Rembrandts Einsamkeit - Ruhr

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Rembrandts Einsamkeit - Ruhr
Rembrandts Einsamkeit.
Diskursanalytische Studien zur Konzeption
des Künstlersubjekts in der Moderne.
Inauguraldissertation
zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie
in der Fakultät für Geschichtswissenschaft
der Ruhr-Universität Bochum
vorgelegt von
Martin Hellmold
Referentin: Prof. Dr. Sykora
Korreferentin: Prof. Dr. Steinhauser
Tag der mündlichen Prüfung: 27. Juni 2001
Veröffentlicht mit Genehmigung der
Fakultät für Geschichtswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1 „Rembrandt ist interessanter...“
3
2 Erkenntnisinteresse und Forschungsstand
6
2.1 Zum Problem der Rezeptionsgeschichte
6
2.2 Zur Figur des ‘modernen Künstlers‘
10
2.3 Subjektivitätskonzepte als Problem moderner Kunstgeschichtsschreibung
14
2.4 Michel Foucaults Beschreibung der „Funktion Autor“
16
3 Die drei Teile und ihre methodischen Unterschiede
22
Erster Teil
Rembrandts Anwälte. Die Verteidigungsrede als Modus der Neubewertung um 1850
25
1 Paul Scheltema und der bürgerliche Nationalstolz (1852)
28
1.1 Rembrandts privates Umfeld
32
1.2 Heureux voyage de Rembrandt
35
2 Gustave Planche und die Auseinandersetzung mit der Akademie (1853)
39
2.1 Das Naturstudium und die klassizistischen Kunstregeln
40
2.2 Rembrandts Erhebung unter die größten Meister der Malerei
45
3 Eduard Kolloff und der ‘moralische Prozeß‘ gegen Rembrandt (1854)
48
3.1 Kolloffs Umwertung der ‘Sammlung Rembrandts‘
51
3.2 Kolloffs Abwehr der anekdotischen Biographik
55
3.3 Autor und Werk bei Kolloff
57
3.4 Ein Beispiel der Verkennungstopik nach Kolloffs Vorbild: Anton Springer
59
4 Im Zeichen des ‘homme libre‘: Rembrandt und die Holländer bei Théophile Thoré (1858)
63
Zweiter Teil
Der autonomisierte Künstler. Rembrandtrezeption um 1900
73
1 Einführung: Rembrandtrezeption als ‘diskursives Feld‘
75
1.1 Zur raum-zeitlichen Eingrenzung der Untersuchung
75
1.2 Zur typologischen Differenzierung des Untersuchungsmaterials
78
1.3 Chronologische Skizze der Rembrandtrezeption in Deutschland, 1880 - 1950
82
1.4 Passage: Vom integrierten zum marginalisierten Individuum
89
2 Analyse
2.1 Kunstschaffen
2.1.1 Die Unterscheidung des Werks nach dem Code ‘Auftrag vs. Autonomie‘
103
2.1.2 Rembrandts Verhältnis zur Auftragsarbeit
109
2.1.3 Die Privatisierung der Kunstproduktion: Zur Einheit von Leben und Werk
116
2.1.3.1 Biographische Bildtitel
117
2.1.3.2 Werk und Leben
124
2.1.3.3 Werk und Charakter
131
2.1.4 Exkurs: Hermeneutik als geisteswissenschaftliches Paradigma
133
2.1.4.1 Zur historischen Stellung hermeneutischer Theoriebildung
133
2.1.4.2 Beispiele hermeneutischer Programmatik in der Rembrandtliteratur
136
2.1.4.3 Zur hermeneutischen Tendenz anti-wissenschaftlicher Einfühlungsmethoden
140
2.1.5 Beispiele zur Topik hermeneutischer Kunstgeschichtsschreibung
147
2.1.5.1 Die metaphorische Paraphrasierung der Dichotomie ‘Oberfläche/Tiefe‘
148
2.1.5.2 Psychologistisches Vokabular
153
2.1.5.3 Die Folgerichtigkeit des Gesamtwerks
162
2.2 Künstlerleben
2.2.1 Autonomisierung als Läuterungsprozeß
167
2.2.2 Zur Verkennungstopik
172
2.2.2.1 Das Leiden als körperliches Zeichen der Verkennung
173
2.2.2.2 Die Armut als Veranschaulichung der gesellschaftlichen Marginalisierung
179
2.2.2.3 Rembrandts Einsamkeit - Endpunkt der Autonomisierung und ‘Ort der Kunst‘
184
2.3 Grenzziehungen: Die Eigentümlichkeit des Künstlers und der Korpus des Werks
193
2.3.1 Lehrer und Ahnen, Schüler und Erben - Zwischen Individualität und Genealogie
194
2.3.2 Exkurs: Die juristische Konzeption des Eigentums und die künstlerische
Eigentümlichkeit
204
2.3.3 Zur Reichweite des Konzeptes der ‘Eigentümlichkeit‘
208
2.3.4 Metaphoriken der Umwandlung von allgemeinem und fremdem Gut in Eigentum
212
2.3.5 Über den Umgang mit den Vorbildern
214
2.3.6 Die Abgrenzung von Original und Reproduktion: Rembrandt retuschiert Schülerwerke
217
2.3.7 Zuschreibungspraxis: Von der Authentizität der Werke zur Autorität des Künstlers
221
3 Ergebnisse des zweiten Teils
3.1 Zusammenfassung
231
3.2 Hypothesen zur Funktion der diskursiven Künstlerfigur
234
3.3 Autonomes Kunstschaffen und Hermeneutik als Arbeit am Subjekt
245
Dritter Teil
Rezeptionsgeschichtliche Fallstudien
249
1 Die Ablehnung der Nachtwache als Ursprungsmythos der künstlerischen Autonomie
252
1.1 Rezeptionsgeschichtlicher Stellenwert der Nachtwache
252
1.2 Exkurs: Die ‘sogenannte Nachtwache‘
257
1.3 Zur Entstehung der Ablehnungslegende: Vosmaer, Fromentin, Michel
261
1.3.1 Fromentins zwiespältiges Urteil über die Nachtwache
263
1.3.2 Exkurs: Fromentins Kritik an Rembrandt und am Impressionismus
265
1.3.3 Emile Michel baut Fromentins Schilderung zur Ablehnungslegende aus
267
1.4 Die Ablehnungslegende in der deutschsprachigen Literatur
273
1.5 Die Nachtwachenlegende - Beispiele der populäre Rezeption
280
2 Rembrandts Selbstbildnisse
2.1 Zum Stellenwert der Selbstbildnisse in der Geschichte der Rembrandtrezeption
287
2.2 Vom Studienkopf zur Selbsterkenntnis
293
2.3 Exkurs: Rembrandts Eitelkeit, Rembrandts Häßlichkeit
296
2.4 Authentische Quellen: Die Selbstporträts als ‘Selbstbiographie‘
302
2.5 Die Selbstbildnisse als Dokumente der Persönlichkeitsentwicklung
304
2.6 Metaphorische ‘Zuschreibungen‘ an Rembrandt
312
2.6.1 Das Gesicht als Landschaft
312
2.6.2 Löwe, Sieger, König
318
2.7 Die Selbstbildnisse als Anreiz zur Psychologisierung
322
2.8 Zusammenfassung
326
Abschluß und Ausblick
329
Abkürzungen
331
Filmographische Angabe
331
Literaturverzeichnisse
332
1. Quellen
332
2. Sekundärliteratur
341
Einleitung
1 „Rembrandt ist interessanter...“
Im Wintersemester 1925/1926 hielt Theodor Hetzer in seiner Funktion als Privatdozent für
Kunstgeschichte an der Universität Leipzig eine Vorlesung mit dem Titel Rubens und Rembrandt. Seine Planung sah dabei nicht den Stunde für Stunde erneuerten direkten Vergleich
dieser beiden Meister vor, sondern eine gerechte Zweiteilung der zur Verfügung stehenden
Termine, wobei zunächst der Flame und dann der eine Generation jüngere Holländer behandelt werden sollte. Im Verlauf des Semesters sorgten der Umfang des Rubensschen Œuvres
und die dadurch beim Vortragenden erweckte Begeisterung für eine ständige Ausdehnung des
ersten Teils, und als dieser schließlich, mehr abgebrochen als erschöpft, zu einem Ende gebracht war, blieben für die Beschäftigung mit Rembrandt nur noch wenige Termine.
Um in den neuen Abschnitt seiner Vorlesung überzuleiten, stellte Hetzer einen Vergleich seiner beiden Titelfiguren im Hinblick auf deren aktuelle Bedeutung an:
„(...) in Rembrandt und Rubens [haben wir] die größten Künstler des 17. Jahrhunderts zu erblicken.
Es wird sogar wohl viele geben, die Rembrandt den Vorzug geben und ihn für den größeren der
beiden halten. Die Gründe für eine solche Bevorzugung können sehr verschiedener Natur sein. In
dem landläufigen Urteil werden wohl die Gefühlsmomente überwiegen, man sieht in Rembrandt
den tieferen, frömmeren, wohl auch germanischeren Meister, man rühmt ihn, weil er nicht nach
Italien gegangen ist, man ist geneigt, sein schweres Schicksal ihm als ethisches Verdienst anzurechnen. Es kommt hinzu, daß Rembrandt zeitloser erscheint, daß er weniger historisch gebunden
ist als Rubens, ja daß er modern wirkt. (...) Während Rubens eine ganz unkomplizierte Natur ist,
scheint Rembrandt rätselhaft, abgründig, problematisch, zum Grübeln reizend. Die Literatur ist beträchtlich größer, und es hat sich nicht nur die streng fachliche Literatur mit ihm beschäftigt, wir
finden ihn auch als programmatischen Titel, wir finden ihn ferner zum Gegenstand philosophischer
Spekulationen gemacht. Mit einem Wort: Rembrandt ist interessanter als Rubens, und wir werden
versuchen müssen, uns darüber klar zu werden, warum er interessanter ist.“ (Hetzer 1984 [1926],
249)
Theodor Hetzer beschreibt hier ein Phänomen, „Rembrandt ist interessanter als Rubens“, und
er stellt sich eine Aufgabe: zu klären, warum dies so ist. Hetzers facettenreiche Phänomenbeschreibung enthält bereits zahlreiche Hinweise für eine mögliche Lösung. Der zukünftige Ordinarius des Leipziger Instituts spricht darin wesentliche Aspekte an, die das Rembrandtbild
der deutschen Kunstgeschichte und auch der breiteren deutschen Öffentlichkeit in den vorausgegangenen 40 Jahre prägten und dies auch - zumindest bis in die 40er Jahre des 20. Jahrhunderts - weiter tun sollten: Rembrandts antipodische Position zu Rubens, die ‘Tiefe‘ seiner
Kunst, das ‘Germanische‘ seines Wesens, das ‘Rätselhafte‘ seiner Natur, sein Schicksal als
‘verkannter Künstler‘. Diese und andere Topoi kommen schließlich zusammen in der Feststellung von Rembrandts ‘Modernität‘, die ihn als besonders interessant erscheinen ließe.
3
Die vorliegende Untersuchung zur Rembrandtrezeption in den Jahrzehnten um 1900 versucht
in gewissem Sinne, die vor 75 Jahren von Theodor Hetzer gestellte Frage zu beantworten,
warum sich das Interesse in jener Zeit in so besonderem Maße auf Rembrandt richtete. Denn
dieser grundlegenden Beobachtung ist zunächst einmal zuzustimmen.1 Es sind etwa hundert
Jahre, von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, in denen Rembrandt stärker
als zu früheren oder späteren Zeiten im Zentrum der Fragen zu Kunst und Künstlertum steht.
Dies gilt zunächst in Frankreich und in den Niederlanden, dann - mit leichter Verspätung,
dafür aber besonders intensiv - auch in Deutschland. So wie das steigende Interesse an Rembrandt mitunter keine nationalen Grenzen beachtete, übertrat es auch die Grenzen eines geschlossenen Kunstdiskurses. Fragen nach dem Wesen des Künstlertums, nach dem Charakter
des künstlerischen Werks oder auch des künstlerischen Schaffensprozesses waren Gegenstand
einer grundlegenden Verständigung über die Konzeption des Subjekts in der modernen bürgerlichen Gesellschaft. Und im Zuge dieser Verständigungsprozesse spielte Rembrandt die
Rolle einer Leitfigur. Er spielte diese Rolle auch außerhalb der Ateliers von Künstlern, die
seine gestalterischen Lösungen aufnahmen, und außerhalb der Studierzimmer von Kunstgelehrten, die die Modernität seines Künstlertums in Worte zu fassen suchten.
Eine Prämisse meiner Überlegungen mag sich in dem bisher Gesagten bereits angedeutet haben: Mein Interesse gilt nicht Rembrandt. Wenn Theodor Hetzer fragt, warum Rembrandt
interessanter sei als Rubens, so spricht er von der historischen Person des Künstlers Rembrandt Harmenszoon van Rhijn und dessen malerischem, radiertem und gezeichnetem Werk.
Wenn dagegen in dieser Untersuchung Hetzers Frage zum Teil übernommen wird, so gilt das
Forschungsinteresse dem Diskurs - verstanden als die Gesamtheit der publizierten Äußerungen - , der sich speziell in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts um diesen Künstler
entwickelt und der Rembrandt als einen vielseitigen und offenbar besonders interessanten
Anlaß zur Kommunikation über verschiedenste - „nicht nur streng fachliche“ - Inhalte verwendet. Theodor Hetzer wurde hier also nicht im engeren Sinne als Vordenker zitiert. Denn
obwohl dieser das Phänomen der Interessantheit Rembrandts als ein spezifisch modernes
wahrnimmt, über dessen Hintergründe reflektiert und einige seiner Motivationen anspricht,
bleibt er selber Teil dieses Phänomens. Letztlich ist für Hetzer nicht die aktuelle Rembrandtrezeption, sondern die historische Gestalt des Künstlers Gegenstand der Rede; der Verweis
1
Bereits die Autoren des hier untersuchten Zeitraum haben das aktuelle Interesse an Rembrandt beobachtet und
die Rede darüber zu einem Topos der Rembrandtliteratur selbst gemacht (z.B. Bode 1891, 1; Lichtwark 1906,
52; Valentiner 1906, 2; Storck 1920, 12). In jüngerer Zeit haben u.a. Wyss (1985) und Boomgaard/Scheller
(1991) auf die zentrale Position Rembrandts in der Kunstliteratur um 1900 hingewiesen. Die komplexesten Darstellungen bieten Boomgaard (1995) und Stückelberger (1996, 21 - 66).
4
auf Rembrandts aktuelle Wertschätzung dient ihm lediglich als Einstiegsformel. Indem er im
weiteren Verlauf seiner Vorlesung Leben und Werk des Künstlers beschreiben und beurteilen
wird, tritt Hetzer mit seinen Aussagen in den Horizont seiner Zeit zurück und beteiligt sich,
nun nicht mehr als Diskursanalytiker, sondern wieder als ‘klassischer‘ Kunsthistoriker, an der
„streng fachliche[n]“ Beantwortung der Frage nach Rembrandts Interessantheit und damit an
der Produktion des Phänomens ‘Rembrandt‘.
Um dieses Phänomen aber geht es mir. Dem entsprechend liegt meinen Überlegungen die
Unterscheidung zugrunde zwischen (a) einer historisch-empirischen Künstlerfigur namens
Rembrandt, die im 17. Jahrhundert in Leiden und Amsterdam gelebt hat, und (b) dem, was ich
als ‘diskursive Künstlerfigur‘ bezeichnen möchte, einem imaginären ‘Rembrandt‘, einem
Kommunikationsgegenstand. Diese Unterscheidung ist nicht gleichbedeutend mit der zwischen einem wahren und einem verfälschten Rembrandtbild. Unabhängig von der Faktizität
jenes historischen Rembrandt, der einmal gelebt und gemalt hat, sind alle Aussagen, die im
Bezug auf diese Person getroffen werden, lediglich Beiträge zu dieser diskursiven Künstlerfigur. Das Verhältnis zwischen historischer und diskursiver Figur ist demnach nicht das zwischen wahr und falsch, sondern ein anderes: Das Bewußtsein (oder die Vorstellung) von der
Existenz der historisch-empirischen Figur fungiert als Legitimation der diskursiven Künstlerfigur und aller Aussagen, die über diese vermittelt werden.2
Angesichts dieser Ausrichtung auf die Rembrandtrezeption, die einen anderen Blickwinkel
auf die Interessantheit Rembrandts einnimmt als Theodor Hetzer, erscheint es sinnvoll, auch
dessen Frage umzuformulieren. Es wird auf den folgenden Seiten weniger darum gehen „uns
darüber klar zu werden, warum [Rembrandt] interessanter ist“, als vielmehr darum zu beschreiben, wie der Rembrandt beschaffen ist, der damals ‘modern‘ wurde. Also: Was für ein
Rembrandt war damals ‘interessant‘?
Der Unterschied zwischen diesen beiden Fragen besteht darin, daß die erste nach einer historisch-empirischen Person des 17. Jahrhunderts fragt, die zweite jedoch nach einer diskursiven
Künstlerfigur, nach einem Produkt der Rezeption, letztlich nach dieser Rezeption selber und
nicht nach deren vorgeblichem Gegenstand. Ich beantworte die von Theodor Hetzer gestellte
Frage zunächst durch eine veränderte Fragestellung. Mit der These, die hinter dieser Verschiebung steckt, möchte ich zugleich eine erste Antwort auf das Phänomen der modernen
Rembrandtrezeption selbst geben. Sie lautet: Rembrandt ist interessant, wenn es gelingt, am
Thema ‘Rembrandt‘ über Interessantes zu reden, also über Aktuelles, für die Gegenwart Relevantes. Rembrandts Modernität liegt in seiner Eignung als Anlaß zur Kommunikation von
2
Ich knüpfe mit diesen Überlegungen an Michel Foucaults Analyse der „Funktion Autor“ an (Foucault 1993).
Im Feld der Kunstwissenschaften geht mir dabei besonders die Niederländerin Mieke Bal voraus, die in einem
ihrer Bücher den Namen Rembrandt konsequent in Anführungszeichen setzte, um die Fiktionalität der mit dieser
Kennzeichnung verknüpften Figur stets bewußt zu halten (Bal 1991).
5
Inhalten, die für Autoren der Moderne interessant sind, in seiner Eignung als Medium für aktuelle Fragen der Ästhetik, Lebenspraxis oder Politik.
Wenn diese These stimmt, dann müßte es aber durchaus lohnen, einmal zu untersuchen, welche Inhalte in der Epoche ihrer besonderen ‘Interessantheit‘ über diese diskursive Künstlerfigur kommuniziert wurden. An diesem Punkt setzt meine Untersuchung an.
2 Erkenntnisinteresse und Forschungsstand
Vor der Beschreibung des ausgewählten Untersuchungsmaterials und dieser Untersuchung
selbst ist es notwendig, daß Erkenntnisinteresse der Arbeit genauer zu fassen. Ich möchte dies
zunächst im Kontext einer Darstellung des Forschungsstandes tun, indem ich meine Position
zu bisher geleisteten Arbeiten ins Verhältnis setze. Innerhalb der kunstwissenschaftlichen
Forschung sind dabei zwei Felder relevant: die Geschichte der Rembrandtrezeption und die
Frage nach Gestalt und Funktion des ‘modernen Künstlers‘.
2.1 Zum Problem der Rezeptionsgeschichte
Wenn im kunstgeschichtlichen Fachdiskurs das Stichwort ‘Rezeptionsgeschichte‘ fällt, so ist
damit in der Regel die Problematik der Einflüsse älterer Kunst auf neuere Kunst gemeint. In
dieser Hinsicht ist Rembrandts ‘Modernität‘ bereits ausführlich untersucht worden. Petra ten
Doesschate Chu behandelte 1974 in einer systematischen Studie den Einfluß der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts auf die Entwicklung der französischen Malerei zwischen
1830 und 1870. Dabei arbeitete sie überzeugend die Orientierung von Künstlern wie Courbet,
Fantin-Latour oder Degas an der niederländischen Malerei im Allgemeinen, besonders jedoch
an Ruisdael, Hals und Rembrandt heraus (Chu 1974). Johannes Stückelberger ist Chus Methodik weitgehend gefolgt und hat die Vorbildlichkeit Rembrandts für die künstlerischen Lösungen einiger zentraler Künstler der deutschen Moderne (Liebermann, Corinth, Slevogt und
Nolde) nachgewiesen (Stückelberger 1996). Trotz einzelner Verweise, die über den Bereich
ästhetischer Bezüge hinausreichen, bleiben beide AutorInnen insgesamt auf den Bildvergleich
ausgerichtet. Während Chu die gesellschaftspolitischen Implikationen dieser ‘Renaissance‘
niederländischer Kunst in der Mitte des 19. Jahrhunderts anspricht, hält sich Stückelberger
mit Aussagen über die außerästhetische Aktualität Rembrandts sehr zurück. Ganz in der Tradition kunsthistorischer Rembrandt-Hermeneutik seit Carl Neumann sieht er die Kunst Rembrandts als zukunftsweisend an und spricht von einer impressionistischen Tendenz in der
Malerei des Holländers, in welcher die modernen Maler ihre eigenen Zielsetzungen wiederer-
6
kannt hätten.3 Obwohl er das Phänomen der Rembrandtbegeisterung in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts in einer vorbildlichen Überblicksdarstellung facettenreich schildert, weist
Stückelberger der Frage nach der gesellschaftlichen Funktion einer historischen Künstlerfigur
kaum Bedeutung für die Beurteilung der künstlerischen Rezeptionsgeschichte zu. Diese Vorstellung von einer Abgeschlossenheit des künstlerischen Schaffens, von den rein ästhetischen
Interessen der Künstler, zeigt sich besonders dann, wenn Stückelberger die mögliche Beeinflußung der vier analysierten deutschen Maler durch Julius Langbehns kulturpessimistischnationalistisches Buch Rembrandt als Erzieher bestreitet (Stückelberger 1996, 53). Stückelberger sieht seine Aufgabe als Kunsthistoriker offenbar darin, als Anwalt der Künstler die
Geschichte der Kunst als eine autonome, von gesamtgesellschaftlichen Wechselwirkungen
wenig beeinflußte Entwicklungsgeschichte zu beschreiben. Eine derartige Begrenzung des
Blickwinkels im Sinne einer ‘Naturgeschichte der Kunst‘ erscheint mir als unhaltbar.4
Den angesprochenen Arbeiten ist der Nachweis einer Präsenz Rembrandts in den Ateliers
moderner Künstler zu verdanken. Rembrandts Modernität wurde darüber hinaus auch als
Schlüssel für die Abfassung anderer Rezeptionsgeschichten verwendet.5 Die avancierteste
3
Als problematisch sehe ich den eingeengten Begriff der „Moderne“ bei Stückelberger an, den dieser ebenfalls
als rein kunstgeschichtlich-ästhetische Kategorie auffaßt: „Unter ‘Moderne‘ verstehe ich jene künstlerischen
Bewegungen, die sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vom Akademie- und Salonbetrieb distanziert haben.“
(1996, 9). Und in einer Fußnote führt er aus: „Ich verwende den Begriff der Moderne nicht als Epochenbegriff.
Er ist für mich vielmehr Ausdruck einer bestimmte Haltung gegenüber Geschichte und Gegenwart. Die Moderne
betrachte ich nicht als Bewegung, die den Historismus abgelöst hat. Vielmehr sind für mich Historismus und
Moderne zwei Haltungen, die im 19. und 20. Jahrhundert nebeneinander bestehen und ihr Recht auf die richtige
Deutung der Wirklichkeit geltend machen“ (ebd., 9 f.). Mit dieser Eingrenzung nivelliert Stückelberger die historische Komplexität der Moderne als Epoche auf eine Dichotomie zwischen Modernen (Secessionistische Malerei) und Historisten (Akademische Malerei). Dieses Schema einer binären Codierung, das ich als eine typisch
moderne Strategie zur Reduktion der Komplexität von Wirklichkeit beschreiben würde, wird zudem durch eine
eindeutige Wertung ergänzt, die in ‘den Historisten‘ einen regressiven (konservativen, entwicklungshemmenden,
negativen) und in ‘den Modernen‘ einen progressiven (zukunftsweisenden, positiven) gesellschaftlichen Faktor
ausmacht. Die affirmative Verwendung des Entwicklungsparadigmas, das aus geschichtstheoretischer Perspektive in der Regel als Charakteristikum der Weltbilder in der Epoche der Moderne dargestellt wird, weist Stückelbergers Theorieposition hier wiederum als genuin ‘modern‘ aus. Seine wertende Polarisierung zwischen konservativen und progressiven Künstlern macht es auch verständlich, daß er den Einfluß des kulturpessimistischen
und wertkonservativen Autors Julius Langbehn auf ‘moderne‘ Künstler abweisen muß: Mit der Vorstellung von
einer grundsätzlichen ‘Progressivität‘ der ‘Modernen' ist die kritische Haltung Langbehns zur kulturellen und
politischen Entwicklung der Gegenwart prinzipiell unvereinbar. Im Gegensatz zu Stückelberger halte ich es für
unumgänglich, von der Moderne als Epoche zu reden. Entsprechend sind Phänomene wie die ‘moderne Kunst‘
secessionistisch orientierter Künstler in ihrem gesellschaftlichen Kontext zu analysieren. In gleicher Weise sind
jedoch auch die von Stückelberger als anti-modern ausgegrenzten His toris men allein als Phänomene moderner
Gesellschaften angemessen zu verstehen. Die von Stückelberger kritisch angeführte Uneinigkeit über die präzise
chronologische Eingrenzung dieser Epoche kann hier kein gültiges Ge genargument sein (Stückelberger 1996,
10).
4
Mehr Offenheit für die gesellschaftliche Position der Kunstentwicklung zeigt Angelika Wesenberg, obwohl
auch ihr Blickwinkel stark auf die kunstgeschichtliche und künstlerische Rezeption ausgerichtet ist: „Mehr als
andere große Künstler der Vergangenheit ist Rembrandt im 19. Jahrhundert in engem Bezug zur zeitgenössischen Kunst entdeckt und rezipiert worden. Rembrandt war niemals ein nur kunsthistorisches Thema.“ (Wesenberg, 1995a, 51).
