 Hahn, Die Aufsicht des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, 2010, S. 174 ff. m.w.N.; Huber, in: Detterbeck/Rozek/v. Coelln (Hrsg.), FS Bethge, 2009, S. 497 (509); Schadrowski/ Stumpf, AfP 2012, 417 (419 f.); Kühling, in: Gersdorf/Paal (Hrsg.), Informations- und Medienrecht, 2014, Art. 5 GG Rn. 87; im Zusammenhang der Brender-Affäre Dörr, K&R 2009, 555; anders („Grenzen […] unter Berücksichtigung der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers in der Frage der inneren Organisation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks noch gewahrt“) Degenhart, NVwZ 2010, 877 (880). 15 Dazu etwa Degenhart, K&R 2010, 8; zu etwaigen verfassungsrechtlichen Kompetenzausübungsschranken des Verwaltungsrats Hain/Ferreau, K&R 2009, 692. _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 448 BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11 Cornils _____________________________________________________________________________________ nur mit der Wahrung der verfassungsrechtlich gebotenen Staatsferne des Rundfunks, sondern auch mit der Stärkung des Konstruktionsprinzips des Binnenpluralismus („Gruppenrundfunk“) schlechthin.16 1. Grundlagen Das Urteil baut seine konkreteren Ableitungen zu den einzelnen Fragen der Gremienzusammensetzung auf Grundsatzklärungen auf, die an die im NRW-Urteil getroffenen Aussagen zum organisatorischen Binnenpluralismus anschließen, aber doch unverkennbar darüber hinausgehen. An den Anfang stellt der Senat auch in dieser Entscheidung – wie wohl in allen Rundfunkurteilen – ein Bekenntnis zur fortdauernden Bedeutung und verfassungsrechtlichen Funktion des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, nunmehr auch unter den Bedingungen der digitalen Revolution.17 Hinsichtlich der Rolle des Staates im Rundfunk entnimmt der Senat – in deutlichem Kontrast zu dem insoweit strengeren Sondervotum des Richters Andreas Paulus18 – der Rundfunkgewährleistung ein Gebot der Staatsferne, nicht der Staatsfreiheit: Die Senatsmehrheit fordert eine Begrenzung des Staats- und Parteieneinflusses, nicht aber einen Zustand möglichst weitgehender Abwesenheit von staatlichen Amtsträgern oder Parteivertretern in den Aufsichtsgremien, bleibt also in der Traditionslinie des 1. Rundfunkurteils. Tragend dafür ist indessen nicht die – an sich richtige – Einsicht, dass der Rundfunk ohnehin nicht völlig staatsfrei zu denken ist, vielmehr vor allem die staatlichen Gesetzgeber gerade umgekehrt durch Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG in eine anspruchsvolle „Strukturverantwortung“ für die Gewährleistung eines vielfältigen und ausgewogenen Rundfunkprogramms genommen werden:19 Die Verfassung gebietet in der Tat – wenn man dem BVerfG folgt – eine intensive rechtliche, also staatliche Regulierung des Rundfunks, der nicht einfach sich selbst und den Marktkräften überlassen bleiben darf. Bei der Mitwirkung in den Gremien geht es jedoch um etwas anderes, nämlich darum, dass auch die Staats- und Parteienvertreter wie diejenigen der gesellschaftlichen Verbände zur Erfüllung der treuhänderischen Vielfaltssicherungsfunktion in den Aufsichtsgremien beitragen können. Die staatsentsandten Rundfunk- und Verwaltungsratsmitglieder treten in ihrer Aufsichtsfunktion gerade nicht mit spezifisch hoheitlichen Befugnissen in ihrer staatlichen Funktion in Erscheinung, sondern nur – in prinzipiell gleicher Rolle wie die Verbandsvertreter – als Wächter über 16 Siehe dazu ausführlicher meine Besprechung des Urteils Cornils, K&R 2014, 386. 17 BVerfG, Urt. v. 25.3. 2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 34 (juris); ausführlicher dazu aber auch schon BVerfG, Urt. v. 11.9.2007 – 1 BvR 2270/05, 1 BvR 809/06, 1 BvR 830/06 = BVerfGE 119, 181 (214 ff. – Zweites Gebührenurteil). 18 Sondervotum Paulus, BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 119 (juris). 19 So aber BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 40 ff. (juris); kritisch zu dieser vom BVerfG offenbar unterstützend gemeinten Begründung der Staatsbeteiligung in den Gremien Cornils, K&R 2014, 386 (389 f.). die Vielfalt, insbesondere mit Blick auf Inhalte und Meinungen, die nicht ohnehin schon eine verbandlich organisierte „Vertretung“ in den Gremien haben. Deswegen ist, auf die Rundfunkgremien bezogen, die Staatsferne auch keine abwehrrechtliche Grundrechtsschutzwirkung spezifisch gegen den Staat, sondern nur ein Unterfall des ebenso auch gegen eine einseitige Dominanz gesellschaftlicher Gruppen wirkenden Vielfaltssicherungsgebots als des zentralen objektiv-rechtlichen Gewährleistungsgehalts der Rundfunkfreiheit.20 Sie drängt damit positiv auf eine möglichst pluralistische Programmgestaltung und entsprechende organisatorische Sicherungen und verbürgt negativ ein Verbot politischer Instrumentalisierung des Rundfunks.21 Aus dieser Sicht ist der Staat (und sind die Parteien) einerseits Gefährder der Vielfalt, andererseits aber bei Einhaltung eines richtigen Maßes ihrer Mitwirkung auch wiederum Hüter der Vielfalt im binnenpluralistischen Spektrum der organisierten Programmaufsicht – nicht anders als andere, „gesellschaftliche“ Akteure. Auch aus dieser gleichsam staatsunspezifischen Sicht auf die Funktionsbedingungen gelingender binnenpluralistischer Vielfaltssicherung erscheint es allerdings zwingend, die Beteiligung von bestimmten – insbesondere auch „staatlichen“ oder parteipolitischen – Interessen zurechenbaren Mitgliedern in den Gremien zahlenmäßig zu begrenzen. Erlangten einzelnen Kräfte und Lager – namentlich die auf Erwerb staatlicher Macht im politischen Wettbewerb der Parteien zielende Politik – in den Gremien dominante Einflusspositionen, schlüge die – durchaus positiv bewertete – vielfaltssichernde Mitwirkung der Vertreter dieser Gruppen in eine Gefährdung der Vielfalt um und wäre das Konzept der sich wechselseitig domestizierenden Vielfaltskontrolleure im Kern ausgehebelt. Aus dieser Einsicht entwickelt das BVerfG sechs spezifizierte Anforderungen an eine verfassungskonforme Ausgestaltung der Gremienzusammensetzung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk – keineswegs nur beim ZDF. Diese Vorgaben zielen nur zum Teil auf die Regelung der Mitwirkung von Gremienmitgliedern, die vom Staat oder politischen Parteien entsandt werden („Staatsbank“), erfassen im Übrigen aber (auch) die Benennung und Rolle der Verbandsvertreter; auch hier wird also der über das engere Thema der Staatsferne hinausreichende Reformansatz des Urteils sichtbar. 20 BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 39 (juris): „Ausfluss aus dem Gebot der Vielfaltssicherung“, Rn. 54: „Das Gebot der Staatsferne knüpft nicht an die grundsätzliche Unterscheidung zwischen privater Freiheit und staatlicher Bindungen an“. 21 Die beiden in der Begründung nebeneinander gestellten Gehalte der Pluralitätssicherung und des Verbots politischer Instrumentalisierung sind in diesem Sinne wohl tatsächlich eng miteinander verschränkt. Das Instrumentalisierungsverbot erscheint als Bekräftigung eines negativen Teilaspekts des allgemeineren Pluralismusprinzips: Ein politisch (oder eben auch sonst wie) instrumentalisierter Rundfunk ist eben kein offener, pluralistischer Rundfunk mehr. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 449 BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11 Cornils _____________________________________________________________________________________ 2. Sechs verfassungsrechtliche Vorgaben a) „Staatsbank“: Drittelschwelle Das BVerfG leitet aus Art. 5 Abs. 1 S. 2GG dezisionistisch eine Obergrenze von einem Drittel von dem Staat zurechenbaren Mitgliedern in beiden Gremien – Rundfunk- und Verwaltungsrat – ab. Jedem Mitglied der „Staatsbank“ sollen jedenfalls zwei staatsferne Mitglieder gegenüber stehen.22 Natürlich sind quantitative Grenzfestlegungen als Ableitung aus grundrechtlichen Schutzwirkungen immer angreifbar. Und vor allem beim Verwaltungsrat hätten sich auch andere Wege einer Eindämmung des Staatseinflusses auf das Rundfunkprogramm denken lassen, insbesondere die weitgehende Eingrenzung unmittelbar oder mittelbar programmrelevanter Befugnisse – freilich um den Preis dann erheblicher Funktionseinbußen des Organs Verwaltungsrats. Die auf alle Organe, im Übrigen auch auf die praktisch wichtigen Ausschüsse in den Gremien bezogene Drittelschwelle hat aber doch immerhin den Vorteil der Rechtssicherheit und Eindeutigkeit für sich – von Grenzfragen der Zurechnung von Mitgliedern zur „Staatsbank“ abgesehen. Sie ist auch eine seit langem diskutierte,23 insofern nicht überraschende, insgesamt plausible Grenzbestimmung, die sich zudem auch auf das Vorbild des Art. 111a Abs. 2 S. 3 der bayerischen Landesverfassung stützen kann. b) Zurechnung zur „Staatsbank“ Für die Identifikation der der Staatsbank zuzurechnenden Mitglieder legt das BVerfG eine „funktionale Betrachtungsweise“ zugrunde. Maßgeblich ist danach, „ob es sich um eine Person handelt, die staatlich-politische Entscheidungsmacht innehat oder im Wettbewerb um ein hierauf gerichtetes öffentliches Amt oder Mandat steht und insoweit in besonderer Weise auf die Zustimmung einer breiteren Öffentlichkeit verwiesen ist.“24 Nicht jeder Staatsdiener ist erfasst, wohl aber diejenigen, „die mit einem allgemeinen Mandat in einem öffentlichen Amt politische Verantwortung tragen, soweit sie ein Interesse an der Instrumentalisierung des Rundfunks für ihre Zwecke der Machtgewinnung oder des Machterhalts haben können“.25 Das sind dem BVerfG zufolge jedenfalls Regierungsmitglieder, Abgeordnete, politische Beamte, Wahlbeamte in Leitungsfunktion, insbesondere Bürgermeister und Landräte. Funktionsträger von Hochschulen, aus der Richterschaft und der funktionalen Selbstverwaltung gehören hingegen nicht dazu, weil sie typischerweise nur einen gegenständlich begrenzten Aufgabenbereich haben und nicht im politischen Wettbewerb stehen. Wohl aber führt die funktionale Betrachtungsweise zur Einberechnung der von politischen Parteien entsandten Mitglieder, insofern Parteien schon be22 BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 55 (juris). 23 Degenhart, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 5 Abs. 1 und 2 Rn. 773: „dürfte sachgerecht sein“. 24 BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 58 (juris). 25 BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 59 (juris). griffsnotwendig auf die Erlangung staatlicher Macht gerichtet sind.26 c) Gebot „vielfältiger Brechung“ Das BVerfG begnügt sich nicht mit der Einführung von Beteiligungsobergrenzen, trachtet vielmehr auch nach qualitativer Belebung der Binnenpluralität der Aufsichtsgremien – sowohl in der Staats- als auch in der Gesellschafts- (oder: Verbände-)Bank. Was die Staatsbank angeht, ließe sich ohne solche Sicherung interner Heterogenität auch wohl schon kaum die Drittelschwelle als immerhin recht großzügige Abmessung maximaler Gruppenstärke halten. Als gleichgerichtete Einheit begriffen wäre ein solcher Block um ein Vielfaches gewichtiger als alle anderen „Vertretungen“ gesellschaftlicher Kräfte und damit allemal problematisch. Erst die – rechtlich zu sichernde – „Brechung“ des Staats- und Parteieneinflusses27 macht die immer noch stattliche Beteiligung staatlicher und staatsnaher Mitglieder erträglich – dann aber auch fast unausweichlich: „Möglichst vielfältige“ Abbildung der parteipolitischen und föderalen Strömungen unter Einschluss gerade auch der kleineren Parteien, dazu womöglich auch noch unterschiedlicher funktionaler Ebenen der Staatsgewalt (Bund, Länder, Kommunen: „funktionale Brechung“) – und das ist es, was das BVerfG nunmehr fordert28 – ist ohne eine erhebliche Anzahl von Mitgliedern eben nicht zu haben. Die auf den ersten Blick irritierende Großzügigkeit der Senatsmehrheit erscheint daher auch den zweiten Blick doch auch wieder als Konsequenz der eigenen Konzeption möglichst ausgefächerter und insofern optimierter organisatorischer Vielfalt. Gerade in dieser Hinsicht der Perfektionierung und Optimierung des Binnenpluralismus geht der Senat indessen deutlich über die viel bescheideneren Rahmensetzungen des NRW-Urteils von 1991 (Grenze „grober Verzerrung“) hinaus. Freilich hängen die Realisierungschancen des Brechungsgebots entscheidend von der Gesamtgröße des Gremiums ab: Ein kleiner Rundfunkrat bietet im Korsett der Drittelschwelle schlicht keine Manövriermasse für vielfältige Brechungen der Staatsbank. Gerade hinsichtlich der Dimensionierung der Räte gewährt das BVerfG dem Gesetzgeber aber einen Spielraum, der als solcher nicht weiter verfassungsrechtlich eingegrenzt wird.29 Damit liegt es in der Hand des Gesetzgebers, die entscheidende Ausgangsgröße für die relative Schärfe der Forderung nach pluraler Brechung selbst zu setzen. Das Optimierungsgebot möglichst vielfältiger Brechung greift immer nur 26 So auch schon Degenhart (Fn. 23), Art. 5 Abs. 1 und 2 Rn. 773; siehe zur „Staatsnähe“ der Parteien aus rundfunkverfassungsrechtlicher Sicht auch BVerfGE 121, 30 – Beteiligung politischer Parteien an Rundfunkunternehmen; krit. dazu Cornils, ZJS 2009, 465. 27 Zum Brechungsargument schon BayVerfGH NJW 1990, 311 (313); ThürVerfGH, Urt. v. 19.6.1998 – VerfGH 10/96, Rn. 90 ff. (juris); Radeck, in: Flechsig (Hrsg.), SWR-Staatsvertrag, 1997, § 14 Rn. 14. 28 BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 62 (juris). 