Mittelweg 36 - Sasha Roseneil - Neue Freundschaftspraktiken
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Mittelweg 36 - Sasha Roseneil - Neue Freundschaftspraktiken
haupt_doku_3_08_final:musterdokument neues layout 29.05.2008 21:40 Uhr Seite 55 Sasha Roseneil Neue Freundschaftspraktiken Fürsorge und Sorge um sich im Zeitalter der Individualisierung Dieser Aufsatz greift auf Ergebnisse zurück, die für das britische Forschungsprogramm The ESRC Research Group for the Study of Care, Values and the Future of Welfare erarbeitet wurden.1 In diesem Programm ging es uns darum, Veränderungen der Praxis und der normativen Einstellungen im Bereich der Fürsorge 2 zu untersuchen. Den Hintergrund der Fragestellung bildeten die jüngsten Debatten über die Individualisierung und die mit ihr verbundenen langfristigen Entwicklungen in den Geschlechterbeziehungen und Mustern der Familienbildung. Die vorliegenden Ausführungen basieren auf dem Friendship and Non-Conventional Partnership Project. Dieses Teilprojekt des Forschungsprogramms war darauf angelegt, auch die psychischen und affektiven Dimensionen der Fürsorge sowie unkonventionelle, antiheteronormative Fürsorgepraktiken zu erforschen, die von der Soziologie bislang weitgehend ausgeblendet worden sind. Der theoretische Rahmen des Projekts wurde in der Auseinandersetzung mit soziologischen Theorien der Individualisierung und mit psychoanalytisch informierten psychosozialen Studien gewonnen. Auf der Grundlage einer psychoanalytischen Ontologie untersuchte das Projekt in einer psychosozial ausgerichteten qualitativen Längsschnittstudie Menschen, die als »besonders individualisiert« gelten können, weil sie nicht in ehelichen Paarbeziehungen zusammenleben. Individualisierung Mittelweg 36 3/2008 Das Projekt fragte nach den Erfahrungen, Praktiken und Wertorientierungen des persönlichen Lebens unter den Bedingungen eines sozialen Wandels, wie er mit dem Begriff der Individualisierung beschrieben worden ist. Für Ulrich Beck (1986; Beck, Giddens und Lash 1996; Beck und Beck-Gernsheim 1990, 2002; Beck, Bonß und Lau 2003) ist Individualisierung als ein komplexer Prozess gesellschaftlicher Veränderungen zu verstehen, der Menschen gegenüber dem Sozialstaat und dem Markt in zunehmendem Maße zu Individuen macht. Für Beck ist dieser 1 Vgl. www.leeds.ac.uk/cava. 2 A.d.Ü.: Der englische Begriff care dient zur Bezeichnung eines ganzen Bündels von »Haushalts-, Erziehungs-, Betreuungs- und Pflegetätigkeiten« (Gerhard, Knijn und Weckwert 2003, S. 12) und wird im Folgenden mit Fürsorge, der Begriff self-care mit Selbstfürsorge wiedergegeben. 55 Thema haupt_doku_3_08_final:musterdokument neues layout 29.05.2008 21:40 Uhr Seite 56 Prozess grundlegend mit dem Wandel der Geschlechterverhältnisse verbunden, vor allem mit der größeren wirtschaftlichen Unabhängigkeit und sozialen Autonomie von Frauen, und findet seinen Ausdruck im Niedergang des Geschlechterrollenmodells ›männlicher Ernährer und Hausfrau‹ seit den 1960er Jahren. Weil mich interessierte, in welche Richtung sich die Gesellschaft entwickelt, konzentrierte ich mich auf die vorderste Front der gegenwärtigen Veränderungen. Ich beschloss daher, jenen Personenkreis zu untersuchen, den man als am stärksten individualisiert betrachten könnte. Operativ verstand ich darunter die Menschen, die sich am weitesten von dem »Männlicher Ernährer und Hausfrau«-Modell entfernt haben – die also nicht in irgendeiner Form von ehelicher Paarbeziehung zusammenleben. Menschen, die ohne Partner leben, machen einen wachsenden Anteil der Bevölkerung aus (Roseneil 2006a): 1979 lebten 19 Prozent der Einwohner des Vereinigten Königreichs 3 nicht mit einem Partner zusammen, 2006 waren es bereits 29 Prozent. 1971 lebte in 29 Prozent aller Haushalte kein (heterosexuelles) Paar, 2006 in 41 Prozent aller Haushalte (Social Trends 2007).4 Während mittlerweile zahlreiche Studien darüber vorliegen, wie sich Familien gründen, auflösen und wieder neu gründen – Studien, die ein Schlaglicht auf die soziologischen Theorien der Individualisierung werfen –, sind Untersuchungen über Personen, die außerhalb konventioneller Paarbeziehungen leben, äußerst selten. Genau dies tun aber immer mehr Menschen für einen immer längeren Zeitraum ihres Lebens. Psychoanalytisch informierte psychosoziale Studien Mittelweg 36 3/2008 Von einigen bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen, hat vor allem die nichtdeutsche Soziologie den Bereich des Psychischen ausgeklammert oder sich diesbezüglich sogar explizit für unzuständig erklärt. Besonders frappierend ist dies, wenn Soziologen Intimität und persönliche Beziehungen untersuchen, wo starke Gefühle und das, was Nancy Chodorow (2001) »persönliche Bedeutung« nennt, eine so wichtige Dimension des Erlebens ausmachen. Die in der soziologischen Literatur zur Intimität vorherrschende sozialkonstruktivistische Ontologie geht davon aus, dass sowohl Emotionen als auch Bedeutungen sozial konstruiert werden, und beschränkt sich auf das Gefühlsleben, wie es sich der rationalen Erkenntnis darstellt (Craib 1995). Diese Ontologie setzt implizit die Existenz eines rationalen, einheitlichen Subjekts der Intimität voraus 3 Die Angaben beziehen sich auf alle Einwohner, nicht bloß auf Erwachsene. 