5
Susanne Heiland und Heinz Lüdecke haben bereits 1960 mit Rembrandt und die Nachwelt eine kommentierte
Materialsammlung wichtiger Beispiele der im weitesten Sinne literarischen Rezeption des Künstlers publiziert
und damit eine Teilübersicht des diskursiven Feldes zur Verfügung gestellt. Von einer repräsentativen Auswahl
7
darunter hat Jeroen Boomgaard 1995 vorgelegt. In seiner Studie De verloren zoon (Der verlorene Sohn) liefert er eine umfassende Darstellung der Entwicklung der niederländischen
Kunstgeschichtsschreibung und stellt dabei den Wandel eines ihrer zentralen Inhalte, des
Rembrandtbildes, in den Mittelpunkt. Diese bemerkenswerte Arbeit berücksichtigt auch Fragen der Popularität des Künstlers und bezieht die Problematik internationaler Wechselwirkungen, speziell der zwischen niederländischer und deutscher Kunstgeschichtsschreibung und
Museumspraxis, in ihre Perspektive mit ein. Dabei offenbart sich jedoch zugleich ein methodisches Problem. Bei dem Versuch, eine chronologische Darstellung der Entwicklung des
Denkens über Rembrandt zu liefern, die sich auf die im kunstgeschichtlichen Fachdiskurs
zirkulierenden Lehrmeinungen konzentriert, ist der Autor immer wieder zu Rückgriffen und
Zeitsprüngen gezwungen, die es eher problematisch erscheinen lassen, hier letztlich eine lineare Entwicklung konstatieren zu wollen. So leidet Boomgaards Untersuchung insgesamt,
trotz einer Fülle spannender Einzelbeobachtungen und überzeugender Kontextualisierungen,
unter der erkennbaren Absicht, eine Geschichte der niederländischen Kunstgeschichte in drei
Phasen erzählen zu wollen. Es stellt sich die Frage, ob sich das empirische Material nicht in
ähnlich schlüssiger Weise auch in andere narrative Muster fügen würde, als in die von Boomgaard ausgemachte Erzählung von hoffnungsvollem Beginn, bedrohlicher Mitte und gutem
Ende, letzteres metaphorisch veranschaulicht in Rembrandts Rückkehr des verlorenen Sohnes.
Auch wenn uns die Posthistoire-Debatte darüber belehrt haben sollte, daß keine Geschichtswissenschaft ohne Erzählungen möglich ist, bewerte ich eine derart vorsätzliche Narrativierung doch eher skeptisch.
In zwei Punkten unterscheidet sich meine Arbeit deshalb methodisch von der Boomgaards.
Obwohl mir ebenfalls die Texte einer als Fachdiskurs bestimmbaren Kunstgeschichtsschreibung als zentrales Untersuchungsmaterial dienen, ziele ich nicht darauf, eine Disziplingeschichte zu schreiben. Soweit sich mein Ansatz mit einer derart geschlossenen Fragestellung
identifizieren läßt, gilt er einer Beschreibung des ‘Rembrandtdiskurses‘, oder anders formuliert: einer Beschreibung der Vorstellungen von Rembrandt und der sie bestimmenden Prämissen, wie sie sich mit Blick auf Textquellen aus einer bestimmten Zeit darstellen. Der
zweite Unterschied zu Boomgaards Methodik liegt in dem weitgehenden Verzicht auf eine
lineare Narration. Wie sehr die Vorstellung von ‘Entwicklungen‘ vom Betrachterstandpunkt
abhängt, läßt sich in der noch immer dominanten Erzählung von der Entwicklung der modernen Kunst als einer Erfolgs- und Befreiungsgeschichte exemplarisch beobachten. Ich möchte
kann hier allerdings nicht die Rede sein. Die Zusammenstellung der Texte und ihre Bewertung ist vielmehr
selbst an der Idee einer Darstellung Rembrandts und seiner führenden Interpreten als Vorkämpfer einer Entwicklungsgeschichte orientiert, die deutlich vom politisch-historischen Umfeld ihrer Erstpublikation (Leipzig
1960) geprägt ist. So werden die französischen Autoren der Zeit um 1850 hervorgehoben und in aktuell sozialistischer Perspektive interpretiert. Dagegen fehlt ein Hinweis auf das breite Segment der chauvinistischen deutschen Rembrandtbegeisterung mit ihrer zentralen Figur Julius Langbehn völlig.
8
hier differenzieren. Dabei soll keinesfalls der Möglichkeit von Veränderungen widersprochen
werden, die sich aus der linearen Abfolge historischer Zeit ergeben. Andererseits folgt aus
dieser existentiellen Grundbedingung der ‘Chronologie des Seins‘ noch lange keine Notwendigkeit von ‘Entwicklung‘, sei es als Fortschritt oder als Verfall. Ich möchte auf diese Problematiken reagieren, indem ich meiner Arbeit kein eindeutiges Modell geschichtlicher Zeiten
zugrunde lege. In den drei Abschnitten meiner Arbeit werden statt dessen drei unterschiedliche Beobachtungsverfahren, drei unterschiedliche Modi der Darstellung des historischen Phänomens der Rembrandtrezeption zur Anwendung kommen. Im Zentrum dieser poly-perspektivischen Methodik steht im zweiten Teil der Versuch, die deutsche Rembrandtrezeption zwischen 1883 und 1948 als ein synchrones Feld zu beschreiben, in dem es zwar zu partiellen
Verschiebungen von Schwerpunkten, Erklärungsmodellen und inhaltlichen Anknüpfungen
kommen mag, das aber in seinem wesentlichen Aspekt, der Vorstellung vom Künstler als autonomes Subjekt, durch Kontinuität gekennzeichnet ist.
Es sei hier nochmals ausdrücklich formuliert, daß ich in der vorliegenden Untersuchung den
Begriff der Rezeptionsgeschichte weder auf die Frage nach künstlerischen Adaptionen, noch
auf die Entwicklungsgeschichte der kunstgeschichtlichen Disziplin zuspitze. Mein Interesse
gilt der publik gewordenen Kommunikation über Rembrandt in ihrer Gesamtheit, soweit sie
in Textquellen zur Verfügung steht. Eingrenzungen dieses Feldes ergeben sich lediglich aus
pragmatischen Gründen - es kann natürlich keine ‘vollständige‘ Repräsentation des diskursiven Feldes der Rembrandtrezeption geleistet werden - und durch die Fragestellung der Arbeit.
Diese gilt eben nicht der Bedeutung Rembrandts als einer Inspirationsquelle moderner Kunst
oder als eines zentralen Gegenstands der Selbstvergewisserung niederländischer Kunstgeschichtsschreibung. Sie gilt der Bedeutung Rembrandts als einer diskursiven Figur der Verständigung über modernes Künstlertum sowie darüber hinaus über die Vorstellungen von moderner Subjektivität insgesamt.
Damit kommen wir zu einem weiteren Gegenstand, der hinter der Thematik dieser Untersuchung der Rembrandtrezeption steckt und mein Interesse daran letztlich geleitet hat. Dieser
Gegenstand sei hier als These formuliert: In der modernen bürgerlichen Gesellschaft dient der
Diskurs über den Künstler, über seine Persönlichkeit, sein Verhalten und sein Werk der Verständigung über die Möglichkeiten und Grenzen des menschlichen Individuums als eines zugleich singulären und sozialen Wesens; der moderne Künstler, ob er nun als diskursive Figur
oder verkörpert in einer empirischen Person in Erscheinung tritt, erfüllt in der gesellschaftlichen Kommunikation die Aufgabe einer Symbolfigur, in der die Einzigartigkeit, Intensität
und Unabhängigkeit menschlicher Subjektivität demonstriert wird. Die modernen
Konzeptionen von Subjektivität kommen im Künstler zur Anschauung.
9
Die Auseinandersetzung mit dieser These bildet jedoch lediglich eine zweite abstraktere Aufgabenebene der Arbeit. Auf sie wird besonders zum Ende des zweiten Teils zurückzukommen
sein, wenn im Anschluß an die Beschreibung Rembrandts als eines ‘Prototyps modernen
Künstlertums‘ verschiedene Modelle zur Funktion dieser diskursiven Künstlerfigur zu diskutieren sind. Auch diesen thematischen Rahmen möchte ich hier zunächst durch eine kurze
Darstellung vorhandener Forschungsperspektiven umreißen.
2.2 Zur Figur des ‘modernen Künstlers‘
Ansätze zu einer Beschreibung der Figur des modernen Künstlers liegen aus unterschiedlichen theoretisch-methodischen Perspektiven vor. Wenn man bedenkt, welche zentrale Position die Vorstellung vom Künstlertum in der Kunstgeschichtsschreibung einnimmt, ist die
geringe Zahl der Studien allerdings überraschend. Die früheste Darstellung, die es unternimmt, Künstlerviten als literarische Konstruktionen zu analysieren und sie, anders als ihre
Vorgänger und Zeitgenossen, nicht als weitgehend objektive und neutrale Schilderungen einer
historischen Wahrheit zu verstehen,6 stammt von Ernst Kris und Otto Kurz. In ihrer Legende
vom Künstler (zuerst 1934) weisen die beiden Wiener Kunsthistoriker die engen Verwandtschaften zwischen antiken und renaissancistisch-neuzeitlichen Künstlerviten nach und können
dadurch die Regelhaftigkeit der Vitenschreibung ins Blickfeld bringen. Im Künstlerbild des
„Griechentum[s]“7 sehen Kris und Kurz die „Wurzel“ für „gewisse G r u n d v o r s t e l l u n g e n vom bildenden Künstler“,8 die seither in aller Biographik vom Künstler vorlägen.9
Das Interesse der beiden Autoren liegt jedoch nicht in einer allgemeinen Dekonstruktion der
Künstlerliteratur.10 Kris und Kurz schließen sich vielmehr dem italienischen Kulturphilosophen Benedetto Croce an und verlangen mit diesem eine Unterscheidung zwischen dem
Künstler als Alltagsmensch und dem Künstler als Schöpfer des Werks. Somit verbleiben sie
in einem hermeneutischen Horizont, der im Werk die entscheidende Quelle zum Verständnis
des Künstlers sieht. Wie bereits am Beispiel Theodor Hetzer dargelegt, ist auch das Verständ6
Ausgenommen sind hier die kritischen Revisionen klassizistischer Künstleranekdotik, wie sie auch bei zahlreichen Autoren der Rembrandtliteratur seit Mitte des 19. Jahrhunderts zu finden sind. Diese zielen, mit Ausnahme
der von Eduard Kolloff, primär darauf, die Objektivität der eigenen Darstellungen durch Benennung eines Negativpols hervorzuheben. Mehr zu dieser Literatur im ersten Teil dieser Arbeit.
7
Kris/Kurz 1934, 14.
8
Ebd., 12.
9
Vergleichbar mit anthropologischen Konzepten ihres Vorbilds Aby Warburg wird auch diese von Kris und
Kurz konstatierte Kontinuität der Künstlerkonzepte durch ein essentialistisches Modell erklärt, das den zugleich
geäußerten Ansprüchen nach einer historischen Kontextualisierung der Phänomene widerspricht (vgl. Warburgs
Vorstellung von den sogenannten „Pathosformeln“ als „Urworte der Gebärdensprache“, in: Warburg 1906. Auch
Warburgs Projekt eines Mnemosyneatlas ist letztlich auf die Entzifferung einer Essenz menschlicher Bildsprachlichkeit ausgerichtet und will damit, in diesem Punkt sowohl lebensphilosophis chen als auch völkischen
Konzepten verwandt, statische Elemente menschlichen ‘Wesens‘ aus dem geschichtlichen Wandel herausfiltern).
10
Die philosophischen Grundlagen für eine derart radikale Perspektive sind erst 30 Jahre später vorhanden.
10
nisinteresse von Kris und Kurz weiterhin auf die historische Person des Künstlers als des
Urhebers künstlerischer Werke gerichtet und nicht auf die Rolle der Künstlerfigur in der
gesellschaftlichen Kommunikation.11
Aus anderer Perspektive nähert sich 50 Jahre später Eckhardt Neumann dem Phänomen der
Künstlermythen (Neumann 1986). Seine psycho-historische Studie über Kreativität setzt jedoch ebenfalls mit einer Genealogie der Vorstellungen vom Künstler als kreativem Individuum an. Neumanns Absicht ist es, neben den Kontinuitäten auch die Veränderungen darzulegen, die sich zwischen antiken Künstlermythologien und jenen neuzeitlichen „Künstlermythen“ feststellen lassen, die er bis hin zu Künstlerfiguren der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beobachtet. Neben der interessanten Ausweitung des von Kris und Kurz gesetzten historischen Material- und Geltungsrahmens, neben dem Nachweis der Tradierung von Motiven
antiker Hagiographie und neben anregenden Überlegungen zur gesellschaftlichen Rolle des
marginalisierten Künstlers bringt Neumanns Studie jedoch auch eine einseitige Konzentration
auf die Problematik einer pathologischen Befragung des Künstlertums. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit liegt in der Darstellung der unterschiedlichen Konzepte von Genie und Wahnsinn,
die in der psychologischen Literatur seit dem späten 19. Jahrhundert entworfen wurden.
Kreativität erscheint dabei auch in Neumanns eigener Perspektive wiederum als Essenz, deren
Besitz die Person des Künstlers in ein bedrohliches Verhältnis zur Gesellschaft bringt. Neumann interessiert dabei die Ausgrenzung der künstlerischen Begabung als ‘pathologisch‘.
Seine subjektzentrierte Perspektive mag vor einem psychologischen Theoriehintergrund überzeugen, sie blendet dabei jedoch solche Positionen aus, die die modernen Konzeptionen des
Wahnsinn innerhalb eines komplexeren gesellschaftlichen Ensembles analysieren (vgl. besonders Foucault 1973) und sie nicht allein als Strategien der Repression von Individuen,
sondern gerade als Mittel zur Entwicklung der diskursiven Vorstellungen von Subjektivität
untersuchen. Die Mängel des Analyserasters Neumanns zeigen sich deutlich in seinem Versuch, die „Künstlerrolle von Joseph Beuys“ darzustellen. Hier treffen zwei widersprüchliche
Prämissen aufeinander: Einerseits sieht Neumann die diskursiven Prozesse, die zum Phänomen des Künstlers führen, andererseits besteht er auf dem essentiellen Kern der Kreativität
ursprünglichen Künstlertums. Die Folge ist, daß Neumann nicht umhin kommt, die mitunter
kultische Verehrung und Inszenierung des „Schamanen“ Beuys als Scharlatanerie zu analysieren und damit von reflektierter Position aus den banalsten der Vorwürfe gegen diesen Künstler zu wiederholen (Neumann 1986, 100 ff.).
Den jüngsten und zugleich umfangreichsten Versuch einer kunstwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Figur des modernen Künstlers hat der Kulturwissenschaftler Wolfgang
11
Es ist allerdings weniger die Person des Künstlers als sein Werk und dessen historische Stellung, welche Kris
und Kurz mit Bezug auf Croce als Zentrum kunstgeschichtlicher Untersuchungen verstanden wissen wollen. Der
Figur des Künstler als Autor des Werkes kommt demnach nur ein sekundäres Interesse zu (Kris/Kurz 1934, 17).
11
Ruppert unternommen. Seine Studie fokussiert ausdrücklich die Thematik „der kreativen Individualität in der kulturellen Moderne im 19. und frühen 20. Jahrhundert“, und zwar aus sozialgeschichtlicher und kulturgeschichtlicher Sicht.
Der Komplexität des damit angesprochenen Feldes wird Ruppert allerdings trotz des quantitativen Volumens nicht gerecht. Um den regional und historisch ausgreifenden Mantel von
Titel und Untertitel entkleidet, handelt es sich um eine Studie der sozialen Situation von
Künstlern im München des wilhelminischen Kaiserreiches, wobei die Personen Franz Lenbachs und Wassily Kandinsky als Repräsentanten zweier Generationen mit unterschiedlichen
künstlerischen Idealen und sich verschiebenden Existenzbedingungen fallstudienartig fokussiert werden. Die Einführungen zum institutionellen Umfeld und zur Rolle des Künstlers in
der bürgerlichen Gesellschaft stellen durchaus zutreffende Phänomenbeschreibungen dar, sie
können aber besonders aufgrund ihrer lokalen Reduktion keinen Anspruch auf Geltung für die
„kulturelle[n] Moderne“ erheben. So werden etwa die internationale Wechselwirkung, die
Vorbildlichkeit der Kunstmetropole Paris und die Pluralität der sozialen Kontexte, in denen
künstlerische Praxis ausführbar und durch die relevanten gesellschaftlichen Instanzen auch
wahrnehmbar war, ausgeblendet. Zudem erweist sich die Verknüpfung der zwei methodischen Perspektiven Sozialgeschichte und Kulturgeschichte als problematisch. Einerseits
liefert Ruppert statistisches Material zu empirischen Personen und interessiert sich dabei besonders für das reale soziale Leid eines ökonomisch marginalisierten Berufszweiges, andererseits beschreibt er den ‘kulturellen Habitus‘ von Künstlern, also deren Fremd- und Selbststilisierung zu Figuren mit einem bestimmten, durch die Rahmenbedingungen der bürgerlichen
Gesellschaft determinierten Verhaltens-, Vorstellungs- und Erscheinungskodex. Diese spannungsvolle Doppelmethodik führt bereits im Bereich grundlegender Definitionen zu Konflikten. So versucht Ruppert einerseits, den modernen Künstler als ein Professionalisierungsschema innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zu verstehen:
„Die Tätigkeit des modernen Künstlers ist als ein Beruf anzusehen, der in der kulturellen Moderne
mit dem Aufstieg des Bürgers und der Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft umgeformt wurde.
Der moderne Künstler arbeitete für deren symbolischen Bedarf in einem spezifischen sozialen
Raum; ihm wurde als Akteur eine kulturelle Stellvertreterschaft für ‘den Bürger‘ übertragen. Man
erhob ihn ferner zum Repräsentanten der kreativen Individualität. Es wurde ihm zugewiesen, ungebunden von den normativen Standards der Bürgerlichkeit, die symbolische Repräsentation, das
‘geistige‘ und ästhetische Leben, in origineller Weise zu entfalten.“ (Ruppert 1998, 38)
Bereits in sich erscheint mir diese Definition als paradox, da sie ein Berufsbild innerhalb der
bürgerlichen Gesellschaft beschreibt, zu dessen Charakteristiken eine Distanzierung von den
„normativen Standards der Bürgerlichkeit“ zählen soll. Hat man die Vorstellung von diesen
normativen Standards nicht zu eng gefaßt, wenn sich der „Beruf“ des Künstlers nicht mehr
12
positiv mit ihnen erfassen läßt? Ruppert erweitert die immanente Spannung dieser Definition
noch, indem er eine zweite nachfolgen läßt:
„[Wir definieren] den modernen Künstler als ein Individuum, das seine gesteigerte subjektive Empfindung sowie seine Wahrnehmungsfähigkeit in einer individualisierten und authentisch-originellen
ästhetischen Sprachlichkeit auszudrücken versteht. Der moderne Künstler gewinnt seine Arbeitsfähigkeit zur Herstellung von Artefakten sowohl aus einer intuitiven Phantasieproduktion als auch
aus der distanznehmenden Abgrenzung zu der Sphäre der gesellschaftlichen Reproduktion des Lebens und den rationalen Arbeitsweisen der bürgerlichen Gesellschaft.“ (Ruppert 1998, 232 f.)
In dieser zweiten Definition wird der Künstler nicht mehr als Beruf, sondern als eine Wesenheit aufgefaßt, die sich bestimmter Vermögen erfreut. Mit seinen ‘Fähigkeit‘ zum Ausdruck
„subjektive[r] Empfindung“ mittels einer „authentisch-originellen ästhetischen Sprachlichkeit“ und zur „intuitiven Phantasieproduktion“ erfüllt der hier beschriebene Typ Mensch offenbar die Voraussetzungen, die einer Ergreifung des „Berufs“ ‘moderner Künstler‘ vorauszugehen haben. Ich sehe in diesen beiden Definitionen einen unauflösbaren Konflikt der von
Ruppert kombinierten methodischen Perspektiven. Für meine Arbeit ziehe ich daraus die
Konsequenz der Absage an ein essentialistisch-hermeneutisches Modell, das im Handeln der
Künstler die Spuren für eine wesenhafte Veranlagung von Subjekten zu erkennen versucht.
Indem ich die historischen Dokumente meiner Untersuchung weniger nach einer tiefen Bedeutungsschicht befrage, sondern als reine Oberfläche zu analysieren suche,12 will ich dem
Dilemma der zweiten Definition Rupperts entgehen. Dieses besteht meines Ermessens darin,
daß es eine Beschreibung des Phänomens ‘moderner Künstler‘ auf Basis derselben Codes
versucht, die als diskursive Voraussetzungen eben jenes Phänomens anzusehen sind: die Unterscheidung zwischen „rationalen Arbeitsweisen der bürgerlichen Gesellschaft“ und „intuitive[r] Phantasieproduktion“, zwischen „originelle[r] ästhetische[r] Sprachlichkeit“ und „Reproduktion“.13 Wenn diese Codes aber den diskursiven Rahmen der Sinngebungs- und
Positionierungsprozesse einer modernen bürgerlichen Gesellschaft ausmachen, kann man sie
nicht als analytisches Werkzeug zum Verständnis dieser selben Gesellschaft erheben. In
dieser Hinsicht verbleibt Rupperts Definition demnach im Rahmen dessen, was sie zu
analysieren vorgibt.
Meine grundsätzlichste Kritik an Rupperts Perspektive betrifft die Dominanz der sozialgeschichtlichen Methodik in seinem Ansatz. Seine Phänomenbeschreibungen erwecken, scharf
formuliert, den Eindruck, bei der Figur des modernen Künstlers handle es sich um ein Wesen
aus der Tierwelt, das sich in einer vom bürgerlichen Liberalismus und Industriekapitalismus
12
Damit schließe ich mich an die geschichtstheoretischen Überlegungen Hans Ulrich Gumbrechts an (Gumbrecht 1997, 411 ff.).
13
Vgl. zu diesem Problem die Darstellungen Gerhard Plumpes, Plumpe 1990, 15-30.
13
bestimmten Umgebung durch eine entsprechende Verhaltensstrategie eine Überlebensnische
suchen müsse. Ich wende mich mit dieser überspitzten Metaphorik gegen eine Perspektive,
die im sozialen Umfeld primär eine repressive Macht sieht, welche formgebend auf das ‘natürliche Wesen Mensch‘ einwirkt. Dagegen setze ich die Beobachtung der aktiven Anteilnahme des Menschen an den ihm nur vorgeblich äußerlichen Formungsprozessen; dagegen
frage ich vor allem nach der Tragbarkeit einer Unterscheidung zwischen Natur und Kultur des
Menschen und verweise auf die These, daß in dieser Unterscheidung lediglich eines der Deutungskonzepte erblickt werden kann, das innerhalb eines derartigen binären Unterscheidungsrasters wiederum zum Teil der Kultur gezählt werden müßte. An Rupperts sozialgeschichtlicher Methodik kritisiere ich außerdem seine positivistische Verwendung von Statistiken und
seine Lektüren historischer Fotografien und anderer Abbildungen, die er häufig ohne Reflexion ihrer medialen Spezifik, insbesondere der ikonographisch-motivischen Bildtraditionen,
als Dokumente verwendet. Dagegen sehe ich in seiner Phänomenbeschreibung eines ‘Künstlerhabitus‘ durchaus einen produktiven Ansatz, der die soziologische Perspektive Pierre Bourdieus für die kunstgeschichtliche Problematik nutzbar macht und dessen fruchtbare Fortführung wünschenswert ist. Ich werde dennoch nicht an diesem Punkt anschließen.
Die ambivalente Bewertung der Studie Rupperts hat zur Folge, daß ich im Verlauf des Textes
wiederholt auf diesen Autor zurückkommen werde. Meinen diskursanalytischen Ansatz verstehe ich teilweise als Ergänzung, teilweise auch als dezidierte Gegenposition zu Rupperts
Arbeit. Die Wahl meines Untersuchungsgegenstands kann in diesem Zusammenhang als programmatisch verstanden werden. Mit der Rembrandtrezeption entscheide ich mich für eine
Thematik, in der die Frage nach dem Agieren historisch-empirischer Künstlerfiguren der Moderne keine Rolle spielt. Damit grenze ich das methodisch äußerst problematische Feld der
Einflüsse von literarischen Diskursen auf individuelle Denk- und Verhaltensweisen bewußt
aus der Reichweite meiner Überlegungen aus. Durch diese Entscheidung soll die Aufmerksamkeit zunächst auf den imaginären Charakter von Subjektentwürfen gelenkt werden.14
2.3 Subjektivitätskonze pte als Problem moderner Kunstgeschichtsschreibung
Texte aus dem Feld einer biographischen Kunstgeschichtsschreibung sind nicht zuletzt Versuche über Subjektivität. Mehr oder weniger explizit demonstrieren sie Subjektkonzepte, entwerfen und proklamieren Idealbilder erfüllter Subjektivität, geben Empfehlungen für oder gegen bestimmte Verhaltensweisen des Einzelnen gegenüber seiner Umwelt und fungieren so14
In einem weiteren Schritt, den diese Arbeit jedoch nicht vollzieht, müßte die Frage nach den Prozessen der
individuellen Aneignung von und der Identifikation mit derartigen Subjektivitätsmustern thematisiert werden,
also das Phänomen der Personifikation dieser Muster, die dann als Befund empirischer Sozialforschung greifbar
werden.
14
mit als Orientierungsangebote für die Selbstverortung des Lesers. Wesentlich ist dabei das
Insistieren auf der Faktizität des Individuums und seiner Potentiale zur Ausprägung einer ‘eigenartigen‘ Subjektivität. Diese Vorstellungen kulminieren im Begriff der Autonomie. Indem
dieser Begriff in der Kunstgeschichte sowohl auf das künstlerisch tätige Subjekt als auch auf
sein Produkt, das Werk, angewandt wird, artikuliert sich die enge Verbindung dieser beiden
Elemente; vor diesem Hintergrund möchte ich die Hypothese aufstellen, daß wir es bei der
Vorstellung von der Autonomie des Kunstwerks im wesentlichen mit einem Konzept zur Veranschaulichung jener anderen Autonomie, der des (künstlerischen) Subjekts, zu tun haben.
Subjektivität, das ist in den vorangegangenen Zeilen bereits implizit ausgedrückt, wird in der
folgenden Untersuchung „nicht als ursprüngliche, ewig gleiche Verfassung des Menschen
verstanden, sondern als Produkt, als Ergebnis bestimmter Praktiken, durch die er sich selbst
zum Subjekt macht“ (Knobeloch 1996, 10). Subjektivitätkonzepte sind dem gesellschaftlichen
Wandel unterworfen, und auch innerhalb dieser historischen Variabilität sind sie den Individuen nicht ‘auferlegt‘. Vielmehr muß die Erwerbung von Subjektivität als ein performativer
Akt angesehen werden, als ein Prozeß der Selbstverortung: „Das Individuum handelt nicht
nur, sondern es orientiert sich dabei zugleich in einem Feld von Unterscheidungen; es schreibt
sich in eine Matrix von Handlungsmöglichkeiten ein, wobei es das Bestehende entweder bestätigt, verwirft oder modifiziert“ (ebd.).
