Deutschlandbilder - Nationalatlas

Transcription

Deutschlandbilder - Nationalatlas
Deutschlandbilder
Matthias Middell
Deutschland lässt sich nicht nur als
geographische Realität mit Außen- und
Binnengrenzen, mit städtischen Zentren
und Dörfern, Fluss- und Gebirgsverläufen, industriellen und ländlich geprägten
Zonen auffassen, sondern auch als eine
kulturelle Konstruktionsleistung, die
sich aus Erwartungsbildern, punktuellen
Wahrnehmungen und Erfahrungen zu
kollektiven imaginaires verdichtet. Hier
ist ein Aspekt dieses Prozesses dargestellt
– Elemente eines Deutschlandbildes von
außen in Form einer strukturierten Karte
der Aufmerksamkeitsverteilung .
Der Blick von außen auf das
vereinte Deutschland
Als Ausgangspunkt wurde die Situation
des Fremdsprachenerwerbs gewählt, bei
der eine überdurchschnittliche Motivation zum Kennenlernen des Landes, in
dem die einzuübende die offizielle und
Alltagssprache ist, unterstellt werden
kann. Gerade in dem intensiven Aneignungsprozess von Semantik und Grammatik des Fremden erhalten die oft wenigen den Büchern beigegebenen Bilder
eine besondere Bedeutung. Sie sollen illustrieren, aber auch motivieren; sie
funktionieren als Symbole, die komplexe
Außensichten auf Deutschland typisieren, und sie verbinden sich in den Lehrbüchern mit umfangreicheren narrativen
Strukturen, die den Symbolen eine umfassende Bedeutung verleihen. Sie müs-
Die am häufigsten abgebildeten Motive
von Berlin und München
Berlin
Reichstagsgebäude
Museumsinsel
Dom / Platz
der Republik
Have
l
Charlottenburger
Schloß
Fernsehturm/
Alexanderplatz
Siegessäule
Brandenburger
Tor
Gedächtniskirche/
Kurfürstendamm
Rotes Rathaus
Sp
ree
Mauer
Müggelsee/
Wannsee
München
Isar
Olympiastadion
Marienplatz
Frauenkirche (Dom)
Oktoberfest / Hofbräuhaus
© Institut für Länderkunde, Leipzig 1999
140
Deutsches Museum
sen deshalb als komplementäres Bild zu
jenen “gelesen” werden, die eine Strukturanalyse der deutschen Geographie liefert und die die Bundesrepublik von sich
selbst verbreitet. Es ist geradezu ein
Kennzeichen dieses Deutschlandbildes,
dass es mit wenigen Symbolen auszukommen sucht, ganze Partien des Landes
außer acht läßt und das einzelne Element – einen Ort, eine Landschaft oder
ein Kulturdenkmal – überdurchschnittlich mit Bedeutungen auflädt. Die ausgewählten Orte sind oftmals Erinnerungsorte der übernational wichtigen Stationen deutscher Geschichte oder der bilateralen Beziehungen Deutschlands mit
jener Gesellschaft, deren imaginaire hier
ausgewertet wurde. Deutschlandbilder
sagen so immer auch viel aus über die
mentale Kartographie ihrer Entstehungsländer: So heben beispielsweise Staaten
mit einem starken Zentralismus Berlin
als angenommene oder tatsächliche
Hauptstadt überdurchschnittlich hervor
und vernachlässigen eher die föderale
Aufgabenteilung zwischen verschiedenen politischen, ökonomischen und kulturellen Metropolen in Deutschland.
Ebenso spielt die Situation unmittelbarer Nachbarschaft und die Erfahrung der
Grenzregionen eine Rolle, wie auch die
Herausbildung von Zentren der Einwanderung, die sich zu Orten einer gemeinsamen Erinnerung entwickeln können.
Westliche und östliche Vorstellungsbilder
Betrachtet man das Ergebnis einer solchen Kartographie des imaginaire des
Auslandes – wie es den Sprachlehrbüchern, die ab 1990 erschienen sind, zu
entnehmen ist –, dann fällt zunächst ins
Auge, dass es einen unvermeidlichen
zeitlichen Rückstand gibt, denn es werden nach wie vor Bilder verwendet, die
die Situation der deutschen Teilung auf
doppelte Weise reflektieren: Die Länder
Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas beziehen ihr Bild Deutschlands auf jenes,
das die DDR von sich zu verbreiten
trachtete, während umgekehrt viele andere Länder nicht nur Westeuropas ihre
Bildwelt auf das in der Bundesrepublik
für sie Sichtbare konzentrieren.