4 Diese Zahlen sind Summen aus Statistiken von Einpersonen-Haushalten, Haushalten mit zwei oder mehr Erwachsenen, die keine Beziehung miteinander haben, und AlleinerziehendenHaushalten. 56 Thema haupt_doku_3_08_final:musterdokument neues layout 29.05.2008 21:40 Uhr Seite 57 und blendet sowohl die inneren Konflikte wie auch die innere Welt des Subjekts sowie deren Einfluss auf enge Beziehungen weitgehend aus. Im Gegensatz dazu betont die psychoanalytisch informierte psychosoziale Ontologie, die unserem Projekt zugrunde lag, die Relevanz, die sowohl der psychischen als auch der sozialen Dimension des Intimlebens zukommt. Beide müssen in ihrer wechselseitigen Bedingtheit und grundlegenden Verflechtung in den Blick genommen werden. Dieser Konzeption zufolge ist das persönliche Leben einerseits sozial strukturiert und konstruiert. Folglich tritt es in historisch und transkulturell vielfältiger Gestalt auf, was ja auch den Grundannahmen der Soziologie entspricht. Andererseits wird das persönliche Leben von den Individuen als etwas »Innerliches«, ihnen und ihren besonderen Beziehungen Eigentümliches erfahren, das ein Eigenleben zu haben scheint und sich vernünftiger Kontrolle oft entzieht (Craib 1995). Im Geist der psychoanalytischen Tradition galt die Aufmerksamkeit des Projekts den psychischen Konflikten sowie den Widersprüchen, Ambivalenzen und emotionalen Dimensionen des persönlichen Lebens. Inspiriert wurde diese Herangehensweise von einem kleinen, aber wachsenden Korpus psychoanalytisch orientierter sozialwissenschaftlicher Arbeiten, die ich als psychosoziale Studien bezeichnen möchte. Für diese Arbeiten, die die Grenzen zwischen Soziologie und Psychologie unterlaufen, ist die Funktionsweise der Psyche vom sozialhistorischen Kontext durchdrungen.5 In der ontologischen Perspektive, auf der mein Ansatz beruht, sind intime Subjekte nichteinheitliche und emotionale Subjekte, die sich selbst schützen und nicht über transparente Interpretationen, Bedeutungen und Selbstbilder gebieten; das dabei in Anschlag gebrachte Modell der Psyche versteht diese als grundlegend relational (Mitchell und Aron 1999; Mitchell 2003). Zur Methodik Mittelweg 36 3/2008 Basierend auf Hollways und Jeffersons (2000) freiassoziativer narrativer Interviewmethode wurden in der ersten Phase des Projekts narrative Tiefeninterviews von eineinhalb bis zweieinhalb Stunden Länge mit 51 Personen 6 im Alter von 25 bis 60 Jahren durchgeführt. Rund 18 bis 24 Monate später wurden mit 24 Teilnehmern aus dieser Stichprobe erneut narrativ ausgerichtete Tiefeninterviews geführt, dank deren die Untersuchung eine Längsschnittdimension bekam und ihren Fokus ex5 So etwa Craib (1994), Hollway und Jefferson (2000), Chodorow (2001), Froggett (2002), Hoggett (2000), Rustin (1991), Bjerrum Nielsen (2003), Hollway (2004) sowie Walkerdine, Lucey und Melody (2001). 6 In früheren Veröffentlichungen war von 53 Probanden die Rede, doch hat die weitere Analyse der Daten zum Ausschluss zweier Interviews geführt, da Geburtsdatum und Wohnort falsch erfasst worden waren und in Wirklichkeit nicht den Stichprobenkriterien entsprachen. 57 Thema haupt_doku_3_08_final:musterdokument neues layout 29.05.2008 21:40 Uhr Seite 58 plizit von Praktiken der Fürsorge auf die Selbstfürsorge ausweitete.7 Die Auswahl der Befragten zielte auf die größtmögliche Bandbreite von Lebensaltern und Berufen in drei ausgesuchten nordenglischen Ortschaften;8 befragt wurden Männer und Frauen, Eltern und Kinderlose, weiße und afrokaribische Bewohner, Heterosexuelle, Lesbierinnen und Homosexuelle, Singles und getrennt lebende Menschen mit sexuellen und/oder Liebespartnern sowie Alleinlebende und WG-Bewohner (nähere Ausführungen zur Methodik finden sich in Roseneil und Budgeon 2004; Roseneil 2007). Neue Formen der Selbstfürsorge Mittelweg 36 3/2008 Die Sozialtheoretiker Ulrich Beck (1986) und Elisabeth BeckGernsheim (1990; 2002), Anthony Giddens (1991; 1993) und Axel Honneth (2002) sind übereinstimmend der Ansicht, dass die Individualisierungsschübe der letzten Jahrzehnte mit der Entstehung eines neuen Regimes des Selbst einhergingen, das sich durch größere Fähigkeiten zur Selbstreflexion auszeichnet.9 Dieses neue Regime – die Folge einer Reihe miteinander verbundener materieller, sozialer und kultureller Entwicklungen – bietet nach Meinung der Autoren größere Autonomiepotenziale, weil die Möglichkeiten individueller Selbsterforschung und Selbstreflexion ebenso wie Zeit, Raum und Mittel für experimentelle Selbstverhältnisse zugenommen haben und die Bindungen durch traditionelle kollektive Zugehörigkeiten schwächer geworden sind. In einem unsicheren posttraditionalen Umfeld ermutigt, drängt, ja zwingt dieses Regime die Individuen gelegentlich sogar, autotelisch zu werden und »sich um ihrer Zukunftschancen willen zum Zentrum ihrer eige7 Die Interviews der ersten Runde wurden überwiegend von Shelley Budgeon und zu einem kleinen Teil von der Verfasserin, die Interviews der zweiten Runde durchweg von der Verfasserin geführt. 