Heinz Knobeloch hat kunstgeschichtliche Texte einer Gruppe möglicher Quellen zur Auseinandersetzung mit den Subjektkonzepten einer Epoche zugezählt:
„Äußerungen, die sich auf historische Ereignisse, auf wissenschaftliche oder künstlerische Leistungen beziehen, haben es nämlich an sich, daß sie dabei auch die Subjektfunktion des Menschen berühren und so ein bestimmtes Bild seiner Möglichkeiten und Grenzen entstehen lassen. Meistens
geschieht diese Subjektivierung eher beiläufig und unbewußt, manchmal sagt ein Autor seinem Leser aber auch ganz explizit, von welchen Bedingungen sein Denken und Handeln abhängig ist (...).“
(Knobeloch 1996, 11)
Den ersten dieser beide Modi, also ein ‘eher unbewußtes‘ Subjektivierungsangebot, ordnet
Knobeloch primär wissenschaftlichen und historischen Texten zu, während letzterer eher in
philosophischen und theologischen Texten aufzufinden sei, welche „ein normatives Interesse
mit ihrer Analyse“ verbänden. Es handle sich jedoch in beiden Fällen der Subjektivierung um
„Formen der Verwesentlichung, um Grenzziehungen (...), mit denen das Kontingente und
Phänomenale am Menschen vom Konstitutiven und Dauerhaften unterschieden“ würde (ebd.):
„In dieser Hinsicht hat die Subjektivierung Ähnlichkeit mit einem Richterspruch, der verkündet,
was der Fall ist oder was zu geschehen hat. Und, was dabei manchmal interessanter ist als der Inhalt eines solchen Urteils: In der Regel läßt sie auch erkennen, in welchem Sinne der Urteilende
15
sich selbst als Subjekt versteht, welchen Werten und Zielsetzungen er sich verpflichtet fühlt.“
(Knobeloch 1996, 11)
Die Perspektive, die ich auf die Rembrandtrezeption um 1900 richte, schließt an diese Überlegungen an. Nicht das Individuum des Niederländers aus dem 17. Jahrhundert und seine
Subjektvorstellungen interessieren hier, sondern die Subjektivitätskonzepte der zitierten Autoren selbst, die aus ihren Entwürfen ‘Rembrandts‘ sprechen. Diese Zielsetzung sollte allerdings
nicht ihrerseits als hermeneutische Rekonstruktion des Innenlebens individuell unterschiedener Kunsthistoriker mißverstanden werden. Meine Beschreibung ist nicht auf die (bewußten
oder unbewußten) Selbstentwürfe der ‘einzelnen‘ Autoren, etwa Wilhelm Bodes, Carl Neumanns oder Theodor Hetzers ausgerichtet; vielmehr ist es die Auffächerung des Denk- und
Sagbaren, die Skizzierung des allgemeinen Rahmens und der Binnenstrukturen des Feldes
künstlerischer Subjektkonzeption, der mein Interesse gilt.
Kunstgeschichtsschreibung, die sich der Figur des künstlerischen Subjekts widmet, hat Teil
an den Prozessen der Formulierung aktueller Modelle von Subjektivität; die Beschreibung des
Künstlers in der kunstgeschichtlichen Literatur erfüllt eine Funktion prototypischer Demonstration von Subjektivität in der modernen bürgerlichen Gesellschaft. Ein Ziel meiner Untersuchung ist es, die Gültigkeit dieses Satz zu veranschaulichen. Dabei richte ich den Blick
nicht auf jene Kunstwissenschaft, die sich der aktuellen künstlerischen Praxis zuwendet, sondern ausdrücklich auf Kunstgeschichtsschreibung. Aktuelle Subjektkonzepte kommen nicht
allein in der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Künstlern zum Ausdruck. Wie Knobeloch angesprochen hat, finden sie nicht weniger Niederschlag in den Entwürfen historischen Künstlertums, mitunter mag ihre Gestalt gerade in diesen Entwürfen besonders deutlich
auszumachen sein. Mit der Figur Rembrandts wird hier die Rezeption eines Künstlers fokussiert, welcher der überwiegenden Mehrheit der Autoren, die sich zwischen ca. 1850 und 1950
mit ihm auseinandersetzten, als Vorläufer eines ‘modernen Künstlertums‘ erschien. Die Präsenz dieser Vorstellung vom ‘modernen Rembrandt‘ läßt den Diskurs um diese historische
Künstlerfigur für eine Untersuchung der Topik moderner Subjektivität im Bild des Künstlers
als besonders geeignet erscheinen.
2.4 Michel Foucaults Beschreibung der „Funktion Autor“
Einen wesentlichen theoretischen Ausgangspunkt der Perspektive meiner Arbeit bilden die
Überlegungen zur „Funktion Autor“, die Michel Foucault in seinen Vorträgen Was ist ein
Autor?15 und Die Ordnung des Diskurses16 entwickelt hat und die in der Literaturwissenschaft
15
16
Qu’est-ce qu’un auteur?, zuerst 1969.
L’ordre du discours, zuerst 1972.
16
eine grundlegende Revision der Vorstellungen von Autorschaft und „Werkherrschaft“ bewirkt
haben.17 Da die folgende Analyse entscheidend auf der Übertragung dieser „Funktion Autor“
auf den Begriff des ‘Künstlers‘ basiert, ist es notwendig, diesen theoretischen Rahmen zu umreißen.
Ausgangspunkt der Überlegungen Foucaults ist die Feststellung der konstitutiven Bedeutung
des Begriffs ‘Autor‘ für die modernen Geisteswissenschaften:
„Der Begriff Autor ist der Angelpunkt für die Individualisierung in der Geistes-, Ideen- und Literaturgeschichte, auch in der Philosophie - und Wissenschaftsgeschichte. Selbst wenn man heute die
Geschichte eines Begriffs, einer literarischen Gattung oder eines bestimmten Philosophietyps nachzeichnet, glaube ich, betrachtet man diese Einheiten wohl als relativ schwache, zweitrangige und
überlagerte Ordnungsprinzipien verglichen mit der ersten, soliden und grundlegenden Einheit:
Autor und Werk.“ (Foucault 1993, 10)
Foucault interessiert sich für die Beschreibung dieses Bezugs Autor-Werk, für die Art, in der
das Werk „auf jene Figur verweist, die ihm, wenigstens dem Anschein nach, äußerlich ist und
vorausgeht“ (ebd.). Er stellt deshalb die Frage:
„Was ist ein Autorname? Wie funktioniert er?“ (Foucault 1993, 15)
Zunächst stellt Foucault fest, daß der Autorname ein Eigenname sei und die gleichen Probleme stelle wie dieser. Beide hätten einerseits hinweisende Funktion, fungierten also als Geste, als Fingerzeig, zugleich dienten sie jedoch als „Äquivalent für eine Beschreibung“. So
würde etwa mit dem Wort „Aristoteles“ ein Äquivalent für Beschreibungen wie „Der Autor
der Analytischen Schriften“ eingesetzt (bezogen auf unser Thema: mit dem Wort ‘Rembrandt‘
ein Äquivalent für ‘Der Maler der Nachtwache‘). Autorname und Eigenname liegen also gleichermaßen „zwischen den beiden Polen der Beschreibung und der Bezeichnung“ (ebd., 15),
und doch ist zwischen beiden eine wichtige Unterscheidung zu treffen, denn „die Verbindung
des Eigennamens mit dem benannten Individuum und die Verbindung des Autornamens mit
dem, was er benennt, sind nicht isomorph und funktionieren nicht in gleicher Weise“ (ebd.,
16). Am Beispiel eines beliebig gewählten Eigennamens („Pierre Dupont“) und eines Autornamens („Shakespeare“) illustriert Foucault die Problematik dieser Unterscheidung:
„Wenn ich zum Beispiel bemerke, daß Pierre Dupont keine blauen Augen hat oder nicht in Paris
geboren ist oder nicht Arzt ist, usw., so bleibt es doch dabei, daß dieser Name, Pierre Dupont, sich
17
Foucaults Texte nehmen ihrerseits bezug auf Roland Barthes These vom „Tod des Autors“, die als weiterer
Impulsgeber für die fragliche Debatte angesehen werden kann. Für eine ausführliche Diskussion des Zusammenhangs vgl. Bürger 1998. Zum Begriff der „Werkherrschaft“ siehe Bosse 1981. Für grundlegende Literatur zum
Thema vgl. Jannidis/Lauer/Martinez/Winko 2000.
17
immer noch auf die gleiche Person bezieht (...). (...) aber wenn man bewiese, daß Shakespeare nicht
die Sonette geschrieben hat, die man für die seinen hält, so wäre das eine Veränderung anderer Art:
sie zieht das Funktionieren des Autornamens in Mitleidenschaft.“ (Foucault 1993, 15)
Infolge dieser Beobachtung eines Unterschieds von Autorname vom Eigenname schlägt
Foucault vor:
„(...) ein Autorname ist nicht einfach ein Element in einem Diskurs (...); er hat bezogen auf den
Diskurs eine bestimmte Rolle: er besitzt klassifikatorische Funktion; mit einem solchen Namen
kann man eine gewisse Zahl von Texten gruppieren, sie abgrenzen, einige ausschließen, sie anderen gegenüberstellen. Außerdem bewirkt er eine Inbezugsetzung der Texte zueinander.“ (Foucault
1993, 17)
Unabhängig davon, ob ein auf bestimmte Werke bezogener Autorname zugleich als Eigenname auf ein historisch-empirisches Individuum verweist oder nicht, stiftet dieser dennoch
einen Zusammenhang zwischen den Texten (bzw. den Werken), er weist darauf hin, daß man
zwischen diesen Werken „ein Homogenitäts- oder Filiations- oder ein Beglaubigungsverhältnis der einen durch die anderen herstellte oder auch ein Verhältnis gegenseitiger Erklärung
und gleichzeitiger Verwendung“ (ebd.). Dieser das Werk gleichsam rahmende, einfassende
Charakter unterscheidet den Autornamen vom Eigennamen.
Der Autorname verweist nicht primär auf ein „reales, äußeres Individuum“, sondern er macht
eine Gruppe von Werken als „Ereignis“ sichtbar und erschließt dieser zugleich eine Position,
die mit besonderen Formen der Wahrnehmung und Behandlung verbunden ist. Denn die
„Funktion Autor“, so Foucault, ist in einer Kultur wie der unseren in einer „bestimmten Anzahl von Diskursen“ präsent, während andere sie nicht haben:
„Ein Privatbrief kann einen Schreiber haben, er hat aber keinen Autor; ein Vertrag kann wohl einen
Bürgen haben, aber keinen Autor. Ein anonymer Text, den man an einer Hauswand liest, wird einen Verfasser haben, aber keinen Autor. Die Funktion Autor ist also charakteristisch für Existenz-,
Verbreitungs- und Funktionsweise bestimmter Diskurse in einer Gesellschaft.“ (Foucault 1993, 18)
Nachdem Foucault auf diese Weise vom Begriff Autor zur „Funktion Autor“ gelangt ist, formuliert er vier verschiedene Merkmale, durch die sich in unserer Kultur ein Diskurs,18 der
Träger dieser Funktion ist, von anderen Diskursen unterscheidet.
18
Foucault verwendet den Begriff ‘Diskurs‘ hier in einem vergleichsweise engen Sinne. Er bezeichnet damit
einen Text oder eine Gruppe von Texten, wie sie etwa einem Autor zugeschrieben wird. In anderen Passagen
seines Textes (wie auch in anderen Texten) versteht Foucault unter den unterschiedlichen ‘Diskursen‘ innerhalb
einer Gesellschaft die Zirkulation von Texten, Aussagen und Praktiken, die sich je nach ihrem gesellschaftlichen
Ort voneinander unterscheiden lassen (etwa der Kunstdiskurs, der juristische Diskurs, der politische Diskurs
etc.), oder er umfaßt mit dem Begriff ‘Diskurs‘ die Gesamtheit kommunikativer Prozesse. Zum Verständnis der
von Foucault vorgestellten Probleme ist eine Reflexion über seine jeweilige Verwendung dieses Begriffes ent-
18
(1) Zunächst wird über die Autorfunktion das Eigentumsverhältnis eines Textes bestimmt.
Hier betont Foucault die historischen Unterschiede und die Entwicklung eines Eigentumsrechts für geistige Güter seit dem 18. Jahrhundert.19
(2) Der Wandel der Autorfunktion wird dann im zweiten Merkmal in den Vordergrund gerückt. So habe etwa im Mittelalter der Autorname die Autorität eines Textes gewährleistet,
„‘Hyppokrates sagte‘, und ‚Plinius erzählt‘ waren nicht nur Formen eines Autoritätsverweises, sondern Indizien für Diskurse, die als bewiesen angenommen werden sollten“ (ebd., 19).
Heute entfalte die Autorfunktion dagegen gerade im literarischen Feld ihren vollen Spielraum,
in dem sie in früheren Zeiten ohne Bedeutung gewesen sei.20
(3) Relevant für den Zusammenhang unserer Untersuchung erscheint besonders das dritte
Merkmal, in dem Foucault den Autor als Konstruktion beschreibt:
„[Die Funktion Autor] bildet sich nicht so spontan, wie man einen Diskurs einem Autor zuschreibt.
Sie ist das Ergebnis einer komplizierten Operation, die ein gewisses Vernunftwesen konstruiert, das
man Autor nennt.“ (Foucault 1993, 20)
Als Versuche, „diesem Vernunftwesen einen realistischen Status zu geben“, deutet Foucault
einige der Strategien, denen wir in der Rembrandtrezeption um 1900 massiv begegnen werden: „(...) im Individuum soll es einen ‘tiefen‘ Drang geben, schöpferische Kraft, einen ‘Entwurf‘“ (ebd.). Den Legitimitätsanspruch dieser hermeneutischen Bestrebungen, aus dem
Werk heraus eine Vorstellung von dessen Schöpfer (Urheber, Künstler, Autor) zu entwickeln,
weist Foucault prinzipiell zurück. Statt dessen betont er den konstruktivistischen Charakter
derartiger Autor-Entwürfe sowie den Anteil, der dem jeweiligen Exegeten am so entstehenden
Autorbild zukommt:
„(...) tatsächlich aber ist das, was man an einem Individuum als Autor bezeichnet (oder das, was
aus einem Individuum einen Autor macht) nur die mehr bis minder psychologisierende Projektion
der Behandlung, die man Texten angedeihen läßt, der Annäherungen, die man vornimmt, der
Merkmale, die man für erheblich hält, der Kontinuitäten, die man zuläßt, oder der Ausschlüsse, die
man macht.“ (Foucault 1993, 20)
Diesseits aller historischen Varianten („man konstruiert einen ‘philosophischen Autor‘ nicht
wie einen ‘Dichter‘“, ebd.) beschreibt Foucault dann vier Kriterien der Autor-Konstruktion.
Er leitet diese Kriterien aus den Regeln ab, die der Kirchenvater Hieronymus zur Bestimmung
der Echtheit kanonischer Texte formuliert hatte. Demnach wird der Autor zugleich als einscheidend (vgl. Frank 1988).
19
Vgl. dazu den Exkurs zur juristischen Konzeption des Eigentums in dieser Arbeit, Zweiter Teil, Kap. 2.3.2.
20
Streng genommen bestimmt Foucault in diesem Punkt kein besonderes ‘Merkmal‘, sondern verweist eher
allgemein auf die Spannweite der Autorfunktion, was er sowohl durch Beispiele für den historischen Wandel als
auch für verschiedenste Qualifikationsbereiche der modernen Gesellschaft belegt.
19
heitliches Wertniveau, als begriffliche und theoretische sowie als stilistische Einheit und
schließlich als historischer Zeitpunkt definiert. Diese Authentizitätskriterien werden uns weiter unten ausführlich beschäftigen, wenn es um die Originalitätsfrage im Rembrandtdiskurs
geht.
(4) Als letztes der vier Merkmale der „Funktion Autor“ verweist Foucault auf die „Ego-Pluralität“ der Diskurse, die über diese Funktion verfügen. So spräche etwa im Vorwort einer
wissenschaftlichen Publikation ein anderes Ego, als jenes, das in den anschließenden Beweisführungen sage „Ich schließe daraus“ (ebd., 22). Auch im Roman sei es falsch, „wolle man
den Autor beim wirklichen Schriftsteller oder auch beim fiktionalen Sprecher suchen“. Konstitutiv sei vielmehr gerade diese „Zersplitterung“ simultaner Egos:
„Die Funktion Autor vollzieht sich gerade in diesem Bruch - in dieser Trennung und dieser
Distanz.“ (Foucault 1993, 22)
Durch die Betonung der „Zersplitterung“ in diesem vierten Merkmal tritt Foucault nochmals
grundsätzlich den hermeneutischen Tendenzen entgegen, die eine harmonische Schließung
der Autorfigur und ihre Identifikation mit einem historisch-empirischen Individuum anstreben.
An dieser Stelle faßt Foucault die vier „charakteristischen Züge der Funktion Autor“ noch
einmal wie folgt zusammen:
„Die Funktion Autor ist an das Rechts- und Staatssystem gebunden, das die Gesamtheit der Diskurse einschließt, determiniert, ausdrückt; sie wirkt nicht einheitlich und gleichmäßig auf alle Diskurse zu allen Zeiten und in allen Kulturformen; sie läßt sich nicht dadurch definieren, daß man
spontan einen Diskurs einem Produzenten zuschreibt, sondern dazu sind eine Reihe spezifischer
und komplizierter Operationen nötig; sie verweist nicht einfach auf ein reales Individuum, sie kann
gleichzeitig mehreren Egos in mehreren Subjekt-Stellungen Raum geben, die von verschiedenen
Gruppen von Individuen besetzt werden können.“ (Foucault 1993, 23)
Die Beobachtung Foucaults, wonach der Begriff Autor der Angelpunkt „für die Individualisierung in der Geistes-, Ideen- und Literaturgeschichte“ ist, läßt sich mittels einer geringen
Modulation auch auf die Kunstgeschichte übertragen. Was in den textorientierten literarischen
Diskursen und wissenschaftlichen Disziplinen, die Foucault als Beispiele anführt, unter dem
Begriff des Autors gefaßt wird, tritt in kunstgeschichtlicher Literatur unter der Bezeichnung
‘Künstler‘ auf.21
21
In der hermeneutischen Praxis einer Evokation des künstlerischen Subjekts aus dessen Werken lassen sich
kaum Unterschiede ausmachen, die aus der divergierenden Werkform des (literarische) Textes oder des Bildes
resultieren. Die schriftgebundene Deutung vertextlicht beide Arten von Artefakten. Daß sich Bilder in wider-
20
Innerhalb der von Foucault vorgeschlagenen „Topologie der Diskurse“22 ist die Kunstgeschichtsschreibung - unabhängig davon, ob sie sich wissenschaftlich legitimiert oder nicht jenen Diskursen zuzuordnen, in denen die „Funktion Autor“ in Gestalt des ‘Künstlers‘ ein
konstitutives Element bildet. Das läßt sich allein daran erkennen, daß bis heute der Name des
Künstlers unter den ersten Informationen geführt wird, die einem Objekt assistieren müssen,
damit es als Kunstwerk wahrgenommen, diskutiert und (auch im ökonomischen Sinne) bewertet werden kann. Diese Notwendigkeit gilt auf den verschiedenen Ebenen des Kunstdiskurses in vergleichbarer Weise, sei es nun in der wissenschaftlichen Forschung, in der musealen Präsentation, in der populären Kunstpublizistik oder auf dem Kunstmarkt.
Dabei muß der jeweilige Autorname keineswegs mit dem Eigennamen eines empirisch nachgewiesenen historischen Individuums übereinstimmen. Aber ein Name ist notwendig. So bedient sich etwa kunsthistorische Forschung gezielt fiktiver Namen, um unbezeichnete Werke,
deren Produzenten sich aus keinen Quellen personifizieren lassen, dennoch einem Individuum
zuzuschreiben, etwa dem ‘Meister von Flémalle‘, oder dem ‘Schüler Nr. 2‘ in Giottos Arenakapelle. Die Zuschreibung von Werken an ihre Autoren ist, um 1900 wie heute, eines der wesentlichen Programme der kunstgeschichtlichen Disziplin. Kann ein Werk lediglich einer
‘Schule‘ oder dem ‘Umfeld‘ eines Meisters zugeschrieben werden, so gilt dies als ein unbefriedigender Zustand, dessen Korrektur angestrebt wird. Versuche, diesen Zustand durch neue
Hypothesen zu beenden, bedürfen keiner weiteren Legitimierung, sie erfreuen sich vielmehr
der Übereinstimmung mit einer der grundsätzlichen Zielsetzungen des Faches.23
Wie der Begriff ‘Künstlername‘ bereits signalisiert, verfügt gerade der Bereich der Kunst über
einen engen Bezug zu fiktionalen Entwürfen von Autorsubjekten. Dieser Begriff bezeichnet
sprüchlichere Deutungen einbinden ließen, da ihre Übertragung in die Textform gänzlich dem jeweiligen Interpreten überlassen bleibe, ist einen unbestätigte Behauptung. Gleiches gilt für die Beobachtung, Werke der bildenden Kunst würden nachdrücklicher in den Status absoluter Kunstwerke erhoben, da ihre ästhetische Gestalt
nicht ohne wesentliche Verluste in Text übersetzt werden könne.
22
Foucault 1993, 29. Hier wird der Diskursbegriff in einem weiteren Sinne verwendet. Er bezeichnet nicht nur
einzelne Texte oder Äußerungen eines Autors, sondern ein breites Feld von Kommunikationen, welches sich
durch inhaltliche oder formale Merkmale von anderen Feldern unterscheidet. Dabei kommt es jedoch nicht zu
einer hermetischen Schließung einzelner Diskurse; vielmehr läßt sich gesellschaftliche Kommunikationen mit
diesem einfachen, flexiblen Modell als Schichtung verschiedener, mehr oder weniger durchlässiger Diskursebenen beschreiben. Als ‘Diskurse‘ wären so zum Beispiel die innerdisziplinären Kommunikationen einer wis senschaftlichen Disziplin zu bezeichnen, während der ‘Rembrandtdiskurs’ nicht durch disziplinäre Grenzen,
sondern durch die inhaltliche Ausrichtung auf den Gegenstand ‘Rembrandt‘ einzugrenzen wäre. Sofern es nicht
anders gekennzeichnet ist, verwende ich den Begriff ausschließlich in diesem Sinne. Da mein Untersuchungsmaterial auf Schriftquellen beschränkt ist, kann meine Verwendung des Diskursbegriffs zudem speziell auf
Textkommunikation eingegrenzt werden. Mit dieser pragmatischen Entscheidung soll jedoch nicht prinzipiell
Foucaults späterem, umfassendem Verständnis des gesellschaftlichen ‘Diskurses‘ als Gesamtheit kommunikativer Praktiken widersprochen werden, das allgemein auf die Mechanismen der gesellschaftlichen Ordnung und
der Machtverteilung ausgerichtet ist und dabei, über fixiertes Schrifttum hinausgreifend, neben den imaginären
Leitbildern oder „Doxa“ (Bourdieu) einer Gesellschaft auch deren Institutionen und ritualisierte Praktiken umfaßt.
23
Im Bezug auf ihre Ordnungsfunktion sind auch die überindividuellen Kategorien der Künstlergruppen und der
Stilbezeichnungen eng mit der Funktion Autor verwandt, ein Phänomen, das einer näheren Untersuchung Wert
wäre.
21
den Typus des bewußt eingesetzten fiktiven Namens, der als Maskierung, als demonstrative
Kennzeichnung (etwa als ‘telling name‘), beziehungsweise als Markenkennzeichnung eines
Künstlers in der Öffentlichkeit entworfen wird. Er verweist somit auf die prinzipielle Differenz zwischen dem historisch-empirischen Subjekt und dem Subjekt der Diskurse. Die Unterscheidung zwischen Künstlernamen und Eigennamen veranschaulicht, daß wir es hier mit
zwei von einander unabhängigen Qualitäten von Namen zu tun haben. In dieser Weise sei
auch die Bezeichnung ‘Rembrandt‘ im folgenden als ein Künstlername verstanden und gänzlich von Fragen nach einem historisch-empirischen Individuum dieses Namens abstrahiert.
Tatsächlich ist für meine Untersuchung nicht relevant, in welcher Weise die Fragen nach der
einstmaligen Existenz eines solchen Individuums namens Rembrandt zu beantworten sein
mögen. Allein auf dessen fiktionales Nachleben, also auf den diskursiven Gegenstand ‘Rembrandt‘ ist hier das Interesse gerichtet.
Die niederländische Literaturwissenschaftlerin Mieke Bal hat, mit Bezug auf Foucault, in ihrem Buch Lezen in „Rembrandt“ („Rembrandt“ lesen) den Künstlernamen konsequent in Anführungszeichen gesetzt, um die Tatsache der Fiktionalität einer so bezeichneten Figur bewußt zu halten. „Rembrandt“, so argumentiert Bal, sei weniger eine historische Realität als
ein „kultureller Text“ (Bal 1991, 8). Damit liefert sie zugleich eine Charakterisierung dessen,
was ich als ‘diskursives Feld der Rembrandtrezeption‘ zum Untersuchungsgegenstand machen möchte:
„‘Rembrandt‘ ist das Bild von Rembrandt, das in unserer Kultur lebt und das besteht aus allen
Werken, den Erzählungen darüber, den Bildbänden, die in den Läden und Bibliotheken liegen,
Aspekten wie dem charakteristischen Lichteffekt und dem groben Pinselstrich der späten Werke.
(...) Es ist ein Bild, mit welchem die Mitglieder einer Kultur leben und das stets aufs Neue fortgeschrieben wird durch die Begegnung von Personen mit Dokumenten (...).“ (Bal, zit. nach Bruin
1995, 22)24
3 Die drei Teile und ihre methodischen Unterschiede
Die Arbeit ist in drei Teile untergliedert, die sich zum Teil in der historischen und topographischen Eingrenzung ihres Untersuchungsmaterials, zum Teil in dem methodischen Zugriff auf
24
„‘Rembrandt’ is het beeld van Rembrandt dat in onze cultuur leeft, en dat bestaat uit alle werken, de verhalen
erover, de platenboeken die in de winkels en bibliotheken liggen, aspecten als het karakteristieke lichteffect en
de grove penseelstreek van de latere werken. (...) Het is een beeld waarmee de leden van een cultuur leven, en
dat steeds opnieuw wordt voortgebracht door de ontmoeting van personen met documenten (...).“ (Bal, zit. nach
Bruin 1995, 22).
22
dieses unterscheiden. Diese methodische Differenzierung soll eine poly-perspektivische Sicht
auf den Untersuchungsgegenstand ermöglichen und damit die Frage nach der angemessenen
Methodik weniger dogmatisch beantworten als aktiv problematisieren.
Der erste Teil dient einer Einführung in das Problemfeld der modernen Rembrandtrezeption.