Dies lässt sich vielleicht am deutlichsten an den Berlindarstellungen ablesen
: Eine völlig entgegengesetzte Aufmerksamkeit erhalten einerseits der im
ehemaligen Ostberlin gelegene Platz der
Republik als modernes sozialistisches
Ensemble angestrebter metropolitaner
Kultur auf den Trümmern des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Berliner Zentrums und andererseits die in der westlichen Deutschlandwahrnehmung zentrale
Mauer, die die Teilung des Landes und
die Gewalttätigkeit des gegenüberliegenden Regimes signalisierte. Gleich dane-
Nationalatlas Bundesrepublik Deutschland – Gesellschaft und Staat
ben findet sich aber das Brandenburger
Tor, dem eine annähernd gleiche Symbolwirkung in Ost und West zugeschrieben wurde: Die dahinter liegenden narrativen Strukturen mögen in Nuancen
unterschiedlich sein, das Tor als prominenter Bestandteil der ausländischen
Bildwelt von Deutschland zeigt an, dass
der Disput über die Symbole der Unterschiedlichkeit in der Zeitgeschichte zwischen 1949 und 1989 oftmals einfach
durch einen Rückgriff auf die Symbole
einer gemeinsamen Vorgeschichte aufgelöst wird: Die Deutschlandkarte der
etablierten Vorstellungen des Auslandes reflektiert die Stabilisierung der
Theorie von Zweistaatlichkeit bei Fortexistenz einer gemeinsamen Kulturnation, gerade weil diese Theorie nicht nur
die Nachkriegssituation wiedergibt,
sondern an ältere Muster der Vorstellungen von der Besonderheit der deutschen Nation vor 1871 anknüpfen kann
und damit an Tiefenstrukturen des historischen Bewusstseins in den jeweiligen
Ländern rührt.
Nach Berlin folgt eine Liste der Metropolen und emblematischen Landstriche der zweiten Reihe – München, Köln,
Frankfurt a.M., Hamburg, der Rhein, die
Alpen und das Ruhrgebiet bilden dabei
den inneren Zirkel der westlichen
Deutschlandwahrnehmung. Dem steht
eine östliche Sicht gegenüber, die Dresden, München, Köln, Leipzig, Frankfurt
a.M., Weimar, Hamburg sowie den
Rhein besonders hervorhebt. In beiden
Fällen wird scheinbar nach dem gleichen Muster vorgegangen. Betont sind
die Zentren historischer Kultur, deren
Zentralität allerdings aus der Westsicht
über eine entsprechende ökonomische
Funktion stabilisiert wird, während die
Motive der östlichen Publikationen stärker an die historische Idee eines dritten
Deutschland anzuknüpfen scheinen und
damit auf die Zeit vor der Reichseinigung 1871 zurückzuverweisen versuchen.
Aus schnell einsichtigen Gründen spielen in der westlichen Wahrnehmung die
landschaftlich reizvollen Tourismuszentren eine weit größere Rolle als in der
östlichen, in der die Unerreichbarkeit
verborgen werden musste.
Interessanterweise nimmt Bonn im
östlichen Deutschlandbild eine prominentere Rolle ein als im westlichen, was
sich wohl mit dem Bemühen der DDR
bei ihren östlichen Nachbarn um eine
Betonung der Hauptstadtfrage erklären
dürfte: Durch die Hervorhebung Bonns
als Hauptstadt der Bundesrepublik wird
nicht nur Berlin mit Fernsehturm und
Rotem Rathaus zur allein östlichen Metropole, sondern es wird auch die Idee
der souveränen Eigenstaatlichkeit und
des radikalen Bruchs mit der Kontinuität
des Deutschen Reiches gestärkt.