29 BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 63 (juris). _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 450 BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11 Cornils _____________________________________________________________________________________ relativ auf die Rahmenbedingung der Größe des Gremiums, unterliegt gerade insoweit aber der Gestaltungsmacht des Gesetzgebers; darin mag man eine Schwachstelle des bundesverfassungsgerichtlichen Entwurfs sehen. Die jüngst bekannt gewordenen Überlegungen zur Verkleinerung des ZDF-Fernsehrats auf nur noch 60 Mitglieder machen von dieser Option denn auch ziemlich ungerührt Gebrauch. „Viel Raum für kleine Parteien bleibt da nicht“30 – damit aber eben auch nicht für das ambitionierte Brechungskonzept des BVerfG. d) Staatsferne und dynamisierter Pluralismus in der „Gesellschaftsbank“ Zentrale Bedeutung haben im ZDF-Urteil die nunmehr aufgestellten Grundsätze zur Sicherung der Staatsferne und Binnenpluralität der von den Verbänden und gesellschaftlichen Gruppen entsandten Mitglieder. Insoweit geht es im genaueren um drei Forderungen: Das Staatsfernegebot verlangt zunächst, dass sich „die Exekutive“ – die Beschränkung auf diese Staatsfunktion ist bemerkenswert – jeglicher bestimmenden Einflussnahme auf die Auswahl der Mitglieder der Gesellschaftsbank enthält.31 Sonst fänden die Staatsvertreter hier – wie in der Vergangenheit vielfach zu beobachten – gleichsam natürliche Verbündete. Die eigenartigen, so allerdings im Vergleich mit den anderen Anstalten auch einzigartigen Auswahlrechte der Ministerpräsidenten im ZDF-StV konnten daher vor der Verfassung keinen Bestand haben. In voller Schärfe – Unvereinbarkeit mit der Verfassung – hat das BVerfG diesen Schluss freilich nur für die Regelung des § 21 Abs. 1 lit. r ZDF-StV gezogen, also für das Benennungsrecht der Länderregierungschefs hinsichtlich der Mitglieder aus den „gesellschaftlichen Bereichen“.32 Für das Auswahlrecht der Ministerpräsidenten aus den Dreiervorschlägen der gesellschaftlichen Verbände hält das BVerfG hingegen immerhin noch eine verfassungskonforme Auslegung für möglich: Eine solche Auswahl darf nur, aber immerhin aus „besonderem rechtlichem Grund“ von der Reihung des Vorschlags abweichen.33 Vergleichbare, aus der Staatsferne motivierte Schutzzwecke verfolgen die nunmehr recht streng, strenger als in jedem existierenden Anstaltsgesetz formulierten Inkompatibilitätsanforderungen: Danach ist von Verfassungs wegen vorzusehen, dass die von den entsendeberechtigten Stellen entsandten Mitglieder kein Staatsamt im Sinne der Zurechnungskriterien für die Staatsbank (s.o.) bekleiden, darüber hinaus aber auch nicht in herausgehobener Funktion für eine politische Partei Verantwortung tragen.34 Das BVerfG hält dem Gesetzgeber Definitionsspielraum in der Frage offen, welche Partei-ämter unter diese Formel fallen, gibt aber zu erkennen, dass die Grenze etwa auf der „Kreis- oder Bezirksebene“ gezogen werden könne.35 Die Gefahr der „Unterwanderung“ der Gesellschaftsbank mit ehemaligen Amtsträgern, verdienten Ex-Ministern, Staatssekretären, hohen Parteifunktionären usw. lässt sich mit auf die aktuelle Amtsträgerschaft bezogenen Inkompatibilitäten naturgemäß nicht bändigen; insoweit bringt das BVerfG die Möglichkeit weitergehender gesetzlicher Vorkehrungen, etwa von Karenz-Vorschriften ins Spiel, ohne sie aber verbindlich vorzugeben. Reformbedarf für fast alle Rundfunkanstalten – mit wahrscheinlicher Ausnahme des MDR, der ein den Vorstellungen des BVerfG wohl entsprechendes Konzept schon verwirklicht hat (§ 19 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 Nr. 16 MDR-StV) – wirft die dritte Vorgabe an die Ausgestaltung der Gesellschaftsbank auf. Hier geht es nicht mehr um die Staatsferne, sondern um die optimierte wirklichkeitsadäquate Vielfaltsrepräsentation.36 Die schon bei der Staatsbank sichtbar gewordene Schärfung der Binnenpluralismus-Maßstäbe schlägt jetzt auch auf die Gesellschaftsbank durch: „Die gesetzlichen Regelungen zur Auswahl und Bestellung der staatsfernen Mitglieder müssen sich an dem Ziel der Vielfaltsicherung ausrichten. Hierbei ist den Gefahren einer Dominanz von Mehrheitsperspektiven und einer Versteinerung der Zusammensetzung der Gremien entgegenzuwirken.“37 Hieraus leitet das BVerfG einen Auftrag an den Gesetzgeber ab, eine geeignete Form der Dynamisierung hinsichtlich der Bestimmung der entsendeberechtigten Verbände oder sonstigen Vertreter der Zivilgesellschaft vorzusehen. Es dürfen nicht immer dieselben etablierten Großverbände im Rundfunk das Sagen haben. Die „Vertretung der Gesellschaft“ darf nicht zum Kartell einiger Meinungsführer erstarren, muss vielmehr auch für andere und neue Stimmen offen und aufnahmefähig gehalten werden. Wie das umzusetzen ist, steht verfassungsrechtlich auch nach dem 25.3.2014 nicht fest. Der Senat nennt wohl mit Blick auf die genannte Regelung im MDR-StV beispielhaft die Möglichkeit eines Bewerbungsverfahrens um Entsenderechte, verpflichtet den Rundfunkgesetzgeber aber nicht auf dieses Modell. Überhaupt ist zweifelhaft, wie scharfkantig und justitiabel diese Dynamisierungsanforderung wirklich gemeint ist: Die nun zu beobachtende Verfeinerung der Pluralismusanforderungen passt auch hier (wie schon bei den Brechungspostulaten zur Staatsbank) nicht recht zu der doch gerade nicht auf einer Vorstel34 30 Ehrenberg/Huber, Tagesspiegel vom 13.6.2014, http://www.tagesspiegel.de/medien/politische-einflussnahmebeim-umbau-des-zdf-fernsehrates-sollen-spd-und-cdu-nichtunter-sich-sein/10041348.html. 31 BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 66 (juris). 32 BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 94 f. (juris). 33 BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 93 (juris). BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 75 ff. (juris). 35 BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 79 (juris). 36 BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 69 (juris): „Die institutionelle Ausgestaltung muss darauf abzielen, dass die Mitglieder möglichst verschiedenartige Sichtweisen, Erfahrungen und Wirklichkeitsdeutungen in den Rundfunkanstalten einbringen können und damit ein facettenreiches Bild des Gemeinwesens ergeben“. 37 BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 72 (juris). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 451 BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11 Cornils _____________________________________________________________________________________ lung möglichst exakter Interessenvertretung beruhenden, vielmehr nur die Vermeidung grober Einseitigkeiten fordernden Leitidee für die Zusammensetzung der „Aufsicht der Gesellschaft“ über den Rundfunk.38 Sie lässt sich überdies auch hier wieder mit einer Verkürzung der Kopfzahl der Gremien per Federstrich des Gesetzgebers weitgehend aushebeln: Bei nur wenigen Ratssitzen ist für eine rotierende Durchmischung und programmbelebende „bunte Vögel“ in den Räten einfach kaum Spielraum. e) Sicherung der persönlichen Unabhängigkeit Die fünfte Forderung des BVerfG zielt auf die Stärkung der persönlichen Unabhängigkeit der Gremienmitglieder, insbesondere auch auf die Ertüchtigung ihrer Widerstandsfähigkeit gegen die Anfechtungen parteipolitischer Vereinnahmung. Daher gilt nun: „Für alle Mitglieder der Aufsichtsgremien der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten – sowohl die staatlichen und staatsnahen als auch die staatsfernen Mitglieder – bedarf es einer hinreichenden Absicherung ihrer persönlichen Rechtsstellung zur Gewährleistung ihrer Eigenständigkeit bei der Aufgabenwahrnehmung.“39 Konkret bedeutet dies, dass das in den Rundfunkgesetzen regelmäßig vorgesehene Abberufungsrecht der entsendungsberechtigten Stellen auf eine Abberufung aus wichtigem Grund beschränkt werden muss – eine Einschränkung, die zwar die meisten anderen Anstaltsgesetze, nicht aber der ZDF-StV bisher vorsehen. Das BVerfG definiert nicht, was „wichtige Gründe“ sind, lässt aber erkennen, dass ein Ausscheiden des Vertreters aus dem entsendungsberechtigten Verband40 verfassungsrechtlich jedenfalls akzeptabel ist. Zudem findet sich im Urteil ein Hinweis darauf, dass die Gesetzgeber es insoweit auch bei einer generalklauselartigen Bedingung – eben dem „wichtigen Grund“ – belassen können.41 f) Transparenz Schließlich mahnt das BVerfG mehr Transparenz in den Gremien42 an. Diese Forderung reagiert auf die in der Praxis sichtbar gewordene Undurchsichtigkeit der Auswahl-, Gruppenbildungs- und Aushandlungsprozesse in den Rundfunkanstalten. Das Licht der Öffentlichkeit kann dafür sorgen, dass 38 Das BVerfG sieht diese Spannung selbst, wenn es postwendend nach der Formulierung der gesetzgeberischen Pflicht zur möglichst vielfältigen Abbildung der Gesellschaft auf die Aussichtslosigkeit jeder Bemühung um möglichst realitätsgerechte Repräsentation – und von da aus in den „weiten Gestaltungsspielraum“ des Gesetzgebers verweist, BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 70 f. (juris). 39 BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 80 (juris). 40 Darauf beschränktes Abberufungsrecht in § 15 Abs. 10 S. 1 WDR-Gesetz; § 19 Abs. 4 MDR-StV; weitergehend z.B. § 6 Abs. 2 HR-G: Ausscheiden ex lege mit Ausscheiden aus der entsendenden Organisation. 41 BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 98 (juris). 42 BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 78 ff. (juris). das Geflecht informeller Bündnisse und Absprachen – meist unter Führung machtbewusster oder integrationsstarker Politiker – weniger gut gedeiht. So, das ist jedenfalls die Hoffnung des BVerfG, sekundiert Transparenz auch der Unabhängigkeit der Gremiumsmitglieder, stärkt deren Selbst- und Rollenbewusstsein als unabhängige Vielfaltswächter. Freilich übersieht das BVerfG nicht die Erfordernisse der Vertraulichkeit und des Geheimnisschutzes, gerade bei journalistischer Arbeit (Quellenschutz, Redaktionsgeheimnis!) und im Umgang mit den Arbeitsverträgen der Mitarbeiter. Kompromisshaftes Ergebnis dieser Güterkollision ist die Forderung nur nach einem „Mindestmaß an Transparenz“ hinsichtlich der Organisationsstrukturen und Zusammensetzung, der Tagesordnung und „dem Grundsatz nach“ auch der Sitzungsprotokolle.43 Sitzungsöffentlichkeit in den Gremien ist verfassungsrechtlich nicht zwingend geboten; allerdings muss eine dafür oder dagegen ausfallende Entscheidung vom Gesetzgeber selbst getroffen, darf also nicht einfach auf die Ebene des Satzungsrechts oder der Geschäftsordnung abgeschoben werden. III. Ausblick Das 14. Rundfunkurteil beantwortet nicht alle Fragen zu den verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen der Gremienzusammensetzung in den öffentlich-rechtlichen Anstalten, wirft in seinen unschärferen Passagen sogar eher neue Fragen auf, die in tastendem und zunächst durchaus experimentellem Zugriff der nunmehr zur Novellierung aufgerufenen Gesetzgeber einer Lösung näher gebracht werden müssen, etwa hinsichtlich der Bewältigung der Forderungen nach mehr Dynamik bei den Entsenderechten und mehr Transparenz. Dass das BVerfG in verschiedenen Zusammenhängen des Urteils gesetzesvertretend-definitive Festlegungen vermieden, den Ball vielmehr an den Gesetzgeber zurückgegeben und diesen seiner verbleibenden Gestaltungsspielräume versichert hat, ist grundsätzlich eine gute Eigenschaft der Entscheidung. Irgendetwas sollte auch im Bereich des Rundfunks noch demokratisch zu entscheiden und nicht schon aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG bis ins Letzte vorentschieden sein. Das gilt gerade auch für das genuin politische Rundfunkorganisationsrecht. Insofern wahrt das Urteil eine vernünftige Balance zwischen verfassungsgerichtlicher Anleitung und gesetzgeberischem Gestaltungsmandat, auch wenn die damit verbundenen Grauzonen an den Spielraumgrenzen Stoff für juristische Diskussionen liefern und vielleicht auch noch einmal eine Folgeentscheidung des BVerfG zur Korrektur von Umsetzungs-Fehlversuchen in den demnächst novellierten Gesetzen herausfordern können. Manche etwas idealistisch anmutende Reformvorstellung des BVerfG (Postulat vielfältiger Brechung, Optimierung pluraler Zusammensetzung in der Gesellschaftsbank, Transparenz) wird wohl auch in der harten Wirklichkeit der positiven Rundfunkgesetze eher nur in glanzloserer Rudimentärgestalt ankommen, ohne dass dem verfassungsrechtlich definitiv etwas entgegenzuhalten wäre: Wie schon bemerkt, hängt die eingeforderte verbesserte Binnenpluralität der Gremien we43 BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 85 (juris). _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 452 BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11 Cornils _____________________________________________________________________________________ sentlich von deren Gesamtgröße ab, steht damit aber doch ein erhebliches Stück weit zur Disposition der Gesetzgeber. Und sie steht, wie gleichfalls schon angedeutet, in ihrer nunmehr gegenüber der früheren Rechtsprechung geschärften Ausprägung auch in einer gewissen Spannung zum pragmatischen Grundgedanken des organisatorischen Binnenpluralismus, dem es gerade nicht um möglichst feine und elaborierte Interessenvertretung, sondern nur um die Verhinderung grober Ungleichgewichte ging. Auch das wirft Fragen auf, wie ernst die Forderung nach möglichst viel Pluralität in der Zusammensetzung der Gremien wirklich gemeint sein kann. Das Urteil verlangt nicht nur von den 16 an der Gemeinschaftsanstalt ZDF beteiligten Ländern binnen knapp bemessener Frist (30.6.2015) die Reparatur der für verfassungswidrig erklärten Vorschriften nach Maßgabe der nun aufgestellten Grundsätze.44 Die Länder (und der Bund für das DW-Gesetz) müssen darüber hinaus auch die Staatsverträge und Gesetze über die ARD-Anstalten auf ihre Prüf- und Reformagenda setzen. Auch wenn diese Gesetze überwiegend nicht in gleichem Maße an den hinsichtlich des ZDF-StV festgestellten Mängeln kranken, erscheint es doch schon jetzt sicher, dass keine Anstaltsverfassung in jeder Hinsicht mit den Vorgaben des BVerfG vereinbar ist. Diese Differenzen betreffen teilweise die Einhaltung der Drittelschwelle (insbesondere auch in den Ausschüssen45), vor allem aber die Regelung der Inkompatibilitäten, die sich entgegen der bisherigen Praxis nunmehr auch auf höhere Parteiämter erstrecken muss, die geforderte Dynamisierung der Entsendeberechtigung sowie die in den Grundsätzen (etwa hinsichtlich der Sitzungsöffentlichkeit) vom Gesetzgeber selbst zu treffenden Regelungen hinsichtlich der Transparenz, in Einzelfällen wohl auch das Abberufungsrecht der entsendeberechtigten Stellen. Gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG entfalten die Urteile des BVerfG Bindungswirkung auch gegenüber nicht verfahrensbeteiligten Verfassungsorganen, Gerichten und Behörden. Dies gilt nach der – freilich umstrittenen – Rechtsprechung des BVerfG auch für die tragenden Gründe der Entscheidung. Die hier referierten verfassungsrechtlichen Anforderungen, namentlich das sechsteilige Vorgabenbündel für eine verfassungskonforme Ausgestaltung der Gremien, sind für die Tenorierung des ZDF-Normkontrollurteils tragend und daher für die Landesgesetzgeber auch außerhalb des Verfahrensgegenstandes und der Reichweite der Gesetzeskraft (§ 31 Abs. 2 BVerfGG) des Normenkontrollurteils bindend.46 Zwar bezieht sich die Weitergeltungsanordnung mit Fristsetzung – Vollstreckungsanordnung des BVerfG – unmittelbar nur auf die Transformationsgesetze zum ZDF-StV, nicht also auf die ARD-Anstalten-Gesetze. Gleichwohl lässt sich aus dieser sehr kurzen Frist doch die Orientierung gewinnen, dass die Novellierungsarbeiten auch insoweit keine sehr lange Zeit in Anspruch nehmen dürfen: Bindung bedeutet Pflicht zur zumutbaren Beachtung der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung nach Maßgabe dessen, was der Bindungsadressat funktionell-rechtlich zu leisten imstande ist.47 Was für die Gesetzgeber im Hinblick auf den schweren Problemfall ZDF – auch in zeitlicher Hinsicht – angemessen ist, kann für die anderen, eher leichteren Fälle der ARD-Anstalten kaum unangemessen sein. Prof. Dr. Matthias Cornils, Mainz 44 § 21 Abs. 1 ZDF-StV: Fernsehrat, Zusammensetzung, Entsenderechte; § 21 Abs. 4 ZDF-StV: Fernsehrat, Berufungsrecht der Ministerpräsidenten zu Abs. 1 lit. r; § 21 Abs. 10 S. 2 ZDF-StV: Fernsehrat, Abberufungsrecht der entsendeberechtigten Stellen; § 24 Abs. 1 ZDF-StV: Verwaltungsrat, Zusammensetzung; § 24 Abs. 3 S. 2 Alt. 1 ZDF-StV: Verwaltungsrat, Abberufungsrecht der entsendeberechtigten Stellen. 