8 Unter Rückgriff auf Duncans und Smiths (2002) Kartierung der Geographie von Familiengründungen im Vereinigten Königreich auf Grundlage der Volkszählung von 1991 wurden für das Projekt Interviewpartner aus drei Orten ausgewählt, die sich durch eine große Vielfalt von Haushalts- und Familienformen sowie Geschlechter- und Familienkulturen auszeichnen. Die – allesamt im nordenglischen Yorkshire gelegenen – Orte waren: die Innenstadt von Leeds: ein multi-ethnisches Stadtgebiet, das durch eine Mannigfaltigkeit an Geschlechter- und Familienpraktiken, einen überdurchschnittlichen Anteil von erwerbstätigen Frauen und eine große Zahl von Einpersonen- und paarlosen Haushalten geprägt ist; Barnsley: eine entindustrialisierte ehemalige Kohlebergbaustadt mit konventionelleren Geschlechter- und Familienverhältnissen und eher traditionellen Haushaltsformen; und schließlich Hebden Bridge: eine Kleinstadt mit einer alternativen Mittelschicht, in der »entspannte« Lebensstile und sexueller Nonkonformismus weit verbreitet sind und es einen nicht unerheblichen lesbischen Bevölkerungsanteil gibt. 9 Hier bestehen Anklänge an Foucaults (1989) Erörterung der Intensivierung von Selbstverhältnissen und zu Roses (1990) Analyse der Praktiken der »Seelenherrschaft«, wenngleich Beck, Beck-Gernsheim, Giddens und Honneth im Unterschied zu Foucault und Rose stärker an Handlungsfähigkeit interessiert sind als an Subjektivierungsprozessen. 58 Thema haupt_doku_3_08_final:musterdokument neues layout 29.05.2008 21:40 Uhr Seite 59 Mittelweg 36 3/2008 nen Lebensplanungen und Lebensführung zu machen« (Honneth 2002, S. 148). Und auf gesellschaftlicher Ebene entsteht eine »Kultur des eigenen Lebens« oder »Selbstkultur«, in der sich auf sich selbst bezogene Individuen »an-, mit- oder gegeneinander . . . (ver-)binden oder fesseln« (Beck und Beck-Gernsheim 2002, S. 42). Diese Vorstellungen werden vor allem aus zwei Richtungen kritisiert. Vor dem Hintergrund traditioneller soziologischer Forschungen zu Geschlecht, Familie und Fürsorge sowie den ausgehandelten Pflichten zwischen Familienmitgliedern (Finch und Groves 1983; Finch 1989; Finch und Mason 1993) legt eine Gruppe von Kritikern ihr Hauptaugenmerk auf Praktiken der Fürsorge und gegenseitigen Abhängigkeit und die damit verbundene Geschlechterpolitik, in der, wie es heißt, wesentlich mehr Kontinuität herrscht, als die Individualisierungstheoretiker wahrhaben wollen.10 So gab Lynn Jamieson (1998) den Ton für zahlreiche spätere Kritiker an, als sie umfangreiche empirische Belege für das Beharrungsvermögen ungleicher Geschlechterverhältnisse in heterosexuellen Beziehungen und Familien sowie für die ungeschmälerte Macht der leitenden Vorstellungen von Familie erbrachte. Für die Autorin sprechen diese Befunde gegen die Behauptung eines radikalen Wandels im Bereich der Intimität. Auch Jane Ribbens McCarthy, Ros Edwards und Val Gillies (2003) beurteilen die Betonung individuellen Glücks, »kreativer und pluralistischer Lebensstil-Optionen« sowie kontingenter und selbstgewählter Beziehungen, die sich bei Beck und Giddens findet, äußerst kritisch. Sie machen darauf aufmerksam, dass solche Praktiken vor allem (heterosexuellen) Frauen (mit Kindern), die von der tagtäglichen familiären Fürsorge für andere absorbiert werden, gar nicht zur Verfügung stehen. Ein weiterer Kritikpunkt ist die Überbewertung des Verlangens nach Autonomie und Kreativität, dem das Eingebettetsein in Beziehungen entgegengehalten wird. Wendy Botteros und Sarah Irwins (2003) Analyse der jüngsten gesellschaftlichen Entwicklungen kommt zu dem Ergebnis, dass »wir einer Neupositionierung von Männern und Frauen im sozialen Raum beiwohnen: Beide sind im Rahmen der gesellschaftlichen Reproduktion nach wie vor voneinander abhängig und nicht individualisiert« (2003, S. 479). Ute Gerhard (2003) verweist auf den ökonomischen Determinismus von Becks Analyse, die die Individualisierung von Frauen als grundlegend marktgesteuert und als Anpassung an die Biographie des männlichen Arbeitnehmers versteht. So entgehen dieser Analyse ihrer Meinung nach »die Orientierungen, Werthaltungen und die soziale Praxis von Frauen, insbesondere erwerbstäti10 Vgl. etwa Jamieson (1998), Duncan und Edwards (1999), Langford (1999), Silva und Smart (1999), Smart und Neale (1999), Smart (2000), Ribbens McCarthy und Edwards (2002); Ribbens McCarthy, Edwards und Gillies (2003). 