Dabei sollen sowohl die im wesentlichen klassizistisch bestimmte Vorgeschichte der modernen Positionen als auch die zentralen inhaltlichen Fragen, die gesellschafts- und kulturpolitischen Kontexte und nicht zuletzt der internationale Charakter der neuen Perspektive auf
Rembrandt und die niederländische Kunst des 17. Jahrhunderts erkennbar werden. Dies soll
mittels einer Darstellung von vier Texten aus den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts geleistet
werden, einer Phase, die ich als die ‘erste Phase der modernen Rembrandtrezeption‘ bezeichne, da sich in ihr ein verändertes Bild dieses Künstlers, vielleicht darüber hinaus ein verändertes Bild vom Künstler überhaupt, abzeichnet. Neben zwei französischen Autoren kommen ein niederländischer und ein deutscher Autor zur Sprache, deren Texte jedoch in Paris
geschrieben oder dort publiziert wurden. In der Analyse werden zentrale Topoi der Rembrandtliteratur vorgestellt, darüber hinaus wird die Präsenz der aktuellen Probleme der Kunstdebatten und Rembrandts Positionierung in gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen
beschrieben. Mit diesem ersten Teil, der auf einzelne Autoren und ihre Texte ausgerichtet ist,
soll eine Grundlage für die zentrale Untersuchung geschaffen und zugleich auch deren Problematik angedeutet werden.
Diese Untersuchung wird dann im zweiten Teil durchgeführt, der das Kernstück der Arbeit
bildet. In synchroner Perspektive wird hier eine systematische Beschreibung des Rembrandtbildes der deutschen Rezeption in den Jahrzehnten um 1900 (ca. 1880 - 1950) unternommen.
In diesem Zeitraum, den ich als ‘zweite Phase‘ der modernen Rembrandtrezeption bezeichne,
steht die Topik des autonomen Künstlersubjekts im Mittelpunkt. Es geht mir darum, die Bestandteile der damit verbundenen Konzeption Rembrandts als eines ‘Prototyps‘ des modernen
Künstlers detailliert nachzuzeichnen. Anschließend wird nach theoretischen Modellen für die
Funktion dieser diskursiven Erscheinung gefragt.
Da sich der zweite Teil methodisch in wichtigen Punkten vom ersten Teil unterscheidet,
werde ich ihm einige theoretische Überlegungen voranstellen. So wird die bereits angesprochene Phaseneinteilung und ihre genauere chronologische Eingrenzung zu klären sein. Außerdem ist die Vorstellung von der Literatur der zweiten Phase als ‘diskursives Feld‘ zu erläutern, die dem zweiten Teil der Untersuchung zugrunde liegt. Eine kurze Chronologie und
ein Vergleich der zwei voneinander unterschiedenen Phasen werden diesen einleitenden Abschnitt ergänzen.
23
Der dritte und letzte Teil bietet zugleich die Anwendung der Beobachtungen der zentralen
Untersuchung sowie deren Rückbindung an den ersten Teil der Arbeit. In zwei rezeptionsgeschichtlichen Fallstudien soll das diskursive Feld der modernen Rembrandtrezeption am Faden einzelner Topoi chronologisch durchschritten werden. Aus der größeren Zahl geeigneter
Themen habe ich mich für die Ablehnung der Nachtwache als Ursprungsmythos der künstlerischen Autonomie sowie für die Stilisierung der Selbstbildnisse Rembrandts zur ‘Autobiographie‘ entschieden.
Ich komme also nun zunächst auf einige Textbeispiele aus dem Zeitraum zu sprechen, in welchem sich jene Veränderung des Rembrandtbildes vollzieht, die als Voraussetzung für die
Bedeutung und die diskursive Gestalt dieses Künstlers in der deutschen Kunstliteratur um
1900 angesehen werden kann: auf die 50er Jahre des 19. Jahrhunderts.
24
Erster Teil
Rembrandts Anwälte. Die Verteidigungsrede als Modus der Neubewertung um 1850
25
26
1839 lobte die Holländische Gesellschaft der freien Künste und Wissenschaften (Hollandsche
Maatschappij van Fraaije Kunsten en Wetenschappen) einen Preis für eine Lobrede auf Rembrandt aus. Als Sieger ging der Gelehrte Johannes Immerzeel jr. aus diesem Wettbewerb hervor.1 In seinem Vortrag stellte der Träger der Ehrenmedaille fest, daß seine Lobrede im wesentlichen den Charakter einer Verteidigungsrede habe, da die vorherrschenden Meinungen
weder der Kunst noch der Person Rembrandts die gebührende Ehre erweisen würden. Obwohl
Immerzeels Darstellungen selbst weitgehend im Rahmen des klassizistisch-tradierten Rembrandtbildes verblieben, 2 bestimmte er mit dieser Aussage zutreffend die Position, von der aus
die Neubewertung des holländischen Künstlers in der Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgte.
Fürsprache für Rembrandt, wie für die niederländische Kunst des 17. Jahrhunderts insgesamt,
erfolgte um 1850 im Modus der Gegenrede. In einer Haltung, wie sie in Immerzeels Äußerung exemplarisch vorgeführt ist, werden zunächst einmal die eigenen Aussagen legitimiert:
Sie gelten als angemessene Wiedergutmachungen für erlittenes Unrecht. Diese Legitimation
vollzieht sich in einem Schritt der Abgrenzung gegen ältere Aussagen, denen dabei eine negativ bewertete Position zugewiesen wird. Mit dem Beginn der Lobreden auf Rembrandt
wurde somit zugleich die Vorstellung in Kraft gesetzt, die klassizistische Kunstliteratur habe
diesen Meister verkannt und ihm bewußt jene Stellung in der Kunstgeschichte vorenthalten,
die ihm gebühre.
Ausgehend von dieser Beobachtung wird nun versucht, die erste Phase der modernen Rembrandtrezeption durch die Vorstellung typischer Beispiele derartiger ‘Verteidigungsreden‘ zu
veranschaulichen. Es ist dabei keine erschöpfende Beschreibung intendiert, da der Schwerpunkt der gesamten Arbeit auf der deutschen Literatur um 1900 liegt. Das in diesem ersten
Teil zu erschließende Material bildet jedoch in mehrfacher Hinsicht den historischen Horizont, vor dem sich die zentralen Fragen der Untersuchung erst erhellen lassen. Zunächst wird
deshalb die Aufgabe darin bestehen, das Feld zu skizzieren, das mit der neuen Sicht auf den
niederländischen Künstler in der Mitte des 19. Jahrhunderts bestimmt wurde. Neben den beschriebenen Konsequenzen der Selbstpositionierung der ‘Anwälte Rembrandts‘ auf die Einschätzung früherer Rezeptionsphasen werden dabei besonders die gesellschaftspolitischen
1
Vgl. Scheltema (1866, 8) und Immerzeel (1843, 12).
Immerzeel würdigt Rembrandt im Rahmen der traditionellen Unterscheidung zwischen ‘natürlichem Genie‘
und ‘gelehrtem Genie‘: „Geene letterkundige opvoeding had hem den toegang tot den tempel der wetenschappen
geopend; geene opleiding van uitmuntende meesters was hem in de kunst ten deel gevallen; voor hem had nooit
Italië hare tresoren (...) geopend; schier alle beschreven wetten in het gebied van het schoone waren hem een
verzegeld boek gebleven; doch van jongsop had hij oog en geest gewend te lezen in het boek der natuur, dat
altijd geopend ligt voor de scherpzinnigen, aan wie het uit kracht eener hoogere roeping vergund is haar schrift te
leeren verstaan en tot den diepsten zin harer orakelen door te dringen.“ (Immerzeel 1843, 10). Zur Geschichte
dieser Unterscheidung vgl. Emmens 1968.
2
27
Implikationen der jeweiligen Vorstellungen von Kunst und Künstlertum Beachtung finden.
Denn die Umgestaltung des Rembrandtbildes und die Umwertung seiner Bedeutung geschah
nicht ausschließlich um des Niederländers Willen. Sie diente darüber hinaus der Plausibilisierung aktueller kultur- und gesellschaftspolitischer Konzepte, die in Opposition zu etablierten
Vorstellungen standen. Als Kommunikationsgegenstand für solche Inhalte bot sich Rembrandt aufgrund der Position an, die ihm aus der Rückschau innerhalb des traditionellen
Wertesystems akademischer Kunst zugeschrieben werden konnte.
Als Beispiele der ‘Verteidigungsschriften‘ möchte ich vier Texte aus jener Phase der Rezeptionsgeschichte vorstellen, in der es an verschiedenen Orten und aus verschiedenen Gründen zu
einer wirksamen Revision der Bewertung Rembrandts kam: (1) Aus Anlaß der Errichtung des
Rembrandt-Denkmals in Amsterdam hielt der Archivar der Provinz Nord-Holland, Paul
Scheltema, im Mai 1852 eine Rede über Leben und Verdienste des Künstlers; (2) in der französischen Zeitschrift Revue des Deux Mondes beschäftigte sich der Literatur- und Kunstkritiker Gustave Planche im Juli 1853 ausführlich mit der selben Thematik; und ein gleiches tat
(3) 1854 der in Paris lebende deutsche Kunstgelehrte Eduard Kolloff in Raumers Historischem Taschenbuch. Diese drei Texte, ursprünglich im Zeitraum von drei Jahren erschienen
und in drei verschiedenen Sprachen verfaßt, künden von einer bemerkenswerten Gleichzeitigkeit, und doch unterscheiden sie sich in markanter Weise. Indem ihre jeweiligen Positionen
herausgearbeiten werden, läßt sich das Problemfeld der Neubewertung Rembrandts skizzieren, wie es sich um die Jahrhundertmitte darstellte. (4) Ein Blick auf die 1858 und 1860 publizierten Bände der Musées de la Hollande von Théophile Thoré (alias William Bürger) wird
diese Darstellung ergänzen.
1 Paul Scheltema (1852) und der bürgerliche Nationalstolz
Das Jahr 1852 könnte mit guten Gründen als der Zeitpunkt bestimmt werden, an dem eine
Wende des Rembrandtbildes erkennbar wird. Einer dieser Gründe ist die Enthüllung des
Rembrandt-Denkmals in Amsterdam, die ein sichtbares Zeichen für die Sonderstellung setzte,
die Rembrandt unter den niederländischen Künstlern des 17. Jahrhunderts nunmehr zugewiesen wurde. Der zweite und in der Folgezeit sicherlich bedeutsamere Grund liegt in den Ergebnissen der Quellenforschungen, die der Archivar Paul Scheltema in einer Festrede am Vorabend der Denkmalsenthüllung erstmals der Öffentlichkeit vortrug. Scheltema stellte sein Tun
in den Kontext des bevorstehenden Ereignisses und begründete es damit, daß zum respektvollen Umgang mit dem Erbe des Künstlers neben der Ehrung seiner künstlerischen Leistungen auch die Erforschung und angemessene Darstellung seiner Lebensumstände zähle:
28
„Man hätte einigen Grund, unsere Nation der Gefühllosigkeit zu bezichtigen, zumindest könnte
man an der Wärme unseres nationalen Empfindens zweifeln, würden wir uns angesichts der Würdigung von Rembrands Talent nicht im geringsten um die Person desjenigen bekümmern, der seine
schönen Werke in unserem Heimatland ausführte und ebendort seine letzte Ruhestätte fand.“
(Scheltema 1866, 1 f.)3
Schon damals war es kein Geheimnis, daß Rembrandts bronzenes Abbild auf dem Boterplein
eine Antwort auf die Enthüllung des Rubens-Standbildes in Antwerpen von 1840 darstellte.
Als fernes Echo mag auch die gleichzeitige Errichtung des Nürnberger Dürer-Denkmals
nachgewirkt haben (Boomgaard 1995, 19). Das Bekenntnis zu den patriotischen Intentionen
dieser Denkmalsstiftungen war ebenso öffentlich, wie die Denkmale selbst. Die gefeierten
Künstler waren Ausdruck des Nationalstolzes und wurden zu Personifikationen nationaler
Identität erhoben:
„Ja, Rembrand war ein Holländer im wahrsten Sinne des Wortes, und wenn Belgien sich seines
Rubens rühmen kann, Italien seines Titian und seines Michelangelo, wir anderen Holländer, wir
sind stolz darauf Rembrand unseren Landsmann zu nennen.“ (Scheltema 1866, 2) 4
Dieses Interesse vertrug sich nicht mit dem zwiespältigen Bild der Person Rembrandts, wie es
sich, trotz verschiedener Korrekturansätze in der ersten Jahrhunderthälfte,5 in den vorhandenen biographischen Darstellungen zeigte. Einerseits wurde dort die künstlerische Potenz des
Holländers uneingeschränkt als beispiellos gefeiert, und er stand unangefochten als ‘Haupt‘
der niederländischen Schule fest.6 Andererseits war der kunsthistorische Stellenwert der Malerei des 17. Jahrhundert umstritten, und das wirkte sich auch auf die Würdigung Rembrandts
aus. Die geläufigen Schilderungen von Rembrandts Charakter standen in der Tradition klassizistischer Vitenschreibung. Ihre Darstellungen von Leben und Wesensart Rembrandts bedienten sich der Variation von Aussagen, die letztlich auf klassizistische Autoren zurückgehen, als deren Vertreter zum Beispiel Baldinucci, Sandrart und Houbraken zu nennen sind.7
Die Werke dieser Autoren und der daraus entstandenen Tradition bezeugen eine Vorstellung
3
„On aurait quelque motif d’accuser de froideur notre nation, en tout cas on pourrait douter de la chaleur de
notre sentiment national, si, à l’occasion de l’hommage rendu au talent de Rembrand, nous ne nous occupions
aucunement de la personne même (...) qui a éxécuté ses belles œuvres dans notre patrie, et qui y a trouvé sa dernière demeure.“ (Scheltema 1866, 1 f.). Mit einem unpräzisen Hinweis auf ältere Autoren begründet Scheltema
die ungewöhnliche Schreibweise des Künstlernamens (ebd., 1866, 4), die keine Nachfolger fand. An dieser
Stelle ist darauf hinzuweisen, daß ich hier, wie auch bei allen folgenden Zitaten, auf jede Form aktualisierender
Angleichungen, Korrekturen oder Hinweise auf irritierende Rechtschreibung verzichte.
4
„Oui, Rembrand était un Hollandais dans tous le sens du mot, et, si la Belgique peut se vanter de son Rubens,
l’Italie de son Titien et de son Michel-Ange, nous autres Hollandais, nous sommes fiers de nommer Rembrand
notre compatriote.“ (Scheltema 1866, 2).
5
Ein Teil der Scheltema-Quellen war bereits verschiedentlich publiziert worden (vgl. Thoré 1866).
6
Vgl. zum Beispiel Wilson (1836, 23), Kugler (1837, 176) und Immerzeel (1843, 9).
7
Zur ausführlichen Darstellung vgl. Slive 1953, Emmens 1968 und Grijzenhout/van Veen 1992.
29
von biographischer Literatur, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts auf zunehmendes Unverständnis stieß. Mündliche oder schriftliche Überlieferungen zur Person des Künstlers bilden
durchaus eine ihrer Quellen. Formgebend wirkt jedoch ein Verständnis des Künstlertums, das
durch ein Studium antiker und renaissancistischer Vorbilder der Vitenschreibung geprägt ist.8
Die Darstellung des Charakters eines Künstlers ist dabei primär als eine belehrende Erzählung
zu verstehen, deren Inhalte wesentlich von der Beurteilung des Stellenwerts der jeweiligen
künstlerischen Leistung nach dem Maßstab des klassizistischen Regelsystems abgeleitet werden. Die Holländer sind hier aufgrund ihrer bevorzugten Bildmotive als Stilleben-, Landschafts-, oder Genremaler eingestuft. Dieser Zuweisung ihrer Kunstproduktion zu - im klassizistischen Verständnis - niederen Gattungen folgte eine entsprechende Charakterschilderung.
Neben der Gattungsfrage war noch ein zweites Kriterium wirksam. Die klassizistischen
Kunstregeln, die an den Akademien vor allem im 18. Jahrhundert tonangebend waren, erhoben die Ästhetik der Renaissance und der darüber mitrezipierten Antike zum Ideal und deren
Befolgung zum Beleg eines gelehrten Künstlertums. Aus dieser Perspektive mußte die ‘niederländische Schule‘ des 17. Jahrhunderts, die diesem Schönheitskanon nicht entsprach, als
ungebildet gelten. Dieser Einstufung folgte etwa die Charakterisierung Rembrandts als eines
skurrilen Sonderlings, der sich gerne mit den niederen Schichten der Gesellschaft umgab, die
Ausbildung seiner Schüler mit gänzlich unakademischen Methoden betrieb, das Studium der
Natur über jede künstlerische Tradition stellte und zu dessen herausragenden Wesenszügen
der Geiz zählte.9 Zur Erklärung der, aus klassizistischer Sicht, irregulären Bildgestaltung sowie zur Veranschaulichung von typischen Merkmalen des unzureichend gebildeten ‘natürlichen Genies‘ diente eine Anzahl pointierter Anekdoten, die Muster aus knapp 2000 Jahren
Vitentradition variierten. Zur Typik des Künstlers zählte dabei unter anderem der Ideenreichtum, der sich auch in verbaler Schlagfertigkeit ausdrückt, die technische Brillanz, aus der die
Fähigkeit zum Augentrug erwächst und - in Verbindung damit - eine besondere Lust an der
Täuschung, eine Begabung zur List sowie das Vergnügen an ihrem Gelingen, das sich in einem spezifischen Humor äußert. Daneben stehen allerdings Eigenschaften wie Talent und
Fleiß, die auch dem bürgerlichen Tugendkanon des 19. Jahrhunderts entsprachen. 10
Die niedrige Einstufung der Niederländer in der Werteskala der klassizistischen Kunstkritik
diente den anti-akademisch orientierten Autoren der Jahrhundertmitte als Moment der Abgrenzung. Das ältere Urteil wurde dabei in verabsolutierender Weise als ‘Verkennung‘ oder
8
Kris/Kurz 1934; konkret zu Rembrandt: Emmens 1968.
Wie bereits angedeutet, wäre es unsachgemäß, diese klassizistische Konzeption als eine ausschließlich negative
Bewertung zu verstehen. Die Unterscheidung zwischen gelehrtem und natürlichem Genie beinhaltet zwar eine
Rangordnung zuungunsten des letzteren, würdigt aber dennoch bis zu einem gewissen Grade dessen Leistungen.
10
Diese Ambivalenz führte zu dem Phänomen, daß ein klassizistischer Autor, etwa Houbraken, in Texten aus
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts innerhalb eines Satzes als Quelle verworfen und zum Zeugen erhoben
werden konnte (vgl. auch den folgenden Abschnitt).
9
30
‘üble Nachrede‘ dargestellt, was die Notwendigkeit einer Rehabilitierung des derart behandelten Künstlers zusätzlich plausibel erscheinen ließ.11
Die Verwendung von Anekdoten gilt den Kritikern der traditionellen, klassizistisch geprägten
Künstlerbiographik als Beleg für eine unangemessene dichterische Darstellung der historischen Verhältnisse. Anstelle der literarischen Überlieferung dient ihnen das Konzept einer
historischen ‘Wahrheit‘ als Legitimation ihrer Aussagen.12 Dieser Widerspruch gegen die
Traditionen kann mit dem Konflikt zwischen idealistischen und realistischen Konzepten, einem akuten Thema im Streit der künstlerischen Stile dieser Zeit, in Verbindung gebracht werden.
Die Komplexität dieser geistesgeschichtlichen Kontexte muß berücksichtigt werden, um die
Reichweite der Aussagen Paul Scheltemas zu ermessen, wenn dieser beispielsweise nicht bloß
die Lebensdaten, sondern auch die Wesenszüge seines gelobten Landsmannes ‘bereinigen‘
will:
„Ich habe nicht nur vom Leben Rembrands gesprochen, sondern auch von seinem Charakter, und
ich habe mich bemüht, ihn von dem Tadel zu befreien, der zu Unrecht auf ihm lastet.“ (Scheltema
1866, 2)13
Der Konflikt zwischen der schmuckreich erzählenden Literaturform der biographischen Tradition und den neu definierten Ansprüchen an eine Fundierung der Darstellungen auf ‘objektiven‘ historischen Tatsachen war elementar. Die teilweise vehementen Angriffe auf die älteren Autoren, die sich besonders auf die Praxis der Anekdotik konzentrieren, legen davon
11
Bereits Emmens hat auf die Unzulässigkeit dieser vereinfachenden Negativdarstellung des Klassizismus hingewiesen und dabei besonders vor dessen Gleichsetzung mit dem Akademismus gewarnt: „One cannot apply the
terms of the 19th-century dichotomy between academic rules and romantic freedom from rules to the 17th-century conflict between ‘the infallible rules of art’ of the classicists and the freedom enjoyed by the Unlearned
Painters. For one thing, 19th-century academicism is reactionary, while 17th-century classicism is progressive.“
(Emmens 1968, 193). An dieser Stelle sei auch angedeutet, daß diese beiden unterschiedlichen Kunstkonzepte
des akademischen Traditionalismus und des modernen Progressivismus mit entsprechenden politischen Konzepten verknüpft werden können (womit jedoch nicht die Polarität ‘konservativ vs. progressiv‘ in der bürgerlichen Gesellschaft gemeint ist). Akademische Kunstregeln lassen sich vielmehr als Bestätigungsform der hierarchischen Ordnung des ihnen zeitgenössischen stratifikatorischen Gesellschaftssystems verstehen, während der
moderne Anspruch auf ‘Freiheit der Künste‘ Entsprechungen zur funktionalen Differenzierung der modernen
Gesellschaft aufweist (vgl. Luhmann 1995, Kapitel 4, besonders die Abschnitte I und VI).
12
Der niedrigen Einstufung der Niederländer lag ein normatives Urteil zugrunde. Deshalb war es unwesentlich,
daß der ‘Regelverstoß‘ Rembrandts bereits in der ersten Hälfte des 17. Jahrhundert, also ‘avant la lettre‘, vor der
Formulierung der klassizistischen Regeln, erfolgt war. Die Kritiker dieser Regelkunst, hier in Gestalt der ‘Anwälte Rembrandts‘, verfahren mit ihren Vorgängern in gleicher Weise: Sie fragen nicht nach den Motivationen
der älteren Autoren, sondern bezichtigen diese auf Basis der aktuellen Urteilskriterien ihrerseits des Regelverstoßes. Ihnen gilt die betont literarische Form der Vitenschreibung als unangemessen, als gezielte Verfälschung von
Tatsachen. Symptomatisch belegt durch den erzählerischen Charakter der Anekdote, sehen sie dichterische Strategien am Werk, wo ihrer Meinung zufolge nach Wahrheit zu suchen sei.
13
„J‘ai parlé non-seulement de la vie de Rembrand, mais aussi de son caractère, et j’ai tâché de le disculper du
blâme qui pèse à tort sur lui.“ (Scheltema 1866, 2).
31
Zeugnis ab. Der neue Anspruch klingt an in Théophile Thorés Würdigung der Schrift Scheltemas anläßlich ihrer Neuauflage von 1866:
„Alles, was man heute über Rembrandt weiß , ist dargestellt, freilich in kurzer Form, und, wenn
man so sagen darf, dokumentarisch.“ (Thoré 1866, X)14
In dieser Äußerung wird einerseits dezent der Wunsch nach einer ausführlicheren Darstellung
des vorhandenen Wissens deutlich,15 zugleich steht aber fest, daß ein solches Projekt eine
‘dokumentarische‘ Basis besitzen sollte. Dieser Anforderung entspricht Scheltemas Buch
schon allein quantitativ in überzeugender Weise, da weit mehr als die Hälfte seines Umfanges
dem Abdruck historischer Dokumente gewidmet ist. Die Bereitstellung der Quellen, Grundlage für eine Neubewertung Rembrandts in den folgenden Jahrzehnten, begleitet der holländische Archivar durch eine Charakterskizze des Künstlers, die als Widerlegung der geläufigen
Darstellungen angelegt ist. Die Motivation, die dieser ‘Verteidigung Rembrandts‘ zugrunde
liegt, werde ich nun an zwei Beispielen veranschaulichen: an der Diskussion von Rembrandts
privatem Umfeld und an der Auseinandersetzung mit einer beliebten Anekdote, der Heureux
voyage de Rembrandt.
1.1 Rembrandts privates Umfeld
Als Beispiel für die Einschätzung der privaten Verhältnisse Rembrandts gemäß der Vitentradition sei die Kurzfassung zitiert, in der sich Georg Kaspar Nagler (1843) zur Ehegattin des
Künstlers äußert:
„Die Wohnung des Meisters teilte jetzt eine speculative Hausfrau, eine artige wohlbeleibte Bäuerin
seiner Gegend.“ (Nagler 1843, 4)
Mit dem Adjektiv ‘speculativ‘ kennzeichnet Nagler bereits selber das Fehlen genauerer Informationen über die fragliche „Bäuerin“. Die Fortsetzung des Zitates macht deutlich, in welchen Erzählzusammenhang diese Aussage gestellt wird:
„Um vornehme Gesellschaft hatte er sich nie bekümmert und vergebens bemühte sich der Bürgermeister Six, den Künstler aus seiner gemeinen Umgebung zu ziehen. Er ging nur mit dem Pöbel
um, und entschuldigte diess damit, dass er sagte, er suche in seinen Mussestunden nicht Zwang bei
den Grossen, sondern Freiheit, wo er sie finde.“ (Nagler 1843, 4)
14
„Tout ce qu’on sait aujourd’hui sur Rembrandt est là, dans une forme succincte, à la vérité, et, si l’on peut
ainsi dire, documentale.“ (Thoré 1866, X).
15
Thoré plante selbst eine Rembrandt-Monographie, zu der es jedoch nicht kam.
32
Von der bäuerlichen Herkunft und Erscheinung der „Hausfrau“ leitet Nagler also zu der gewöhnlichen Gesellschaft über, deren Umgang Rembrandt gepflegt habe. Diese Aussage zählt,
mitsamt der als Zitat ausgewiesenen Begründung des Künstlers, zum topischen Bestand älterer Biographien. Sie läßt sich bis zu dem 1699 in Paris publizierten Abregé de la Vie des
Peintres von Roger de Piles zurückverfolgen, wo es nach kurzem Verweis auf Rembrandts
Heirat heißt:
„Obwohl er über gute Fähigkeiten verfügte und sich ein großes Vermögen erworben hatte, verleitete ihn seine Neigung zum Umgang mit Leuten von niederer Herkunft. Einige Personen, die sich
um seinen Ruf sorgten, wollten mit ihm darüber sprechen; wenn ich meinen Geist entspannen will,
sagte er ihnen, ist es nicht die Ehre, sondern die Freiheit, die ich suche.“ (Roger de Piles 1699, zit.
nach Emmens 1969, 80) 16
In einer typischen Topos-Variation treten bei Nagler die ‘besorgten Personen‘ unter dem Namen des Jan Six auf, des (späteren) Bürgermeisters von Amsterdam, der von Rembrandt
mehrfach porträtiert worden war. Die Erläuterung des Künstlers zu seinem Desinteresse an
gehobener Gesellschaft wird, ebenfalls leicht variiert, aus der älteren Literatur übernommen.