45 Insoweit reicht nach den Aussagen des BVerfG indessen wohl eine Regelung auf Geschäftsordnungs- oder Satzungsebene aus, BVerfG, Urt. v. 25.3.2014 – 1 BvF 1/11, 1 BvF 4/11, Rn. 56 (juris). 46 Vgl. zur Bindung nicht verfahrensbeteiligter Gesetzgeber BVerfGE 90, 60 (105). 47 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 43. Lfg. Stand: Februar 2014 § 31 Rn. 121. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 453 BGH, Beschl. v. 29.4.2014 – 3 StR 21/14 Brüning _____________________________________________________________________________________ Entscheidungsanmerkung Versuchter Mord aus Heimtücke – „Schuss durchs Fenster der Beifahrertür“ 1. Arglos ist das Tatopfer, wenn es bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs nicht mit einem gegen seine körperliche Unversehrtheit gerichteten schweren oder doch erheblichen Angriff rechnet (nichtamtlicher Leitsatz). 2. Voraussetzung einer heimtückischen Begehungsweise ist weiter, dass der Täter die von ihm erkannte Arg- und Wehrlosigkeit bewusst zur Tatbegehung ausnutzt. Dabei ist für die bewusste Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers grundsätzlich auf die Lage zu Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs und damit den Eintritt der Tat in das Versuchsstadium abzustellen (nichtamtlicher Leitsatz). weigert daher die Aufforderung, die Tür zu öffnen. T erkennt nun, dass sie den O auch nicht unter Vorhalt einer Waffe zu einem Gespräch zwingen kann. Sie fasst daher endgültig den Entschluss, den O zu töten. T drückt den Abzug, wobei sich zu ihrer Überraschung kein Schuss löst. Nachdem sie ihren Irrtum bemerkt hat, lädt sie die Waffe durch, mit der Folge, dass O Angst bekommt. Er startet den Motor und flieht, indem er das Fahrzeug vom Beifahrersitz aus steuert. T gibt weitere vier Schüsse auf den davonfahrenden Wagen ab, wobei drei Projektile das Fahrzeug aus einer Entfernung von 20-30 m treffen. Dabei erkennt T, dass die Schüsse auch für die anderen Fahrzeuginsassen potentiell lebensgefährlich sind und nimmt ihren Tod billigend in Kauf. I. Der Sachverhalt T verliebt sich in ihren Fahrschullehrer O. Trotz zahlreicher Zurückweisungen lässt sie nicht locker und versucht, sich mit O zu verabreden. O hat jedoch kein Interesse an der T, geht ihr daher aus dem Weg und verweigert jeden Kontakt. Aus diesem Grund ist T verzweifelt, fühlt sich gekränkt und in ihrem Stolz verletzt. Als T sieht, wie O in seinem Fahrschulwagen hinter einem Motorradschüler herfährt, holt sie ihre nebst Munition erworbene Pistole, führt das Magazin ein und begibt sich zu der als Motorradabstellplatz genutzten Garage. Dort wartet sie ab, bis O eintrifft. Sie plant, den O unter Vorhalt der Pistole zu einem Gespräch zu zwingen. Sollte er sich erneut verweigern, so plant sie, ihn zu erschießen. Während O das Motorrad in die Garage bringt, kommt es zwischen T und O zu einem kurzen Gespräch, in dessen Verlauf der O die T erneut abweist. O begibt sich daraufhin zu seinem Fahrschulwagen und nimmt auf dem Beifahrersitz Platz. Am Steuer sitzt eine Fahrschülerin, auf dem Rücksitz hat der Motorradschüler Platz genommen. Daraufhin holt T die mitgebrachte Pistole aus ihrem Fahrzeug und steckt diese am Rücken in den Hosenbund. Am Fahrschulwagen ergreift T die Waffe und richtet diese durch das geöffnete Beifahrerfenster auf O. Sie fordert O auf, die Tür zu öffnen und erklärt, dass sonst „etwas Böses“ geschehen werde. Dabei hält T die Waffe irrtümlich für schussbereit. Tatsächlich hat T aber vergessen, den Schlitten der Pistole durchzuziehen, so dass sich noch keine Kugel im Lauf befindet. O hingegen hält die Pistole wiederum irrtümlich für eine Spielzeugpistole und ver- II. Einführung in die Problematik Das zu § 211 StGB ergangene Urteil behandelt ein Problem aus dem Bereich der Heimtücke. Hier geht es allein um die Frage, ob der „Schuss“ durch das Fenster der Beifahrertür als versuchter Mord aus Heimtücke zu werten ist. Konkret spitzt sich die Problematik auf die Frage zu, bis zu welchem Zeitpunkt das potentielle Mordopfer arglos sein muss, damit der Täter heimtückisch handelt. Schwierigkeiten bereitet der Fall vor allem deswegen, weil man die jeweiligen Irrtümer bei der rechtlichen Bewertung nicht aus den Augen verlieren darf: den anfänglichen Irrtum des O darüber, dass es sich nicht um eine Spielzeugpistole handelt sowie den darauf bezogenen Irrtum der T, die diesen Irrtum des O wiederum nicht erkennt. Die Entscheidung kann zum Anlass genommen werden, die Voraussetzungen der Heimtücke im Rahmen des Mordtatbestandes gem. § 211 StGB kurz zu wiederholen. § 211 dient, wie die Strafbestimmung des Totschlags, dem Schutz des menschlichen Lebens. Der Täter des § 211 muss zunächst die tatbestandlichen Voraussetzungen des Totschlags erfüllen. Darüber hinaus ist die Verwirklichung eines der in § 211 Abs. 2 aufgeführten Mordmerkmale erforderlich. Daher stehen die Tötungsdelikte nicht – wie nach Ansicht der Rechtsprechung – in einem qualitativen „Entweder-Oder-Verhältnis“, sondern sind durch ein quantitatives „Mehr-oder-Weniger-Verhältnis“ charakterisiert.2 Der Mord ist daher eine Qualifikation des Totschlags. Das Gesetz differenziert zwischen besonderen Beweggründen des Täters, der Art und Weise der Tatausführung und den mit der Tat verfolgten Zwecken.3 Das Mordmerkmal der Heimtücke ist ein tatbezogenes objektives Mordmerkmale der zweiten Gruppe und damit gekennzeichnet durch eine besonders verwerfliche Begehungsweise der Tötung. Die spezifische Gefährlichkeit dieser Ausführungsart der Tötung besteht darin, dass der tückisch überraschend vorgehende Täter dem arglosen Opfer Selbstschutzmöglichkeiten – Abwehr- und Verteidigungschancen – entzieht, die es sonst gehabt hätte. 1 2 StGB §§ 211, 212, 22 BGH, Beschl. v. 29.4.2014 – 3 StR 21/141 Die Entscheidung ist abrufbar unter: http://www.juris.de/jportal/portal/page/jurisw.psml/t/qdq?doc .hl=1&doc.id=JURE140010361&documentnumber=1&numb erofre¬sults=1&showdoccase=1&doc.part=L¶mfromHL =true&action=portlets.jw.CopySessionState&fromPsml=null #focuspoint. Vgl. dazu Jäger, Examens-Repetitorium, Strafrecht Besonderer Teil, 5. Aufl. 2013, Rn. 6 ff.; Wessels/Hettinger, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 37. Aufl. 2013, Rn. 69 ff. 3 Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 3, 4. Aufl. 2013, § 211 Rn. 4. _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 454 BGH, Beschl. v. 29.4.2014 – 3 StR 21/14 Brüning _____________________________________________________________________________________ Der Abwehrmechanismus, der bei einem argwöhnischen Opfer bestünde, würde ausgehebelt.4 Heimtücke ist das bewusste Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers.5 Arglos ist, wer sich zum Zeitpunkt der Tat keines Angriffs vonseiten des Täters versieht. Der maßgebliche Zeitpunkt, zu dem das Opfer noch arglos gewesen sein muss, ist der Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs, d.h. der Eintritt der Tat in das Versuchsstadium.6 Schöpft das Opfer noch vor Versuchsbeginn Argwohn, so entfällt die Arglosigkeit.7 Grundsätzlich entfällt die Arglosigkeit, wenn das Opfer mit einem Angriff auf sein Leben rechnet, weil der Täter dies zuvor angekündigt hat. Allerdings reicht hierfür nicht jede Äußerung aus, sondern es kommt auf den Zeitpunkt und die Intensität der Ankündigung an. Indes werden auch Ausnahmen von dem Erfordernis der zeitlichen Koinzidenz von der Arglosigkeit und dem Beginn des Tötungsversuchs gemacht. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Täter das Opfer in einen Hinterhalt gelockt hat, um eine günstige Gelegenheit zur Tötung zu schaffen.8 Wehrlos ist das Opfer, dessen Abwehrmöglichkeiten infolge seiner Arglosigkeit erheblich eingeschränkt sind.9 Nicht erforderlich ist, dass es schlechthin schutzunfähig ist. Die Wehrlosigkeit muss dabei auf der Arglosigkeit beruhen.10 Schließlich muss der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tötung ausgenutzt haben. Voraussetzung hierfür ist das Erkennen der Tatsituation in dem Sinne, dass dem Täter bewusst ist, einen durch Ahnungslosigkeit gegenüber einem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen.11 Insoweit werden spontan agierende Täter bessergestellt, weil sie nicht in der Lage waren, die äußeren Rahmenbedingungen der Tat in ihrem Bedeutungsgehalt für die Lage des Opfers zu realisieren.12 Maßgeblich ist auch hier der Zeitpunkt des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs. Häufig wird die Definition der Heimtücke um die Einschränkung ergänzt, dass die Tötung in feindlicher Willensrichtung erfolgen muss.13 4 Schneider, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 4, 2. Aufl. 2012, § 211 Rn. 144; Küper, Strafrecht, Besonderer Teil, Definitionen mit Erläuterungen, 8. Aufl. 2012, S. 193. 5 Kaspar/Broichmann, ZJS 2013, 346; Küper (Fn. 4), S. 189; Rengier, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 15. Aufl. 2014, § 4 Rn. 23. 6 Neumann (Fn. 3), § 211 Rn. 64; Eser/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 211 Rn. 24; Kett-Straub, JuS 2007, 515 (519). 7 Vgl. zur sog. „konstitutionellen“ Arglosigkeit bei Kleinkindern und Babys Mitsch, JuS 2013, 783. 8 Rengier (Fn. 5), § 4 Rn. 25. 9 Küper (Fn. 4), S. 189. 10 Rengier (Fn. 5), § 4 Rn. 31. 11 Schneider (Fn. 4), § 211 Rn. 180; Küper (Fn. 3), S. 189. 12 Schneider (Fn. 4), § 211 Rn. 145. 13 Das „Stichwort“ Einschränkung bereitet den Weg für ein weiteres – hier aber nicht relevantes – Problem der Heimtücke. Es besteht Einigkeit darüber, dass die Mordmerkmale, insbesondere das Merkmal der Heimtücke, restriktiv auszulegen III. Die Entscheidung Der BGH widerspricht der Vorinstanz, die u.a. zu einer Verurteilung der wegen versuchten Mordes aufgrund des Schusses durch das Fenster der Beifahrertür gekommen war. „Die Würdigung des Landgerichts, die Angeklagte [T] habe bei ihrem Versuch, durch das Fenster der Beifahrertür auf den Nebenkläger [O] zu schießen, heimtückisch im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB gehandelt, hält sachlichrechtlicher Nachprüfung nicht stand.“14 Das Gericht stellt zunächst fest, dass T noch nicht unmittelbar zu einem Tötungsdelikt angesetzt habe, als sie zu O an das Fahrzeug trat und die Pistole auf ihn richtete. Zwar habe ein Tatentschluss vorgelegen. „Doch war nach dem Tatplan ein Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung in dem Sinne, dass der Täter subjektiv die Schwelle zum ‚jetzt geht es los‘ überschreitet und objektiv ohne weitere Zwischenakte zur tatbestandsmäßigen Angriffshandlung ansetzt, noch nicht erreicht. Vielmehr hing die Umsetzung des geplanten Tötungsverhaltens noch vom – von der Angeklagten allerdings nicht zu beeinflussenden – Eintritt der Bedingung ab, dass der Nebenkläger sie wieder abweisen würde. Erst als der Nebenkläger sich endgültig abwandte und die Angeklagte jetzt den Abzug der Waffe betätigte, setzte sie unmittelbar zur Ausführung der Tötungshandlung an.“15 Der BGH betont, dass O zu diesem Zeitpunkt – aus der Sicht der T – seine Arglosigkeit bereits verloren hätte, da sie ihm offen mit einer Pistole gegenüber trat und ihm etwas „Böses“ angedroht hatte, für den Fall, dass O die T abermals abweise. „Dass sie gewusst oder bewusst ausgenutzt hätte, dass der Nebenkläger die Waffe für eine Spielzeugpistole hielt und sie deshalb nicht ernst nahm, ergibt sich aus den Feststellungen [des Landgerichts] nicht.“16 Das Gericht betont, dass O vielmehr die Möglichkeit gehabt hätte, verbal auf die T einzuwirken, um sie von ihrem Tötungsvorhaben abzubringen. IV. Die Bewertung der Entscheidung Für das Ergebnis des BGH spricht viel. Und auch die dazu gegebene Begründung ist weitgehend überzeugend. Der Schuss sind, um die gem. § 211 zwingend zu verhängende lebenslange Freiheitsstrafe mit dem aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz fließenden Schuldprinzip vereinbaren zu können. Wie diese restriktive Auslegung im Einzelnen zu erfolgen hat, ist jedoch umstritten. Neben dem Handeln in feindlicher Willensrichtung wird als einschränkendes Merkmal ein verwerflicher Vertrauensbruch vorgeschlagen. Ferner wird vertreten, eine sog. negative Typenkorrektur vorzunehmen. Der Große Senat des BGH hat sich allerdings gegen Restriktionsversuche auf Tatbestandsebene ausgesprochen und vertritt eine sog. Rechtsfolgenlösung. In Fällen, in denen die Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe unverhältnismäßig erscheint, ist der Strafrahmen nach § 49 Abs. 1 Nr. 1 zu mildern. Vgl. zum Ganzen die knappe Darstellung bei Jäger (Fn. 2), Rn. 38. 14 BGH, Beschl. v. 29.4.2014 – 3 StR 21/14, Rn. 4. 15 BGH, Beschl. v. 29.4.2014 – 3 StR 21/14, Rn. 6. 16 BGH, Beschl. v. 29.4.2014 – 3 StR 21/14, Rn. 7. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 455 BGH, Beschl. v. 29.4.2014 – 3 StR 21/14 Brüning _____________________________________________________________________________________ durch das Fenster der Beifahrertür ist kein versuchter Mord aus Heimtücke. Ein heimtückisches Vorgehen setzt voraus, dass das Opfer arglos war, als das Tötungsverhalten in das Versuchsstadium eintrat. Damit stellt sich zunächst die Frage, zu welchem Zeitpunkt das Tötungsdelikt versucht wurde: Bereits als T den O mit der Waffe bedrohte? Oder aber erst als sie den Abzug betätigte? Ein versuchtes Tötungsdelikt setzt einen Tatentschluss sowie ein unmittelbares Ansetzen zur Tat voraus. Zu Recht geht das Gericht zunächst davon aus, dass T mit Tatentschluss gehandelt hat. Ausreichend ist ein Tatentschluss auf bewusst unsicherer Tatsachengrundlage.17 Dieser liegt vor, wenn der Täter den Tatentschluss zwar endgültig gefasst hat, dessen Realisierung aber vom Eintritt äußerer – nicht von ihm beherrschbaren – Umstände abhängig gemacht werden soll. So lag der Fall hier. Die Durchführung der Tat hing davon ab, ob O sich wiederholt einem Gespräch mit der T verweigern würde. Zustimmung verdient ferner die Annahme, dass T erst mit Betätigung des Abzuges unmittelbar zum Tötungsdelikt angesetzt hat. Grundsätzlich liegt ein unmittelbares Ansetzen immer dann vor, wenn der Täter aus seiner Sicht alles Erforderliche getan hat, um den tatbestandsmäßigen Erfolg herbeizuführen, also ein sog. beendeter Versuch gegeben ist.18 Diese Voraussetzung war hier zwar gegeben, als T den Abzug betätigte, jedoch noch nicht, als sie die Waffe auf O richtete. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob bereits dieser Zeitpunkt ein unmittelbares Ansetzen zum Tötungsdelikt markiert. Liegt kein beendeter Versuch vor, so gibt es verschiedene Lösungsansätze, wie etwa die zeitliche und räumliche Unmittelbarkeit, die unmittelbare Gefährdung des geschützten Rechtsgutes bzw. den Eindruck der Erschütterung der Unverletzlichkeit der Rechtsordnung durch einen „friedensstörenden Zugriff“ auf die Opfersphäre. Der BGH ist in ständiger Rechtsprechung dazu übergegangen, die verschiedenen Lösungsansätze im Einzelnen miteinander zu kombinieren. Der Vorhalt der Waffe ist zwar ein Eingriff in die Opfersphäre des O. Gleichwohl hatte T dadurch noch nicht alle Verteidigungschancen des O beseitigt, da dieser die Möglichkeit eines Gespräches mit T hätte wahrnehmen können. Zu berücksichtigen ist insoweit, dass die Opfersphären in Bezug auf die einzelnen Tatbestände unterschiedlich zu ziehen sind.19 Der Umstand, dass T die Willensbildungsfreiheit des O verletzt hat, hat nicht zwingend zur Folge, dass bereits dadurch ein Angriff auf sein Leben vorgenommen wurde. Im Übrigen ist zu beachten – worauf auch der BGH hinweist –, dass aus der Sicht der T erst die Entscheidung darüber anstand, ob 17 Beckemper, in: v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar, Strafgesetzbuch, Ed. 23, Stand: 1.12.2012, § 22 Rn. 9. 18 Vgl. Rath, JuS 1998, 1106 (1110) m.w.N. Grundsätzlich spielt die Frage, ob ein beendeter oder unbeendeter Versuch vorliegt, beim Rücktritt i.S.d. § 24 StGB eine Rolle. Davon hängt ab, welche Anforderungen an das Rücktrittsverhalten zu stellen sind. 19 Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 2, 2003, § 29 Rn. 141. noch ein Gespräch stattfinden würde. Erst nach einer erneuten Zurückweisung wollte sie ihr Tötungsvorhaben verwirklichen. Es waren daher noch wesentliche Zwischenschritte erforderlich, so dass man eine zeitliche Unmittelbarkeit erst annehmen konnte, als T den Abzug der Waffe betätigte. Dieser Zeitpunkt ist damit relevant für die Beurteilung der Arglosigkeit des O. Der BGH geht zwar – ohne dies ausdrücklich anzusprechen – zu Recht davon aus, dass O zu diesem Zeitpunkt objektiv noch arglos war. Grund hierfür ist der Umstand, dass O die Pistole der T lediglich für eine Spielzeugpistole hielt. Daher versah er sich zu diesem Zeitpunkt noch keines Angriffs auf sein Leben. Allerdings verneint der BGH das Ausnutzungsbewusstsein. Strenggenommen hatte T keinen Vorsatz auf die die Arglosigkeit begründenden Umstände. Die Arglosigkeit entfällt, wenn das Opfer mit einem Angriff auf sein Leben rechnet, weil der Täter dies zuvor angekündigt hat. Genau diese Situation hat T sich vorgestellt. Die Ankündigung – unter Vorhalt einer Waffe –, dass etwas „Böses“ geschehen werde, sollte als Inaussichtstellen einer Tötung verstanden werden. T ging also davon aus, dass O mit einem Angriff auf sein Leben für den Fall einer Zurückweisung rechnete und damit argwöhnisch war. Tatsächlich hat O aber nicht erkannt, dass es sich um eine echte Pistole handelt, so dass er nicht mit einem Angriff auf sein Leben gerechnet hat. Das aber hat T nicht erkannt. Folglich irrte sie sich über Tatumstände, die die Arglosigkeit und damit das Tatbestandsmerkmal der Heimtücke begründen. Mithin unterlag sie einem Tatumstandsirrtum gem. § 16 StGB, mit der Folge, dass T insoweit ohne Vorsatz gehandelt hat. Hatte T bereits keinen Vorsatz auf die die Arglosigkeit begründenden Umstände, so kann sie die Ahnungslosigkeit des Täters auch nicht bewusst für ihr Tötungsvorhaben ausgenutzt haben. Der BGH hat damit zu Recht das Ausnutzungsbewusstsein verneint. V. Fazit und Ausblick Für das Erste Staatsexamen müssen die Mordmerkmale bekannt und verstanden sein. Das gilt insbesondere für die klausurrelevante Heimtücke. Eine sichere Handhabung dieses Mordmerkmals ist somit unabdingbar. Unter rechtlichen Gesichtspunkten bringt diese Entscheidung zwar nichts Neues. Die Schwierigkeit des Falls besteht allerdings darin, den Sachverhalt genau auszuwerten und sauber zu arbeiten. Dies beginnt mit der Argumentation zum unmittelbaren Ansetzen des Tötungsdelikts. Davon hängt ab, auf welchen Zeitpunkt in Bezug auf die Arglosigkeit abzustellen ist. Ferner musste man erkennen, dass O einem Irrtum unterlag, den T wiederum nicht erkannte und sich damit ihrerseits irrte. Dies war wichtig für den Vorsatz in Bezug auf die die Arglosigkeit begründenden Umstände sowie für das Ausnutzungsbewusstsein. Der Fall bietet sich daher an, zur Grundlage einer Klausur gemacht zu werden. Zum einen kann geprüft werden, ob die Prüflinge die Systematik der Heimtücke verstanden haben. Zum anderen wird den Kandidaten ein genaues und sorgfältiges Arbeiten am Sachverhalt abverlangt. _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 456 BGH, Beschl. v. 29.4.2014 – 3 StR 21/14 Brüning _____________________________________________________________________________________ Zu guter Letzt sei noch erwähnt, dass man im vorliegenden Fall über einen Mord aus niedrigen Beweggründen nachdenken könnte. T agierte aus verletztem Stolz. Solche Gefühlsregungen können Ausdruck einer niedrigen Gesinnung des Täters sein. Dies ist aber keineswegs zwingend. Zu prüfen ist, ob diese Gefühlsregung ihrerseits auf niedrigen Beweggründen beruhen und nicht menschlich verständlich sind. Privatdozentin Dr. Janique Brüning, Hamburg _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 457 BGH, Beschl. v. 14.5.2013 – 3 StR 69/13 Theile _____________________________________________________________________________________ Entscheidungsanmerkung Zum Erfordernis des Absatzerfolges bei der Hehlerei Eine Verurteilung wegen vollendeter Hehlerei durch Absetzen setzt die Feststellung eines Absatzerfolges voraus. (amtlicher Leitsatz) StGB § 259 BGH, Beschl. v. 14.5.2013 – 3 StR 69/131 I. Einführung Gegenstand dieser Anmerkung ist ein Beschluss des 3. Strafsenats des BGH, durch den er bei den anderen Senaten angefragt hatte, ob sie an ihrer tradierten Rechtsprechung zur Frage festhalten würden, dass eine Verurteilung wegen vollendeter Hehlerei durch Absetzen (oder Absatzhilfe) nicht zwingend die Feststellung eines Absatzerfolges voraussetzt, sondern jede auf Absatz gerichtete Tätigkeit ausreiche.2 Der 3. Strafsenat beabsichtigte hierdurch eine Änderung der bis dahin bestehenden Rechtsprechung in der Weise, dass künftig ein Erfolg zu verlangen sei; mittlerweile haben sich die anderen Senate der geänderten Auslegung angeschlossen.3 Angesichts dieser Einigkeit bedurfte es keiner Entscheidung des Großen Senats, der anderenfalls über diese Rechtsfrage hätte entscheiden müssen, damit eine einheitliche höchstrichterliche Rechtsprechung möglich wird, die den Rechtsunterworfenen normative Orientierungssicherheit vermittelt (§ 132 Abs. 2 GVG). Betrachtet man die Beharrlichkeit, mit der die Rechtsprechung über Jahrzehnte an ihrer Auffassung zu dieser Sachfrage festhielt (Jahn spricht treffend von einem „Ewigkeitsproblem“),4 muss es verwundern, wie einhellig die aktuelle Kehrtwende ausfällt. Allerdings hatte sich ein gewisser Sinneswandel bereits in jüngeren Entscheidungen angedeutet.5 Die Einigkeit verwundert umso mehr, als hiermit eine ständige Rechtsprechung abgelöst wird, die gegen die anhaltende Kritik aus dem Schrifttum durchgehalten wurde und spätestens mit der seit dem 1.1.1975 geltenden Gesetzesfassung kaum in Einklang zu bringen war.6 Sie hatte sich zu einer Zeit herausgebildet, als der Hehlereitatbestand – damals noch normiert in § 253 StGB a.F. – auf Veräußererseite unter Strafe stellte, wenn der Täter in Bezug auf die gehehlte Sache „zu deren 1 Die Entscheidung ist abgedruckt in NStZ 2013, 584 und im Internet abrufbar unter http://juris.bundesgerichtshof.de/cgibin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&sid= 7f7620ac315c1a3865183c093121e559&nr=64968&pos=1&a nz=2&Blank=1.pdf. 2 BGH NStZ 2013, 584. 3 BGH BeckRS 2013, 15726; BGH BeckRS 2013, 15924; BGH BeckRS 2013, 17708; BGH BeckRS 2013, 15726. 4 Jahn, JuS 2013, 1044 (1045). 5 BGH NStZ 2008, 152 (153); BGH BeckRS 2010, 05000. 6 Zur Kritik aus dem Schrifttum siehe Stree, GA 1961, 33 (41 ff.); Zieschang, in: Duttge (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Ellen Schlüchter, 2002, S. 403 (407). Absatze bei anderen mitwirkt“7, wobei als ausreichend jede auf Absatz gerichtete Tätigkeit angesehen wurde.8 Das damalige Verständnis, nach dem die Tathandlung nur ein Mitwirken, aber keinesfalls ein Mitbewirken zum Absatz verlange,9 war sicher auch davon beeinflusst, dass zunächst keine Versuchsstrafbarkeit existierte und sich insofern eine Strafbarkeitslücke auftat. Im Jahre 1943 wurde dann zwar eine Versuchsstrafbarkeit eingeführt, was aber nicht zu einer Kurskorrektur der Rechtsprechung führte, die nach wie vor daran festhielt, Absatz und Absatzhilfe verlangten keinen Erfolg.10 Auch die am 1.1.1975 in Kraft getretene heutige Fassung, durch die das Merkmal der Mitwirkung zum Absatz durch die Varianten des Absatzes und der Absatzhilfe ersetzt wurde, änderte hieran – abgesehen von einer einzelnen, bald aber schon wieder korrigierten „Ausreißerentscheidung“11 – nichts, so dass sich die höchstrichterliche Rechtsprechung schon bald wieder in altem Fahrwasser bewegte.12 Ausnahmen wurden nur insoweit gemacht, als der Absatz beziehungsweise die Absatzhilfe an einen verdeckten Ermittler nach § 110a Abs. 2 StPO oder V-Mann keine vollendete, sondern nur versuchte Hehlerei darstellen sollte.13 Mit der nunmehr vollzogenen Kehrtwende schließt sich der BGH demgegenüber der ganz herrschenden – und überzeugenden – Auffassung der Literatur an, die davon ausgeht, dass für ein Absetzen oder eine Absatzhilfe ein Erfolg vorauszusetzen ist.14 Abgesehen davon, dass die Entscheidung mit Blick auf Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB zu begrüßen ist, dürfte sie in praktischer Hinsicht dazu führen, dass die fakultative Strafmilderung in § 23 Abs. 2 StGB bedeutsamer wird und die Rücktrittsmöglichkeiten für den Täter ausgeweitet werden.15 Für die Ausbildung ist der Anfragebeschluss deswegen von Interesse, weil der 3. Strafsenat geradezu „schulmäßig“ seinen veränderten Standpunkt anhand klassischer Auslegungsmethoden entwickelt. II. Sachverhalt Nachdem einige Jahre zuvor durch einen Unbekannten mehrere Gemälde im Wert von 1,5 Mio. € aus dem Ateliermagazin eines Malers entwendet worden waren, gelangten sie an den Zeugen B, der um die Herkunft der Bilder wusste. Nach7 Vgl. insoweit RGSt 5, 241 (242 f.); 40, 199; 55, 58 (59); 56, 191 (192). 8 RGSt 5, 241 (242 f.); 40, 199; 55, 58 (59); 56, 191 f. 9 In diesem Sinne explizit RGSt 5, 241 (242). 10 BGHSt 2, 135 (136 f.); BGH NJW 1955, 350 (351). 11 BGH NJW 1976, 1698 (1699). Dann aber BGHSt 27, 45 (48 ff.). 12 BGHSt 26, 358; 27, 45 (48 ff.). 13 BGHSt 43, 110; BGH NStZ-RR 2000, 266. 14 Eisele, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 2. Aufl. 2012, Rn. 1157; Kindhäuser, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 7. Aufl. 2012, § 47 Rn. 27; Stree/Hecker in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 259 Rn. 29. 15 Krug, FD-Strafrecht 2014, 356055. Zu Auswirkungen auf den Tatbestand der Steuerhehlerei nach § 374 AO siehe Beckemper, NZWiSt 2014, 154. _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 458 BGH, Beschl. v. 14.5.2013 – 3 StR 69/13 Theile _____________________________________________________________________________________ dem das Diebstahlsopfer verstorben war, überbrachte B dem Angeklagten 13 dieser Bilder und beauftragte ihn, Käufer ausfindig zu machen. Der Angeklagte hielt es dabei durchaus für möglich, dass B entgegen seiner Behauptung gar nicht Eigentümer der Bilder war. Dies hinderte ihn jedoch nicht daran, in der Folgezeit Fotografien von den Gemälden zu machen und verschiedene ihm bekannte Personen anzusprechen, die ihm beim Verkauf dienlich sein könnten. Motivierend war hierfür die Aussicht auf die Erlangung von 10 % des Verkaufserlöses. Indes blieb es bei diesen Bemühungen; zu einer Veräußerung kam es nicht. III. Rechtliche Würdigung Nach § 259 Abs. 1 StGB wird derjenige bestraft, der eine Sache, die ein anderer gestohlen oder sonst durch eine gegen fremdes Vermögen gerichtete rechtswidrige Tat erlangt hat, ankauft oder sonst sich oder einem Dritten verschafft, sie absetzt oder absetzen hilft, um sich oder einen Dritten zu bereichern. Vorauszusetzen ist insoweit eine rechtswidrige Tat, die vorliegend nicht in dem durch den Unbekannten begangenen Diebstahl, sondern der Hehlerei des Zeugen B besteht. Denn auch eine (Erst-)Hehlerei kann taugliche Vortat des § 259 Abs. 1 StGB sein,16 da sie sich ebenso wie Diebstahl gegen fremdes Vermögen richtet. Insoweit wies der Angeklagte, der durchaus für möglich hielt, dass der Zeuge B nicht Eigentümer, sondern seinerseits Hehler war, den erforderlichen, aber eben auch ausreichenden Eventualvorsatz auf. Da zwischen beiden kein wie immer geartetes täterschaftliches Beteiligungsverhältnis bestand (im Gegensatz zum Teilnehmer kann der Täter einer Vortat nicht Hehler sein),17 handelte es sich um die Vortat eines „anderen“. Was die Tathandlungen angeht, ist je nachdem, ob der Täter auf Seiten des Vortäters oder des Erwerbers tätig wird, zwischen den Varianten des Absetzens beziehungsweise der Absatzhilfe und des Ankaufens beziehungsweise sonst sich oder einem Dritten Verschaffens zu differenzieren. Da der Angeklagte auf Seiten des Ersthehlers und Vortäters tätig wurde, kamen insofern allein ein Absetzen oder eine Absatzhilfe in Frage. Innerhalb dieser auf Seiten des Vortäters relevanten Tathandlungen ist danach zu unterscheiden, wie selbständig der Täter agiert: Absetzen bedeutet ein selbständiges Unterstützen des Vortäters bei der in seinem Interesse erfolgenden wirtschaftlichen Verwertung (Stichwort: Verkaufskommissionär), Absatzhilfe bedeutet demgegenüber das unselbständige Unterstützen des Vortäters in dessen wirtschaftlichem Interesse (Stichwort: Verkaufsgehilfe).18 Da der Angeklagte nach den Sachverhaltsangaben eigenständig nach 16 Jäger, JA 2013, 951 (952) m.w.N.; Stree/Hecker (Fn. 14), § 259 Rn. 6; Wessels/Hillenkamp, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 36. Aufl. 2013, § 23 Rn. 829. 