imaginaire – Vorstellungsbild, Image
Konstruktionsleistung – Prozess des
Zustandekommens eines Gesamt-Vorstellungsbildes durch Zusammenfügen von
Einzelinformationen, Einzelbildern und
Bedeutungszuweisungen
narrative Struktur – Argumentation, die
im Hintergrund steht und deren erzählender Charakter den verschiedenen Zeichen
und Symbolen einen Bedeutungszusammenhang gibt
Symbol – Gegenstand, Wort oder Ort,
der/das eine allgemein bekannte Bedeutung verkörpert und stellvertretend für
diese Bedeutung genannt bzw. abgebildet wird
Ein differenziertes Bild von
Deutschland
Der Vergleich der nach 1990 zirkulierenden Lehrbücher, in denen Deutschlandbilder gezeichnet werden, deren Wirkung auf die Mentalitäten nicht zu unterschätzen ist, zeigt eine weit verzweigte
Landschaft mit nicht weniger als 157
Orten und Landstrichen. Eine solche Diversifizierung signalisiert die Vielfalt der
absehbaren Begegnungen, auf die die
Autoren und Verlage der Lehrbücher
Rücksicht nehmen. Dieses differenzierte
Bild steht – aller Schwerpunktsetzung
zum Trotz – einer naiven Stereotypisierung entgegen. Sie ist ein Effekt der zentralen Lage, der guten Erreichbarkeit
und der zunehmenden Attraktivität einer immer größeren Zahl von Orten des
Landes, die im Zuge der europäischen
Integration weiter zunehmen wird, sie
scheint aber auch ein positives Erbstück
der langen Zweiteilung zu sein, die das
Deutschlandbild vielgestaltiger zurückgelassen hat, als es vor 1945 existierte.
Methode der Kartenerstellung
Als Quelle für die Erstellung der auf der
Hauptkarte gezeigten Deutschlandbilder
wurden die in der Deutschen Bücherei
Leipzig verfügbaren 563 Lehrbücher für
Deutsche Sprache und Landeskunde von
Deutschland ausgewertet, die im Ausland
verlegt wurden und nach 1990 erschienen sind. Es handelte sich dabei um 320
Bücher aus Ländern des ehemaligen Ostblocks und 263 aus Westeuropa.
Es wurden alle in diesen Büchern abgedruckten Fotos und Zeichnungen erfaßt
(insgesamt 2084) und ihnen jeweils nach
Art – ob Foto oder Zeichnung – Größe
und Plazierung ein Punktwert zwischen
0,5 und 8 zugewiesen. Die Punktwerte
wurden aufgrund der ungleichen Zahl von
Abbildungen und Punkten aus Ost und
West mit einem Gewichtungsfaktor bereinigt, so dass die Säulendarstellung einen
unmittelbaren Vergleich zwischen den optischen Deutschlandbildern ermöglicht,
die den Deutsch-Schülern in diesen beiden Ländergruppen vermittelt werden.
Deutschlandbilder der 90er Jahre
Hamburg
st
I
I
I
I
924
U
Warnemünde
Eutin
Greifswald
I
I
I
I
do
t
e
I
I
se
867
Rostock
Travemünde
m
N o rd
-
se
Rügen
Stralsund
s
I
I
t
s
O
Kiel
ü
Ost
Helgoland
I
I
I
e-
Ka
I
I
I
ü
k
e
e
s
k
N o
I
Fehmarn
e
l
e
e
na
st
Berlin
s
kü
O
t
e
e
Schleswig-
e
t
s
s
s
Bremen
O
e k ü s
s e
t
r d
e
Wismar
I
e
s t
e k ü
r d s e
N o
I
B. Segeberg Lübeck
I
Cuxhaven
Holstein
Bremerhaven
Schweriner
See
Mecklenburg-
Schwerin
Vorpommern
Müritz
Hamburg
Leipzig
I
I
I
EL
I
Worpswede
I
I
Oldenburg
BE
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
O
I
DE
I
I
R
I
I
I
I
I
I
Potsdam
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
Wolfsburg
Helmstedt
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
Berlin
Plauer
See
I
I
I
I
I
282
I
I
I
I
Bodenwerder
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
Ruhrgebiet
NordrheinWestfalen
n
Wuppertal
l a
Remscheid
e r
S a u
Leverkusen
Düsseldorf
Ebergötzen
d
Buchenwald
Siegerland
s
i n
o
u
n
u
T a
Wiesbaden
Hanau
Freiberg
Chemnitz
Zwickau Stollbg.