59 Thema Mittelweg 36 3/2008 haupt_doku_3_08_final:musterdokument neues layout 29.05.2008 21:40 Uhr Seite 60 gen Müttern« (2003, S. 61), die sich sowohl am Markt als auch an der Familie orientierten. Alan Warde (2000) und Mike Savage (2000) setzen sich mit der Individualisierungstheorie unter klassenanalytischen Vorzeichen auseinander. Sie zweifeln nicht an der kulturellen Aufwertung des Ideals individueller Autonomie und projektförmiger Selbstverwirklichung, machen allerdings darauf aufmerksam, dass die weniger Privilegierten von solchen Praktiken ausgeschlossen sind. Beverley Skeggs (2003) greift diese Diskussion auf und kritisiert die Politik der Individualisierungstheorie. Sie stellt einen Zusammenhang zwischen »der neuen Betonung eigener Handlungsfähigkeit« durch Beck und Giddens (2003, S. 76) und der »Verbrauchermarkt-Rhetorik« des Thatcherismus her (ebd., S. 55–57) und wirft beiden Theoretikern vor, sich zum Sprachrohr eines normativ »nicht nur als verpflichtend, sondern als unausweichlich und universell« überhöhten Individualismus zu machen (ebd., S. 61). Skeggs hält dagegen, dass »auszuwählen« eine für die Mittelschicht typische Art und Weise ist, sich zur Welt zu verhalten, und dass das reflexive Selbst »höchst klassenspezifisch« ist, »insofern die Mittel und Techniken zur Selbst-Bildung und Selbst-Erzählung nicht gleichmäßig verteilt sind« (ebd., S. 134). Für Skeggs machen sich die Individualisierungstheoretiker einer Projektion ihres eigenen Mittelschichthintergrunds als »mobile, reflexive Individuen« und der Blindheit gegenüber nach wie vor bestehenden Klassenunterschieden schuldig. Auf ähnliche Weise stellt Valerie Hey (2005) die Kategorien Geschlecht und Klasse in den Vordergrund ihrer Kritik an den maskulinistischen Vorannahmen der Individualisierungstheorie. Sie weist darauf hin, dass Frauen aus der Arbeiterschicht gar nicht in der Weise wie das unterstellte Subjekt der Individualisierungstheorie davon ausgehen, Anspruch auf ein Selbst zu haben. Der Unmut der Kritiker angesichts der Verallgemeinerungstendenzen, die bei den Theoretikern des Wandels der Intimität und der Individualisierung auffallen, ist wohlbegründet. Valerie Hey hat zweifellos recht, wenn sie geltend macht, dass »sich die Koordinaten eines Lebens unter den Vorzeichen der Individualisierung für Männer und Frauen materiell unterscheiden und wesentlich durch die Faktoren Ort, Klasse, Sexualität, Ethnizität und Alter beeinflusst werden« (2005, S. 858). All diese Faktoren gilt es zu untersuchen, zumal die Theoretiker der Individualisierung empirisch wenig Stichhaltiges für ihre Behauptungen anzubieten haben. Es wäre meiner Ansicht nach jedoch ein Fehler, wollte man den Kritikern zugestehen, die Individualisierungsthese grundlegend erschüttert zu haben. Diese These ausgehend von den Arbeiten Jamiesons sowie McCarthys, Edwards und Gillies zu verwerfen, hieße, implizit die Erfahrungen derer zu privilegieren, die in einer hetero-relationalen Fürsorgepraxis befangen sind. Aus Queer Theory-Perspektive besteht nämlich die 60 Thema Mittelweg 36 3/2008 haupt_doku_3_08_final:musterdokument neues layout 29.05.2008 21:40 Uhr Seite 61 Gefahr, dass man die Kontinuitäten eines begrenzten heteronormativen Gesellschaftsbilds zum Ausgangspunkt nimmt, um eine Theorie des sozialen Wandels zu verwerfen, die sehr wohl nach einer Forschungsperspektive jenseits des »Business as usual« in heterosexuellen Beziehungen und Familien verlangt. Den radikalen Veränderungen im Bereich der Existenzformen und persönlichen Beziehungen, auf die der Begriff der Individualisierung verweist, würde man so nicht gerecht. Aus psychosozialer Perspektive wiederum sind die Argumente von Warde, Savage, Skeggs und Hey nicht unproblematisch, scheinen sie doch zu implizieren, dass Individualität, Innerlichkeit und die Sphäre des Psychischen der Mittelschicht vorbehalten sind, dass nur die Privilegierten die Zeit und die Neigung haben, sich selbst zu entdecken, über sich selbst nachzudenken und ihren psychischen Bedürfnissen gerecht zu werden. Weil sie auf einer psychoanalytischen Ontologie beruhten und sich einer psychosozialen Methode bedienten, erlaubten es meine Untersuchungen, die psychischen Dimensionen des zeitgenössischen persönlichen Lebens zu erforschen. Der offene, narrative Charakter der Interviewfragen und ihre Ausrichtung auf Erfahrungen des Sorgens und des Umsorgtwerdens lösten bei Befragten aus allen drei Orten mit höchst unterschiedlichen sozioökonomischen Hintergründen eine Vielzahl von Erzählungen aus. Psychische Konflikte bildeten ein durchgängiges Thema in diesen Berichten, in denen von seelischen Belastungen, Melancholie, Depressionen, psychischen Zusammenbrüchen und Erkrankungen die Rede war. Ob dies den Befragten bewusst war oder erst durch eine psychosozial orientierte, frei assoziierende Analyse des ganzen Interviews zutage gefördert wurde, schienen viele dieser Erfahrungen jedenfalls mit dem Ende einer Intimbeziehung in Zusammenhang zu stehen – häufig vor dem Hintergrund einer oder mehrerer zerbrochener Beziehungen in der Vergangenheit und/oder anderer sozialer Veränderungen wie häufigen Umziehens, Entlassung und Arbeitslosigkeit, starkem Stress oder Konflikten am Arbeitsplatz, Phänomenen also, die als typisch für die Spätmoderne und ihren gegenwärtigen »flexiblen« neoliberalen, leistungsorientierten Arbeitsmarkt gelten können.11 Insofern handelt es sich um Erzählungen, die von intensiver »Individualisierung« berichten und in denen die Probanden darüber sprechen, wie sie sich selbst als Individuen erleben, die auf sich gestellt sind und von denen erwartet wird, dass sie für sich selbst verantwortlich sind. Das Selbst findet sich in diesen Schilderungen stets in Konflikte verstrickt, es wird – mal in Bezug auf die Vergangenheit, mal hinsichtlich einer Zukunftsvorstellung – als gebrochen und erschüttert erfahren. Dass es intakt ist und funktioniert, kann offenbar nicht mehr vorausgesetzt werden, weshalb es sich als 11 Ein detailliertes Beispiel einer solchen Analyse bietet Roseneil (2006b). 