17 Siehe hierzu Eisele (Fn. 14), Rn. 1139; Kindhäuser (Fn. 14), § 47 Rn 9; Rengier, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 16. Aufl. 2014, § 22 Rn. 42 ff. 18 Siehe hierzu Eisele (Fn. 14), Rn. 1157; Kindhäuser (Fn. 14), § 47 Rn. 22, 28; Rengier (Fn. 17), § 22 Rn. 32; Wessels/ Hillenkamp (Fn. 16), Rn. 859. potentiellen Käufern suchen sollte, lag es nahe, hierin nicht lediglich eine Absatzhilfe, sondern ein Absetzen zu sehen. An diesem Punkt wird die Sicht auf das entscheidende Problem freigelegt, da es ausweislich des Sachverhalts zu keinem Erfolg kam: der Angeklagte kam nicht darüber hinaus, einige Fotografien von den Bildern zu machen und verschiedene ihm bekannte Personen anzusprechen. Ist hierin ein vollendetes Absetzen zu sehen? Die Beantwortung der Frage hat Auswirkungen auf beide Tatvarianten eines Handelns auf Seiten des Vortäters, da es zwar nicht zwingend, aber doch nahe liegend ist, die strukturelle Problematik für Absatz und Absatzhilfe parallel zu behandeln und nicht etwa für das Absetzen einen Taterfolg und für die Absatzhilfe eine bloße darauf gerichtete Tätigkeit zu verlangen. Anderenfalls würden kaum zu lösende Wertungswidersprüche auftreten: Obwohl sich der selbständig agierende Absetzer regelmäßig in der aktiveren Rolle befindet, würde der Fall der erfolglosen Absatzhilfe strenger (nämlich als Vollendung) als der Fall des erfolglosen Absetzens (nämlich als Versuch) zu bestrafen sein.19 Der BGH leitet zunächst überzeugend aus dem Wortlaut ab, dass bereits die Gesetzesformulierung „absetzt“ einen Taterfolg verlangt und nicht – wie dies jahrzehntelanger Rechtsprechung entsprach20 – jede auf ein Absetzen gerichtete Tätigkeit genügt.21 Überzeugend formuliert der BGH: „Im Verkehr unter Kaufleuten, aus dem der Begriff stammt [gemeint ist der Absatz beziehungsweise die Absatzhilfe, Anm. des Verf.], würde niemand davon sprechen, dass ein Händler Waren abgesetzt hat, wenn er sich nur vergeblich um den Verkauf bemüht hat“.22 Die bis dahin vorgenommene Interpretation, nach der gerade auch ein auf Absatz gerichtetes Tätigwerden ausreicht, mag auf Grundlage der ursprünglichen Gesetzesfassung des § 253 a.F., nach der die Tathandlung in Bezug auf die gehehlte Sache darin bestand, dass der Täter mit „zu deren Absatze bei anderen mitwirkt“ vertretbar gewesen sein. Spätestens mit der heutigen Formulierung sprengte die Einbeziehung der auch vor dem Zeitpunkt der Tatvollendung liegenden Aktivitäten den Wortlaut und stellt insofern eine verbotene Analogie zu Lasten des Täters dar. In der kurz nach der Neufassung ergangenen Entscheidung BGHSt 27, 45 hatte der BGH noch den einigermaßen befremdlichen Standpunkt vertreten, dass der Wortlaut auch die alternative Deutung zulasse und angesichts dessen dem (angeblich) auf die Einbeziehung jeder auf Absatz gerichteten Tätigkeit gerichteten Willen des Gesetzgebers besonders Gewicht zu- 19 Rengier (Fn. 17), § 22 Rn. 33, unter Hinweis auf BGHSt 27, 45 (51). Ferner Jäger, JA 2013, 951 (953). Siehe auch Franke, NJW 1977, 857; Küper, JuS 1975, 633 (634 f.); ders., NJW 1977, 58. 20 Siehe etwa BGHSt 27, 45 (50). 21 BGH NStZ 2013, 584 (585). Zust. Jahn, JuS 2013, 1044 (1046), der auf die fehlende Zitation des Art. 103 Abs. 2 GG und des § 1 StGB hinweist. Anders aber Rosenau, NStZ 1999, 352. 22 BGH NStZ 2013, 584 (585). Vgl. bereits Berz, Jura 1980, 57 (65). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 459 BGH, Beschl. v. 14.5.2013 – 3 StR 69/13 Theile _____________________________________________________________________________________ komme.23 Wörtlich hieß es damals: „Wird ein Tatbestand […] nur zur Klarstellung in Teilpunkten neu gefasst, so darf er zudem nicht so sehr nach dem Wortlaut ausgelegt werden, wie ein Tatbestand, der vollkommen neu gestaltet worden ist“.24 Ohne dies explizit zu machen, läuft eine solche Sichtweise auf eine mit Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB kaum vereinbare „Wortlautbindung light“ hinaus und es überrascht kaum, dass diese Begründung im damaligen Schrifttum Kritik hervorrief.25 Auch die historische Auslegung gebietet nicht, an der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung festzuhalten. In dem damaligen Gesetzesentwurf der Bundesregierung vom 11.5.1973 findet sich mit Blick auf die Erweiterung des bis dahin allein auf das Mitwirken beim Absatz beschränkten Hehlereitatbestandes um die Tatvariante des Absetzens der Hinweis, dass jene Klarstellung nur dazu diene, dass Hehler auch derjenige sein könne, der die Sache im Einverständnis mit dem Vortäter selbständig auf dessen Rechnung absetze.26 Der 3. Strafsenat deutet dies so, dass der Gesetzgeber die bis dahin (und seither) geltende Auslegung hierdurch habe nicht festschreiben wollen.27 Bei genauer Lektüre wird jedoch deutlich, dass sich der Gesetzgeber zu hier maßgeblichen Fragen in dem damaligen Gesetzesentwurf gar nicht verhalten hat. Stattdessen ging es darum, auch durch erhebliche Selbständigkeitsgrade ausgezeichnetes Absatzverhalten strafrechtlich zu erfassen und nicht etwa nur bloße unselbständige Hilfstätigkeiten. Der entscheidende Punkt besteht jedoch darin, dass sich aus dem Willen des historischen Gesetzgebers nur insoweit Folgerungen für die Auslegung ergeben können, als diese sich noch in den Grenzen des möglichen Wortsinnes bewegt,28 was bei dem extensiven vormaligen Verständnis gerade nicht der Fall ist. Gerade vor diesem Hintergrund muss die in BGHSt 27, 45 vorgenommene Relativierung der Bedeutung des Wortlauts unter Hinweis auf den Willen des Gesetzgebers befremden, dem ein sachlich nicht gebotener Vorrang vor dem Wortlaut eingeräumt wird. Richtigerweise hebt der BGH auch die systematischen Brüche zwischen den Tathandlungen auf Veräußerer- und Erwerberseite hervor,29 denn für das Handeln auf Erwerberseite in Form des Ankaufens oder sonst Sich-oder-einem-DrittenVerschaffens wird unstreitig ein Übergang der Verfügungsgewalt verlangt.30 Dies gilt gerade auch für das Ankaufen, das lediglich einen Spezialfall des Sich-oder-einem-DrittenVerschaffens darstellt: Nach einhelliger Auffassung reicht hier der Abschluss des schuldrechtlichen Vertrages nicht aus, sondern vielmehr kommt es auch hier auf die Erlangung der Verfügungsgewalt an.31 Vor diesem Hintergrund leuchtet es nicht ein, wieso für die Tathandlungen auf Veräußererseite etwas anderes gelten sollte. Das Reichsgericht hatte unter Bezugnahme auf die Vorgängervorschrift einen Unterschied darin sehen wollen, dass der auf Veräußererseite Tätige in einer anderen Beziehung zu der Sache stehe als der auf Erwerberseite Tätige, indem er seine rechtswidrige Absicht durch „positives Handeln“ offen an den Tag lege.32 Überzeugend ist das nicht, denn diese Absicht manifestiert sich gleichermaßen auf Erwerberseite, da auch von dem Erwerber der Impuls zum Weitertransfer des Hehlereigegenstandes ausgehen kann beziehungsweise er offen tätig daran mitwirkt. Das Agieren auf Erwerberseite ist daher nicht weniger „positiv“ als das auf Veräußererseite. Die Kehrtwende des BGH leuchtet ferner insoweit ein, als die bisherige Interpretation darauf hinauslief, die in § 259 Abs. 3 StGB angeordnete Versuchsstrafbarkeit weitgehend leerlaufen zu lassen33 oder aber – diesen Gesichtspunkt hebt der BGH nicht einmal hervor – ungebührlich nach vorne zu verlagern.34 Dass es anders als bei den Tathandlungen auf Seiten des Erwerbers bei Absatz und Absatzhilfe nicht möglich sei, die einzelnen Stadien der auf Absatz zielenden Tätigkeiten voneinander abzugrenzen, wird vom BGH richtigerweise zurückgewiesen.35 Abgesehen davon, dass dies schon der Sache nach nicht überzeugend ist (Wieso soll sich die Markierung verschiedener deliktischer Stadien je nach Vortäter- und Erwerberseite unterschiedlich schwierig gestalten?), zeigt die in § 259 Abs. 3 StGB vorgesehene Versuchsstrafbarkeit, dass dem Rechtsanwender vom Gesetzgeber im Grundsatz derartige Abgrenzungen auferlegt werden. Im Übrigen sind auch keine Strafbarkeitslücken zu erwarten, da es immer möglich ist, die auf Absatz gerichtete Tätigkeit in Form des Versuchs zu bestrafen. Unter Strafzumessungsaspekten ist eine solche Ungleichbehandlung ebenfalls nicht zu legitimieren, was gerade anhand der Absatzhilfe deutlich wird, bei der es sich materiell um eine Beihilfe zum Absatz handelt, die vom Gesetzgeber als täterschaftliche Tatbestandsalternative ausgestaltet wurde, weil die Absatzbemühungen des Vortäters keine taugliche Vortat darstellen können: Während Gehilfen auf Seiten des Erwerbers im Gegensatz zum Absatzhelfer die obligatorische Strafmilderung nach § 27 Abs. 2 S. 2 StGB zugutekommt, führte die bisherige extensive Auslegung der Absatzhilfe dazu, dass ihm auch die fakultative Strafmilderungsmöglichkeit verloren geht.36 Hiergegen kann sicher eingewandt werden, dass es nun einmal die Entscheidung des Gesetzgebers sei, allein dem auf Seiten des Erwerbers tätigen Gehilfen eine 23 BGHSt 27, 45 (50). Ebenso Meyer, MDR 1975, 721 f. BGHSt 27, 45 (50). Ebenso Meyer, MDR 1975, 721 f. 25 Franke, NJW 1977, 857 f.; Küper, JuS 1975, 633 (635 f.). 26 BT-Drs. 7/550, S. 253. 27 BGH NStZ 2013, 584 (586). Vgl. auch Zieschang (Fn. 6), S. 403 (410). 28 Jäger, JA 2013, 951 (952 f.); Maier, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 4, 2. Aufl. 2012, § 259 Rn. 105. 29 BGH NStZ 2013, 584 (585 f.). 30 BGH NStZ 2013, 584 (585). 24 31 Berz, Jura 1980, 57 (63 f.); Eisele (Fn. 14), Rn. 1153; Rengier (Rn. 17), § 22 Rn. 27; Wessels/Hillenkamp (Fn. 16), Rn. 856. 32 RGSt 5, 241 (243). 33 BGH NStZ 2013, 584 (586). 34 Siehe hierzu Berz, Jura 1980, 57 (65). 35 BGH NStZ 2013, 584 (586). Siehe hierzu Wessels/Hillenkamp (Fn. 16), Rn. 864. 36 BGH NStZ 2013, 584 (586). Siehe auch Küper, JuS 1975, 633 (636). _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 460 BGH, Beschl. v. 14.5.2013 – 3 StR 69/13 Theile _____________________________________________________________________________________ solche Strafrahmenverschiebung zugutekommen zu lassen; denn immerhin habe er die zugunsten des Vortäters erfolgende Hilfeleistung als täterschaftliche Tatbestandsalternative ausgestaltet mit der Folge, dass eine solche Milderung eben ausgeschlossen sei.37 Gegen diesen Einwand können jedoch zwei Argumente vorgebracht werden: Zunächst verhalten sich die Motive des Gesetzgebers gar nicht zu dieser Frage, weshalb insoweit bereits keine „bewusste“ gesetzgeberische Entscheidung vorliegt. Zudem blieb dem Gesetzgeber gar nichts anderes übrig als die auf Seiten des Vortäters erfolgende Hilfeleistung als täterschaftliche Tatbestandsalternative auszugestalten, da der Vortäter sich eben nicht täterschaftlich wegen Hehlerei strafbar machen kann. Vor diesem Hintergrund kann über die fakultative Strafmilderungsmöglichkeit in § 23 Abs. 2 StGB durchaus eine gewisse Harmonisierung zwischen der Sanktionierung des Hilfeleistenden auf Vortäter- und Erwerberseite erreicht werden. Schließlich spricht auch der Strafgrund der Hehlerei für ein Verständnis, nach dem Absatz und Absatzhilfe einen Erfolg voraussetzen. Dieser Strafgrund wird nicht mehr in der Restitutionsvereitelung gesehen,38 sondern vor allem in der Aufrechterhaltung der durch die Vortat herbeigeführten rechtswidrigen Vermögenslage (sog. Perpetuierungstheorie).39 Dieses Unrecht ist noch nicht eingetreten, wenn der Täter lediglich auf Absatz gerichtete Tätigkeiten vornimmt, sondern erst dann, wenn es zu einem Erfolg dieser Bemühungen gekommen ist. Dem BGH ist zuzustimmen, wenn er klarstellt, dass in der Neuinterpretation der Merkmale des Absatzes und der Absatzhilfe nicht unter der Hand die Hehlerei in einen Delikt der Restitutionsvereitelung umgedeutet wird,40 denn auch bezogen auf die Aufrechterhaltung der durch die Vortat geschaffenen rechtswidrigen Vermögenslage und die hierin liegende Rechtsgutsverletzung sind durchaus unterschiedliche Intensitätsgrade denkbar, denen mit der veränderten Interpretation des BGH Rechnung getragen wird. Sofern die Weiterverschiebung der Sache noch nicht abgeschlossen ist, ist die Perpetuierung noch nicht in einer die Vollendungsstrafe legitimierenden Weise gegeben. Am Ende trägt diese Kehrtwende auch dazu bei, den Hehlereitatbestand im Hinblick auf die Deliktskategorie einheitlich als Erfolgsdelikt zu verstehen, während die frühere Interpretation des Absatzes beziehungsweise der Absatzhilfe jedenfalls hinsichtlich der Tathandlungen auf Veräußererseite auf ein Verständnis im Sinne eines Tätigkeitsdelikts hinauslief. richterliche Rechtsprechung zu Selbstkorrekturen in der Lage ist – und das ist eine durchaus beruhigende Erkenntnis. Prof. Dr. Hans Theile, LL.M., Konstanz IV. Fazit Alles in allem ist die Entscheidung des BGH sowohl im Ergebnis als auch in der Begründung zu begrüßen, weshalb zu einem „Ewigkeitsproblem“ nunmehr ein gewisser Konsens erzielt ist. Der Anfragebeschluss zeigt, dass auch die höchst37 In diesem Sinne Jäger, JA 2013, 951 (952). In diesem Sinne das frühere Verständnis der Hehlerei als Delikt der Restitutionsvereitelung, siehe hierzu Schröder, in: Wegner (Hrsg.), Festschrift für Ernst Heinrich Rosenfeld zum 80. Geburtstag, 1949, S. 161 (177); ders., MDR 1952, 68 (71). 39 BGH NStZ 2013, 584 (586). 40 Explizit BGH NStZ 2013, 584 (586). 38 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 461 Rathenau, Einführung in das portugiesische Recht Carlos Nóbrega _____________________________________________________________________________________ B uc hre ze ns io n Alexander Rathenau, Einführung in das portugiesische Recht, Verlag C.H. Beck, München 2013, XXII, 239 S., €49,80 Das deutsche Recht hat sich in Portugal als wichtige Inspirationsquelle der gesamten Rechtsordnung etabliert.1 Im Gegensatz dazu ist das portugiesische Recht in Deutschland aus mehreren Gründen weitgehend unbekannt. Dass der Grund dafür allerdings im Fehlen eines Überblicks über das portugiesische Rechtssystem in deutscher Sprache zu suchen wäre, lässt sich nicht mehr behaupten. Denn diese Lücke schließt mit Bravour das hier rezensierte Buch. Der Verf. Dr. Alexander Rathenau ist deutscher Rechtsanwalt und gleichzeitig portugiesischer „Advogado“. Wie der Autor in seinem Werk unter der Rubrik „Juristische Berufe“ selbst erläutert, wird für die Anwaltszulassung in Portugal und für die konsequente Berechtigung zur Bezeichnung „Advogado“ vorausgesetzt, dass der Rechtsanwalt aus der EU „entweder die Aufnahmeprüfung der [portugiesischen] Anwaltskammer bestanden hat oder nachweisen kann, dass er seit mindestens drei Jahren im portugiesischen und europäischen Recht beratend tätig ist“ (S. 19, § 3 Rn. 21). Sein weitgefächertes Fachwissen aus der Praxis in beiden Ländern und seine solide akademische Laufbahn ermöglichten ihm eine hochinteressante und lobenswerte Gesamtdarstellung des portugiesischen Rechts, die es als solche in deutscher Sprache noch nicht gab.2 Wir haben es also mit einem erfolgreichen Pionierwerk zu tun.3 1 Siehe z.B. Jayme/Mansel (Hrsg.), Auf dem Wege zu einem gemeineuropäischen Privatrecht - 100 Jahre BGB und die lusophonen Länder, 1997. 2 Für eine Bestandaufnahme deutschsprachiger Schriften zum portugiesischen Recht siehe v. Bar, Ausländisches Privatund Privatverfahrensrecht in deutscher Sprache, 9. Aufl. 2013. Speziell zum Vertrags-, Mobiliarsachenrecht, Trust und zu den gesetzlichen Schuldverhältnissen empfiehlt sich das Referenzwerk zur Weiterentwicklung des europäischen Privatrechts mit zahlreichen Stellungnahmen zum portugiesischen Recht, v. Bar/Clive, Principles, Definitions and Model Rules of European Private Law, Draft Common Frame of Reference (DCFR), Full Edition, 2009/2010, dort insb. das Verzeichnis „Table of codes and statutes (Portugal)“ auf S. 6105-6130. Eine deutsche Übersetzung ist in Vorbereitung. Gleichfalls in deutscher Sprache empfiehlt sich die neue Reihe „Schriften zum Portugiesischen und Lusophonen Recht“ des NomosVerlages, herausgegeben von Stephanie Müller-Bromley, teilweise in Zusammenarbeit mit der Deutsch-Lusitanischen Juristenvereinigung. 