d
Vogtland
E
R
Z G
Frankfurt/M.
ht
Ma
in
I
Bamberg
Main
G
E
Deutschland in ausländischen Lehrbüchern
der deutschen Sprache seit 1990
Anteil der Nennungen einzelner Bundesländer
an den Gesamtnennungen
in %
elg
22,1
e b ir g e
16 bis < 20
Würzburg
8 bis < 12
4 bis < 8
0 bis < 4
I
I
I
Michelstadt
E
I R
I
Darmstadt
Bayreuth
I
B
I
I
Marktbreit
I
I
Ludwigshafen
Weimar
Sächs. Schweiz
I
I
I
Rothenburg/T.
Regensburg
Kelheim
NA
Osteuropa
NA
Augsburg
Ulm
Rottweil
Ammersee
Inn
München
10
0
Starnberger
See
Schloß
Linderhof
Kochel
E N
A L P
Oberammergau
Neuschwanstein
ALLGÄU
20
U
Passau
Bad Dürrheim
ee
I
U
D
Württemberg
I
Nördlingen
DO
L
A
W
Z
R
I
DO
A
242
Bayern
Bad Boll
ns
I
I
Ellwangen
Reutlingen
de
I
Dinkelsbühl
I
Stuttgart
Bo
I
I
S C
H W
I
I
RHE
IN
I
Ludwigsburg
Tübingen
I
Ansbach
Baden-Baden
Freiburg
i.Br.
Nennungen einzelner Orte/Landschaften
in west- und osteuropäischen Lehrbüchern
gewichteter
Punktwert*
Lehrbücher aus
30
Westeuropa
I
Karlsruhe
Kehl
279
Nürnberg
I
Heidelberg
Baden-
Heidelberg
I
I
Speyer
I
Kaiserslautern
Saarbrücken
Mannheim
I
Saarland
Rheintal
al
Sachsen Dresden
Gelnhausen
Rüsselsheim
Mainz
RheinlandWorms
Pfalz
Homburg
W
Altenburg
Bautzen
Meißen
Radebeul
Gera
Fic
e
l
Bad Ems
el
EIN
RH
e
R h
M
Fulda
Leipzig
Naumburg
Vierzehnheiligen
Rudolstadt
Saale
Limburg
Koblenz
Mo s
Trier
I
e
Torgau
s
I
.
ür
T h W er r a
Hessen
L
Halle/S.
Thüringen
Marburg
Bonn
E
Eisenach /
Erfurt Weimar
Wartburg Gotha
Jena
Bad Hersfeld
Cottbus
EL
BE
Merseburg
Kassel
lda
Aachen
E
Z
Eisleben
Fu
Frankfurt
S
R
Göttingen
Köln
F
I
ß
I
I
I
I
aale
Lippstadt
I
n
I
I
I
I
er N e i
sitz
A
I
ei
185
I
Wittenberg
Anhalt Dessau
I
r
I
I
u
La
H
I
e
Dresden
I
Spreewald
I
I
d
I
I
I
I
burg
Magdeburg
Hameln
Gütersloh
Münsterland
StockumWerne
rh
Bonn
I
Eisenhüttenstadt
I
WESER
Münster
ie
I
I
I
Braunschweig
SachsenI
I
I
I
I
I
I
Minden
Osnabrück
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
Hannover
I
I
I
I
I
I
264
N
I
I
I
I
I
I
I
I
I
Heide
I
I
I
Niedersachsen
Köln
I
Branden-
I
I
SE R
I
I
WE
I
Lüneburger
Bremen
Chiemsee
Ort /
Baudenkmal /
Gedenkstätte
Landschaft /
Landstrich
1mm Säulenhöhe=5 Punktwerte
unter 5 Punktwerten
* Die Punktwerte für Berlin, München, Köln und Dresden
sind über den Säulen ausgewiesen.
Autorin: S.Tzschaschel
Alpen
0
© Institut für Länderkunde, Leipzig 1999
München
25
50
75
Maßstab 1 : 3 750 000
Grenzüberschreitende Kooperationsräume
141
100 km

Documents pareils