61 Thema Mittelweg 36 3/2008 haupt_doku_3_08_final:musterdokument neues layout 29.05.2008 21:41 Uhr Seite 62 Thema der Selbstreflexion aufdrängt. Doch gehörten diese Erfahrungen mit dem Selbst stets in Kontexte, die auf andere bezogen waren. Es war in den von uns aufgezeichneten Berichten ein schmerzhaftes, mitunter unerträgliches Erlebnis, mit dem eigenen Selbst allein zu sein, wobei die desintegrierte, veränderliche, oftmals sehr mobile soziale Welt – von Familie, Freunden, Arbeit – keinen bergenden Halt bieten konnte (Bion 1962, 2006; Rustin 1991; Craib 1994). Sie ließ das Selbst ungeschützt und unsicher zurück. All diese Erzählungen künden letztlich von der elementaren Verflechtung des Psychischen und des Sozialen. Für viele der Befragten war es die Erfahrung eines solchen mehr oder weniger ausgeprägten Brüchigwerdens des Selbst, die sie dazu brachte, sich in Honneths Worten »um ihrer Zukunftschancen willen zum Zentrum ihrer eigenen Lebensplanungen und Lebensführung zu machen« (Honneth 2002, S. 148); sie entwickelten Praktiken der Selbstfürsorge und Beziehungsformen, die, ob zufällig oder gewollt, dazu dienten, die Wunden des Selbst zu heilen. Sie eroberten sich die nötigen Freiräume für eine Fülle auf sich selbst bezogener Aktivitäten, die ihrer Stimmung aufhelfen sollten – Spaziergänge im Grünen, joggen, tanzen, Besuch von Fitnessstudios, Musik hören, singen, ein Instrument spielen, sich mit Freunden treffen, sich mit einem Hund oder einer Katze beschäftigen, meditieren, im Haus herumwerkeln, ins Schwimmbad gehen, Beratung oder Psychotherapie in Anspruch nehmen, eine Abendschule besuchen, lesen, nähen oder einfach nur alleine sein. Viele dieser Aktivitäten schienen psychische Probleme auf somatischem Wege anzugehen; den Körper in Bewegung zu setzen hieß, seelische Zustände, die willentlich nicht in den Griff zu kriegen waren, auf eine andere Ebene zu verlagern. Bei anderen Praktiken ging es darum, seine Beziehungen grundsätzlich neu zu gestalten – aus sich herauszugehen und gesellig zu sein oder sich von totaler Vernetzung oder negativen Beziehungen zu befreien. Die Aufmerksamkeit für sich selbst war nicht der Luxus einiger weniger Privilegierter – wie immer es um die sozioökonomische Position und den Hintergrund des oder der Befragten bestellt sein mochte – und hatte auch nichts damit zu tun, sich gehenzulassen; vielmehr wurde sie für das psychische Wohlbefinden, bzw. in Ermangelung desselben, mitunter auch für das schiere psychische Überleben notwendig. Einige der Probanden wurden durch ihr vertrautes soziales Milieu kulturell unterstützt und zu Praktiken der Selbstfürsorge ermutigt – sie verfügten über ein Umfeld, in dem Selbstverwirklichung als ein wichtiger Bestandteil des Lebens gilt. Anderen hingegen fehlte ein solcher Beistand, und sie kämpften mit einem starken Gefühl von persönlichem Versagen und individueller Schwäche gegen ihr eigenes Bedürfnis nach Unterstützung an. Auf der Grundlage dieser Forschungsergebnisse behaupte ich nun, dass weder die Individualisierungstheoretiker noch ihre Kritiker die Be62 Thema Mittelweg 36 3/2008 haupt_doku_3_08_final:musterdokument neues layout 29.05.2008 21:41 Uhr Seite 63 deutung solcher Praktiken der Selbstreparatur erfassen. Solche Praktiken werden nicht einfach »gewählt«, wie es die Individualisierungstheorie häufig nahelegt, wenn sie die Ausweitung von Wahlmöglichkeiten und den schwindenden Halt durch Traditionen konstatiert. Während ich einer solchen Analyse im Großen und Ganzen zustimme, was die allgemeine Tendenz der gesellschaftlichen Entwicklung betrifft, reicht dieser Ansatz nicht aus, um das persönliche Leben unter den Bedingungen der Gegenwart zu verstehen, weil er der Realität – des »Halts« – der psychischen Prozesse nicht gerecht wird. Die auf das eigene Selbst bezogenen Praktiken, die in unseren Untersuchungen zutage traten, lassen sich als Folge eines Ringens mit seelischen Nöten, Enttäuschungen, psychischem Leid und psychischenVerlusten begreifen.Zwar spielen sich diese Praktiken im Kontext einer zunehmenden kulturellen Orientierung an Autonomie und Selbstverwirklichung ab, doch lassen sie sich nicht allein so verstehen, als ginge es bei ihnen um die Förderung und Ausübung dieser »Tugenden«. Und obwohl es zahlreiche Fälle gab, in denen die von uns Befragten ihr persönliches Leben zum Gegenstand ihres Nachdenkens machten, wurden auch die Grenzen dieser Art von Selbstreflexion sichtbar. Seelische Konflikte und Nöte waren durch das reflexive Sich-selbst-Zureden im Rahmen einer rationalen inneren Konversation nicht