3 Ebenfalls als Pionierwerk anzusehen ist ein Sammelwerk in englischer Sprache mit systematischer Darstellung des portugiesischen Rechts, das nach einer Initiative der Universidade Nova de Lisboa entstanden ist, siehe Ferreira de Almeida/ Cristas/Piçarra (Hrsg.), Portuguese Law - An Overview, 2007. Neuerdings ist eine Reihe von Monographien zum portugiesischen Recht in englischer Sprache im Hause Kluwer Law International erschienen, wie z.B. Sinde Monteiro/Rangel de Das Buch „Einführung in das portugiesische Recht“ ist in der ebenso bekannten wie renommierten Schriftenreihe der Juristischen Schulung des C.H. Beck-Verlags erschienen. In fünf Kapiteln handelt das Werk von geschichtlichen und allgemeinen Aspekten des portugiesischen Rechtssystems (S. 121), vom öffentlichen Recht, insb. Verfassungs- und Verwaltungsrecht (S. 23-62), vom materiellen Strafrecht und Strafprozessrecht (S. 63-75), vom materiellen Zivilrecht und Zivilprozessrecht (S. 77-183) sowie vom Wirtschafts- und Steuerrecht (S. 185-235). Mit Hilfe detaillierter Inhalts- und Stichwortverzeichnisse und einer weiteren Gliederung in 22 Paragraphen wird der Leser schnell fündig. Zu jedem Kapitel wird weiterführende Literatur dargestellt und ggf. die Quellen der portugiesischen Gesetzgebung in deutscher Übersetzung angegeben. Der deutschsprachige Leser sei gewarnt, dass nur wenige portugiesische Gesetzestexte in einer deutschen Fassung verfügbar sind. Vieles wurde bis heute nicht übersetzt. Während die portugiesische Verfassung sowie das Strafgesetzbuch in deutscher Übersetzung vorliegen, ist eine vollständige Übersetzung z.B. des Zivilgesetzbuchs bisher leider nicht vorhanden.4 Hilfreich für den Leser sind einige Vergleiche mit dem deutschen Recht. In diesem Sinn werden Ähnlichkeiten und Unterschiede erläutert. Zu den ersten gehört zum Beispiel die Tatsache, dass auch Portugal eine parlamentarische Demokratie ist und dass die Gesetzgebung eine der Grundaufgaben des Parlaments ist (S. 24, § 4 Rn. 5). Ein hervorgehobener wichtiger Unterschied ist aber darin zu sehen, dass in Portugal ferner die Regierung gesetzgebungsfähig ist (S. 15, § 3 Rn. 11 mit Verweis auf Art. 198 port. Verfassung über die sog. „decretos-leis“). Die portugiesische Verfassung ist umfangreicher als das deutsche Grundgesetz. Sie umfasst 296 Artikel, während das deutsche Grundgesetz sich mit 146 Artikeln begnügt (S. 23, § 4 Rn. 1). Die Anzahl an Regelungen ist selbstverständlich kein Qualitätsmerkmal, aber der Verf. nimmt Stellung und hält die portugiesische Verfassung an bestimmten Stellen für fortschrittlicher (z.B. in Bezug auf Datenschutz; S. 29, § 4 Rn. 31 ff.). Als Besonderheit des portugiesischen Rechts wird z.B. der Ombudsmann („provedor de justiça“) genannt (S. 28, § 4 Rn. 28 mit Verweis auf S. 45, § 5 Rn. 48 im Verwaltungsrecht). Mit diesen Anmerkungen wird der Leser auf Materien aufmerksam gemacht, die großes rechtsvergleichendes Potenzial aufweisen. Als besonders praxisrelevant erweisen sich z.B. die Informationen zu Baumaßnahmen unter der Rubrik „Öffentliches Baurecht“ (S. 53, § 6 Rn. 2 ff.). Es folgen zahlreiche Anmerkungen, die von Interesse sind. Im portugiesischen Strafrecht können juristische Personen Straftaten begehen (S. 64, § 7 Rn. 3). Der zivilrechtliche Schadensersatzanspruch anlässlich einer Straftat ist nach dem portugiesischen Strafprozessrecht Mesquita, Insurance Law in Portugal, 2009, als Teil der International Encyclopaedia of Laws. 4 Dieses Manko wird auch in Portugal selbst wahrgenommen, siehe z.B. Mota Pinto, Themis Edição Especial (Código Civil Português - Evolução e Perspectivas Actuais), Revista da Faculdade de Direito da UNL, 2008, 25 (insb. 28). _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 462 Rathenau, Einführung in das portugiesische Recht Carlos Nóbrega _____________________________________________________________________________________ in der Regel im Strafverfahren geltend zu machen (S. 69, § 8 Rn. 7). Einen großen Teil seines Werks widmet der Autor dem Zivilrecht. Der portugiesische Código Civil von 1966 entspricht in der Systematik dem deutschen BGB mit seinen fünf Büchern. Inhaltlich gibt es viele Gemeinsamkeiten, aber auch deutliche Unterschiede. Das portugiesische Kollisionsrecht z.B. ist Gegenstand des Allgemeinen Teils (S. 78 ff., § 10) im Buch I, selbst wenn einige Regelungen bekanntermaßen durch das europäische Recht verdrängt wurden (S. 79, § 10 Rn. 2). Das Buch II handelt von Schuldrecht im Allgemeinen und im Besonderen. Die gesetzlichen Schuldverhältnisse (S. 89, § 12 Rn. 13 ff.) wie auch die Kreditsicherheiten bzw. dinglichen Sicherungsrechte, etwa die Hypothek (S. 101, § 12 Rn. 40 ff.), zählen zum Allgemeinen Schuldrecht. Die Grundschuld ist dem portugiesischen Recht unbekannt. Sein Kapitel über das Schuldrecht im Besonderen beginnt der Verf. mit dem Kaufvertrag; hier gibt er den Lesern wertvolle Informationen aus der Praxis, sei es über den Kaufvorvertrag (S. 113, § 13 Rn. 13 ff.), den Verbrauchsgüterkauf (S. 114, § 13 Rn. 19 ff.) und den Kaufvertrag betreffend Immobilien (S. 115, § 13 Rn. 22 ff.). Es folgen Schenkung, Leihvertrag, Miet- und Pachtvertrag (unter Berücksichtigung der Reform im Jahr 2012), Leasingvertrag, Darlehen, Dienstleistungsverträge, einschließlich Auftrag, Verwahrungs- und Werkvertrag und schließlich Maklervertrag (S. 118-134, § 13 Rn. 29-84). Entsprechend der Systematik der Zivilkodifikation fährt der Verf. mit dem Sachenrecht fort. Nach einer Darstellung der Gliederung von Buch III (S. 135, § 14 Rn. 1) geht es zunächst um den Begriff der Sache. Richtigerweise wird darauf hingewiesen, dass der Begriff der Sache bzw. „coisa“ sowohl im BGB als auch im port. CC in dem jeweiligen Allgemeinen Teil gefasst ist. Allerdings wird an dieser Stelle nicht erläutert, dass der port. CC außer einem allgemeinen Begriff der Sache in Art. 202 Abs. 1 („alles, was Objekt von Rechtsverhältnissen sein kann“), eine Einschränkung auf körperliche Gegenstände in Art. 1302 CC enthält (wonach „nur die körperlichen Sachen, Mobilien oder Immobilien, Objekt des zivilrechtlichen Eigentumsrechts sein können“). Die wichtigsten Vorschriften über Besitz, Eigentum und sonstige dingliche Rechte werden, wieder mit hilfreichem Bezug zur Praxis, erläutert. So erfährt der Leser, dass die Ersitzung von Immobilien (S. 138, § 14 Rn. 11) und selbst von Mobilien eine große Rolle spielt (S. 142, § 14 Rn. 20), dass der gutgläubige Erwerb von Immobilien im Einklang mit dem Grundbuchrecht möglich ist (S. 142, § 14 Rn. 21) und dass das portugiesische Recht die beschränkten persönlichen Dienstbarkeiten nicht kennt (S. 147, § 14 Rn. 31). In dieser Rezension wird verschiedentlich auf den „Leser“ rekurriert. Erfahrungsgemäß werden juristische Bücher eher von Juristen gelesen, sei es in der Ausbildungsphase oder in unterschiedlichen Bereichen der Praxis. Das vorliegende Einführungswerk ist jedoch vor allem dank seiner Paragraphen über Familien- (S. 149-161, § 15) und Erbrecht (S. 162-170, § 16) auch für juristischen Laien von großem Wert. Die Folgen der Eheschließung, neuerdings auch gleichgeschlechtlich möglich, sowie der Anerkennung einer faktischen Lebensgemeinschaft, das Adoptionsrecht, das Scheidungsrecht, die Unter- haltspflichten, die elterliche Sorge einerseits sowie das gesamte Erbrecht können erheblich vom deutschen Recht abweichen. Die Betroffenen werden die durchweg zutreffenden Informationen aus diesen Rechtsbereichen zu schätzen wissen. Mit dem Zivilprozessrecht schließt der Autor die zivilrechtliche Materie ab (S. 171-183, § 17). An dieser Stelle sei auf die Novellierung des Zivilprozessrechts in Portugal durch das Gesetz Nr. 41/2013 vom 26.6.2013 hingewiesen.5 Reformbedürftig ist allerdings das Handelsgesetzbuch von 1888, wie das Inkrafttreten von zahlreichen Sondergesetzgebungen beweist (S. 185-188, § 18). Mit dem Handelsrecht beginnt der Verf. sein letztes Kapitel, welches das Gesellschaftsrecht (S. 189-198, § 19), das Arbeitsrecht bzw. das Arbeitsgesetzbuch (S. 199-210, § 20), das Steuerrecht (S. 211-227, § 21) und das Insolvenzrecht (S. 228-235, § 22) umfasst. Diese letztgenannten Materien des Wirtschaftslebens wurden ebenso wie das Immobiliarmietrecht infolge der Auflagen der so genannten „Troika“ (Vertreter der EU-Kommission, der EZB und des IWF) umfassend reformiert, was der Autor größtenteils bereits in diesem Buch aufnehmen konnte. In einer hoffentlich bald zu erwartenden neuen Auflage ist gleichwohl mit einer gründlichen Überarbeitung dieser letzten Kapitel zu rechnen. Auch das Verbraucherrecht und die neueren Entwicklungen im Hinblick auf ein gemeinsames europäisches Kaufrecht werden gegebenenfalls ihren Platz in einer neuen Auflage finden. Insgesamt ist dieses Werk nicht nur sehr empfehlenswert, sondern geradezu unentbehrlich für all diejenigen, die sich für das portugiesische Recht interessieren, jedoch mit der portugiesischen Sprache (noch) nicht vertraut sind.6 Als wichtigste Beispiele für diese Zielgruppe sind vor allem diejenigen Studenten der Rechtswissenschaften hervorzuheben, die sich auf einen Studienaufenthalt in Portugal vorbereiten, sowie Praktiker, die im Rahmen einer grenzüberschreitenden Tätigkeiten mit rechtlichen Fragestellungen, Fachübersetzungen und Ähnlichem mit Bezug zu Portugal und dem portugiesischen Recht befasst sind. Wie bereits erwähnt, ist dieses Buch weiter auch für diejenigen, die privat mit Portugal und seinen Bewohnern verbunden sind, ein wahrer Gewinn. Diese „Einführung in das portugiesische Recht“ ist naturgemäß für den deutschsprachigen Leser gedacht und wird mit einer „deutschen Brille“ gelesen werden. Gerade aus diesem Grund kann ein Einblick in das portugiesische Recht rechtsvergleichend hoch interessant sein,7 wie der Verf. mehrmals einleuchtend belegt.8 5 Erfreulicherweise liefert der Verf. einen aktuellen Beitrag zu dem Thema in deutscher Sprache, siehe Rathenau, ZfRV 2013, 277. 6 Umgekehrt für den portugiesisch-sprachigen Leser sei an dieser Stelle auf andere Werke hingewiesen, wie z.B. Fisher, O sistema jurídico alemão e sua terminologia, übersetzt aus dem Englischen von Regina Lyra, 2013. 7 Zutreffend Baldus, GPR 2013, 302, wonach „die portugiesische Zivilrechtsdogmatik ohnehin ein Muster an komparatistischer Offenheit ist“. Siehe auch Grundmann, in: Grundmann/ Baldus/Herzog/Lebre de Freitas/Marques (Hrsg.), Rechtssys- _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 463 Rathenau, Einführung in das portugiesische Recht Carlos Nóbrega _____________________________________________________________________________________ „Portugal überzeugt in vielfältiger Hinsicht“, stellt Dr. Alexander Rathenau in seinem Vorwort fest (S. V). Das Gleiche lässt sich zweifelsohne von seinem Buch sagen! Wiss. Mitarbeiter Dr. José Carlos Nóbrega, Osnabrück tem und Juristische Person - Sistema Jurídico e Pessoa Jurídica, 2012, S. 13-27. 8 Rathenau macht seinen Leser z.B. auf den Vergütungsanspruch im Recht der Geschäftsführung ohne Auftrag aufmerksam (S. 93 § 12 Rn. 13, Fn. 13). Dieser Anspruch wird in Deutschland von der herrschenden Lehre und Rechtsprechung anerkannt, wenn das Handeln des Geschäftsführers seiner beruflichen Tätigkeit entspricht; in Portugal ist diese Rechtsfolge bereits kodifiziert worden (Art. 470 i.V.m. Art. 1158 port. CC). Die Lösungen des portugiesischen Rechts können einen anregenden Beitrag zu rechtsvergleichenden Studien darstellen und wurden dementsprechend im Rahmen der Arbeiten der „Study Group on a European Civil Code“ mit großem Interesse berücksichtigt, siehe dazu Carlos Nóbrega, in: Olinda Garcia (Hrsg.), Estudos sobre incumprimento do contrato, 2011, S. 29-50. _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 464 Link, Kirchliche Rechtsgeschichte Traub _____________________________________________________________________________________ B uc hre ze ns io n Christoph Link, Kirchliche Rechtsgeschichte, 2. Aufl., Verlag C. H. Beck, München 2010, 281 S., €39,50 „Kirchliche Rechtsgeschichte“ – der Titel des juristischen Kurz-Lehrbuchs mag für Studierende auf den ersten Blick exotisch klingen. Doch schon der Untertitel „Kirche, Staat und Recht in der europäischen Geschichte von den Anfängen bis ins 21. Jahrhundert“ gibt einen Eindruck von der Fülle und Bedeutung des Inhalts. Unmittelbare Prüfungsrelevanz hat das Werk im Rahmen rechtshistorischer oder religionsrechtlich ausgerichteter Schwerpunktbereiche. Darüber hinaus richtet es sich an Studierende, die historisch interessiert sind oder ihre Ausbildung dazu nutzen wollen, ihren Blick über die bloße Betrachtung der Dogmatik des geltenden Rechts hinaus zu erweitern, um ein tieferes Verständnis der geschichtlichen und gesellschaftlichen Dimension des Phänomens Recht zu entwickeln. Der Autor, Christoph Link, ist emeritierter Professor an der Universität Erlangen-Nürnberg und war von 1986 bis 2001 Direktor des renommierten und traditionsreichen HansLiermann-Instituts für Kirchenrecht. Link spannt in seinem Studienbuch einen weiten Bogen und nimmt den Leser mit auf eine Reise durch zwei Jahrtausende kirchlichen Rechtslebens von der Urgemeinde in Jerusalem über das Mittelalter und das „Konfessionelle Zeitalter“ bis in das 20. Jahrhundert, ja sogar bis zu den aktuellen Entwicklungen und Problemen der Gegenwart. Dabei ist es ihm ein besonderes Anliegen – wie er im Vorwort zur 1. Auflage formuliert – das kirchliche Recht nicht isoliert darzustellen, sondern in seiner Wechselbeziehung mit den Wandlungen in Staat und Gesellschaft. Und tatsächlich zeigt die Darstellung eindrucksvoll, dass eine isolierte Behandlung der historischen Entwicklung des Kirchenrechts ebenso wenig möglich wäre, wie eine rechtshistorische Erzählung, die die Bedeutung der christlichen Kirchen ausblenden würde. Nach einer kurzen Einführung über Grundlage und Legitimation des Kirchenrechts (§ 1) behandelt Link in den ersten Kapiteln (§§ 2-4) die Bedeutung der Kirche in der antiken Welt. Er beschreibt die Entwicklung von einer verfolgten und unterdrückten Minderheit bis zur „Konstantinischen Wende“, mit der die Grundlage für die Erhebung der Kirche zur Reichskirche und damit des Christentums zur Staatsreligion gelegt wurde. Im nächsten großen Abschnitt zeichnet der Autor das Bild der Kirche im Mittelalter (§§ 5-9). Neben den wichtigen Entwicklungsschritten wie der Entstehung des Eigenkirchenwesens, dem Investiturstreit und dem Großen Abendländischen Schisma widmet er dem klassischen kanonischen Recht ein eigenes Kapitel (§ 6). Das in dieser Zeit entstandene Corpus Juris Canonici als umfassende kirchliche Rechtssammlung galt in der römisch-katholischen Kirche bis zur Ablösung durch den Codex Juris Canonici im Jahr 1918. Zu Recht betont Link, dass das kanonische Recht nicht nur innerhalb der Kirchen Bedeutung hatte, sondern ebenfalls Gebiete des – nach heutigem Verständnis – „staatlichen“ Rechts behandelte wie das Erb- und Eherecht, das Prozess- und das Strafrecht. In dieser Zeit bildete sich das kanonische Recht neben dem Römischen Recht („Corpus Juris Civilis“) als zweiter großer Traditionsstrom der europäischen Rechtsgeschichte heraus, das tiefe Spuren in der neuzeitlichen Rechtsordnung hinterlassen hat. Als prägnantes Beispiel weist Link darauf hin, dass der Grundsatz „pacta sunt servanda“ in der Kanonistik wurzelt, und damit der Typenzwang und die Formstrenge des Römischen Rechts überwunden und die Verbindlichkeit und Klagbarkeit formloser, „nackter“ Verträge („pacta nuda“) durch-gesetzt wurde. Der dritte Abschnitt des Lehrbuchs ist dem Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung (§§ 10-14) gewidmet. Detailreich beschreibt Link die umwälzenden Veränderungen in der Folge von Luthers legendärem Thesenanschlag am 31.10.1517 an der Wittenberger Schlosskirche. Dabei gelingt es dem Verf., den inneren Zusammenhang zwischen den theologischen Grundlagen von Luthers Theologie („sola fide, sola gratia, sola scriptura“; Zwei Reiche-Lehre) und den äußeren Konsequenzen für die Kirche und das Recht aufzuzeigen und damit verständlich zu machen, warum die Reformation nicht nur eine Glaubenskrise, sondern auch eine Verfassungskrise des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation ausgelöst und die Einheit des mittelalterlichen Corpus Christianum gesprengt hat. Im vierten Abschnitt werden unter der Überschrift „Die Kirche und das Entstehen des ‚Modernen Staates‘“(§§ 15-17) weitere bedeutende Wegsteine wie der Dreißigjährige Krieg, der Westfälische Frieden und die Toleranzpatente Josephs II. geschildert. Als gravierenden Einschnitt und Beginn eines neuen Abschnitts der deutschen Kirchen- und Kirchenrechtsgeschichte, gar als „letzte[s] Grundgesetz des Alten Reiches“ charakterisiert der Verf. den Reichsdeputationshauptschluss vom 25.2. 