Der Witz – ein Begleiter fürs Leben

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Der Witz – ein Begleiter fürs Leben
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Der Witz –
ein Begleiter fürs Leben
Von Alain Neumann
Der Witz als Psychotherapeut
Minuten nach dem berüchtigten WM-Fussballspiel im Jahr 2006 der Schweiz gegen die Ukraine hörte ich beim Tanken bereits folgende
Frage:
«Wer kennt den kürzesten Fussballwitz der
Schweiz?» – «Köbi Kuhn versteht etwas von
Fussballtaktik!»
Ein guter Witz ist lustig. Aber das ist bei Weitem nicht
alles. Die Funktion des Witzes ist vielfältig. Oft sagt ein
Witz alles über den Erzähler aus.
Seit ich denken kann, bin ich von Witzen umgeben. Keiner weiss, woher sie stammen, wie
sie entstehen, und wer sie in Umlauf gebracht
hat. Sie sind einfach da. Ausweichen können wir
ihnen nicht. Sie begeistern oder stossen auf Ablehnung. Witze können humorvoll, komisch, trocken, obszön, langweilig, kurzatmig, vielsagend,
komisch, humorvoll, ironisch, einmalig, wiederkehrend, politisch, religiös oder frauenfeindlich
sein. Etwas sind sie nicht: eine echte Episode
aus dem Leben. Hierfür kennt die deutsche Sprache einen andern Begriff, den der «Anekdote».
Der Witz ist eine emotionale Wiedergabe der
Stimmungslage, in der wir uns gerade befinden,
ein Momentum, und zwar immer und jederzeit.
Er widerspiegelt Situationen aus der Kindheit,
aus dem Erwerbsleben, aus dem Alter. Witze
werden von allen Bevölkerungsgruppen erzählt:
Kinder, Frauen, Männer, Junge, Alte. Er deckt
auch alle Branchen des Berufslebens oder unserer Gesellschaft ab. Und er hat eine hohe
didaktische Eigenschaft: er muss ohne Erklärungen verstanden werden – er ist selbsterklärend. Darum eignet er sich hervorragend, wenn
wir einfach unserem Unmut Ausdruck verleihen
wollen.
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Der Witz ist also in allen Lebenslagen ein treuer Begleiter. Eine wichtige Funktion hat er insbesondere, wenn wir glauben, es nicht mehr
aushalten zu können, wie während der politisch
schwierigen Zeiten während des Eisernen Vorhangs:
Ein hoher Führer der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland, der betrunken zwei DDR-Bürger angefahren hat, fragt den Richter verängstigt
nach seiner zu erwartenden Strafe. Der Richter
antwortet: «Du erhältst sicher keine Strafe. Der
Mann, der durch die Scheibe deines Autos flog,
wird wegen Einbruchs verurteilt. Und der andere, der 40 Meter durch die Luft flog, wird wegen
Unfallflucht bestraft.»
Der politische Witz zeigt noch etwas anderes
auf. Machthaber machen oft einen grossen
Denkfehler: Sie glauben, dass einfache Menschen nicht wissen, was wirklich im System los
ist, in dem sie leben müssen. Das Gegenteil ist
der Fall. Bürger, Mitarbeiter, Kinder und andere,
welche von Dritten abhängig sind, kennen ganz
genau die Stärken und Schwächen ihrer Politiker, Manager, Eltern oder anderen Machthaber.
Wenn die «Machtlosen» keine andere Wahl
haben, ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen, zum
Beispiel aus Angst vor weiterer Unterdrückung,
witzeln sie über ihre Lage. Es befreit und lässt
einen wieder atmen. Der Witz ist hier Psychotherapeute und Droge gegen Depression und
Verzweiflung.
Parteichef Kadar erfährt, dass die meisten politischen Witze in Ungarn von einem Juden,
einem armen Teufel namens Kohn, erfunden
werden. Er lädt diesen ein, um sich von ihm
persönlich Witze erzählen zu lassen. Kadar empfängt den Gast mit einem reichhaltig gedeckten Tisch. Dem armen Kerl gehen vor Staunen
die Augen über. Kadar bemerkt die Faszination
und sagt väterlich: «Sehen Sie, so werden bald
alle Werktätigen in unserem Lande leben.» –
«Genosse Kadar», entgegnet Kohn, «wenn ich
richtig informiert bin, so bin ich derjenige, der
hier Witze erzählen soll.»
Der Witz ist hier zudem Ausdruck der Sehnsucht
nach etwas Unerreichbarem und hilft, die bestehende Situation auszuhalten und psychisch zu
verarbeiten.
Witze, die verletzen
Er zu ihr: «Du siehst gar nicht gut aus mit der
neuen Brille.» Sie zu ihm: «Ich habe gar keine
neue Brille!» Er: «Aber ich!»