umstandslos zu beseitigen. Oftmals wurden geistige Zustände durch somatische oder relationale Praktiken in wirksamerWeise auf eine andere Ebene verlagert,nachdem der Versuch einer kognitiven Neuorientierung fehlgeschlagen war. Insofern die Kritik an der Individualisierungstheorie auf den Vorwurf mangelnder Berücksichtigung von Relationalität hinausläuft, schließe ich mich ihr an. Vieles von dem, was ich soeben als Beispiele für die Erzeugung eines individualisierenden Selbstgefühls diskutiert habe, spielt sich vor dem Hintergrund problematischer Muster des Bezogenseins auf andere ab, kurz gesagt: vor dem Hintergrund scheiternder Intimbeziehungen. Doch verkennen die genannten Kritiker ihrerseits die hochgradig individualisierende Dimension psychischer Not. In der Einsamkeit, die mit dieser Not einhergeht, gewinnen die Grenzen zwischen dem Selbst und dem anderen, Fragen von Autonomie und Bindung und die Kohärenz des Ich überragende Bedeutung. Wir müssen daher sowohl dem Leiden, das den Ergebnissen unserer Forschungen zufolge integraler Bestandteil der zeitgenössischen Individualisierungsprozesse ist, als auch den kreativen Weisen, wie die Menschen mit ihm umzugehen versuchen, mehr Aufmerksamkeit schenken. Honneth als derjenige unter den Individualisierungstheoretikern, der dem Psychischen wirkliche Bedeutung zuerkennt, stellt fest, dass das Ideal der Selbstverwirklichung zunehmend zu einem Zwang geworden ist und »Formen des sozialen Leidens« hervorruft, »die in gewisser Weise ohne Vorläufer in der Geschichte der kapitalistischen Gesellschaften sind«, Formen des 63 Thema haupt_doku_3_08_final:musterdokument neues layout 29.05.2008 21:41 Uhr Seite 64 sozialen Leidens, die »sich im Bereich der psychischen Erkrankung abspielen« (Honneth 2002, S. 155). Er zitiert in diesem Zusammenhang die Studie von Ehrenberg (2004), die einen rapiden Anstieg von Depressionen konstatiert und damit begründet, dass die Individuen durch die Forderung, sie selbst sein zu müssen, psychisch überlastet sind. Gleichwohl geht selbst Honneth, der die psychischen Folgen gesellschaftlicher Individualisierungsprozesse doch sieht, nicht weiter auf die intersubjektiven, relationalen Dynamiken und deren Verlust ein, der bei meinen Interviewpartnern große seelische Nöte hervorzurufen schien. Mittelweg 36 3/2008 Neue Praktiken der Fürsorge und der Freundschaft Bei unseren Interviewpartnern gab es darüber hinaus jedoch auch deutliche Hinweise auf eine Reihe miteinander verbundener Praktiken, die zur Wiederherstellung, zur Wundheilung eines durch Individualisierungsprozesse beschädigten Selbst dienten. Diese Praktiken lassen sich als antiheteronormativ verstehen, insofern sie das vorherrschende heterosexuelle Modell persönlicher Beziehungen mit seiner normativen Privilegierung zusammenlebender Ehepaare in Frage stellten. Bei diesen Praktiken handelt es sich um die Aufwertung von Freundschaft, die Dezentrierung von sexuellen und/oder Liebesbeziehungen und die Ausbildung nichtkonventioneller Partnerschaften. An anderer Stelle habe ich diese Praktiken detaillierter erörtert (Roseneil und Budgeon 2004; Roseneil 2007); hier möchte ich ihre wichtigsten Züge nur kurz umreißen. Quer durch unsere Auswahl legten Männer und Frauen aus allen drei Orten und mit einer ganzen Bandbreite unterschiedlicher Lebensalter, Lebensstile, Berufe und sexueller Orientierungen großen Wert auf ihre Freunde und Freundschaften. Die Bedeutung und die Notwendigkeit von Freundschaften in einer sich verändernden und unsicheren Welt war ein immer wiederkehrendes Thema in den Interviews. Häufiger als Eltern oder Geschwister befanden sich Freunde im Mittelpunkt der Beziehungslandkarten, die die Probanden entwarfen. Dabei gab es in der Betonung der Wichtigkeit von Freunden kaum einen Unterschied zwischen Befragten in Paarbeziehungen und Singles. Von ihren Freunden bekamen die Interviewten die meiste emotionale Fürsorge und Unterstützung, zumal wenn sexuelle und/oder Liebesbeziehungen in die Brüche gingen, aber auch einen erheblichen Teil der praktischen Hilfe und Unterstützung im Alltag. Im persönlichen Umfeld der meisten Befragten fanden sich sowohl langjährige Freundschaften als auch solche jüngeren Datums sowie eine Reihe engerer und weniger enger Freunde. Viele verfügten über eine Wahlgemeinschaft, eine Gruppe von Freunden in der Nachbarschaft, wobei einige aktiv darauf hingewirkt hatten, eine solche Gemeinschaft aufzubauen, indem sie entweder in die 64 Thema haupt_doku_3_08_final:musterdokument neues layout 29.05.2008 21:41 Uhr Seite 65 Mittelweg 36 3/2008 Nähe von Freunden gezogen waren oder diese ermuntert hatten, in ihre Nähe zu ziehen. Diese Netze von Freunden im Nahbereich pflegten ihre Geselligkeit und unterstützten sich gegenseitig, zum Beispiel in der Kinderbetreuung. Der physische Raum der Wohnung, der seit dem Siegeszug des Modells der Kameradschaftsehe kulturell mit dem Ehepaar und der Kernfamilie assoziiert ist, büßte an Privatheit ein und stand vielmehr den Besuchen von Freunden offen, die einfach zusammen »abhängen« wollten, vor