1803 (§ 17). Er berichtet von dem Verlust von Territorialherrschaft (Herrschaftssäkularisation) und Vermögenswerten (Vermögenssäkularisation) der geistlichen Reichsfürsten und zeigt die gravierenden Konsequenzen für die katholische Kirche in Deutschland auf. Das abschließende Urteil Links über die Folgen dieser Erschütterungen für die Kirche fällt trotz des Verlusts weltlicher Macht, oder gerade deswegen positiv aus. Er attestiert der katholischen Kirche jener Zeit eine geistliche Erneuerung, die das kirchliche Leben aufblühen ließ und spricht davon, dass der Reichsdeputationshauptschluss die deutsche katholische Kirche „zu sich selbst befreit“ habe. Diese Ausführungen Links (S. 123 f.) lesen sich wie ein Beitrag zu der Diskussion um die „Entweltlichung der Kirche“, die die (erst nach Erscheinen des Lehrbuchs gehaltene) „Freiburger Rede“ von Papst Benedikt XVI. angestoßen hat. Im folgenden Abschnitt wendet sich der Verf. dem „langen 19. Jahrhundert“ zu (§§ 18-24). In den Erläuterungen über die evangelische Kirche im 19. Jahrhundert kann er aus seinem Reichtum an profunden Kenntnissen schöpfen und auf viele eigene Forschungsleistungen zurückgreifen. Nicht weniger kenntnisreich sind seine Ausführungen über die für die katholische Kirche bedeutenden Ereignisse der zweiten _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 465 Link, Kirchliche Rechtsgeschichte Traub _____________________________________________________________________________________ Hälfte des 19. Jahrhunderts, insbesondere den Kulturkampf (S. 151 ff.) und das Erste Vatikanische Konzil (S. 159). Im Anschluss daran schildert Link die Umwälzungen des 20. Jahrhunderts (§§ 25-29). Von besonderer Bedeutung für das jetzige Verhältnis von Staat und Kirche sind dabei die Hinweise auf den Kulturkompromiss der Weimarer Verfassung, also jene Vorschriften, die teilweise gem. Art. 140 GG Bestandteil des Grundgesetzes und damit noch heute vollgültiges Verfassungsrecht sind. Treffend wird das staatskirchenrechtliche System von Weimar als Ausgleichsordnung (S. 181) charakterisiert. Das Verbot der Staatskirche gem. Art. 137 Abs. 1 WRV wird nicht zum übergeordneten Leitprinzip erhoben, gegenüber dem alle anderen Vorschriften als eng auszulegende und begründungsbedürftige Ausnahmen angesehen werden. Vielmehr stellt Link das Staatskirchenverbot neben andere Bestimmungen der Weimarer Verfassung, die eine positive Neutralität und die Möglichkeit zur Kooperation zwischen Staat und Religionsgesellschaften garantieren, wie das kirchliche Besteuerungsrecht, der Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach oder die Militär- und Anstaltsseelsorge. In einem eigenen Kapitel zeichnet Link das Verhältnis zwischen Staat und Kirchen in der Zeit des Nationalsozialismus nach. Neben den Auswirkungen auf die beiden Großkirchen werden dabei auch die Verfolgung der „Zeugen Jehovas“ und der Vernichtungsfeldzug gegen das Judentum beschrieben. Links Darstellung der kirchlichen Rechtsgeschichte endet nicht mit diesem dunklen Kapitel, sondern er führt den Leser bis an die Entwicklungen der jüngsten Vergangenheit heran. Dabei schildert der Autor zunächst die Neuordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche in den Nachkriegsjahren und nennt als prägende normative Grundlagen neben den staatskirchenrechtlichen Bestimmungen des Grundgesetzes die zahlreichen Kirchenverträge und Konkordate. Den Abschluss des Werkes bildet ein kurzer Blick auf die Entwicklungen nach der deutschen Wiedervereinigung. Hier scheut Link kein klares Wort, wenn er mit kurzen Strichen den Streit um das Unterrichtsfach „LER“ in Brandenburg, den Konflikt um die bayerischen Schulkreuze und die Herausforderungen des Islam für das deutsche Staatskirchenrecht skizziert. Das Fazit und der Ausblick von Link klingen optimistisch: das deutsche Staatskirchenrecht sei elastisch genug, den neuen Herausforderungen zu genügen, weil es nicht kirchliche Privilegien festschreibe, sondern einen freiheitlichen Ordnungsrahmen für das Wirken aller Religionsgemeinschaften bereitstelle. Links „Kirchliche Rechtsgeschichte“ ist keine blutleere Aneinanderreihung historischer Fakten, sondern engagierte Geschichtsschreibung eines Autors, der seine tiefe Verwurzelung im Protestantismus nicht versteckt. Dass ihm bei aller wissenschaftlichen Distanz die Religionsfreiheit, deren Ursprünge im „jus emigrandi“ des Augsburger Religionsfriedens von 1555 liegen, eine Herzensangelegenheit ist, zeigt sein persönlicher Ausruf „Was die Versagung eines solchen ‚Jus emigrandi‘ bedeutet, wissen alle Bürger der ehemaligen DDR!“ (S. 78). Wie wichtig das Anliegen dieses Werkes ist, die kirchliche Entwicklung in ihrer Wechselbeziehung zu Staat und Gesellschaft zu präsentieren, hat das Bundesverfassungsgericht in anderem Zusammenhang, nämlich in seiner Entscheidung über die Anbringung von Kruzifixen in öffentlichen Schulen formuliert: „Auch ein Staat, der die Glaubensfreiheit umfassend gewährleistet und sich damit selber zu religiös-weltanschaulicher Neutralität verpflichtet, kann die kulturell vermittelten und historisch verwurzelten Wertüberzeugungen und Einstellungen nicht abstreifen, auf denen der gesellschaftliche Zusammenhalt beruht und von denen auch die Erfüllung seiner eigenen Aufgaben abhängt. Der christliche Glaube und die christlichen Kirchen sind dabei, wie immer man ihr Erbe heute beurteilen mag, von überragender Prägekraft gewesen. Die darauf zurückgehenden Denktraditionen, Sinnerfahrungen und Verhaltensmuster können dem Staat nicht gleichgültig sein.“ Man möchte ergänzen: Diese Denktraditionen und Sinnerfahrungen können auch den vorwiegend aufs weltliche Recht blickenden (angehenden) Juristen nicht gleichgültig sein. Die „Kirchliche Rechtsgeschichte“ von Link bietet in hervorragender Weise einen vertieften Einblick in diesen bedeutenden Bestandteil europäischer Rechtskultur – wissenschaftlich fundiert und zugleich interessant und spannend geschrieben. Wiss. Mitarbeiter Thomas Traub, Köln _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 466 Das argumentum ad absurdum und seine Bedeutung in examensrelevanten Meinungsstreitigkeiten Von Wiss. Mitarbeiter Holger Stellhorn, Münster* I. Einleitung Viele Juristen lieben es, das argumentum ad absurdum aus dem rhetorischen Arsenal zu holen. Wie leicht kann man eine Gegenmeinung ins Schwanken bringen: Man zeige auf, welche absurden Folgen sie mit sich bringt – Folgen, die der Gesetzeslogik, der Gerechtigkeit oder dem gesunden Menschenverstand widersprechen – dann verfehlt der rhetorische Pfeil sein Ziel nicht. Hat man dem Gegner so den argumentativen Blattschuss verpasst, ist er schnell gefallen. Entsprechend beliebt ist das argumentum ad absurdum in Rechtsprechung und Literatur. Wer aber genauer hinschaut, wird erkennen, dass es oft nicht so elegant überzeugt. Wie man ein argumentum ad absurdum erkennt, es auf seine Überzeugungskraft prüft und in examensrelevanten Meinungsstreitigkeiten verwendet, möchte dieser Beitrag zeigen. Dazu geht er auf den Begriff und den Ursprung des Absurditätsarguments ein (II.), stellt seine Gültigkeitsvoraussetzungen dar (III.) und zeigt an jeweils zwei Beispielen aus dem Straf-, Zivil- und Öffentlichen Recht, wie man mit ihm argumentieren kann (IV.). II. Begriff und Ursprung Beim argumentum ad absurdum handelt es sich um einen indirekten Beweis: Statt die Überzeugungskraft der eigenen Ansicht zu untermauern, zerstört man die der Gegenansicht, indem man ihre absurden Konsequenzen offenlegt. Oft wird das Absurditätsargument nicht als erstes genannt, sondern flankiert die Hauptargumente der eigenen These. Man erkennt es an der Formulierung, die Gegenansicht sei „untragbar“, „unannehmbar“, „unhaltbar“ oder „widersinnig“.1 Schopenhauer bezeichnete es als Apagoge: „wir nehmen seinen [des Gegners] Satz als wahr an, und nun zeigen wir, was daraus folgt […], [dass] nun eine Konklusion entsteht, die offenbar falsch ist“; „widerspricht sie einer ganz unbezweifelbaren Wahrheit gradezu, so haben wir den Gegner ad absurdum geführt.“2 Bereits in der antiken Rhetorik war das argumentum ad absurdum bekannt und bewährt. Es beruhte auf der Maxime der Folgenberücksichtigung („quidquid agis, prudenter agas, et respice finem“ – „Was auch immer du tust, tue es klug und bedenke das Ende“).3 Eines der ältesten Beispiele bringt Platon in der Apologie des Sokrates:4 Sokrates war der Gott* Der Verf. ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kommunalwissenschaftlichen Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (Geschäftsführender Direktor: Prof. Dr. Janbernd Oebbecke). 1 Nachweise bei Diederichsen, in: Paulus/Canaris/Diederichsen (Hrsg.), Festschrift für Karl Larenz zum 70. Geburtstag, S. 155 (157). 2 Schopenhauer, Eristische Dialektik oder die Kunst, Recht zu behalten, Nachdruck 1991, S. 22 f. 3 Wacke, in: Gerkens (Hrsg.), Mélanges Fritz Sturm, Bd. 1, 1999, S. 547. 4 Nach Daube, Roman Law, Linguistic, Social and Philosophical Aspects, 1969, S. 176 ff. losigkeit angeklagt. Der Ankläger Meletos erwähnte, dass Sokrates an übermenschliche „daimonische“ Wesenheiten glaube. Sokrates führt die Anklage ad absurdum: Da daimonia göttliche Wesenheiten seien, müsse er auch an Götter glauben. „Gibt es jemanden, der zwar an Wirkungen von göttlichen Wesen (daimonia) glaubt, an göttliche Wesen (daimones) selbst jedoch nicht?“ – „Wenn ich also an die Realität von göttlichen Wesen glaube, wie du behauptest, und wenn diese göttlichen Wesen eine Art von Göttern sind, habe ich dann nicht recht, wenn ich sage, dass du ein Rätsel vorträgst […], da du behauptest, dass ich nicht an Götter glaube und gleichwohl doch wieder an Götter glaube?“5 So konnte er zumindest den Vorwurf der Gottlosigkeit rhetorisch entkräften. III. Gültigkeitsvoraussetzungen Das argumentum ad absurdum überzeugt nur, wenn es folgende Voraussetzungen6 erfüllt: 1. Absurditätspostulat Die aufgezeigten Folgen der Gegenansicht müssen tatsächlich absurd (dem Wortsinn nach widersinnig) sein, nicht bloß unerwünscht oder zweifelhaft. Im engen Sinne absurd ist eine Folge, die ihren eigenen Grundannahmen widerspricht (wie der Gottlosigkeitsvorwurf gegenüber Sokrates). Juristisch unsinnig ist eine Folge aber auch, wenn sie der Gesetzesregelung entgegensteht (Beispiel: Die subjektive Ansicht der „Falschaussage“ nach § 153 StGB setzt sich in Widerspruch zu § 161 StGB.7) Im weiteren Sinne absurd sind Folgen, die sich nicht mit einer verständigen Wertung vereinbaren lassen, wenn etwa ein bösgläubiger Besitzer im Eigentümer-Besitzer-Verhältnis besser stehen würde als ein redlicher. Wie entkräftet man ein Absurditätsargument? Häufig reicht schon Folgendes: Man lege dar, warum die Folge nicht absurd sei. Im Strafrecht ist die Formel beliebt, man müsse „Strafbarkeitslücken schließen.“ Dahinter steht die Überlegung, es sei widersinnig, ein allgemein als strafwürdig empfundenes Verhalten nicht zu bestrafen. Diese Folge ist aber nicht absurd: Das Strafrecht kann als ultima ratio nicht jedes gefühlt strafwürdige Verhalten unter Strafe stellen, es hat fragmentarischen Charakter.8 5 Nach Platon, Apologie, 27c/27d. Nach Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, 3. Aufl. 2014, S. 190 ff. 7 Vgl. Katzenberger/Pitz, ZJS 2009, 659 f.: „Würde man mit der rein subjektiven Theorie ein Wissen bzgl. der Falschheit verlangen, wäre der Tatbestand der fahrlässigen Falschaussage quasi überflüssig: Der Täter würde nahezu immer wissentlich und damit vorsätzlich handeln.“ 8 Walter, Kleine Rhetorikschule für Juristen, 2009, S. 204. Zum Argument der Strafbarkeitslücke Kertai, JuS 2011, 976. 6 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 467 VARIA Holger Stellhorn 2. Folgerichtigkeitspostulat Die absurde Konsequenz muss folgerichtig aus der Gegenansicht folgen, sie darf nicht nur behauptet sein. Wer absurde Folgen bloß konstruiert, bedient sich der „Konsequenzmacherei“: „Man erzwingt aus dem Satze des Gegners durch falsche Folgerungen und Verdrehung der Begriffe Sätze, die nicht darin liegen und gar nicht die Meinung des Gegners sind“.9 3. Exklusivitätspostulat Das argumentum ad absurdum gelingt nur, wenn außer der ad absurdum geführten Ansicht nur die eigene Ansicht vertreten werden kann, es darf keine dritte Option zur Lösung des Problems geben. Bei mehr als einer Gegenansicht muss man jede von ihnen widerlegen – das ist der Nachteil des indirekten Beweises: Er kann nur die Schwächen der anderen Ansichten aufzeigen, nicht die Stärke der eigenen. Um das Absurditätsargument zu entkräften, genügt es also, eine dritte Ansicht in die Argumentation einzubringen. 4. Vollständigkeitspostulat Die eigene Ansicht muss die absurde Folge in jedem denkbaren Fall vermeiden; es darf keine Möglichkeit ersichtlich sein, in der die absurde Folge auch auf Grundlage der eigenen These eintritt. In diesem Fall ist die vorgeschlagene Lösung nämlich kein Mittel, ein widersinniges Ergebnis zu verhindern. 