Dieser vermeintlich originären Äußerung Rembrandts wurde, im Gegensatz zu anderen anekdotisch überlieferten ‘Zitaten‘, noch in der modernen Rezeption eine gewisse Achtung entgegengebracht. So verwendet sie zum Beispiel Wilhelm Bode zur Charakterisierung Rembrandts (Bode 1905, 16).17 Jan Emmens beklagt 1969, der Ausspruch werde „noch in der
heutigen Rembrandtliteratur als ein authentischer (...) zitiert“18 und verbannt ihn zugleich ins
Reich der Legenden. Eine reizvolle Schlußfolgerung zog Wilhelm Lübke, der 1877 ebenfalls
noch von der Authentizität des Zitates ausging:
„Vielleicht hat er [Rembrandt, M.H.] Gratians Regeln der Lebenskunst gekannt, denn der sagt irgendwo: Es ist gut mit hervorragenden Personen zu verkehren, um so wie sie zu werden; aber wenn
man das geworden ist, muß man sich zum Mittelmäßigen halten. Und er gab als Grund an: Wenn
ich meinen Geist ausspannen will, dann suche ich nicht Ehre, sondern Freiheit.“ (Lübke 1877, 218)
Dank dieses Hinweises dürfen wir vermuten, daß hier tatsächlich jemand Gratians Regeln der
Lebenskunst kannte, sei es Rembrandt, sei es Roger de Piles.19
16
„Quoy qu’il eut un bon Esprit et qu’il eût gagné beaucoup de bien, son penchant le portoit à converser avec
des gens de basse naissance. Quelques personnes qui s’intéressoient à sa réputation luy en voulurent parler,
quand je veux d’élasser mon Esprit, leur dit-il, ce n’est pas l’honneur que je cherche c’est la liberté.“ (Roger de
Piles 1699, zit. nach Emmens 1969, 80; vgl. auch Slive 1953, 217). Emmens stellt diesen Ausspruch in den
Kontext des Libertinismus des 17. Jahrhunderts (1969, 80). Das Zitat findet sich u.a. bei Wilson (1836, 8).
17
Weiteres Beispiel ist Coquerel 1869, 109.
18
„nog in de huidige rembrandtliteratur als een authentieke (...) geciteerd“ (Emmens 1969, 80).
19
Nach Lübke gibt auch Wilhelm Valentiner Gratian als Quelle des Zitates an (1906, 138). Vor ihm tut dies
bereits Houbraken (1718). Tatsächlich ist Lübkes Formulierung eine wörtliche Übertragung aus Houbrakens
Groote Schouburgh: „Misschien dat hy de wellevens wetten, door Gratiaan beschreven, gekent heeft, want die
33
Paul Scheltema tritt der literarisch überlieferten Abneigung des Künstlers gegenüber gehobenen Gesellschaftskreisen entschieden entgegen. Dazu verweist er auf das Lobgedicht „unseres
herausragenden Poeten Jeremias de Decker“ (Scheltema 1866, 22),20 sowie auf die Freundschaft Rembrandts mit dem Chirurgen Professor Nikolaas Tulp und mit dessen Schwiegersohn Jan Six. Daß eine Freundschaft zu dem bekannten Anatomen bestanden habe, bemüht
sich Scheltema nicht zu belegen. Offenbar schließt er aus der Tatsache des in Auftrag gegebenen Gruppenporträts auf eine solche Beziehung. Im Falle des Jan Six weist er auf dessen
privates Album hin, das zwei Skizzen Rembrandts enthält, und schließt:
„Wenn Jan Six, der die Kunst liebte, kein Förderer oder Mäzen Rembrandts gewesen wäre, hätte er
ihm sicher keinen Platz in seinem Album gewährt. Und von einem Mann wie Rembrandt, der sich
rühmen durfte, die Hochachtung und die Freundschaft eines Decker, eines Tulp, eines Six zu besitzen, hat man zu sagen gewagt, er suche sein Vergnügen im Umgang mit gewöhnlichen Leuten und
hielte sich dies zugute. Dieser Vorwurf bedarf in der Tat keiner weiteren Wiederlegung.“ (Scheltema 1866, 22 f.)21
Weder das Urteil der Klassizisten über Rembrandts ‘gewöhnlichen‘ Umgang noch das ‘Gegengutachten‘ Scheltemas sind hier im Hinblick auf eine historische ‘Wahrheit‘ von Interesse;
sie sollen vielmehr als Beispiele für die Zeitgebundenheit des Rembrandtbildes betrachtet
werden. Wir begegnen dabei dem Phänomen der Verknüpfung von Kunsturteil und Lebensbeschreibung, das im folgenden viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen wird. In beiden Fällen
wird die Einstufung des Stellenwertes der Kunst Rembrandts durch dessen private Lebensführung plausibilisiert.22 Wie de Piles und andere die niedrige Klassifikation von Rembrandts
Werken - nicht seines Talentes! - mit dessen vulgärem Umfeld in Verbindung bringen, so
findet Scheltemas Hochachtung vor Rembrandts Kunst in einer Aufwertung der Privatperson
ihre Entsprechung.23 Seine Exegese der Quellenfunde ermöglicht es ihm, dem Standbild des
Künstlers eine Biographie zur Seite zu stellen, die einer Symbolfigur bürgerlichen National-
zeit elders: Het is goet met uitstekende Persoonen te verkeeren, om zoodanig te worden, maar wanneer men dat
is, moet men zich by middelmatige voegen. (...) Als ik myn geest uitspanninge will geven, dan is het niet eer die
ik zoek, maar vryheit.“ (Houbraken 1718, zit. nach Slive 1953, 194).
20
„Notre excellent poëte Jeremias de Decker“ (Scheltema 1866, 22). Gemeint ist der Dank-Bewys, zuerst publiziert 1667 (Slive 1953, 295 f.). Scheltema zitiert Auszüge in seinem Dokumenten (Scheltema 1866, 119 f.).
21
„Si Jan Six, qui aimait les arts, n’avait été pour Rembrandt qu’un protecteur ou un Mécène, il ne lui eût certes
pas accordé une place dans son album. Et c’est d’un homme tel que Rembrandt, qui pouvait se vanter de posséder l’estime et l’amitié d’un Decker, d’un Tulp, d’un Six, qu’on a osé dire qu’il cherchait son bonheur dans la
fréquentation des gens vulgaires et s’en faisait honneur! Ce reproche, en vérité, n’a pas besoin d’une plus ample
réfutation.“ (Scheltema 1866, 22 f.).
22
Michel Foucault hat darauf hingewiesen, daß dieses Verfahren der Beglaubigung der Autorität eines Werkes
durch die Heiligkeit der Lebensführung seines Autors auf die Tradition christlicher Exegese zurückgeführt werden kann (Foucault 1993, 20).
23
Die weitere Rezeption zeigt dann zumeist das gegenläufige Phänomen: die (kultische und wirtschaftliche)
Aufwertung eines einzelnen Kunstwerks durch dessen Zuschreibung zu Rembrandt.
34
stolzes angemessen ist. Nicht nur der Freundeskreis Rembrandts wird dabei neu bestimmt,
dank der Quellenlage erhält auch die Person seiner Ehegattin ihren Namen und ihre bürgerlichen Ehrenrechte zurück:
„Zu Unrecht haben Rembrandts Biographen diese Frau als eine kleine Bäuerin aus Ransdorp in
Waterland betrachtet. Weit davon entfernt, einem bäuerlichen Geschlecht zu entstammen, ist sie,
im Gegenteil, aus einer sehr vornehmen und geachteten friesischen Familie hervorgegangen. Saskia
war die Tochter von Rombertus Uilenburg, der (...) Bürgermeister der Stadt Leeuwarden war und
danach mit Auszeichnung mehrere Jahre lang das Ehrenamt eines Beraters am Friesischen Hofe
bekleidete.“ (Scheltema 1866, 14) 24
1.2 Heureux voyage de Rembrandt 25
Auch das zweite Beispiel für die Verteidigung Rembrandts durch Paul Scheltema offenbart
eine deutliche Tendenz, den Künstler nach Maßstäben zeitgenössischer bürgerlicher Normen
und Tugenden akzeptabel zu machen. Ein Großteil der Anekdoten, die sich in der ersten
Hälfte des 18. Jahrhunderts in den Rembrandt-Biographien ansammelten,26 illustrieren eine
seiner vermeintlich grundlegenden Charaktereigenschaften: den Geiz. So wird etwa in der
Erzählung von ‘Rembrandts glücklicher Heimreise‘ das weltliche ‘début‘ des jungen Künstlers ausgeschmückt und dabei zugleich seine Liebe zum Geld veranschaulicht. Ich zitiere
diese Anekdote aus einer englischen Quelle, C. J. Nieuwenhuis‘ 1834 erschienenem review of
the lives and works of some of the most eminent painters:
„Sein bemerkenswerter Fortschritt zog jedenfalls die Aufmerksamkeit vieler Kunstliebhaber auf
sich; denn Houbraken versichert uns, daß er zu jener Zeit eines seiner Bilder an einen Herrn in Den
Haag für 100 Gulden verkaufte, was damals ein recht hoher Preis war. Er war mit der Bezahlung so
24
„A tort, les biographes de Rembrand ont considéré cette femme comme une petite paysanne de Ransdorp en
Waterland. Bien loin qu’elle descendît d’une race de paysans, elle était, au contraire, issue d’une famille trèsdistinguée et très-respectable de la Frise. Saskia était fille de Rombertus Uilenburg, qui fut (...) bourgmestre de la
ville de Leeuwarden, et qui occupa ensuite avec distinction, pendant plusieurs années, la dignité de conseiller à
la Cour de Frise.“ (Scheltema 1866, 14). In einer Fußnote im dokumentarischen Teil kritisiert der Herausgeber
Théophile Thoré die Entstellungen, die Houbraken Saskia zufügte: „C‘est à Houbraken qu’on doit l’invention de
cette paysanne de Ransdorp, qui existe depuis un siècle et demi comme compagne de Rembrandt. Ce qu’il y a de
singulier dans ce conte, et dans tous les autres, bien plus mauvais, que Houbraken a écrits sur Rembrandt, c’est
que Houbraken était élève de Samuel van Hoogstraten, élève lui-même de Rembrandt. Samuel van Hoogstraten
(...) entra tout jeune, ‘après la mort de son père Dirk en 1640‘, dans l’atelier de Rembrandt. (...) Van Hoogstraten
avait donc peut-être connu Saskia, morte en 1642 (...). Saskia ne devait pas être assez oubliée pour que les élèves
en parlassent comme d’une paysanne du Waterland.“ (Thoré in Scheltema 1866, 60 f.). Erst als die Archive Hinweise auf die späte Lebensgefährtin Rembrandts, Hendrickje Stoffels, preisgeben, gewinnt Houbrakens Darstellung für die Biographen wieder an Authentizitätswert: daß nicht Saskia, sondern Hendrickje das historische Vorbild der Darstellungen Houbrakens bildete, vermuten zuerst de Roever (1883 in Oud Holland) und Bode (1883,
548).
25
Diesen Titel wählt Scheltema zur Bezeichnung der Anekdote. Dabei bezieht er sich auf ein Gedicht Immerzeels (Scheltema 1866, 50).
26
Vgl. Slive 1953, 159 ff.; Emmens 1968, 63 - 95.
35
zufrieden, daß er den Entschluß faßte nicht zu Fuß nach Hause zurückzukehren - die Art des Reisens auf welche er Den Haag erreicht hatte (...). Da er fürchtete, sein Geld zu verlieren, stieg er
nicht aus dem Gefährt, als die Passagiere eine Rast einlegten, um sich zu erfrischen. Vielmehr blieb
er allein in der Kutsche, als die Pferde - losgelassen - erschraken und nach Leiden liefen; und als er
an dem Gasthaus ausstieg, vor welchem die Tiere täglich zu halten gewohnt waren, war jedermann
erstaunt, daß der junge Rembrandt, ohne Kutscher reisend, sicher angekommen war. (...)
Dies war das début dieses außerordentlichen Mannes, der nun begann, den Wert seiner Arbeit zu
schätzen.“ (Nieuwenhuis 1834, 5 f.)27
Aufgrund der Erkenntnis des „Wert[es] seiner Arbeit“, der Rembrandt dazu veranlaßt hatte, in
der Kutsche zu bleiben, ließ sich diese Anekdote als Ursprungslegende seines Geizes verwenden.28 In dieser Weise tritt sie noch bei Gustave Planche (1853) in Erscheinung:
„Den Aussagen seiner Zeitgenossen zufolge, erweckte seine erste Reise nach Den Haag eine neue
Leidenschaft in ihm (...): sobald er hundert Gulden gezählt hatte, wurde er geizig.“ (Planche 1853,
248)29
Paul Scheltema widmet der Anekdote eines der kurzen Kapitel seiner Urkundensammlung. Er
bemerkt dazu:
27
„His remarkable progress, however, attracted the attention of many amateurs; for we are assured by Houbraken that, about that period, he sold one of his pictures to a gentlemen at the Hague for 100 guldens, which was a
tolerably large price at that time. He was so satisfied with the remuneration, that he resolved not to return home
on foot - the mode of travelling by which he had reached the Hague (...). Fearing to lose his money, he would not
descend from the vehicle when the passengers stopped on the road to take refreshment, but remained alone in the
coach, when the horses, being left free, took fright and ran away to Leiden; and on his alighting at the inn where
the animals were accustomed to stop daily, every one was astonished that the young Rembrandt, travalling without a coachman, had arrived in safety. (...) This was the début of this extraordinary man, who now began to
know his own worth.“ (Nieuwenhuis 1834, 5f.).
28
Derartige Anekdoten treten nicht immer in Verbindung mit einer Charakterdeutung auf. Wie ihre Details variieren, so fallen auch die möglichen Anschlüsse unterschiedlich aus. Immerzeel, der zu Anfang dieses Abschnitts angesprochene ‘Lobredner‘ Rembrandts, verwendet die Anekdote in seiner 1843 publizierten lexikalischen Vitensammlung holländischer und flämischer kunstschilders, beeldhouwers, graveurs en bouwmeesters
ohne Verweis auf den Geiz des Künstlers. Als Beispiel für die Variation der Anekdoten sei er hier zitiert: „Jemand, der ihn [im Leidener Atelier, M.H.] besuchen kam, gab ihm den Namen und die Adresse eines Kunstfreundes zu s’Gravenhage und riet ihm, diesem sein bis dahin einziges Kunstwerk zu zeigen. Rembrandt unternahm die Reise, mit einem Gemälde unter dem Arm, und hatte das unerwartete Glück, hundert Gulden dafür zu
erhalten. War er zu Fuß zu der Residenz gezogen, so kehrte er nun in der Postkutsche zurück und kam schneller
als gewünscht in Leiden an, da die Pferde auf halber Strecke durchgegangen waren. Glücklicherweise blieben
dieselben vor dem Posthaus stehen, und Rembrandt war mit dem Schrecken davongekommen.“ („Iemand, die
hem kwam bezoeken, gaf hem den naam en het adres op van eenen kunstliefhebber te s’Gravenhage, hem radende aan dien heer eens eenig kunstwerk te laten zien. Rembrandt ondernam de reis, met eene schilderij onder
den arm, en hat het onverwacht geluk, hondert guldens voor dezelve te ontvangen. Was hij te voet naar de residentie getrokken, hij keerde nu met den postwagen huiswaarts, en kwam te Leiden spoediger aan dan hij gewenscht had, dewijl de paarden van halverweg af aan op hol gegaan waren. Bij alle geluk bleven dezelve voor
het posthuis stil staan, en Rembrandt was met den schrik vrij gekomen.“ Immerzeel 1843, 11).
29
„D’après le témoingnage de ses contemporains, son premier voyage à La Haye éveilla en lui une passion nouvelle (...): dès qu’il eut compté cent florins, il devint avare.“ (Planche 1853, 248).
36
„Dieses Märchen ist so bekannt, daß ich nicht glaubte, es durch Schweigen übergehen zu können;
dennoch habe ich in meiner Rede nicht davon gesprochen, da es keinerlei authentischen Charakter
besitzt. Houbraken, der es als Erster erwähnt hat, verdient nicht das geringste Vertrauen bezüglich
seiner Behauptungen über Rembrandt. Es handelt sich dabei um eine Andeutung, die indirekt zeigen soll, wie sich die Neigung zum Geiz, dessen er den erwachsenen Mann etwas später beschuldigt, bereits beim jungen Mann bemerkbar macht.“ (Scheltema 1866, 50 f.)30
Auch in diesem Punkt bemüht sich Scheltema, einem anekdotisch überlieferten ‘Charakterzug‘ Rembrandts, der sich mit bürgerlichen Idealen nicht verträgt, die Glaubwürdigkeit zu
nehmen. Er tut dies zunächst, indem er Mißtrauen gegen dem Urheber der Erzählung schürt.
Zusätzlich versucht er, aus dem vorhandenen Quellenmaterial eine Gegenargumentation aufzubauen, die Rembrandts Bescheidenheit belegt. So tritt er den zahlreichen Geiz-Anekdoten
durch Verweis auf die Briefe von Constantin Huygens entgegen,31 die er als Belege für Rembrandts zurückhaltende finanzielle Forderungen deutet.32 Dann leitet er zur Tugend des Fleißes über, dokumentiert in der Vielzahl der Werke, und spielt diese gegen das Laster des angeblichen Geizes aus (Scheltema 1866, 23 ff.). Die Bescheidenheit wird zudem mit dem Hinweis belegt, Rembrandt habe einfache Lebensumstände bevorzugt und sich häufig nur von
etwas Brot und Käse oder einem Salzhering ernährt. An dieser Stelle verzichtet Scheltema
allerdings auf einen Quellenverweis, denn ein solcher würde zu jenem Arnold Houbraken
führen, dem er in der oben zitierten Passage jegliches „Vertrauen bezüglich seiner Behauptungen über Rembrandt“ entzogen hatte.33 Dieses Beispiel zeigt, daß die Quellen hier nicht
von selbst sprechen, sondern daß es die Deutungstendenz des Autors ist, die sie zum Sprechen
bringt. Scheltema beendet seine Argumentation durch die Benennung weiterer Schuldiger,
denen die Verbreitung der falschen Nachrichten über Rembrandt zur Last zu legen sei: Die
neidischen Kollegen hätten den Künstler in Verruf gebracht. Und so wechselt schließlich die
30
„Ce conte est si connu, que je n’ai pas cru pouvoir le passer sous silence; je n’en ai pourtant pas parlé dans le
discours, parce qu’il n’a pas le moindre caractère d’authenticité. Houbraken, qui en a fait mention le premier, ne
mérite pas la moindre confiance dans ses allégations concernant Rembrandt. C’est une insinuation pour démontrer indirectement combien la tendance à l’avarice, dont plus loin il accuse ouvertement l’homme fait, se remarquait déjà dans le jeune homme.“ (Scheltema 1866, 50 f.).
31
Diese Briefe zählen zu den frühesten der publizierten Dokumente. Nach Guhl (1856, 225) wurden sie erstmals
1835, bzw. 1843 als Facsimiles nachgedruckt. Neben Scheltema hat auch Kolloff (1854) diese Quellentexte
zugänglich gemacht.
32
Die fraglichen Briefe Rembrandts an Huygens werden später in der Regel als Mahnungen gedeutet, in denen
Rembrandt also, aufgrund eigener finanzieller Bedrängnis - ganz im Gegenteil zum Verständnis Scheltemas - auf
die Bezahlung gelieferter Bilder drängt (vgl. Tümpel 1977, 65 f.; ebd. der Hinweis auf die hohen Honorare, die
Rembrandt pro Bild vorschlägt). Während Scheltema die Schenkung eines Bildes an Huygens als selbstlose
Großzügigkeit des Künstlers auslegt, wird dies später als Dank für dessen Vermittlungstätigkeit zum Auftraggeber, Prinz Frederik Hendrick, gedeutet (Hamann 1969 [1948], 450), also vom ökonomischen Standpunkt als
‘Kundenpflege‘ angesehen (vgl. Tümpel 1977, 59 f.).
33
Vgl. das betreffende Zitat Houbrakens bei Slive (1953, 193).
37
detaillierte Verteidigung in ein Lob Rembrandts über, wie es einem Ehrenbürger seiner Stadt
gebührt:
„Wenn die Tugend die schönste Krone wahrer Verdienste ist, gibt es keinen rechtmäßigen Grund,
Rembrandt diese hohe Auszeichnung streitig zu machen. (...) wir erteilen ihm seine Ehrenrechte
zurück, welche ihm der Neid und die Eifersucht frech entrissen, und wir zögern nicht, der Bewunderung seines Talents die Anerkennung und Hochachtung seiner Person hinzuzufügen.“ (Scheltema
1866, 28)34
Der Verteidiger stärkt die Ehre seines Mandanten, indem er diesen der Verfolgung durch unehrenhafte Zeitgenossen aussetzt. Es ist nicht eigentlich dem klassizistischen Urteil über
Rembrandt, sondern dieser Schärfe seiner Widerlegung zuzuschreiben, daß Rembrandt bis ins
20. Jahrhundert hinein als ein einstmals vergessener und verkannter Künstler galt. Erst die
selbsternannten ‘Wiederentdecker‘ haben die klare, an Regeln ausgerichtete und - diesen Regeln entsprechend - teilweise negative Bewertung des Niederländers zu dessen bösartiger Verstoßung und Verkennung erklärt. Erst im Willen zu seiner Erhöhung hat die Erniedrigung
Rembrandts ihren tiefsten Punkt erreicht.
Neben diesen Bemühungen Scheltemas, die Biographie und den Charakter des anekdotisch
kostümierten ‘Sonderlings‘ salonfähig zu machen, sollte seine archivarische Arbeit nicht vergessen werden. Aus Sicht des heutigen Quellenstandes zu Rembrandts Leben ließe sich das
mit Scheltemas Veröffentlichung von 1852 bereitgestellte Material als ‘Skelett‘ unserer Informationen über den historischen Rembrandt bezeichnen: Zumindest zur Jugend Rembrandts
sowie zur Amsterdamer Zeit bis zum Konkurs im Jahre 1656 lagen damit wesentliche Quellen
vor. Über das letzte Jahrzehnt des Künstlerlebens war dagegen noch kaum etwas von dem
bekannt, was heute die Grundlage der Rekonstruktionen bildet.
Die folgenden Vergleiche mit Gustave Planche und Eduard Kolloff werden zeigen, wie
grundlegend sich eine quellengestützte Darstellung der Vita von den überlieferten Schilderungen unterscheidet. Die Bedeutung des von Scheltema bereitgestellten Quellenmaterials für
diese Entwicklung ist kaum zu überschätzen. Allerdings wird es nicht mit sofortiger Wirkung
zur neuen Grundlage der Rembrandtrezeption, so daß sich Théophile Thoré noch 1866 über
die mangelnde Bezugnahme auf die Broschüre Scheltemas beklagt:
34
„Si la vertu est la plus belle couronne du vrai mérite, il n’y a point de juste motif pour disputer à Rembrand
cette haute distinction. (...) nous le remettrons en possession de son honneur, que lui ont enlevé audacieusement
l’envie et la jalousie, et nous n’hésiterons pas à ajouter à l’admiration pour son talent l’estime et le respect pour
sa personne.“ (Scheltema 1866, 28).
38
„(...) die neuen Tatsachen, die sie enthüllt, werden scheinbar weiterhin von der Mehrzahl der Kritiker und der Künstler Europas ignoriert.“ (Thoré 1866, IX) 35
Doch dieser Zustand sollte sich in den folgenden Jahren ändern. Unbearbeitete Wiederauflagen älterer Texte und einzelne Fälle der Fortschreibung literarischer Traditionen (z.B. Viardot
1868; 3 1877) verlieren an Einfluß. Mit der Monographie Vosmaers (1868; 2 1877), spätestens
mit Michels grundlegendem Rembrandtbuch (1893), sind die Wege zurück in diese Tradition
verschüttet. Dies gilt hier zunächst für die französischen Texte, und es gilt mit der Einschränkung, daß, wie wir später sehen werden, sich schon bei Michel neue Formen ‘literarischer
Tradierung‘ abzeichnen (vgl. Tümpel 1971, 14).
2 Gustave Planche und die Auseinandersetzung mit der Akademie (1853)
Paul Scheltema übernimmt die Verteidigung Rembrandts in der Absicht, dem nationalen
Projekt des ehernen Denkmals durch eine angemessene Biographie des Künstlers den Rücken
zu stärken (Boomgaard 1995, 23). Beides, die Geste der Denkmalsstiftung und die Rede
Scheltemas, leitet der Nationalstolz und die Idee, Rembrandt zu einem Fluchtpunkt niederländischer Identität zu erheben.
Ein aufschlußreiches Kontrastbeispiel dazu bietet der Aufsatz des französischen Literaturund Kunstkritikers Gustave Planche, der im Juli 1853 in der Revue des Deux Mondes erschien. Der Kontrast zu Scheltema liegt dabei nicht in der rehablitierenden Absicht, sondern
in deren Methoden und spezifischen Zielen. Planche besaß offenbar noch keine Kenntnis der
Archivfunde, die Scheltema - in bisher ungekanntem Umfang und mit bisher nicht gezogenen
Schlußfolgerungen - zunächst nur in niederländischer Sprache publiziert hatte.36 Hinsichtlich
biographischer Fragen steht Planche noch fest in der Überlieferung, und auch für seine Behandlung ästhetischer Fragen wählt er die traditionelle Position der akademischen Kunstauffassung als Horizont seiner Reflexionen. Er behält diese etablierten Kategorien im Auge,
35
„(...) les nouveaux faits qu’elle révèle semblent toujours ignorés de la généralité des critiques et des artistes de
l‘Europe.“ (Thoré 1866, IX).
36
Vgl. das Vorwort von Thoré in Scheltema 1866. Scheltemas Rede von 1852 wurde wenigstens zwei Mal in
französischer Sprache rezensiert. Im Mai 1853 erschien eine Zusammenfassung im Brüsseler Bulletin de
l’Academie Royale (M. Alvin 1853). In der Revue des Deux Mondes hatte Gérard de Nerval bereits im Juni 1852
in einem Reisebericht über Les fêtes de mai en Hollande die Einweihung des Rembrandt-Denkmals geschildert.
Sein kurzer Abschnitt über die Rede Scheltemas fiel dabei jedoch kritisch aus: „M. Scheltema a peut-être un peu
trop vengé Rembrandt du raproche d’avoir fréquenté le bas peuple. Nous possédons à la Bibliothèque nationale
une collection de gravures qu’il eût été difficile à l’artiste de réaliser sans se mêler un peu à la basse société. (...)
Ne cherchons pas à faire des poètes et des artistes des gentlemen accomplis et méticuleux.“ (de Nerval 1852,
1202 f.).
39
sucht nicht die offene Konfrontation, sondern scheint mehr darauf bedacht zu sein, mit seiner
Argumentation auch den konservativen Leser zu erreichen, holt er diesen doch am gewohnten
Ort ab, um ihn von dort aus zu neuen Urteilen zu geleiten. Neben der literarischen Qualität
des Textes liegt sein Wert für unseren Zusammenhang in eben jener Anknüpfung, die uns mit
der Topik der klassizistisch geprägten Einstufung Rembrandts weiter bekannt machen kann.