allem in Zeiten persönlicher Krisen manchmal aber auch über längere Zeit dablieben. Eine Reihe der Befragten betrachtete ehemalige Geliebte/Partner/Ehepartner als enge Freunde; die Kategorien Freund und Geliebte(r) waren auffällig durchlässig füreinander. Parallel zu der Bedeutung, die Freundschaften zugeschrieben wurde, zeichnete sich in den Erzählungen eine Dezentrierung von sexuellen und/oder Liebesbeziehungen ab. Sowohl die Befragten in Paarbeziehungen als auch die Singles neigten eindeutig dazu, die Bedeutung der Paarbeziehung herunterzuspielen. Obwohl nahezu alle, die sich in einer Beziehung befanden, ihren Partner im Zentrum ihrer Beziehungslandkarte ansiedelten, tat dies nur ein Proband unter Ausschluss aller anderen ihm nahestehenden Personen. Die anderen Befragten wiesen ihre Freunde oder eine Kombination von Freunden, Partner, Kindern und Familienmitgliedern als wichtigste Menschen in ihrem Leben aus. Das heißt, dass nur sehr wenige Personen ihre sexuelle und/oder Liebesbeziehung als exklusive Sphäre von Intimität in ihrem Leben verstanden; für viele war sie nicht einmal die vorrangige Sphäre der Intimität. Diese Dezentrierung der sexuellen und/oder Liebesbeziehung führten viele Befragte in ihrer Selbstreflexion auf die Erfahrung einer Scheidung oder das Ende einer langjährigen nichtehelichen Lebensgemeinschaft zurück; der Schmerz und die Zerrüttung, die damit einhergingen, wurden als Auslöser für eine Neuorientierung des Beziehungslebens betrachtet – als Auslöser dafür, sexuelle und/oder Liebesbeziehungen herunterzuspielen und Freundschaften entsprechend aufzuwerten. Folglich war das heteronormative Modell der Kameradschaftsehe, das für die sexuelle und/oder Liebesbeziehung (auch ohne Trauschein) das Zusammenleben vorsieht und diese Beziehung als die primäre (wenn nicht ausschließliche) Sphäre von Intimität definiert – ein Ideal, das man wenigstens anzustreben hat –, überwiegend nicht die Praxis der im Rahmen des Projekts Befragten.12 Nur sehr vereinzelt wurde die bewusste Sehnsucht ausgedrückt, Teil eines solchen konventionellen zusammenlebenden Paars oder einer solchen Familie zu sein. Indem sie sich der vorherrschenden heteronormativen Beziehungsteleologie verweigerten, die 12 Zum Aufstieg der »Kameradschaftsehe« als bestimmendes Ideal in der Nachkriegsepoche vgl. Finch und Mansfield (1991). 65 Thema Mittelweg 36 3/2008 haupt_doku_3_08_final:musterdokument neues layout 29.05.2008 21:41 Uhr Seite 66 verlangt, das eine Beziehung »irgendwohin führen« muss – wobei mit diesem Irgendwohin eine gemeinsame Wohnung und eine langfristige Verpflichtung gemeint sind –, sahen die Befragten den Sinn von sexuellen und/oder Liebesbeziehungen vielmehr darin, beiden Partnern im Hier und Jetzt Genuss zu bereiten. Für viele, wenn auch nicht für alle der Befragten ging eine solche Beziehung mit einem gehörigen Maß an bewusster Reflexion, mit Diskussionen und Kompromissen einher (Roseneil 2006a). Viele dieser Beziehungen waren nicht an romantischen Idealvorstellungen ausgerichtet und durch eine klare Trennung der sexuellen von der romantischen Ebene gekennzeichnet, wobei eine kleinere Zahl heterosexueller Beziehungen eindeutige Parallelen zu den »reinen Fickbeziehungen« etlicher der von uns befragten schwulen Männer aufwiesen. Aus sozialgeschichtlicher Perspektive könnte man diese antiheteronormativen Beziehungspraktiken als Ausfluss der Diskurse über permissive Sexualität und der sexuellen Befreiung der vergangenen vierzig Jahre (Seidman 1991, 1992) sowie als Folge jener Prozesse verstehen, in denen die Pluralisierung der Selbstwahrnehmung des eigenen sozialen Geschlechts, sexuelle Neuorientierungen und die Individualisierung (einige) Männer und Frauen von den Zwängen der hetero-relationalen Familienpraktiken der Moderne befreit haben (Roseneil 2000, 2002). Die sexuellen und/oder Liebesbeziehungen vieler unserer Probanden ließen sich auch als Beispiele dessen ansehen, was Giddens (1993) mit den Begriffen der »reinen Beziehung« und der »plastischen Sexualität« bezeichnet. Doch kann man die Beziehungen, die unsere Interviewpartner aufbauten, wie ich meine, auch als queer beschreiben, weil sie sowohl auf mehrfache Weise die Normativitäten von Heterosexualität und Heterorelationalität herausfordern als auch nicht ausschließlich von lesbischen Frauen und schwulen Männern, sondern ebenso von Heterosexuellen praktiziert werden. Lebensstile, die einmal als genuin homosexuell galten – der Vorrang der Freundschaft, die Einbeziehung von ehemaligen Geliebten in Freundschaftsnetze, der Nichtprimat des Ehepaars –, werden von Heterosexuellen aufgegriffen, die ein besonders »individualisiertes« Leben führen. Man kann hierin folglich auch einen Beitrag zur Destabilisierung des modernen Sexualitätsregimes mit seinen binären Kategorien von Homosexualität und Heterosexualität sehen. In diesen Überlegungen deutet sich ein erhebliches Potenzial zur Weiterentwicklung der Individualitätstheorien an. Der Wandel der Geschlechterordnung – die größere ökonomische Unabhängigkeit von