Der verletzende Witz ist ein spezielles Phänomen. Er ist total überflüssig, und doch wird er
täglich erzählt, vor allem von Männern. Oft handelt er von Frauen. Ein Verhalten, welches für das
männliche Geschlecht typisch ist und oft im Alltag
angewendet wird. Die Psychologie hat noch
keine Antwort darauf, warum wir gerne das verletzen, was wir eigentlich lieben. Vielleicht ist
das der Witz an der Sache.
Eine besondere Stellung nimmt der Witz auch als
Überlebensinstrument für ganze Bevölkerungsgruppen ein, die über Jahrhunderte verfolgt und
gedemütigt wurden. Ein klassisches Beispiel dafür ist der jüdische Witz. Die ehemalige jüdische
Schriftstellerin, Salcia Landmann, beschreibt
es in der Einleitung ihres Werks «Der jüdische
Witz» trefflich:
«Der jüdische Witz nimmt in der Weltliteratur
eine Sonderstellung ein. Er ist bitterer, schärfer,
vollendeter, dichter, man kann auch sagen dichterischer als der Witz anderer Völker. Er ist niemals Witz um des Witzes willen, immer enthält
er eine politische, religiöse, soziale oder philosophische Kritik. Durch Jahrhunderte war der Witz
die einzige und unentbehrliche Waffe des sonst
wehr- und waffenlosen Volkes.»
Hier geht es um mehr als um ein Ventil oder
«sich Luft machen». Es geht um das nackte
Überleben. Der reine politische Witz reicht nicht
mehr, die Ernsthaftigkeit der Situation verlangt
nach Selbstironie.
Der Rabbi erzählt seinen Talmudschülern: «Eines
Tages fand ein armer Holzhacker einen Säugling
mitten im Wald. Wie sollte er ihn ernähren? Er
betete zu Gott, und da geschah ein Wunder:
Dem Holzhacker wuchsen Brüste, und er konnte
das Kind säugen.» – «Rabbi», wendet ein Jünger
ein, «die Geschichte gefällt mir nicht. Wozu so
eine ausgefallene Sache wie Frauenbrüste bei
einem Mann? Gott ist allmächtig. Er hätte einen
Beutel Gold neben das Kind legen können, dann
hätte der Holzhacker eine Amme gedingt.» Der
Rabbi denkt einen Moment nach. «Falsch überlegt, warum soll Gott Geld ausgeben, wenn er
mit einem Wunder auskommen kann!»
Moses will in einem kleinen Hotel übernachten.
«Möchten Sie gerne ein Zimmer mit fliessendem
Wasser?», fragt der Rezeptionist. Moses antwortet: «Sehe ich aus wie eine Forelle?»
Hier zeigt der Witz auf ironische Weise die Unzulänglichkeiten des Menschen auf und lässt uns
den Alltag besser bewältigen.
Der einfache Witz verwendet Klischees
Es braucht nicht die Rhetorik einer Talmudschule,
um witzig zu sein. Auch die sogenannten einfachen Witze zeigen Gehalt und Substanz, wie
nachfolgende Schweizer Witze zeigen:
Zwei Politiker im Bundeshaus. «Der Müller verbreitet über mich die infamsten Lügen!» – «Sei
froh, dass er nicht die Wahrheit verbreitet!»
Ein Berner Oberländer Ehepaar möchte in Bern
ins Theater gehen. An der Kasse: «Wir hätten
gerne zwei Billette.» – «Für Romeo und Julia?»,
fragt die Kassiererin. «Nein, für meine Frau und
mich.»
Hier wird der Witz zur Aussage über eine bestimmte Gesellschaftsgruppe und ist stark wertend. Dies ist aber nur scheinbar der Fall. In Wirklichkeit ist die verspottete Gesellschaftsschicht
bei dieser Art von Witz durch eine x-beliebige
andere austauschbar, wie es gerade passt und
der Erzählende Lust dazu hat. Ein klassischer
austauschbarer Witz ist der «Gegend-Erkennungs-Witz». Dieser Witz wird in Hunderten Gegenden dieser Erde in allen Sprachen erzählt:
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«Weisst du, wann du weisst, dass du da und
da bist?» – «Nein.» – «Wenn die Kühe schöner
werden als die Mädchen.»
Eine aufbauende Therapie ist es, wenn über jemanden gelacht werden kann:
Ein Mann geht zum Eisfischen und schneidet
ein Loch ins Eis. Plötzlich ertönt eine Stimme
von oben: «Hier gibt es keine Fische!» Fragt der
Mann: «Wer bist du – der liebe Gott?» – «Nein,
der Eisstadionsprecher.»
Dieser Witz hebt das eigene Selbstwertgefühl
erheblich.
«Ohne Worte» verstehen alle
Der Witz ist aber auch völkerverbindend. Er wird
in sämtlichen Sprachen der Welt erzählt. Er ist
sowohl in den Hochglanzmagazinen wie auch in
der Boulevardzeitung zu finden. Er hat den Film,
die Bühne und das Fernsehen im Handumdrehen
erobert und ist auch aus dem Internet nicht mehr
wegzudenken. Der «Witz ohne Worte» wird von
allen Völkern der Erde verstanden.