Diese kombiniert in der Regel ein kritisches, jedoch nicht vollständig ablehnendes Kunsturteil
mit einer Anzahl von Anekdoten, die als Illustrationen des Künstlercharakters fungieren, der
wiederum als Erklärung für die geschilderten ästhetischen Phänomene dienen kann. Auch in
dieser literarischen Tradition werden also Leben und Werk des Künstlers verknüpft, allerdings unter anderen Prämissen als das in der späteren Künstlerbiographik der Fall sein sollte.
2.1 Das Naturstudium und die klassizistischen Kunstregeln
Ohne zunächst über die Herkunft seiner Aussagen zu reflektieren, beginnt Planche seinen
Text Rembrandt. Sa vie et ses œuvres mit einer chronologischen Skizze der Biographie, wie
sie sich ihm darstellt. Geboren ist der Künstler demnach in „Leyerdorp“.37 Er sei von seinen
Eltern zu einem gelehrten Studium bestimmt worden und habe deshalb die Lateinschule in
Leiden besucht.38 Planche stellt Rembrandts Haltung zu dieser Lebensplanung als ablehnend
dar und greift dabei, im vierten Satz seines Textes, erstmals zu anekdotischen Ausschmückungen. So habe Rembrandt nachsitzen müssen, da er, statt dem Unterricht zu folgen, lieber
gezeichnet hätte. Schon bald habe der Vater ein Einsehen gehabt und dem Jungen gestattet,
die Gelehrtenlaufbahn gegen das Malerhandwerk einzutauschen. Bei seinen Lehrern, so fährt
Planche fort, habe der überaus begabte Knabe nur technische Kenntnisse hinzugewinnen können, sowohl Swanenburgh als auch Lastman39 habe er schnell überflügelt:
„Als er ihr Atelier verließ, konnte Rembrandt keinen anderen Lehrmeister mehr haben als die Natur. Er begriff dies und kehrte zur Mühle seines Vaters zurück. (...) Für ihn waren alle Ansichten
der Wirklichkeit gut, weil sie ihm alle etwas zu lehren hatten.“ (Planche 1853, 245) 40
37
Damit variiert Planche die Überlieferung, derzufolge Rembrandt in einer Mühle zwischen den Dörfern „Leydendorp“ und „Koukerk“ zur Welt gekommen sei (so z.B. Nieuwenhuys 1834 oder Nagler 1843). In Folge der
Publikationen Scheltemas wird sich Leiden als Geburtsort etablieren.
38
In diesem Punkt stimmt Planche mit den bis heute geläufigen Darstellungen überein. Vor ihm hatte unter anderem bereits Immerzeel (1843) diesen Werdegang Rembrandts angegeben. Als Quelle dient die Beschreibung
der Stadt Leiden durch deren Bürgermeister Orlers (1641) (vgl. Slive 1953).
39
Als dritter Lehrer wird zu dieser Zeit noch Jacob Pinas angeführt.
40
„En sortant de leur atelier, Rembrandt ne devait plus avoir d’autre maître que la nature. Il le comprit et revint
au moulin de son père.(...) Toutes les faces de la réalité lui étaient bonnes, parces qu’elles avaient toutes quelque
chose à lui apprendre.“ (Planche 1853, 245).
40
Was er zu lernen habe, konnte ihm also kein Meister beibringen, die Natur allein habe seine
Lehrmeisterin sein können. Diesem Studium habe sich Rembrandt ohne Vorurteile hinsichtlich der Bildwürdigkeit der Dinge gewidmet, alle Ansichten der Wirklichkeit seien ihm als
gleichermaßen lehrreich erschienen. Aus akademischer Perspektive gesehen läßt Rembrandt
mit dieser Mißachtung der ‘noblesse‘ eine wichtige Regel außer acht. Planche schließt sich
mit dieser Darstellung an eine geläufige Position an, die in Rembrandt den Vertreter eines
Realismus ohne Maß für die Bildwürdigkeit eines Gegenstandes und für dessen angemessene
Art der Darstellung sieht (vgl. Emmens 1969, 105ff.). In der Tradition klassizistischer
Bewertung würde der Autor damit bereits auf einen wesentlichen Kritikpunkt zusteuern. Die
Nachahmung der Natur kann in jener Sichtweise nur als Teilschritt zur künstlerischen
Meisterschaft gelten, sie muß durch das intensive Studium der Antiken sowie der
Renaissancekunst, der Vorbilder idealer Kunstschönheit, veredelt werden. Dieser Vorstellung
liegt das Schema von ‘natura‘, ‘ars‘ und ‘exercitatio‘ als den drei Quellen der vollendeten
künstlerischen Praxis zugrunde.41 Nach Maß der klassizistischen Kritik, wie sie etwa Joachim
von Sandrart (1675) auf Rembrandt anwendet, werden zwei dieser Kriterien durch den
‘ungebildeten Maler‘ (‘pictor vulgaris‘) durchaus erfüllt. Sowohl „angeborne Inclination und
Neigung“ (‘natura‘ oder ‘ingenium‘) als auch „ungesparten Fleisz und allstätige Übung“
(‘exercitatio‘ oder ‘usus‘) könne man bei Rembrandt demnach vorfinden. 42 Zur Vollendung
der Kunstfertigkeit fehle ihm jedoch die ‘ars‘, die allein durch das Studium der Alten und die
Nachahmung von deren Auffassung, vorzugsweise im Zuge einer Italienreise, zu erreichen
sei. Die klassizistische Kritik an Rembrandt richtet sich also nicht grundsätzlich gegen dessen
Talent oder den Eifer seiner Tätigkeit. Es ist vielmehr dieser dritte Punkt, in dem er ihre
Bildungskriterien nicht erfüllt. Die wesentlichen ästhetischen Mängel, die daraus resultieren,
sind Fehler in der Zeichnung, die Unvollkommenheit der plastischen Erfassung des
menschlichen Körpers, perspektivische Verzerrungen und der Verstoß gegen die Regeln des
‘dekorum‘, der sittlich angemessenen (und ikonographisch korrekten) Darstellung eines
Themas. Zur Illustration dieser Mängel werden bei Sandrart, Arnold Houbraken (1718) und
ihren Nachfolgern verschiedene Anekdoten gebräuchlich, die Rembrandts geringe Bildung,
seine Bevorzugung der Natur als Lehrmeisterin und die damit verbundene Verachtung der
Antike zum Ausdruck bringen. Auf diese Polarisierung von Naturnachahmung und
klassischer Bildung greift Gustave Planche zurück und bringt sie mit der Anekdote vom
Abbruch der Gelehrtenlaufbahn in Verbindung. Wie wir sehen werden, setzt Planche diesen
41
Vgl. Emmens 1969, 66 ff.
Sandrart zit. nach Emmens, 1969, 66 ff. Unter dem Einfluß romantischer Subjektkonzepte in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts wird diese Polarisierung zwischen ‘pictor doctus‘ und ‘pictor vulgaris‘ unter Einschränkung
ihrer immanenten Bewertungen in der Unterscheidung zwischen ‘natürlichem‘ und ‘gelehrtem‘ Genie variiert.
Boomgaard (1995, 20) führt die Lobrede Immerzeels (1839) als Beispiel an.
42
41
Rückgriff rhetorisch gezielt ein, nicht nur um die Vorstellung von Rembrandt als ‘pictor
vulgaris‘ aufzuheben, sondern um den Stellenwert des Naturstudiums überhaupt zu
revidieren:
„Dennoch würde man sich täuschen, würde man Rembrandt unter die naiven Nachahmer der Natur
einstufen. Dieser Müllerssohn, der nichts von lateinischer Grammatik hören wollte, der in der
Mühle seines Vaters glücklich war und seine Tage vollständig der Übung widmete, war nichts weniger als naiv.“ (Planche 1853, 246) 43
Im Desinteresse an der „lateinische[n] Grammatik“ klingt bereits die Mißachtung des Antikenstudiums an. Die Bedeutung des Fleißes wird dagegen, und insgesamt wird die Naivität
der künstlerischen Neigung zur Natur bestritten. Planche schickt sich an, Rembrandts Position
zu revidieren. Der ‘ungelehrte Maler‘ erhält dabei ein Wissen zugesprochen, für das es in traditionell akademischer Perspektive keine Entsprechung gibt. Rembrandts Interesse gälte den
Phänomenen des Lichtes, und hier sei er alles andere als ein naiver Nachahmer:
„(...) er wußte sehr wohl, daß es ihm nicht gegeben war, sich mit der Natur zu messen. Wenn auch
die Linie und die Form sich übertragen lassen, so trotzt doch das Licht der Nachahmung. (...) Ohne
Hoffnung darauf, auf der Leinwand wiedergeben zu können, was seine Augen wahrgenommen hatten, entschied er sich dazu, nicht mehr zu sehen, nicht mehr zu betrachten, als ihm zu zeigen gegeben sei. Mit mathematischer Präzision maß er die Quantität des Lichtes, welche er seiner Fähigkeit
zu unterwerfen vermochte, und niemals überschritt er die Grenzen dieser Festlegung.“ (Planche
1853, 246)44
Ohne der traditionellen Annäherung Rembrandts an die Naturbetrachtung völlig zu widersprechen, gelingt es Planche hier, die Abwertung des Naturstudiums als einer ungebildeten,
dem Künstler nicht würdigen Praxis aufzufangen und an ihre Stelle einen intellektuellen Anspruch zu setzen. Durch den Gebrauch naturwissenschaftlicher Begrifflichkeit wird Rembrandts ‘Naturalismus‘ - in akademischer Perspektive als Geschmacksverstoß zu verurteilen,
als Profanisierung der Kunst zu beklagen und dem Idealismus des Kunstschönen entgegenzustellen - nicht länger auf geistlose Nachahmung, sondern auf bewußte Geistestätigkeit, ja sogar auf kritische Reflexion der Möglichkeiten der künstlerischen Medien zurückgeführt.
Planche tritt den akademischen Positionen nicht durch bloßen Widerspruch entgegen, er greift
43
„On se tromperait pourtant si l’on rangeait Rembrandt parmi les imitateurs naïfs de la nature. Ce fils de meunier qui ne voulait pas entendre parler de la grammaire latine, qui se trouvait heureux dans le moulin de son père
et passait des journées entières à étudier (...) n’était rien moins que naïf.“ (Planche 1853, 246).
44
„(...) il savait bien qu’il ne lui était pas donné de lutter avec la nature. Si la ligne et la forme se laissent aborder, la lumière défie l’imitation. (...) Désespérant de reproduire sur la toile ce que ses yeux avaient aperçu, il s’est
décidé à ne plus voir, à ne plus regarder que ce qu’il pouvait montrer. Il a mesuré avec une précision mathématique la quantité de lumière qu’il pouvait soumettre à sa puissance, et n’a jamais franchi la limite qu’il avait
marquée.“ (Planche 1853, 246).
42
sie zunächst scheinbar affirmativ auf, um sie dann zu differenzieren und umzuwerten. Der
wichtigste Aspekt dieser Umwertung ist wohl darin zu sehen, daß Planche im Naturstudium
keine Überheblichkeit des Künstlers, keine Respektlosigkeit gegenüber der göttlichen Schöpfung ausmacht. Die Natur sei als Lehrmeisterin geeignet, sofern der Künstler in der Lage sei,
die Grenzen der Möglichkeiten der Kunst zu akzeptieren:
„Seine Meister hatten ihm alles beigebracht, das zu Lehren sie im Stande waren: die Anordnung
der Farben, den Gebrauch des Pinsels. Allein die Natur konnte ihn unterrichten, wo das Reich der
Kunst beginnt und wo es endet.“ (Planche 1853, 247) 45
Planche schmückt seinen Bericht über diese Studien in einer Weise aus, die vermuten läßt,
daß er hier indirekt als Fürsprecher der ‘Schule von Barbizon‘ auftritt, der zeitgenössischen
Variante des Naturalismus:
„Im Durchwandern des Landes, in der abwechselnden Beobachtung des Schattens eines Filzhutes
auf der Stirn eines Bauern oder des gebrochenen Spiegelbildes einer Eiche auf dem dahinströmenden Wasser, ist er sich der Sterilität bloßer Nachahmung bewußt geworden, der wörtlichen Nachahmung, und zugleich der ganzen Kraft, der ganzen Fruchtbarkeit einer deutenden Darstellung, die
sich auf solide Studien stützt.“ (Planche 1853, 247) 46
Diese differenzierte Beschreibung einer nicht bloß naiven Naturbetrachtung entspricht dem
Studium der Natur ‘en plein air‘, wie es zur gleichen Zeit in der Freiluftmalerei bei Theodore
Rousseau, Camille Corot, Jean-François Millet, Gustave Courbet und anderen einen neuen
Stellenwert erhielt, wobei diese Maler sich nachweislich am Vorbild der niederländischen
Landschaftsmalerei orientierten (Chu 1974). In seiner Umwertung der Beurteilung Rembrandts zielt Planche primär auf die Relativierung der akademischen Positionen zur Naturbetrachtung. Diese These wird durch die Beobachtung bestätigt, daß der Autor sich hinsichtlich
der Person und des Charakters des Niederländers kaum um eine Revision vorhandener Urteile
bemüht, sondern das seit 150 Jahren gebräuchliche anekdotische Verfahren reproduziert. Nur
in Ansätzen ist hier die rhetorische Strategie zu verfolgen, die sich hinsichtlich des Naturstudiums beobachten ließ, nämlich die vorgebliche Annahme der gegnerischen Position zum
Zwecke der Subversion.
45
„Ses maîtres lui avaient appris tout ce qu’ils pouvaient lui apprendre, la composition des couleurs et le maniement du pinceau; la nature seule devait lui enseigner où commence, où finit le domaine de l’art.“ (Planche
1853, 247).
46
„C‘est en parcourant la campagne, c’est en observant tour à tour l’ombre du feutre sur le front d’un paysan ou
l’image brisée d’un chêne dans l’eau courante, qu’il a conçu nettement toute la stérilité de l’imitation pure, de
l’imitation littérale, toute la puissance, toute la fécondité de l’interprétation appuyée sur de solides études.“
(Planche 1853, 247).
43
Als Beispiel solcher biographischer Schilderungen bietet sich der Topos vom ‘geizigen Rembrandt‘ an. Seine Entstehung ist in der älteren Literatur recht präzise zu verorten, nämlich in
Arnold Houbrakens Groote Schouburgh, die zuerst zwischen 1718 und 1721 erschien. Houbraken verknüpfte Überlieferungen Sandrarts zu Rembrandts beachtlichen Einnahmen mit
Beobachtungen über dessen Radierungspraxis und schloß daraus auf einen geizigen Charakter, den er anschaulich in unterhaltsamen Anekdoten darzustellen vermochte (Slive 1953, 190
f.). Ein Beispiel: Der Geiz des Künstlers sei, so Houbraken, dessen Schülern aufgefallen,
weshalb diese einige Münzen auf den Fußboden malten, um sich darüber zu amüsieren, wie er
vergeblich die Hand danach ausstreckte. Die Verwandtschaft mit antiken trompe l‘œil-Anekdoten, etwa dem Wettstreit zwischen Parrhasios und Zeuxis,47 verdeutlicht, daß sich Houbraken hier selbst als kunstvoller Nachahmer der Antiken betätigte. Bis zu den an Archivquellen
orientierten Verteidigungsschriften in der Mitte des 19. Jahrhunderts zählte diese kleine Erzählung zum Kanon der Rembrandtliteratur. Auch Gustave Planche kommt im Verlauf seines
Textes mehrfach auf Rembrandts Geiz zu sprechen und gibt dabei diese und andere Anekdoten wieder. Dennoch tritt er zugleich als Verteidiger des Künstlers auf, wenn auch zaghafter
als im oben genannten Beispiel der Naturnachahmung. Den Geiz nimmt Planche als Faktum,
doch sei dies Rembrandt nicht als Laster anzuhängen. Sein künstlerischer Sinn für die Schönheit sei nicht vom Geiz zerfressen worden; auch die Heirat mit - nach damaliger Quellenlage einer armen Bäuerin aus Ransdorp in Waterland, „ein Mädchen das keine anderen Vorzüge
besaß als ihre Jugend und ihre Schönheit“,48 belege, daß ihn nicht allein die Geldgier trieb,
hätte er doch als erfolgreicher Bildnismaler eine bessere Partie machen können. Außerdem sei
seine einfache Lebensweise überliefert. So kommt Planche auch hier schließlich zu einem
vorsichtigen Plädoyer zugunsten des Künstlers:
„(...) ich bin indessen weit davon entfernt, den Zorn der Biographen zu teilen, die Rembrandt beschuldigen, seine Kunst durch seine schändliche Leidenschaft für das Gold entehrt zu haben.“
(Planche 1853, 250) 49
47
Ein Wettstreit um die Fähigkeit zur malerischen Nachahmung der Natur: Zeuxis malt Trauben und muß die
Vögel verscheuchen, die diese anpicken wollen. Neugierig, das Bild seines Konkurrenten zu sehen, will er dann
den Vorhang von dessen Bild ziehen und muß erkennen, daß dieser Vorhang nur gemalt ist. Zeuxis gesteht seine
Niederlage ein, „weil er selbst zwar die Vögel, Parrhasios aber ihn als Künstler habe täuschen können“ (Überliefert durch Plinius d. Ä., Naturalis Historia, § 65/66; zit. nach der deutschen Übersetzung von Roderich König
und Gerhard Winkler, 1997, 59).
48
„une fille qui n’avait d’autre fortune que sa jeunesse et sa beauté“ (Planche 1853, 249).
49
„Je suis loin cependant de partager la colère des biographes qui accusent Rembrandt d’avoir déshonoré son art
par son ignoble passion pour l’or.“ (Planche 1853, 250).
44
2.2 Rembrandts Erhebung unter die größten Meister der Malerei
Als letztes Beispiel für Planches Verteidigung Rembrandts soll noch einmal der Vorwurf der
akademischen Autoritäten aufgegriffen werden, in Rembrandts Hang zum Realismus zeige
sich ein Mangel an ‘noblesse‘, also an Einsicht in die Bildwürdigkeit des Gegenstandes beziehungsweise in die würdigen Formen seiner Darstellung. Diesen Vorwurf, der bereits im Kontext der ‘ungebildeten, bloßen Naturnachahmung‘ bedeutsam war, greift der Autor noch einmal dezidiert auf, wobei er zunächst wiederum Verständnis für die traditionelle Position suggeriert:
„Ich weiß sehr wohl, daß man den Werken Rembrandts einen Vorwurf anderer Art machen kann,
und dieser Vorwurf wiegt so schwer, daß er unmöglich verschwiegen werden darf: (...) die Würde
[noblesse, M.H.] im gehobensten Sinne des Wortes ist nahezu immer abwesend.“ (Planche 1853,
251 f.)50
Trotz dieses Fehlers sei der Niederländer jedoch mit den größten Meistern gleichzusetzen,
denn auf dem Gebiet, das er sich ausgesucht habe, sei der Bildwürdigkeit der Form, der Idee
der ‘noblesse‘, nur eine eingeschränkte Bedeutung zuzusprechen. An dieser Stelle vollzieht
Planche einen Tausch, der uns in der Folgezeit vermehrt begegnet: Er stellt der akademischen
Idee von Schönheit als höheres Ziel die Idee der Wahrheit entgegen. Dabei sei für Rembrandt
der Mensch das Maß der Dinge:
„(...) Rembrandt hat ein Mittel gefunden, um auf ewig wahr zu sein. Es ist der Mensch, den er befragt, der Mensch, den er zum Ausdruck bringen will, (...) den er in mächtigem Flug in die höheren
Regionen der Phantasie überführt oder den er mit bedrückendem Schmerz überwältigt. Welchem
schöneren, welchem glorreicheren Triumph kann sich die Kunst widmen? Und wievie le dürfen sich
rühmen, dieses erreicht zu haben, selbst unter den Meistern, die einer vollkommenen Kenntnis der
Zeit und des Ortes noch die sichere Würde in der Wahl der Formen beigefügt haben? Wenn er auch
nicht alle Bereiche der Kunst besitzt, was ich nicht zu bestreiten gedenke, so besitzt er doch wenigstens den wertvollsten Bereich, den vertraulichsten, der an keiner Schule gelehrt wird, den allein
das Genie zu erahnen vermag und durch den seinen Werken ewige Geltung gewiß ist.“ (Planche
1853, 252)51
50
„Je sais très bien qu’on peut faire aux œuvres de Rembrandt une objection d’une autre nature, et cette objection est tellement grave, qu’il est impossible de la passer sous silence: (...) la noblesse prise dans le sens le
plus élevé du mot est presque toujours absente.“ (Planche 1853, 251 f.).
51
„Rembrandt a trouvé moyen d’être éternellement vrai. C’est l’homme qu’il interroge, c’est l’homme qu’il veut
exprimer, c’est l’homme qu’il émeut et qu’il attendrit, qu’il exalte ou qu’il plonge dans la rêverie, qu’il emporte
d’un vol puissant dans les régions les plus hautes de la fantaisie, ou qu’il étreint d’une douleur poignante. Quel
plus beau, quel plus glorieux triomphe l’art peut-il se proposer? et combien peuvent se vanter de l’avoir obtenu
parmi les maîtres mêmes qui ont ajouté à la connaissance parfaite des temps et des lieu une noblesse constante
dans le choix de la forme? S’il ne possède pas toutes les parties de son art, ce que je ne songe pas à nier, il en
possède du moins la partie la plus précieuse, la plus intime, celle qui ne s’enseigne dans aucune école, que le
45
Die rhetorischen Fragen und die Eingeständnisse von Fehlern Rembrandts („was ich nicht zu
bestreiten gedenke“) lassen Planches Rehabilitierungsversuch als Verteidigungsrede erkennbar werden, die allerdings spätestens an dieser Stelle in eine Lobrede umschlägt. Ausgangspunkt des Lobes bleibt die Forderung nach einer „gerechten“ Bewertung des Niederländers.
Und so stellt Planche kurz darauf fest, Voraussetzung für Gerechtigkeit („justice“) sei die
Bereitschaft, Rembrandt nach seinem eigenen Blickwinkel zu beurteilen und nicht nach den
Vorbildern griechischer oder italienischer Kunst:
„Die griechische Kunst und die italienische Kunst zum Ausgangspunkt zu nehmen und zu versuchen, Rembrandt nach den Vorbildern zu beurteilen, die Athen und Rom unserer Bewunderung
hinterlassen haben, ist ganz einfach der irrsinnigste aller Gedanken. In dieser Weise verfahrend, erreichen wir nicht die Gerechtigkeit, sondern die völlige Negation. (...) Außer der Schönheit, wie sie
Griechenland und Italien verstanden haben, gibt es viele andere Arten, die menschlichen Empfindungen durch den Ausdruck zu bezaubern und zu ergreifen: Die Art, die Rembrandt wählte, ohne
Eleganz und Würde der Formen, gleicht durch ihre Kraft die Fehler aus, auf die ich hingewiesen
habe.“ (Planche 1853, 253) 52
Geschützt durch seine zustimmenden Rückgriffe auf die akademische Kritik, formuliert Planche einen elementaren Widerspruch zu deren Position: Er stellt die klassische Schönheit nur
als ein Konzept unter anderen dar, mittels dessen die Kunst ihr höchstes Ziel erreichen könne,
das darin bestehe, das menschliche Empfinden zu rühren und zu ergreifen. Seine Strategie der
Fürsprache für den Realismus besteht nicht im Umstürzen der alten Götterbilder, sondern in
der Aufhebung ihres Absolutheitsanspruchs. Folgt man seiner Rhetorik, so impliziert eine
Hochachtung für Rembrandt keineswegs eine Verachtung der klassischen Idealgestalten:
„Niemand schätzt und bewundert mehr als ich die Harmonie der Linien, die durch so viele Meisterwerke Griechenlands und Italiens geweiht wurde; aber in Gegenwart der Werke Rembrandts
vergesse ich ohne Bedenken für einige Augenblicke die Vorlieben, die ich aus meinen Studien geschöpft habe. (...) Mögen die Verfechter des Stils sich nach Belieben entrüsten und mich einen
Gottlosen und einen Blasphemiker nennen, ich halte mich nicht für einen Ketzer, da ich zur gleichen Zeit die Fresken des Vatikans und die Leinwände des Rembrandts anbete. Ohne irgend einen
Vergleich aufstellen zu wollen, ohne das Haupt der römischen Schule und den Müllerssohn aus
Leyerdorp auf die gleiche Linie setzen zu wollen, was eine Torheit wäre, hält mich meine Begeiste-
génie peut seul deviner et qui assure à ses œuvres une éternelle durée.“ (Planche 1853, 252).
52
„Prendre l’art grec et l’art italien comme point de départ et tenter d’estimer Rembrandt d’après les modèles
qu’Athènes et Rome ont légués à notre admiration est tout bonnement la plus folle de toutes les pensées. En
procédant ainsi, nous n’arriverions pas à la justice, mais à la négation absolue. (...) En dehors de la beauté telle
que la Grèce et l’Italie l’ont comprise, il y a bien des manières d’émouvoir et de charmer par l’expression des
sentiments humains: la manière choisie par Rembrandt, dépourvue d’élégance et de noblesse, rachète par l’énerie
les défauts que je viens de signaler.“ (Planche 1853, 253).
46
rung für die Schule von Athen doch nicht davon ab, aufrichtig die Erweckung des Lazarus und die
Anatomiestunde zu bewundern.“ (Planche 1853, 267) 53
Mit dem heroischen Gestus eines Gläubigen, der für seine Überzeugungen bereitwillig die
Mißachtung durch seine Umwelt auf sich nimmt, bereitet Gustave Planche hier sein ‘Schlußplädoyer‘ vor, in dem er für Rembrandt im Olymp der Malerei den siebten (und letzten) Platz
neben Leonardo, Michelangelo, Raffael, Tizian, Corregio und Rubens einfordern wird. Wie
wir gesehen haben, unternimmt der Autor diesen Versuch nur auf Basis einer ausführlichen,
mit rhetorischen Finessen hergeleiteten Begründung, nur mit der Absicherung durch wiederholte affirmative Verweise auf das akademische Urteil. Dies kann als Hinweis darauf gelessen
werden, daß Planche durchaus Widerspruch auf seine Aussagen erwartete und daß es der
Wirkung seiner Streitschrift nützen könnte, der Akademie nicht nur kämpferische Parolen,
sondern auch diplomatische Argumentationen entgegenzustellen. In seinem Kokettieren mit
der drohenden Verstoßung durch „die Verfechter des Stils“ stand Planche freilich nicht allein.