Frauen und die zunehmende Selbstverständlichkeit, mit der Frauen von ihrem ökonomischen Status her als Individuen betrachtet werden –, der nachlassende kulturelle Halt durch moderne Familienformen sowie das oben erörterte neue Regime des Selbst, in dem die individuelle Selbstverwirklichung hohe Priorität genießt: all diese Faktoren tragen zur Ent66 Thema haupt_doku_3_08_final:musterdokument neues layout 29.05.2008 21:41 Uhr Seite 67 stehung der beschriebenen antiheteronormativen Praktiken bei. Anders gesagt: Mit einer zunehmenden Individualisierung geht eine Destabilisierung der Heteronormativität und des modernen Sexualitätsregimes einher. Damit ist nicht gesagt, dass die Individualisierung die Menschen lesbisch oder schwul werden lässt, aber vielleicht doch, dass die Individualisierung Queerness fördert bzw. dass wir Zeuge eines Prozesses der Queer-Individualisierung sind. Mittelweg 36 3/2008 Abschließende Überlegungen Zum Abschluss sollten wir noch einmal überlegen, welchen Beitrag eine psychosoziale Analyse in diesem Zusammenhang leistet. Neben den im Wesentlichen positiv gefärbten Erzählungen der Interviewten über die Wichtigkeit der Freundschaft und der neuen Beziehungsformen, die sie ausbildeten, müssen auch die uns mitgeteilten psychischen Konflikte, die Erkrankungen und Ambivalenzen berücksichtigt werden. Detaillierte psychosoziale Lektüren der Interviews legen nahe, dass viele der Befragten höchst ambivalente Empfindungen bezüglich ihres Intimlebens hatten. Ihre Queer-Beziehungen hatten sie sich nicht einfach »ausgesucht«, vielmehr bildeten sie sich im Kontext individueller Biographien, in denen es oft ein erhebliches Maß an seelischen Einbrüchen und Nöten sowie gescheiterten Beziehungen gab. Mehr oder weniger waren viele unserer Interviewten darauf aus, ihr geheiltes Selbst zu schützen und zwischen der Scylla der Intimbeziehung mit ihrer Gefahr weiterer enttäuschender Verluste und der Charybdis der Isolation mit ihrem depressiven Abgrund an Einsamkeit psychisch nicht unterzugehen. Häufig lief dies darauf hinaus, sicherzustellen, dass die sexuelle und/oder Liebesbeziehung nicht das ganze Gefühlsleben bestimmte, und die Sphäre der Intimität so auszuweiten, dass sie nicht gänzlich von einer einzigen, potenziell riskanten Beziehung abhing. Ich bin mir der Gefahr bewusst, all denen eine Steilvorlage zu bieten, die die beschriebenen antiheteronormativen Praktiken für minderwertige, kompensatorische Beziehungen von Verirrten und Versehrten halten. Dieses Risiko muss ich auf mich nehmen. Zumindest ausgehend von unserem Forschungsprojekt scheint es so, dass der Preis, der für eine psychosoziale Betrachtungsweise zu zahlen ist – also dafür, das Seelenleben ernst zu nehmen –, im Verzicht auf eine umstandslos positive, optimistische Analyse dieser neuen Praktiken des persönlichen Lebens besteht. Während ich mit dem Begriff der »Queer-Individualisierung« eine Umarbeitung seiner Theorie der Individualisierung vorschlage, möchte ich zugleich Ulrich Becks Charakterisierung der gegenwärtigen sozialen Lage beipflichten: Wir leben in einem »Zeitalter des und« (1993, S. 12) – einer Welt, die geprägt ist von »Nebeneinander, Vielheit, 67 Thema haupt_doku_3_08_final:musterdokument neues layout 29.05.2008 21:41 Uhr Seite 68 Ungewissheit, [. . . ] Synthese, Ambivalenz« (ebd., S. 9). Für viele, die den gesellschaftlichen Wandel unmittelbar am eigenen Leib erfahren, bringt das persönliche Leben gleichermaßen Hoffnung und Verzweiflung mit sich, den Schmerz persönlicher Verluste und die Wiedergutmachung, die in neuen, nichtkonventionellen Praktiken der Fürsorge, der Freundschaft und des Selbst liegen.13 Aus dem Englischen von Michael Adrian Mittelweg 36 3/2008 13 Eine frühere Fassung dieses Aufsatzes ist erschienen in NORA (Roseneil 2007). Mein Dank gilt Shelley Budgeon und Jacqui Gabb, die viele der Interviews durchgeführt haben. Summary This paper offers some reflections on a UK-based research project which sought to investigate the practices and experiences of care and intimacy of people living at the cutting edge of individualization. Working from a psychoanalytically-informed ontology and with a psycho-social methodology, the research consisted of a qualitative longitudinal study of those who might be considered the »most individualized« – people living outside co-habiting, conjugal couple relationships. Borrowing certain notions from Queer Theory, which capture key findings of the project, the paper aims to return to sociology new perspectives on friendship and care under conditions of individualization. Literatur Bauman, Z. (2001), The Individualized Society, Cambridge. Bauman, Z. (2003), Liquid Love, Cambridge. Beck, U. (1986), Risikogesellschaft, Frankfurt am Main. Beck, U. (1993), Die Erfindung des Politischen, Frankfurt am Main. Beck, U. und E. Beck-Gernsheim (1990), Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt am Main. Beck, U. und E. Beck-Gernsheim (2002), Individualization, London. Beck, U., W. Bonß und C. 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