Der richtige Witz zur richtigen Zeit
Der passende Witz kann jederzeit situationsgerecht abgerufen werden:
Wenn ich verliebt bin:
Das eine Gänseblümchen zum anderen: «Ich
liebe dich.» Das andere: «Ich dich auch, wollen
wir eine Biene rufen?»
Wenn ich mich über meinen Anwalt geärgert
habe:
Der Angeklagte zu seinem Rechtsanwalt: «Wenn
ich mit einem halben Jahr davonkomme, bekommen Sie 20 000 Euro von mir.» Nach dem
Prozess meint der Anwalt: «Das war aber ein
wirklich hartes Stück Arbeit! Die wollten Sie
doch glatt freisprechen …»
Wenn mein Lieblingsverein verloren hat:
Nach der erneuten Niederlage macht der Trainer
mit seiner Mannschaft einen Rundgang durch
das Stadion: «So, Jungs», sagt er, «wo die Fotografen sind, wisst ihr ja. Den Standort der Fern-
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sehkameras kennt ihr auch – und nun zeige ich
euch noch, wo die Tore stehen!»
Wenn mich eine private, aber unabdingbare
Einladung langweilt:
Der völlig unbegabte Bariton zur Abendgesellschaft in der Villa das Bankdirektors sagt: «Und
nun singe ich «Am Brunnen vor dem Tore!» Ein
genervter Zuhörer daraufhin: «Das ist auch gut
so, hier drinnen hört Ihnen ja sowieso keiner
mehr zu!»
Wenn mein Arzt mich genervt hat:
Ein Arzt verschreibt fälschlicherweise seinem
Patienten Abführmittel anstatt Hustensaft. Nach
zwei Tagen trifft der Arzt den Patienten und fragt:
«Na, husten Sie noch?» Erwidert der Patient:
«Nein, Herr Doktor, ich trau mich nicht mehr!»
Wenn die Zahnarztrechnung zu hoch ist:
Der Zahnarzt zum Patienten: «Es wird etwas
weh tun! Beissen Sie die Zähne zusammen und
machen Sie den Mund auf!»
Wenn ich von der Kirche genug habe:
Ein Busfahrer und ein Pfarrer kommen in den
Himmel. Petrus lässt den Busfahrer eintreten,
der Pfarrer muss draussen warten. «Wieso wird
der Fahrer bevorzugt?», fragt der Pfarrer. Petrus
erklärt: «Wenn Du gepredigt hast, haben alle geschlafen. Wenn er gefahren ist, haben alle gebetet!»
Witze entlarven einen selbst
Der Witz – und nicht etwa der Humor – ist unser
Lebensexilier. In guten wie in schlechten Zeiten.
Sowohl der gehörte wie auch der selbst erzählte
Witz bekommt von uns die Wertung, nach der
uns gerade ist. Wir entscheiden ganz allein, ob
wir einen Witz gut oder schlecht finden, ob er
weitererzählt werden kann oder gleich wieder
vergessen geht. Ob er beleidigend oder erhebend ist. Ob er aufbauend oder zerstörend wirkt.
Ob wir uns freuen oder ärgern sollen. Es ist kein
Zufall, welche Witze wir erzählen. «Erzähle mir
einen Witz, und ich sage dir, wer du bist!» Und
es ist auch kein Zufall, welche Witze uns gefallen. Wie Sigmund Freud schon feststellte, hat
der Witz eine Beziehung zum Unterbewussten.
Die Wertung über einen Witz widerspiegelt das
Momentum unserer Seele und ist daher ein tief-
gründiger Teil unserer selbst. Ein Witz ist also
gleichzeitig etwas Besonders und etwas Banales.
Diese Erkenntnis ist so paradox, dass sie nur
folgende Schlussfolgerung zulässt:
«Der Witz ist nicht das ganze Leben – aber das
ganze Leben ist ein Witz.»
Der Autor
Alain Neumann, Mensch und Taglöhner
Nach diversen Studien in den Bereichen BWL, Psychologie,
Philosophie und angewandter Wirtschaftsinformatik besetzte
er verschiedene leitende Funktionen im Dienstleistungssektor und in der Industrie, zuletzt im Konzernmanagement,
einer der grössten europäischen Getränkegruppen, mit
Standort Deutschland. Seit 1996 freier Consultant mit den
Schwerpunkten Strategieprozesse, Konfliktmanagement
und Kundenerhaltungsmassnahmen. Seine Freunde sagen
über ihn: «Oft verletzend direkt, immer blitzgescheit und
verblüffend einfach in seinen Lösungen.» Alain Neumann
bezeichnet sich selbst als Menschen und Taglöhner.
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