Eine ähnliche Formulierung verwendet Eugène Delacroix in seiner häufig zitierten Tagebuchnotiz vom 6. Juni 1851:
„Vielleicht wird man entdecken, daß Rembrandt der viel größere Maler als Raffael ist. Ich schreibe
diese Blasphemie, die dazu geeignet ist, allen Herren an der Schule die Haare zu Berge stehen zu
lassen, ohne offen Partei zu ergreifen.“ (Delacroix 1893, 65) 54
Auch Delacroix tritt für eine Duldung beider Möglichkeiten ein, der idealistischen Erhöhung
des Gegenstandes bei Raffael wie der tiefgründigen Ursprünglichkeit des Ausdrucks bei
Rembrandt. Gerade diese Polarisierung zeigt jedoch, daß Delacroix, anders als Planche, von
einer romantischen Konzeption des Genies ausgeht und den Holländer als ‘natürliches Genie‘
gegen das ‘gebildete Genie‘ Raffaels stellt. Dies bestätigt noch einmal sein abschließendes
Urteil, in dem sich angeborene und erlernte Fähigkeiten gegenüberstehen:
„Selbst wenn man die majestätische Emphase Raffaels bevorzugen mag, die vielleicht der Bedeutung bestimmter Gegenstände entspricht, könnte man behaupten (...), daß der große Holländer auf
viel natürlichere Weise Maler war als der fleißige Schüler Peruginos.“ (Delacroix 1893, 65) 55
53
„Personne plus que moi n’admire et ne chérit l’harmonie des lignes, que la Grèce et l’Italie ont consacrée par
tant de chefs-d’œuvre; mais en présence des œuvres de Rembrandt, j’oublie sans peine pour quelques instans les
affections que j’ai puisées dans mes études. (...) Que les apôtres du style s’indignent tout à leur aise et me traitent
d’impie et de blasphémateur, je ne me crois pas hérétique pour adorer en même temps les fresques du Vatican et
les toiles de Rembrandt. Sans vouloir établir aucune comparaison, sons vouloir mettre sur la même ligne le chef
de l’école romaine et le fils du meunier de Leyerdorp, ce qui serait une folie, mon enthousiasme pour l’École
d’Athènes ne m’empêche pas d’admirer sincèrement la Résurrection de Lazare et la Leçon d’anatomie.“
(Planche 1853, 267).
54
Vgl. das vollständige Originalzitat in der folgenden Anmerkung.
55
„Peut-être découvrira-t-on que Rembrandt est un beaucoup plus grand peintre que Raphaël. J’écris ce blas-
47
Trotz dieses Unterschiedes treffen sich Delacroix und Planche hier in einigen Punkten - der
Genievergleich, die antizipierte Reaktion der akademischen Kunstrichter, die religiöse Begrifflichkeit der „Blasphemie“ -, so daß es nahe liegt, in der Anrufung Rembrandts einen Topos der anti-akademisch gestimmten Zeitgenossen auszumachen. Beiden Autoren ist nicht nur
das Lob Rembrandts gemeinsam, sondern auch die Reflexion des oppositionellen Charakters
ihrer eigenen Haltung. Darin läßt sich auch ein (in gewissem Sinne ‘romantischer‘) Genuß an
der Selbstausgrenzung erkennen. Der heroisch eingefärbte Widerspruch gegen ‘geltendes
Recht‘ ist in dieser Phase der modernen Rezeption impliziter Bestandteil der Rembrandtverehrung.
Angesichts der diplomatischen Geschmeidigkeit der Argumentationen Gustave Planches und
der romantischen Implikationen der Position Delacroix‘ mag der nun folgende Versuch der
Rehabilitation Rembrandts um so radikaler erscheinen, tritt er doch nicht allein der klassizistischen Kritik, sondern mit gleicher Schärfe einer romantischen Stilisierung des Holländers entgegen. Eduard Kolloff, von dem nun die Rede sein soll, stehen im Gegensatz zu Planche die
neuen „Actenstücke“ aus den niederländischen Archivrecherchen zur Verfügung. Sie bilden
die Basis seines Angriffs auf die anekdotische Tradition, während Planche sich den kunsttheoretischen Prämissen der Akademie entgegenstellte, ohne die literarische Form der Künstleranekdote prinzipiell zu attackieren. Mit Kolloff werden wir uns, nach einer niederländischen
und einer französischen Stimme zur Verteidigung Rembrandts, nun also dem deutschen
Sprachraum zuwenden. Doch auch in diesem Fall ist der Ort des Geschehens Paris.
3 Eduard Kolloff und der ‘moralische Prozeß‘ gegen Rembrandt (1854)
Über die französische Metropole und ‘Hauptstadt der Moderne‘ führen die wesentlichen Veränderungen in der Rembrandtliteratur zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Beispiele dafür liefern
nicht nur Gustave Planche, französischer Literatur- und Kunstkritiker, und Paul Scheltema,
phème propre à faire dresser les cheveux de tous les hommes d’école, sans prendre décidement parti; seulement
je trouve en moi, à mesure que j’avance dans la vie, que la verité est ce qu’il y a de plus beau et de plus rare...
Rembrandt n’a pas, si vous voulez, absolument l’élévation de Raphaël... Peut-être cette élévation que Raphaël a
dans les lignes, dans le majesté de chacune de ses figures, Rembrandt l’a-t-il dans la mystérieuse conception du
sujet, dans la profonde naïveté des expressions et des gestes. Bien qu’on puisse préférer cette emphase majestueuse de Raphaël, qui répond peut-être à la grandeur de certains sujets, on pourrait affirmer, sans se faire lapider par les homme de goût, mais j’entends d’un goût véritable er sincère, que le grand Hollandais était plus nativement peintre que le studieux élève du Pérugin.“ Journal de Eugène Delacroix, Tome Deuxième, 1850 - 1854,
Paris: Librairie Plon 1893, 65 f. (Eintrag vom 6. Juni 1851). Wyss bezeichnet diese Aussage als „Prophetie“
(Wyss 1985, IX), Stückelberger stellt sie, mit Verweis auf Gantner, an den Anfang der Rembrandtverehrung
(Stückelberger 1996, 22). Mit Bezugnahme auf die große Zahl gleichzeitiger verwandter Aussagen, sowie auf
den breiten facettenreichen Rembrandtdiskurs, der ihnen vorausgeht, möchte ich einer solchen Stilisierung des
Delacroix-Zitats zum ‘Ursprungsmythos‘ entgegentreten.
48
dessen Publikation ihre Wirksamkeit nicht unwesentlich der Unterstützung und französischen
Übersetzung durch den Publizisten Théophile Thoré verdankt. Auch der erste deutschsprachige ‘Reformator‘ des Rembrandtbildes ist an Paris gebunden. Eduard Kolloff, dessen Vita
noch heute ähnlich im Dunkeln liegt wie diejenige Rembrandts um 1850, hat Paris spätestens
seit 1834 zur dauerhaften Wahlheimat erkoren. 56
Die Bedeutung von Kolloffs Rembrandt-Aufsatz (1854) als Prototyp einer wissenschaftlichen
Darstellung von Leben und Werk eines Künstlers ist seit längerem bekannt und auch in letzter
Zeit mehrfach herausgestellt worden. Allerdings begann die Wirkungsgeschichte dieses Textes recht schleppend. Die erste ernsthafte Anerkennung spricht Wilhelm Bode 1870 aus. Wie
ernst es ihm damit ist, zeigt sich zwei Jahre später, als er Kolloff den Direktorenposten am
Berliner Kupferstichkabinett anbietet, den der Gefragte jedoch aus Altersgründen ablehnt.57
Spätestens seit Emile Michels Rembrandtmonographie (1893) gehört der Verweis auf die Leistung Kolloffs zum Standardrepertoire wissenschaftlicher Autoren. Die Einstufung Michels
stellt den Aufsatz von 1854 auch über spätere, teils weit umfangreichere Arbeiten wie die von
Vosmaer oder Thoré. Kolloff gebühre das Verdienst, „zu den Gepflogenheiten einer weniger
sorglosen und besser informierten Kritik zurückgekehrt zu sein“.58 Nicht ohne patriotischen
Stolz weist auch Carl Neumann, Autor der ersten umfassenden Rembrandt-Monographie in
deutscher Sprache, darauf hin, daß ein Deutscher zuerst „in Leben und Kunst des Meisters
zahlreiche Punkte richtiggestellt und gewürdigt“ habe (Neumann 1902, 5). Aus Sicht einer
Entwicklungsgeschichte der wissenschaftlichen Disziplin Kunstgeschichte kann Kolloff fraglos dafür gewürdigt werden, im Hinblick auf die Überprüfbarkeit seiner Aussagen und die
Sachlichkeit ihrer Darstellung bereits Mitte des 19. Jahrhunderts Regeln befolgt zu haben, die
zahlreiche Autoren der Nachfolgegenerationen wieder nicht (oder noch nicht) einhielten und
die erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts zum unangefochtenen Standard der Kunstgeschichte
wurden.59 Eine derartige Bewertung begründet sich vor allem auf Kolloffs entschlossener Abkehr von jeder Form „literarischer Tradition“ (Tümpel), auf sein Bemühen um ein „historisches Rembrandtbild“: „Sein Blick war sachlich und nüchtern“ (Stückelberger 1996, 31). In56
Den wenigen Daten, die Wilhelm von Bode (Zeitschrift für bildende Kunst 1922/23, 740-741) und Wilhelm
Waetzoldt (Zeitschrift für bildende Kunst 1923, 647-654) zu Kolloffs Person geliefert haben, fügten spätere
AutorInnen vor allem Spekulatives hinzu. Heiland/Lüdecke (1960, 111) verbreiteten die Ansicht, Kolloff habe
„dem Jungen Deutschland nahe gestanden“, welche sowohl Tümpel (1971, 1) als auch Stückelberger (1996, 30)
ohne Quellenhinweis oder sonstige Belege wörtlich übernehmen. Ich sehe in dieser Vermutung eine Projektion ,
deren Ursprung bei den politischen Überzeugungen der AutorInnen Heiland und Lüdecke selbst zu vermuten ist.
Ihr Buch Rembrandt und die Nachwelt erschien zuerst 1960 in Leipzig und läßt auch durch seine einseitige Text auswahl einen vergleichbaren Schluß zu.
57
Vgl. Tümpel 1971, 3 f.; weitere Literatur ebd. In der neueren rezeptionsgeschichtlichen Forschung herrscht
Konsens über Kolloffs Bedeutung (Boomgaard 1995, 27 ff.; Stückelberger 1996, 30 f.).
58
„Il appartenait à un érudit, aujourd’hui un peu ignoré, M. Ed. Kolloff, de revenir aux procédés d’une critique
plus scrupuleuse et mieux informée.“ (Michel 1893, VII).
59
Mit diese Einschätzung schließe ich mich an Christian Tümpel (1971, 14) und Jeroen Boomgaard (1995, 27
ff.) an.
49
nerhalb der Rembrandtliteratur ist Kolloff der erste Autor, der einen strengen wissenschaftliche Apparat ausbildet. Dazu gehört, daß er in einer Einleitung Rechenschaft über sein Vorgehen ablegt:
„Ich habe schlechterdings nur meinen Augen getraut oder wenigstens die fremde Autorität immer
angeführt, wenn auf sie hin etwas erzählt ist.“ (Kolloff 1854, 406)
Neben diesem Bekenntnis zum Literaturverweis gibt Kolloff auch Regeln für seinen Entwurf
einer Biographie an:
„Wir schöpfen unsere Angaben und Ansichten aus den Actenstücken, die bisher aus den holländischen Archiven bekannt geworden, oder auch ganz einfach aus dem Inhalt und Datum Rembrandt’scher Bilder und Radierungen (...).“ (ebd., 426)
Im Kontext meiner Untersuchung soll diese formale Seite der Arbeit Kolloffs nicht ein weiteres Mal herausgearbeitet werden. Ohne seine Stellung in einer ‘Ahnengalerie‘ seriöser, fachdiskursiv definierter Kunstwissenschaft zu bestreiten, will ich daneben eine Betrachtungsweise Kolloffs als ‘Anwalt Rembrandts‘ anbieten, die allerdings ebenfalls keinen Anspruch
auf Originalität erhebt, urteilte doch bereits Carl Neumann über Kolloffs Artikel:
„(...) der Gesamtkarakter auch dieser Schrift war der einer Verteidigung und Rettung.“ (Neumann
1902, 5)
In ähnlicher Weise verwendet auch Kolloff selbst juristisches Vokabular, wenn er die bisherige biographische Literatur zu Rembrandt als weit verbreitetes, „fratzenhafte[s] Zerrbild[es]“
kritisiert:
„Mehr oder weniger ausgeführte Nachrisse davon befinden sich in allen kunsthistorischen Handund Wörterbüchern (...), sodaß sich zuletzt unvertilgbare Volksmärchen daraus gebildet haben.
Rembrandt befindet sich dadurch in einen moralischen Prozeß verstrickt, der seit länger als hundert
Jahren anhängig gemacht und vor alle Instanzen der öffentlichen Meinung gebracht, in Abwesenheit des Verklagten geführt worden, und wobei der streitende Theil that, als wisse er allerlei geheime Weisheit und dürfe in eigner Person Kläger, Zeuge, Richter und Scharfrichter, selbst Alles in
Allem sein.“ (Kolloff 1854, 418)
In Kolloffs Beschreibung des „moralischen Prozess[es]“ gegen Rembrandt deutet sich bereits
an, daß der Autor selbst gedenkt, dem Angeklagten in diesem „in Rede stehenden Rechtshandel“ (ebd.) als Anwalt zur Seite zu treten.
Zwei Beipiele sollen die Verteidigungsposition seines Textes veranschaulichen und damit zur
weiteren Erschließung des Problemfeldes der Rembrandtrezeption in der Mitte des 19. Jahrhunderts beitragen. Zunächst bietet es sich an, die quellengestützte Widerlegung traditioneller
50
Darstellungen durch Kolloff am Thema der ‘Kunstsammlung Rembrandts‘ zu zeigen. Dieses
Thema besitzt in der Vitentradition eine reiche Vorgeschichte. Kolloffs Erschließung einer
seit längerem bekannten Quelle, dem Inventar von Rembrandts Haushalt aus dem Jahre 1656,
stellt zudem einen wichtigen Baustein für die nachfolgende Literatur dar.
3.1 Kolloffs Umwertung der ‘Sammlung Rembrandts‘
Bereits in den Abschnitten über Scheltema und Planche war von der klassizistischen Kritik
die Rede, derzufolge Rembrandt unter anderem in Proportionen, Zeichnung und Perspektive
die Regeln des Kunstschönen mißachtete, die von den Schülern der Kunstakademien durch
Kopie und Nachahmung der Vorbilder aus Antike und Renaissance erlernt wurden. Als Grund
für den Mangel an regelgerechter Schönheit in Rembrandts Werken wird die Geringschätzung
dieser Vorbilder durch den Künstler genannt, für die wiederum zwei Ursachen verantwortlich
gemacht werden: (1) Seine unzureichende Bildung, speziell seine Unkenntnis von Antike und
Renaissance, und (2) sein Desinteresse an edlen Formen, welches auch in einer ‘gewöhnlichen‘ Lebensführung und in der Verbundenheit mit dem niederen Stand seine Entsprechung
finde. In einer Anekdote, die sich zuerst bei Roger de Piles (1699) nachweisen läßt, wird die
erste dieser Ursachen veranschaulicht. Ich zitiere die Variation dieser Anekdote aus dem biographischen Abschnitt des Catalogue raisonné von Gersaint (1751), der Sammlern und sonstigen Interessierten lange Zeit als Orientierung über das Werk Rembrandts diente:
„Was für ein Maler wäre Rembrandt gewesen, wenn, richtiger in seiner Zeichnung, er sich darum
bemüht hätte, die schöne Natur wiederzugeben, wie sie sich in den Antiken und in den Werken der
großen italienischen Meister zeigt! (...) wenn seine Freunde ihm vorwarfen, die Nachahmung der
schönen Antiken zu vernachlässigen, zeigte er ihnen seine Sammlung und sagte ihnen, dies seien
seine Antiken.“ (Gersaint 1751, XXIV f.)60
Gersaints Einführung in die Anekdote mittels einer Klage über die mögliche Vollkommenheit
Rembrandts zeigt zunächst noch einmal, daß die Vorläufer der modernen Rezipienten dem
Holländer keinesfalls so grundsätzlich ablehnend gegenüber standen wie es später häufig dargestellt wurde. Sein Talent sowie die Wirkung seiner Werke sind Gegenstand höchster Bewunderung, beklagt wird die verpaßte Gelegenheit der Verfeinerung dieser Anlagen durch
Schulung am klassischen Ideal. Zur Veranschaulichung dieses Mangels dient dann der Hinweis auf die „Sammlung“, unter der man seit de Piles die unsystematische Anhäufung „alter
60
„(...) quel Peintre eût été Rembrandt, si plus correct dans son dessein, il se fût appliqué à rendre la belle nature,
telle qu’elle se voit dans les Antiques, & dans les Ouvrages [XXV] des grands Maîtres Italiens! (...) lorsque ses
amis lui reprochoient de négliger l’imitation des belles Antiques, il leurs montroit ces assemblage, en leur disant
que c’étoit-là ses Antiques.“ (Gersaint 1751, XXIV f.).
51
Waffen, alter Gerätschaften, alten Kopfschmucks und großer Mengen alter, reich verzierter
Stoffe“61 verstand. In der Vitentradition vermag diese Anekdote gleich für zwei Phänomene
der Kunst Rembrandts als potentielle Erklärung zu fungieren. Neben der angesprochenen
Mißachtung der klassischen Schönheitsregeln, die der anekdotische Rembrandt in dem ironischen Verweis auf „seine Antiken“ offen eingesteht, liefert das skurrile Sammelsurium zugleich einen anschaulichen Grund für die ‘orientalische Phantastik‘, die Rembrandt besonders
in seinen Historiendarstellungen pflegte und die speziell in dieser Gattung dem klassizistischen Tadel der ‘Unangemessenheit‘ ausgesetzt war.
Eduard Kolloff beschäftigt sich wiederholt mit dieser Darstellung Rembrandts als „Trödelfreund“ (Kolloff 1854, 473). Dank des notariell erfaßten Inventars von 1656 sieht er hier eine
exemplarische Möglichkeit, den Überlieferungen und den daraus abgeleiteten Verurteilungen
zu widersprechen. Dieses Inventar erfaßt die zur Pfändung vorgesehenen Besitztümer im
Haus des Künstlers Raum für Raum. Neben Waffen, Kleidung und Gerätschaften aus aller
Welt werden dabei eine Anzahl antiker Skulpturen, Gemälde niederländischer und italienischer Meister sowie mehrere Bände mit Stichen nach solchen Werken verzeichnet. Kolloff
publiziert es in einer acht Seiten umfassenden Anlage.62 Er beläßt es jedoch nicht bei der Bereitstellung dieses Materials, sondern unternimmt erste wesentliche Schritte, um es als Beweismittel gegen die postulierte ‘Antikenfeindlichkeit‘ Rembrandts und gegen dessen gesellschaftliche Positionierung einzusetzen. Im Aufsatztext nimmt er wiederholt darauf Bezug,
zuerst in seiner Darstellung von Rembrandts Leben. Hier zählt Kolloff anläßlich des Konkurses eine Auswahl aus jenem „merkwürdigen Stückverzeichnis“ (ebd., 458) auf und stellt dann
fest:
„Hiernach kann man sich einen ungefähren Begriff machen von den Kunstschätzen und Kostbarkeiten, die sich in Rembrandt’s Wohnung vereinigt fanden und nicht etwa, wie bisher gewöhnlich
angenommen wurde, einen alten Trödelkram, sondern ein reichhaltiges Kunstcabinett bildeten,
dessen sich heutzutage kein Fürst zu schämen brauchte.“ (Kolloff 1854, 459)
An diese Aufwertung der Sammlung, die bis dahin als „die verrosteten Panzerstücke und das
seltsame Geräth, welches sein Atelier füllte“ (Kugler 1847, 423) oder als „Trödlerwaren“
(Nagler 1843, 6) gehandelt worden war, schließt Kolloff sogleich eine Formel des Bedauerns
an, des Mitgefühls über den Verlust dieser Werte durch den wirtschaftlichen Niedergang:
61
„(...) il avoit de vieilles armures, de vieux instrumens, de vieux ajustemens de tête, et quantité de vieilles
étoffes ouvragées, et il disoit que c’étoit-là ses Antiques“ (Roger de Piles 1699, zit. nach Slive 1953, 216).
62
In diesem Umfang war die Quelle in deutscher Übersetzung noch nicht veröffentlicht worden. Auszüge finden
sich bei Nagler (1843), der jedoch keine Konsequenzen für seine biographischen und kunsthistorischen Schilderungen daraus zieht. Internationale Publikationen bei Iosi, Nieuwenhuys, Smith u.a. (vgl. Thoré 1866,VII).
52
„Die Übersicht dieses Inventars kann nicht anders als einen traurigen Eindruck zurücklassen, wenn
man bedenkt, daß dieser Erwerb des tätigen Lebens eines großen Künstlers, seine Liebhabereien
und seine eigenen, ihm unersetzlichen und unentbehrlichen Studien so schonungslos von ihm gerissen wurden.“ (Kolloff 1854, 459 f.)
Beide Elemente, die Einstufung der Sammlung Rembrandts als bedeutendes „Kunstcabinett“
sowie die Klage über deren insolvenzbedingte Versteigerung, entwickeln sich in den kommenden Jahrzehnten zum topischen Inventar des Diskurses. Der Nachweis einer Sammlungstätigkeit, die nicht dem Spektakel, sondern dem Vorbild fürstlicher Kunstcabinette folgt, ermöglicht eine Nobilitierung Rembrandts. Der gesteigerte Stellenwert der Kunstsammlung
drückt sich zudem in der Bedeutung für den Konkurs aus, die Kolloff, wie schon Scheltema,
der „übertriebenen Kunstliebhaberei“ Rembrandts zuspricht.63 Dieser Faktor wird auch in der
späteren Literatur, neben der schlechten wirtschaftlichen Gesamtentwicklung und der ungeschickten Haushaltsführung des Künstlers, als Ursache der Insolvenz angeführt werden.
Indem er die Kunstsammlung Rembrandts aufwertet, bemüht sich Kolloff, jenen beiden Argumentationsketten zu widersprechen, die den Künstler im Urteil der Klassizisten besonders
herabwürdigten. Diese betrafen einerseits seine mangelnde Bildung und andererseits seine
Vorliebe für „Leute von unfeinem Schlage“ (ebd., 473). Wie bereits Scheltema zählt auch
Kolloff die Kontakte „mit berühmten Personen von den höheren Ständen“ auf, derer sich
Rembrandt rühmen konnte (ebd.), wobei das Vorhandensein von Porträts dieser Personen als
Beleg gewertet wird. Im Gegensatz zu Scheltema versetzt Kolloff Rembrandt dabei nicht
grundsätzlich in das Umfeld gehobenen Bürgertums; es sei „immerhin anzunehmen, daß er
sich viel mit dem gemeinen Volke beschäftigt habe“ (ebd., 474), eine Neigung, die mit humanistischen Argumenten verteidigt wird:
„Wenn er dabei an sogenanntem gutem Geschmack verlor, so gewann er dafür hundertfältig an Leben, Wärme, Schärfe, und was liegt daran, ob der Mensch garstig, linkisch oder plebejisch aussieht,
wenn er nur eine Seele hat und diese sichtbar hervortritt?“ (Kolloff 1854, 474)
Hier klingt durch, daß Kolloff dem klassizistischen wie akademischen Ideal der ‘Schönheit‘
wenigstens gleichberechtigt, wenn nicht bevorzugt, eine Vorstellung von ‘Wahrheit‘ entgegenstellt. Auch dieses Konzept kann als wegbereitend für die nachfolgende Rezeptionsgeschichte gelten, und auch in ihm spiegelt sich ein Problem der zeitgenössischen Kunstpraxis,
nämlich die Polarisierung von klassischer Kunstschönheit und naturalistisch orientierter
‘Wahrheit‘, die sich in den dichotomisch aufgefaßten Begriffen des ‘Idealismus‘ und des
63
Vgl. Scheltema 1866, 26.
53
‘Realismus‘ ausdrückt. Kolloff illustriert diesen Konflikt am historischen Beispiel einer Gegenüberstellung der „italienische[n] Meister“ mit Rembrandt:
„Wenn die Bilder italienischer Meister dadurch, daß sie alle negativen Tugenden, die man an einem
Kunstwerke rühmt: Schönheit, strenge Regelmäßigkeit, feine Auswahl, Glätte, Eleganz, selbst Hoheit, Beredtheit und Glanz vereinigen, in hohem Grade anziehen, so verlieren darum Rembrandt’s
Gemälde nicht ihren Reiz, weil sie Gefühl, Wahrheit, Tiefe, Individualität, Naivetät, Natur, kurz
alle positiven Vorzüge haben, die freilich von orthodoxen Kritikern minder beachtet oder gar als
Mangel an Geschmack und Schicklichkeit gerügt werden.“ (Kolloff 1854, 520)
Die gesellschaftspolitischen Implikationen dieses auf den ersten Blick rein ästhetischen Streits
offenbaren sich, wenn Kolloff gleich darauf hinsichtlich der verbreiteten Urteile über Rembrandts darstellerische Mittel hinzufügt:
„(...) es gilt fast unbestritten, daß seine Auffassung grotesk, grobsinnlich und geschmacklos, nur in
Darstellung von Szenen aus dem Volksleben zu dulden und in historischen Sujets nicht auszustehen sei (...).“ (Kolloff 1854, 520)
Die Verknüpfung von Rembrandts Bildgestaltung mit dem ‘Trödel‘ seiner Sammlung zeigt
hier ihre Analogie zur Bindung der Person des Künstlers an den ‘Pöbel‘. Kolloff hat diese in
den klassizistischen Texten praktizierte Kopplung erkannt und bemüht sich darum, sie von
beiden Seiten her aufzulösen. Rembrandts Umgang mit niederen Volksschichten begründet
Kolloff im wesentlichen aus einem künstlerischen Interesse an „Gefühl, Wahrheit, Tiefe“ etc.,
also nicht länger aus einer Ablehnung verfeinerter gesellschaftlicher Kreise und Umgangsformen durch den Menschen Rembrandt, wie sie etwa in dem bereits diskutierten GratianZitat zum Ausdruck kam. Und die klassischen Bestandteile seiner Sammlung bezeugen nach
Kolloff die Unrichtigkeit der Behauptung, daß „Rembrandt gegen die Schönheit der Antike
und der Renaissance ganz unempfindlich gewesen sei“ (ebd., 531). In seiner Verteidigung
Rembrandts gegen die klassizistische Kritik widersetzt sich Kolloff also immanent der Kopplung der elitären Konzepte gesellschaftlicher und ästhetischer High-Low-Klassifizierungen.