5. Ausschließlichkeitspostulat Das Ausschließlichkeitspostulat fordert: Das absurde Ergebnis kann nur verhindert werden, indem man die Gegenthese vollständig aufgibt. Kann die Gegenthese die Absurdität vermeiden – etwa durch enge Auslegung oder teleologische Reduktion –, dann verliert das argumentum ad absurdum seine Gültigkeit. IV. Beispiele in juristischen Meinungsstreitigkeiten 1. Strafrecht a) „Blutbadargument“ Das berühmteste argumentum ad absurdum ist Bindings „Blutbadargument“. Es wurde anhand des Falles Rose-Rosahl10 entwickelt: Fall: Rosahl beauftragt Rose, den Schliebe zu töten. In der Dämmerung sieht Rose einen Mann, den er für Schliebe hält, und erschießt ihn. In Wirklichkeit handelt es sich um einen anderen (Harnisch). Rose unterliegt einem unbeachtlichen error in persona, er ist strafbar wegen vollendeter Tötung. Rosahl wollte aber nicht, dass ein Unbeteiligter getötet wird. Wie wirkt sich nun der error in persona des Haupttäters auf den Anstifter aus? Soll er wegen vollendeter oder nur versuchter Anstiftung bestraft werden? Nach der Unbeachtlichkeitstheorie ist der Irrtum des Haupttäters auch für den Anstifter unbeachtlich, Rosahl hätte 9 Kunstgriff Nr. 24 bei Schopenhauer (Fn. 2), S. 50. Preußisches Obertribunal GA 7 (1859), 322. 10 eine vollendete Anstiftung begangen.11 Die aberratio ictusLösung vertritt, das Werkzeug habe wie ein Pfeil sein Ziel verfehlt, Rosahl sei wegen versuchter Anstiftung strafbar.12 Die Wesentlichkeitstheorie fragt danach, ob das Tatgeschehen wesentlich von der Vorstellung des Anstifters abweicht (dann sei die Anstiftung im Versuchsstadium geblieben).13 Bindings Blutbadargument richtet sich gegen die Unbeachtlichkeitslösung: Erschieße Rose mehrere Personen, immer im Glauben, den richtigen zu treffen, müsste Rosahl der „Anstifter zu dem ganzen Gemetzel“14 sein, obwohl er nur einen Menschen töten lassen wollte. Überzeugt dieses Argument? Es scheint in der Tat absurd, den Anstifter für ungleich mehr Taten zu bestrafen, als er sich vorstellte. Seine Verantwortung für das „Gemetzel“ lässt sich auch folgerichtig aus der Unbeachtlichkeitslösung herleiten. Das Blutbadargument hält aber das Vollständigkeitspostulat nicht ein:15 Dieselbe absurde Folge träte auch dann ein, wenn Rose auf den (richtigen) Schliebe geschossen, aber einen oder mehrere Nebenstehende getroffen hätte – diese aberrationes ictus entsprächen Rosahls Auftrag; auch in diesem Fall wäre er für das Gemetzel verantwortlich. Die Ablehnung der Unbeachtlichkeitslösung beseitigt das absurde Ergebnis also nicht; die Lösung muss vielmehr darin liegen, Rosahls Anweisungen an Rose genauer zu untersuchen, wie es die Wesentlichkeitstheorie tut. b) Nötigungsnotstand Fall: A droht B mit dem Tode, wenn er nicht den C schlage. B greift den C an. Darf sich C gegen den Angriff wehren? Sein Notwehrrecht hängt davon ab, dass B rechtswidrig handelt, also nicht seinerseits gerechtfertigt ist. Die Rechtfertigungslösung geht davon aus, B sei wegen Notstands (§ 34 StGB) gerechtfertigt,16 während die Entschuldigungslösung vertritt, B sei allenfalls nach § 35 Abs. 1 StGB entschuldigt.17 Das Absurditätsargument der Entschuldigungslösung lautet: „Das Vertrauen in die Geltungskraft der Rechtsordnung würde zutiefst erschüttert, wenn dem Angegriffenen (C) Abwehrrechte gegen den Genötigten (B) vollständig versagt blieben“.18 Muss man dieser Argumentation folgen? In der Tat „hätte das unschuldige […] Opfer […] kein Notwehrrecht gegen den Genötigten […]. Das ist zwar richtig. Es ist aber nicht absurd.“19 Das Opfer (C) kann sich nämlich nach den 11 So das Preußische Obertribunal GA 7 (1859), 322 (336 f.). Dehne-Niemann/Weber, Jura 2009, 373 (378). 13 BGHSt 37, 214. 14 Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 3, 1918 (Nachdruck 1965), S. 214 Fn. 9. 15 Puppe (Fn. 6), S. 197 f.; ebenso Dehne-Niemann/Weber, Jura 2009, 373 (377). 16 Z.B. Frister, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2013, Kap. 17 Rn. 18 ff. 17 Z.B. Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 43. Aufl. 2013, Rn. 443. 18 Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 17), Rn. 443. 19 Walter (Fn. 9), S. 203 (Hervorhebung durch Verf.). 12 _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 468 Das argumentum ad absurdum und seine Bedeutung Notstandsregeln (§ 34 StGB) verteidigen. Ihm das scharfe Schwert der Notwehr zu versagen, ist angesichts der Schutzwürdigkeit des Genötigten (B) auch nicht untragbar. Mit einem anderen Absurditätsargument kann man umgekehrt die Entschuldigungslösung angreifen: Würde A nicht B, sondern einen Dritten mit dem Tode bedrohen, könnte B sich auf keinen entschuldigenden Notstand stützen, da die Gefahr nicht ihm selbst oder einer nahestehenden Person droht – „es liegt auf der Hand, dass dies nicht richtig sein kann.“20 (bereits „entstandenes Pfandrecht“?) und der Systematik (Vergleich mit § 366 Abs. 3 HGB) finden. b) Nutzungsersatz bei nichtiger Veräußerung Mitunter verwendet man das argumentum ad absurdum, um das Gesetz selbst zu korrigieren, wenn es zu absurden Folgen führt. Fall: E verkauft und übereignet ein bebautes Grundstück an D. Der schuldrechtliche Vertrag ist unwirksam, die Übereignung aber wirksam. D hat zwischenzeitlich Miete eingenommen. 2. Zivilrecht a) Gutgläubiger Erwerb des Unternehmerpfandrechts Fall: E verkauft dem B ein Auto unter Eigentumsvorbehalt. B bringt das Auto nach einem Unfall zur Reparatur in die Werkstatt des W. Als B die ausstehenden Kaufraten nach wiederholter Aufforderung nicht zahlt, tritt E vom Vertrag zurück und verlangt von W die Herausgabe des Wagens. W kann die Herausgabe verweigern, wenn er ein Recht zum Besitz (§ 986 Abs. 1 S. 1 BGB) hat. Möglicherweise steht ihm ein Werkunternehmerpfandrecht zu. Nach § 647 BGB hat W kein Pfandrecht erworben, denn das Auto war nicht „Sache des Bestellers“. Umstritten ist aber, ob W das Pfandrecht gutgläubig nach §§ 1257, 1207, 932 ff. BGB erworben haben könnte. Ein Teil des Schrifttums lässt den gutgläubigen Erwerb zu,21 doch die überwiegende Ansicht lehnt ihn ab.22 Sie argumentiert gegen den Gutglaubenserwerb des Pfandrechts: Um sein Auto zu bekommen, müsste E die Werkvertragssumme auslösen. Es sei aber untragbar, dass er sogar für wirtschaftlich sinnlose Aufwendungen haften müsse,23 dann wäre der Werkvertrag ein unzulässiger Vertrag zulasten Dritter.24 Ein Vertrag zulasten unbeteiligter Dritter widerspricht in der Tat der Regelungssystematik des BGB. Mit guten Gründen kann man die Absurdität aber auch zurückweisen: Der Vorbehaltsverkäufer hat regelmäßig ein Interesse daran, dass die Sache funktionstüchtig bleibt. Er hat auch nicht die Stellung eines Unbeteiligten, da er sein Eigentum willentlich aus der Hand gegeben und der Gefahrensphäre des B überlassen hat25 – daher ist es nicht absurd, dass er die Werkvertragssumme bezahlt. Das argumentum ad absurdum führt also nicht weiter; die Lösung muss man in dem Wortlaut des § 1257 BGB 20 Frister (Fn. 16), Kap. 17 Rn. 19. Z.B. Baur/Stürner, Sachenrecht, 18. Aufl. 2009, § 55 Rn. 40; Wiegand, in: Staudinger, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Buch 3, §§ 1204-1296, 15. Aufl. 2009, § 1257 Rn. 14. 22 BGHZ 34, 153; Prütting, Sachenrecht, 35. Aufl. 2014, Rn. 790. 23 Henke, AcP 161 (1962), 1 (30). 24 Peters/Jacoby, in: Staudinger, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Buch 2, §§ 631-651, 15. Aufl. 2013, § 647 Rn. 16. 25 Kraft, NJW 1963, 741 (744). 21 ALLGEMEINES Bereicherungsrechtlich kann E neben der Rückübereignung des Grundstücks auch die Herausgabe der gezogenen Nutzungen, also die Mieteinnahmen verlangen (§ 818 Abs. 1 BGB). Was aber wäre, wenn E unerkannt geisteskrank ist, sodass auch die dingliche Eigentumsübertragung unwirksam ist? In diesem Fall ist E Eigentümer geblieben, zwischen ihm und D besteht ein Eigentümer-Besitzer-Verhältnis. Nach § 993 Abs. 1 Hs. 2 BGB muss der redliche Besitzer aber keine Nutzungen herausgeben. Absurde Folge: Der Eigentümer, der sein Eigentum verloren hat, steht besser als derjenige, der es behalten hat – ein klarer Wertungswiderspruch.26 Hier erfüllt das Absurditätsargument alle Gültigkeitsvoraussetzungen: Es ist tatsächlich absurd, den Eigentümer, der sein Eigentum nicht verloren hat, schlechter zu stellen. Die absurde Konsequenz lässt sich auch nicht anders vermeiden, als die gesetzliche Regelung anzupassen. Dementsprechend wird vertreten, entweder § 988 BGB auf den rechtsgrundlosen Besitzer analog anzuwenden oder die Sperrwirkung des § 993 Abs. 1 Hs. 2 BGB gegenüber dem Bereicherungsrecht aufzugeben.27 3. Öffentliches Recht a) Rücknahmefrist des § 48 Abs. 4 VwVfG Eines der umstrittensten Probleme des Allgemeinen Verwaltungsrechts ist die Frist zur Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte nach § 48 Abs. 4 VwVfG. Beginnt die Jahresfrist erst zu laufen, wenn die Behörde sämtliche Tatsachen ermittelt hat, insbesondere auch ermessensrelevante Gesichtspunkte? Dann würde der Jahreszeitraum für die bloße Entscheidung, ob der Verwaltungsakt aufgehoben wird, gelten; eine solche Entscheidungsfrist vertritt die Rechtsprechung.28 Die herrschende Lehre sieht in § 48 Abs. 4 VwVfG hingegen eine Bearbeitungsfrist: Bereits ab dem ersten Anhaltspunkt für eine Rechtswidrigkeit müsse die Behörde tätig werden und das Rücknahmeverfahren innerhalb eines Jahres erledigen.29 Für die These der Bearbeitungsfrist führt die Lehre ein gewichtiges argumentum ad absurdum an: Sonst könnte die Behörde die Rücknahmefrist durch immer neue Ermittlungen 26 Wacke (Fn. 3), S. 547 (566). Vgl. Medicus/Petersen, Bürgerliches Recht, 24. Aufl. 2013, Rn. 600: „Dieses unsinnige Ergebnis lässt sich […] auf zwei Wegen korrigieren“. 28 BVerwGE 70, 356 (362); BayVGH BayVBl. 1980, 501 f. 29 Statt aller Ehlers/Kallerhoff, Jura 2009, 823 (834). 27 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 469 VARIA Holger Stellhorn strecken und so die Regelung unterlaufen.30 Gegen dieses Argument wenden das BVerwG und Sodan/Ziekow ein, es hänge nicht allein vom Willen der Behörde ab, die Entscheidungsreife herbeizuführen.31 Haben sie das Absurditätsargument damit entkräftet? Zunächst ist zu klären, worin die absurde Folge bestehen soll: Mit der Formel, die Regel werde unterlaufen, ist gemeint, es sei absurd, wenn eine Frist keinerlei Druck zur Beschleunigung entfalte – „Es kann aber nicht Wille des Gesetzgebers sein, die Frist weitgehend zur Bedeutungslosigkeit degenerieren zu lassen.“32 Der Einwand des Bundesverwaltungsgerichts und von Sodan/Ziekow lässt sich dahingehend deuten, dass sie die Absurdität verneinen: Eine Frist, die keinen Druck entfaltet, sei dann nicht absurd, wenn das eigene Verhalten nichts zur Entscheidungsreife beitragen kann. Dieser Einwand würde treffen, wenn seine Annahme richtig wäre. Allerdings ist ein solcher Fall, in dem die Behörde durch eigene Ermittlungen keinerlei Beitrag zur Entscheidungsreife bringen kann, nur schwer vorstellbar – sie könnte ihre Auskunftsbefugnisse nutzen oder ein Schweigen des Begünstigten zu seinem Nachteil auslegen; zudem geht der Gesetzgeber bei der Untätigkeitsklage nach § 75 VwGO selbst davon aus, dass die Behörde sogar einen unbekannten Sachverhalt innerhalb von drei Monaten ermitteln kann.33 Das Absurditätsargument der Bearbeitungsfrist-Vertreter wurde daher nicht überzeugend widerlegt, es ist das stärkste Argument gegen eine Entscheidungsfrist. c) Anspruch auf bauaufsichtliches Einschreiten bei freigestellten Bauvorhaben Im Baurecht hat sich die weitgehende Verfahrensliberalisierung auf den Rechtsschutz des Nachbarn ausgewirkt: Benötigt der Bauherr keine Baugenehmigung mehr, kann der Nachbar gegen ein Vorhaben, das seine subjektiv-öffentlichen Nachbarrechte verletzt, keine Anfechtungsklage mehr erheben. Ihm bleibt nur die Möglichkeit, die Baubehörde zum Einschreiten aufzufordern. Während aber bei einer Anfechtungsklage jeder Verstoß gegen öffentlich-rechtliche Normen die Baugenehmigung zu Fall bringen kann, steht ein repressives Einschreiten regelmäßig im Ermessen der Behörde; im Bauordnungsrecht hat man nur bei schweren Beeinträchtigungen einen Anspruch auf Einschreiten.34 Man könnte daher vertreten, das Entschließungsermessen zum Einschreiten zugunsten des Nachbarn eines genehmigungsfreigestellten Bauvorhabens sei auf Null zu reduzieren. Wer das tut, argumentiert folgendermaßen: Der Nachbar dürfe bei einer Genehmigungsfreistellung nicht schlechter stehen als 30 Ehlers/Kallerhoff, Jura 2009, 823 (834); Erbguth, JuS 2002, 333; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl. 2011, § 11 Rn. 35a; Schoch, NVwZ 1985, 880 (882); Stadie, DÖV 1992, 247 (250). 31 BVerwGE 70, 356 (363); Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 6. Aufl. 2014, § 82 Rn. 13. 32 Stadie, DÖV 1992, 247 (250 f.). 33 Stadie, DÖV 1992, 247 (251). 34 BayVGH NVwZ-RR 1994, 631 f.; VGH BW VBl. BW 1992, 103 f. bei einem genehmigungsbedürftigen Bauvorhaben.35 Die unbeabsichtigten Folgen der Gesetzesänderung werden ad absurdum geführt: Man müsse verhindern, dass eine Gesetzesnovelle Auswirkungen hat, die sie ausdrücklich nicht bezweckt. Dieses Absurditätsargument erfüllt alle Gültigkeitsvoraussetzungen: Die Folge, den Nachbarn eines genehmigungsfreigestellten Vorhabens schlechter zu stellen als den eines genehmigungsbedürftigen, ist erkennbar unsinnig; sie ergibt sich auch folgerichtig aus der herkömmlichen Ermessensdogmatik. Allerdings wird ein anderes argumentum ad absurdum gegen die These der Ermessensreduktion vorgebracht: Die absurde Folge würde eintreten, dass sich der Nachbar gegen einen Schwarzbau schlechter zur Wehr setzen könnte als gegen freigestellte Vorhaben, da bei einem Schwarzbau die allgemeinen Regeln für ein behördliches Einschreiten gelten (Ermessensreduktion nur bei unzumutbarer Beeinträchtigung).36 Diese Argumentation erfüllt allerdings nicht das Folgerichtigkeitspostulat: Auch nach der herkömmlichen Auslegung hat der Nachbar einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung, was bei Schwarzbauten in der Regel einen Anspruch auf Einschreiten bedeutet.37 Das Absurditätsargument der Ermessensreduktions-Vertreter wurde daher nicht entkräftet; es verwundert nicht, dass ihr weite Teile der Rechtsprechung folgen.38 V. Fazit Das argumentum ad absurdum ist nicht so treffsicher, wie es scheint: Beim Streit um den error in persona des Haupttäters, den Nötigungsnotstand und den gutgläubigen Erwerb des Unternehmerpfandrechts konnte es nicht überzeugen. Stark ist es nur, wenn es tatsächlich einen logischen Widerspruch aufzeigt, schwach hingegen, wenn sich über die angeblich untragbare Folge streiten lässt.39 Man kann es entkräften, indem man zeigt, dass die Folgen gar nicht absurd sind, eine dritte Lösung möglich ist oder das absurde Ergebnis durch eine andere Auslegung vermieden wird. Da es so leicht angreifbar ist, taugt es nur als zweitbestes Argument;40 besser unterstützt man die eigene Ansicht mit den anerkannten Auslegungsmethoden, als die gegnerische These zu zersetzen. 35 BayVGH NVwZ 1997, 923; Degenhart, NJW 1996, 1433 (1436 ff.); Martini, DVBl. 2001, 1488 (1492); Numberger, BayVBl. 2008, 741 (744). 36 Bock, DVBl. 2006, 12 (15); Borges, DÖV 1997, 900 f.; Decker, JA 1998, 799 (805). 37 Martini, DVBl. 2001, 1488 (1493). 38 BayVGH NVwZ 1997, 923; VGH BW BauR 1995, 219 f.; OVG SN NVwZ 1997, 922. 39 Vgl. Diederichsen (Fn. 1), S. 177. 40 Vgl. Daube (Fn. 4), S. 189. _____________________________________________________________________________________ ZJS 4/2014 470