Wie vor ihm bereits Gustave Planche, strebt auch dieser Autor dabei jedoch keine Verabsolutierung realistischer Kunstprinzipien an, sondern begnügt sich mit der Relativierung bisheriger Urteile. Statt zu polarisieren demonstriert Kolloff, daß eine gleichzeitige Bewunderung
von ‘italienischer Formenschönheit‘ und holländischem Realismus möglich sei:
„Anstatt von seinen Umgebungen und seinen eigenen Ansichten und Anlagen zu abstrahieren, wie
er beim Befolgen allgemeiner Schulregeln und Schönheitsprinzipien hätte thun müssen, studierte er
die Menschen, unter welchen er lebte, und stellte sie dar, wie er sie sah. Seine Köpfe haben stets
Charakter und Ausdruck. (...) wie tief und rührend sind bei ihm die allergewöhnlichsten und aller-
54
geringsten Menschengestalten beseelt! Seine Figuren im Allgemeinen haben keine Grazie und den
Charakteren seiner heiligen Personen fehlt es an Hoheit und Adel, doch sind sie aller Ehren werth.
(...) Es kömmt vor, daß sie abstoßen; aber eben wo das sträubende Zartgefühl sich unwillig wegwenden will, wird man wie von einem Zauber zu den ordinairen Gestalten hingezogen und kann
sich daran nicht satt sehen, so unverwüstlich wahr und unendlich interessant sind diese merkwürdigen Figuren, die ich nicht gerade für musterhaft ausgeben will.“ (Kolloff 1854, 532 f.)
Die Relativierung des Urteils über Rembrandt bedeutet bei Kolloff also nicht zugleich eine
radikale Ablehnung der akademischen Schönheitsideale.
Dem zweiten Beispiel für die Verteidigung Rembrandts durch Eduard Kolloff kann dagegen
kein Mangel an Radikalität nachgesagt werden. Es handelt sich dabei um die polemische Abwehr der anekdotischen Biographietradition. 64
3.2 Kolloffs Abwehr der anekdotischen Biographik
Den Kern von Kolloffs Aufsatz bildet die quellenkritisch konzipierte Biographie, die sich an
„Actenstücken“ sowie an einer chronologischen Folge für authentisch befundener Werke orientiert. Bevor er zu dieser Darstellung kommt, bereitet der Autor ihr auf spektakuläre Weise
das terrain. Nach einer kurzen methodischen Einleitung und einer Ankündigung seines weiteren Vorgehens eröffnet er seinen Text mit einer ausführlichen Wiedergabe des „fratzenhaften
Zerrbildes“, „welches ältere und neuere Biographen von Rembrandt’s Leben und Charakter
entworfen haben“ (Kolloff 1854, 418). In dieser elf Seiten umfassenden Nacherzählung folgt
er zunächst unkommentiert der geläufigen Vita. Dabei beschränkt er sich nicht auf pauschale
oder beispielhafte Verweise, sondern führt detailiert die einzelnen Elemente ungesicherter
Aussagen zur Biographie des Künstlers auf. Um seine Distanz zu diesen Aussagen zu verdeutlichen, setzt er diese gesamte Passage in Anführungszeichen, verwendet jedoch nicht den
Konjunktiv. Als Beispiel zititere ich Kolloffs Variante der Voyage heureux:
„Er wollte nun nicht wieder heimkehren, wie er hingekommen war, nämlich zu Fuß, sondern reiste
mit der Post, ganz seelenvergnügt bei dem Gedanken an die gute Nachricht, die er seinen Eltern zu
bringen hatte. Bange, seinen Schatz zu verlieren, wollte er um keinen Preis mit den andern Passagieren absteigen, wo unterwegs Mittag gemacht wurde; er blieb allein, wie eine alte Glucke bei ihren Eiern, in der Postkutsche sitzen, als plötzlich die nicht abgeschirrten Pferde Reißaus nahmen
und in einem Zuge bis nach Leyden liefen (...).“ (Kolloff 1854, 410)
64
Streng genommen hätte dieser Punkt zuerst diskutiert werden müssen, denn in seiner Stellung im Text geht er
der Auseinandersetzung mit dem Inventar von 1656 voraus und bestimmt zudem durch seine exponierte Position
in der Gliederung wie durch seine stilistischen Eigenheiten die Wirkung des Textes in entscheidender Weise.
55
Kolloffs Version der anekdotischen Viten verdichtet die bekannten Elemente zu einer grotesken Ansammlung, wie sie so bei keinem der Vitenschreiber zu finden ist. Er schmückt die
Einzelteile mit Adjektiven und Metaphern zusätzlich aus, so das ihr phantastischer Charakter
noch stärker hervortritt. Durch diese Überzeichnung verschärft Kolloff die Lächerlichkeit
dieser Erzählungen sowie ihre Absurdität angesichts der Forderung historischer Objektivität,
die er selbst an eine Künstlerbiographie stellt. Daß er dies bewußt tut und auch eine „in
Bausch und Bogen gehaltene Copie“ der geläufigen „Anecdoten und Atelierschnurren“ ankündigt (ebd., 407 f.), ändert nichts daran, daß er diese ‘entstellenden Darstellungen‘ seinerseits entstellt. Indem er die geläufige Form der Viten nachahmt und sie dabei unmißverständlich karikaturistisch überzeichnet, wendet Kolloff ein scharfes rhetorisches Mittel an, das Distanz zu dem markierten Gegenpol herstellt und diesen geradezu ‘anprangert‘. Seine Kritik
schont dabei weder die Textgattung der bisherige Biographik noch deren Urheber:
„Die Sucht, Anekdoten und Atelierschnurren zu erzählen und dem gebildeten großen Lesepublikum pikante Sachen aufzutischen, ist bei älteren und neuern Künstlerbiographen eine leidige
Krankheit, die in ihren Köpfen eine solche Verwirrung und Zerrüttung anrichtet, daß sie allen moralischen Sinn darüber einbüßen. (...) sie sind gewissermaßen die Lästerchronikenschreiber der
Kunstgeschichte, indem sie alles Arge und Ehrenrührige, was sie auf irgend eine Weise von dem
Leben der Künstler ausfindig machen können, in einer behaglichen Breite und Gedankenlosigkeit
erzählen. Rembrandt ist bei dieser anekdotenkrämerischen Art, das Leben berühmter Männer zu
schreiben, am allerschlimmsten weggekommen. Unsre reiche deutsche Muttersprache ist zu dürftig
und arm, um mit Worten genügend zu bezeichnen, was die Biographen Übles auf ihn und
Schimpfliches auf sich gehäuft haben. (...) Ihr Sündenregister ist länger, als Don Juan’s Maitressenliste, und ihr Gemälde von Rembrandt’s Leben viel verschrobener, ärgerlicher, gehässiger und
geistloser, als ein Hoffmann’sches Phantasiegemälde in Callot’s Manier.“ (Kolloff 1854, 406 f.)
Formulieren wir es scharf: Wenn Kolloff die Thesen in seinem Rembrandt-Aufsatz auch wissenschaftlich begründen mag, so entfaltet er seine Wirkung jedoch durch Mittel, denen sich
ein „sachlich und nüchtern“ arbeitender Historiker entsagen müßte und die ebensowenig als
Abwendung von „literarische[n] Tradition[en]“ gelten können, nämlich durch rhetorische
Mittel.
Kolloff fordert Gerechtigkeit für Rembrandt. Darunter versteht er eine quellenkritische Darstellung von Leben und Werk des Künstlers. Die Legitimität und die Bedeutung seines eigenen Aufsatzes erhöht er dabei jedoch über eine strenge Distanzierung von der bisherigen Biographik, mit der er in einer ganz und gar nicht ‘nüchternen‘ Weise verfährt. Stärker als
Scheltema oder Planche lädt Kolloff die Position dieser zu überwindenden Erzähltraditionen
negativ auf und steigert damit indirekt die Plausibilität der durch ihn vertretenen Gegenposition. Um Rembrandt zu seinem historischen Recht zu verhelfen, versagt er dessen frühen Bio56
graphen einen Anspruch auf ‘sachliche‘ Behandlung. Er unternimmt keine Versuche zu einem
historischen Verständnis dieser Literatur, er benutzt sie lediglich als dunklen Hintergrund, vor
dem sich im hellen Licht nicht nur die korrigierte Gestalt Rembrandts, sondern auch eine nach
neuen wissenschaftlichen Regeln legitimierte, archivarisch gestütze Biographik um so leuchtender abzuzeichnen vermag. Kolloffs Verteidigungsschrift erschafft ihren neuen Rembrandt
um den Preis einer umfassenden Anprangerung der älteren Vitentradition. Damit ist er nicht
nur ein Ahne wissenschaflicher Kunstgeschichte, sondern hat auch wesentlichen Anteil an der
Verkennungslegende, die das Rembrandtbild um 1900 prägen wird.
3.3 Autor und Werk bei Kolloff
Sicherlich ist Kolloff zugute zu halten, daß seine anschließende historisch-kritische Lebensschilderung die Rembrandt-Biographik auf längere Sicht revolutioniert hat und daß eine derartige Erneuerung einer strengen Abgrenzung gegenüber jenem bedarf, das es überwinden
will. So war es für Kolloff wohl notwendig, der vorhandenen literarischen Tradition verständnislos entgegenzutreten, um seinem eigenen Ideal, das in einer ‘gerechten‘ Rekonstruktion des
Künstlerlebens bestand, den Weg zu ebnen.
Um zu einer differenzierteren Bewertung des Verhältnisses zwischen Kolloffs Ansatz und der
Tradition zu kommen sollte jedoch eine Zweiteilung beachtet werden, die Kolloffs Umsetzung einer ‘biographischen Methode‘ kennzeichnet. Sie wird in der Gliederung des Textes anschaulich. Nachdem Kolloff, im Anschluß an das erwähnte ‘Zerrbild‘ der bisherigen Biographik, im zweiten Kapitel „Rembrandt’s Leben“ entlang der Quellen und Werke geschildert
hat, hier nur noch in einzelnen Fällen auf die falsche Überlieferung hinweisend, widmet er das
dritte Kapitel „Rembrandt’s Person und Privatcharakter“. Und während sich jene quellengestützten Aussagen zu Geburt, Ausbildung, Ehe oder Tod jeweils nur wenig erzählerisch deutend vom Archivdokument entfernen, worin fraglos ein elementarer Unterschied zur Tradition
gesehen werden muß, fußt dieser dritte Teil wesentlich stärker auf der Interpretation. Dabei
kommt es auch erneut zu einer abgrenzenden Auseinandersetzung mit der anekdotischen
Rembrandtfigur. Aus seinem Bekenntnis zum Faktischen zieht Kolloff nicht die Konsequenz,
auf eine Reanimation des „Privatcharakters“ der historischen Gestalt zu verzichten. Ganz
selbstverständlich steuert seine Biographie vielmehr auf die Frage zu, was für ein Mensch
hinter den Werken stehen mag. Schon seine Kritik an der bekannten Künstlervita entzündet
sich ja weniger an unzutreffenden Lebensdaten als an der anekdotischen Ausschmückung, die
aus Rembrandt lediglich die historische Aktualisierung literarischer Figuren macht, „einen
57
Gauner, einen Wucherer, einen Pöbelfreund, einen Religionsspötter, einen Schwarzkünstler“
(Kolloff 1853, 426). Es ist das ‘Zerrbild‘ „von Rembrandt’s Leben und Charakter“, daß
Kolloffs Zorn auf sich zieht. Und in dieser Hinsicht kann sein Artikel als Prototyp der hermeneutischen Biographik gelten, die in der akademischen Kunstgeschichte der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts eine zentrale Position einnahm und deren Einflüsse weit ins 20. Jahrhundert reichen. Das künstlerische Werk und das Wesen des Künstlers werden darin als zwei
Säulen des gleichen Bauwerks vorgestellt, die sich in ihrer Größe entsprechen, sich gegenseitig stützen, sich ineinander spiegeln, also wechselseitig jeweils Ausdruck des anderen sind.
Der Charakter des Künstlers und sein Werk existieren als ‘Einheit in der Zweiheit‘, sie erscheinen nur äußerlich als unterteilt, ihrem Wesen nach werden sie als Eins verstanden. Zentral steht dabei die Strategie der Autorkonstruktion, die eine Anzahl künstlerischer Arbeiten
unter dem Begriff des ‘Gesamtwerks‘ (oder des ‘Werks‘)65 als einen nicht bloß zufälligen,
sondern nahezu organischen Korpus wahrnimmt und daraus die nicht weniger geschlossene
Gestalt eines schöpferischen Subjekts ableitet.
Das dokumentarisch nachweisbare Leben der historischen Figur des Künstlers spielt dabei
lediglich eine assistierende Rolle. Es dient zunächst einmal dazu, die Fiktionalität der diskursiven Figur des Künstler-Autors zu kaschieren und ihre Autorität zu legitimieren. Dabei
kommt es jedoch, wie wir noch ausführlich sehen werden, zu einer neuen Form der Anekdotik, in welcher ein Teil der Lebensdaten zur Konstruktion einer Vita verwendet wird, die das
Konzept des Künstlercharakters veranschaulicht und unterstützt. Es ist die weitgehende Enthaltsamkeit in diesem Punkt, in der Kolloff zurecht das Lob jüngerer Rezensenten erntet
(Tümpel 1971, 14).
Dennoch ist die Grundlage einer derartigen ‘reanimierenden Biographik‘ gerade bei Kolloff
nachweisbar. Sie besteht in der Vorstellung von einer ‘charakterlichen Entsprechung‘ von
Autor und Werk. Dieser Punkt ist in der Argumentation vorgezeichnet, mit welcher Kolloff
den Anekdoten entgegentritt:
„ (...) wenn aber in den Lebensbeschreibungen der Maler, die mit mehr als poetischer Licenz abgefaßt sind, ein gewisser Rembrandt vorkommt, der ein schlechter Hausvater, ein gemeiner Gauner,
ein filziger Knicker und bei diesen schönen Eigenschaften ein genialer Künstler gewesen sein soll,
so habe ich leider zu viel Erfahrung und Menschenkenntniß, um an die ses Gespenst oder Jungfernkind (ens rationis) zu glauben. Wenn in einem Menschenherzen solche Schlechtigkeiten hausen, so
ist die Schöpferkraft in der naiven Art, wie sie sich in Rembrandt’s Werken darstellt, eine absolute
Unmöglichkeit.“ (Kolloff 1853, 477 f.)
65
Schon der Kollektivsingular ‘das Werk‘ (gleichermaßen als Entsprechung für das ‘Gesamtwerk‘ wie als Bezeichnung für einzelne Werke verwendet) ist Ausdruck für die körperhafte Auffassung, für die formale Ge schlossenheit, die diesem Konzept zugrunde liegt.
58
Die Kongruenz von ‘Gehalt‘ des Werkes und ‘Wesen‘ des Künstlers ist ein Grundpostulat der
Konzeption des Künstlertums, die uns durch die folgenden Beispiele der Rembrandtrezeption
des gesamten Untersuchungszeitraums begleiten wird. Kolloff formuliert deutlich das gleichsam ‘physiognomische‘ Werkverständnis dieses Prinzips:
„Auch der Schlechteste und Verdorbenste kann mit Hülfe von angeborenen und ausgebildeten Anlagen noch Kunstwerke hervorbringen; aber diese Kunstwerke nehmen mehr oder weniger einen
Charakter an, der mit der gesammten Zerrüttung und Verderbnis seines Geistes in Übereinstimmung ist.“ (Kolloff 1853, 478)
Kolloff konstatiert nicht nur die psychologische Geschlossenheit des Künstlers an sich, sondern auch die Einheit von Künstler und Werk. Der künstlerisch arbeitende Mensch formt sein
Werk nicht nur durch eine angeborene Fertigkeit, die er zur Technik kultiviert hat, sondern
mit seinem ganzen Wesen. Entsprechend bildet er sich im Werk immer selber ab. Die Kunst
ist nichts Außenstehendes, was als handwerkliches Produkt von der menschlichen Eigenart
seines Produzenten zu trennen wäre und durch die bloße Einhaltung äußerlicher Normen entstehen könnte. Kunst macht man nicht nur mit dem Verstand und mit den Händen, ihre wesentliche Gestalt erhält sie durch die lebendige Charakteristik des Künstlers; seine charakteristische Individualität verleiht dem Werk seine Einzigartigkeit. Im Umkehrschluß steht uns im
Kunstwerk damit zugleich eine besondere Quelle zur Verfügung:
„Was bedeutet diese oder jene Anekdote, die man immer aus dem Leben Rembrandt’s anführt?
Alles ist verdächtig, alles streitig, was man bisher von seinen Lebensumständen gefaselt und gefabelt hat. Wirklich, zuverlässig, gewiß, wahr sind seine Werke; das ist noch von ihm übrig, und da
ist noch seine Seele. Alles, was dagegen streitet, darf man geradezu ableugnen, wenn man die aus
seinen Werken gewonnene moralische Gewißheit für sich hat.“ (Kolloff 1853, 479)
Diese Vorstellung, auf der Suche nach dem Künstler und seiner Seele vor allem aus den Werken zu schöpfen, die allein als „wirklich, zuverlässig, gewiß, wahr“ gelten, wird die biographische Kunstgeschichtsschreibung der kommenden hundert Jahre dominieren. So geht
Kolloff nicht nur durch seinen wissenschaftlichen Apparat und seine Verwerfung der Vitentradition, sondern auch hinsichtlich der hermeneutischen Prämissen seiner Methodik der akademischen Kunstgeschichte voraus.
3.4 Ein Beispiel der Verkennungstopik nach Kolloffs Vorbild: Anton Springer
Das einprägsamste Merkmal von Eduard Kolloffs Aufsatz ist die demonstrative Polemik, mit
der er seiner systematischen Darstellung des in „Actenstücken“ nachweisbaren Rembrandt
eine „Copie“ der „bei älteren und neueren Künstlerbiographen“ geläufigen Charakterisierung
59
des Holländers durch „Anekdoten und Atelierschnurren“ vorausschickt. Die Abgrenzung von
der Vitentradition und deren Einstufung als ‘Verkennung Rembrandts‘ wurde um 1900 zum
Topos der Rembrandtliteratur. Kolloffs Strategie eines polemisch vorangestellten „Zerrbildes“, das dem Plädoyer zur Rehabilitation Rembrandts besonderen Nachdruck verleiht, ist in
der Folgezeit jedoch nur einmal in vergleichbarer Art und Weise ausgeführt worden.66
Die Rede ist von dem Text Rembrandt und seine Genossen, den Anton Springer zuerst 1886
in der ergänzten Neuauflage seiner Aufsatzsammlung Bilder aus der neueren Kunstgeschichte
abdruckte. Hier von einer offiziellen Kolloff-Adaption zu sprechen verbietet sich allerdings,
da der Autor, als erster ordentlicher Professor für neuere und mittlere Kunstgeschichte (in
Bonn ab 1860)67 von historischer Bedeutung in der Geschichte der Disziplin, zwar Scheltema,
Vosmaer, Thoré und Bode, nicht jedoch Kolloff als Bezugsquelle seines Textes angibt.
Springers Ansatz ist vom historistischen Prinzip der unparteiischen Würdigung jeder Zeit
nach den Maßgaben ihrer geschichtlichen Bedingungen geleitet.68 Obwohl ihm also nicht an
einer Überhöhung der niederländischen Kunst des 17. Jahrhunderts gelegen ist, und im Jahre
1886 sicher nicht mehr - wie noch zu Kolloffs Zeiten - von einer partiellen Geringschätzung
Rembrandts die Rede sein konnte, geht Springer in der Umsetzung sogar noch über Kolloffs
Polemik hinaus. Denn während dieser seine „Copie“ sorgsam ankündigte, läßt Springer den
Leser ins offene Messer laufen. Seine Paraphrasen über realismuskritische Positionen eröffnen den Text ohne Vorwarnung. Sie münden in den Vorwurf ein, der niederländischen Kunst
fehle es an jener Monumentalität, die der Stellenwert der niederländischen Republik in der
Geschichte erwarten lassen müßte:
„Besenstiele und Kupferkessel, Atlaskleider und Tuchwämmser, zechende Bauern und marktschreierische Zahnbrecher, Gemüsehändlerinnen und Spitzenklöpplerinnen bilden das Ideal holländischer Maler; friedfertige Bürgerschützen, runzelige Frauen, langweilige Schreibmeister,
Zunftvorsteher und andere Kirchturmgrößen fesseln ihr Interesse. Höchstens die Vorliebe für die
Marinemalerei könnte man auf einen nationalen Zug zurückführen.“ (Springer 1886, 172)
66
In geringerem Umfang greift Alfred Lichtwark für seinen Vortrag Rembrandt und die holländische Kunst auf
die Eröffnungsstrategie Kolloffs zurück, wobei er neben diesem auch Springer als Vorbild nennt (Lichtwark
1917 [1886], 261 f.).
67
Vgl. Betthausen u.a. 1998, 391; Dilly 1979, 238 ff..
68
Mit dem Begriff „Historismus“ sind unterschiedliche Bedeutungspotentiale verknüpft (vgl. Rüsen 1993, 17
ff.). Meine Beurteilung Springers folgt der Defninition von Historismus als „(...) ein[em] Verständnis von Ge schichtswissenschaft, in dem es entweder um die Ermittlung wertfreien Tatsachenwissens und um eine möglichst
neutrale Stellung der historischen Erkenntnis im politischen Meinungskampf ihrer Gegenwart geht, oder aber um
eine Betrachtung der Vergangenheit, die sich darum bemüht, diese mit ihren eigenen Wertmaßstäben zu messen.“ (ebd., 18).
60
Außer in den seltenen Marinestücken fehle gänzlich die Repräsentation der kriegerischen
Macht und politischen Größe, stattdessen bilde der enge Kreis des privaten Daseins die profane Wahrnehmungsgrenze dieser Kunst:
„Als ob das kleine selbstsüchtige Ich mit seinen groben Genüssen und materiellen Freuden den
Mittelpunkt der Welt bildete, so geben sich die holländischen Maler in ihren Werken.“ (Springer
1886, 172 f.)
Erst nach einigen Seiten in diesem angriffslustigen Tonfall deckt Springer die Vorwürfe als
Rhetorik auf. Er habe nur in ironischer Absicht der „französische[n] Sitte“ das Wort erteilt,
die zum Ende des 17. Jahrhundert wieder in die Niederlande eingedrungen sei und gegen die
„ungeschminkte, ehrliche Natur“ der dortigen Kunst polemisiert hätte. Diese trüge die Verantwortung für die einstmals verbreitete „Meinung von dem geringen Werthe der holländischen Malerei“; ihre Aussagen seien nicht als „lautere Quellen“ zu behandeln (ebd., 174):
„Mit einer Leidenschaftlichkeit, aus welcher die offenbare Tendenz spricht, verdrehten die Kunstschriftsteller des achtzehnten Jahrhunderts, heimische und fremde, die wenigen erhaltenen sicheren
Züge zu einem häßlichen Zerrbilde, mit der Leichtfertigkeit, welche im Geiste der Zeit lag, zeichneten sie statt Porträten förmliche Carikaturen.“ (Springer 1886, 174)
Springer beläßt es nicht bei solchen Feststellungen, sondern ruft diese ‘Zerrbilder‘ ausführlich
ins Gedächtnis, wobei er den ironischen Ton nun gegen die besagten „Kunstschriftsteller“
wendet:
„Der arme Jan Steen z.B., der in seinen Bildern so herzlich lacht, die Schwächen der Zeitgenossen
mit dem prächtigsten Humor verspottet, hat natürlich seine Heiterkeit nur in der Trinkstube gewonnen. Die Maler, welche das tolle Treiben lustiger Zechbrüder so lebendig schildern, sind selbst die
ärgsten Zecher gewesen. Wie hätten sie sonst den richtigen Ton der Schilderung treffen können?
Diese Annahme, daß nur an sich selbst Erlebtes darstellbar sei, widerspricht in grober Weise den
Bedingungen des künstlerischen Schaffens. Rubens ist ja auch nicht zur Hölle herabgestiegen, ehe
er sein jüngstes Gericht malte und Raffael hat sich nicht erst vom Himmel sein Madonnenideal geholt.“ (Springer 1886, 174 f.)
Wo es doch vorkäme, so Springer in einer historistisch relativierenden Formel, könne man
nicht den Malern zur Last legen, woran ein ganzes Zeitalter leide. „Verläumdet und vergiftet“
(ebd., 176) wurden nicht nur die Wirtshausmaler:
„Am schlimmsten erging es dem größten holländischen Meister: Rembrandt. (...) Ohne Übertreibung darf man behaupten, daß von der Geburt Rembrandts in der Windmühle angefangen Alles,
was von seinem Leben erzählt wird - mit Ausnahme seiner späteren Verarmung, die aber auf seinen
61
sittlichen Charakter keinen Makel wirft, nur seinen Kunstenthusiasmus und seinen geringen praktischen Sinn beweist, erfunden und erdichtet ist.
Die falschen Grundlagen unseres historischen Urtheiles sind durch die neuere heimische Forschung
endlich beseitigt worden, unsere ästhetischen Anschauungen erscheinen aber noch immer nicht frei
von Trübungen.“ (Springer 1886, 176)
In der fortdauernden Trübung „ästhetische[r] Anschauungen“ liefert Spinger selbst eine Legitimierung für seine kämpferische Vorgehensweise. Eine zweite läßt sich aus dem Interesse
des Autors an der Kategorie des ‘Nationalcharakters‘ ableiten. Denn Springer betont neben
den historischen auch nationale Unterscheidungen zwischen der niederländischen Kunst und
ihren späteren „halb französirte, halb italienisirte“ Kritikern (ebd., 174). Und wie er jede Epoche mit ihren eigenen Maßstäben bewertet wissen will, sieht er auch die einzelne Nation als
jeweils unterschiedliche Umgebung an, innerhalb derer ein eigenes Kunstmaß zu gelten habe:
„Ein thatkräftiges Volk tritt uns entgegen, derb und unumwunden in seinen Äußerungen, zuweilen
nüchtern im Denken aber niemals schwächlich im Wollen, zum Einsatze der vollen Kraft bereit,
gleichviel ob es galt, des Lebens Freuden zu genießen oder das Vaterland zu retten, die religiöse
Ueberzeugung zu wahren. Wie hätten die Künstler, dem selbstbewußten Bürgerstande entsprossen,
mit den Trägern des öffentlichen Geistes in mannigfacher persönlicher Berührung, sich dem Einfluß des Nationalcharakters entziehen, wie es anstellen sollen, denselben nicht auch in ihren Werken zu offenbaren?“ (Springer 1886, 180)
Trotz der Betonung des „Nationalcharakters“ ist Springers Ansatz nicht im engeren Sinne als
nationalistisch (d.i. chauvinistisch) einzustufen, da er, wie das Zitat auch zeigt, nicht von einer
wesenhaft gegebenen Charakteristik ausgeht, sondern den Einfluß sozialer Faktoren berücksichtigt (“dem selbstbewußten Bürgerstande entsprossen“).69 Das ändert jedoch nichts an dem
patriotischen Zug seiner Abgrenzungen gegen Italien und Frankreich, der uns bei keinem der
bisher behandelten Autoren in dieser Weise begegnete. In dem thematischen Bereich der Rehabilitation der Ästhetik holländischer Malerei des 17. Jahrhunderts, an den Scheltema die
Stärkung des niederländischen Bürgerstolzes, Planche die Verteidigung realistischer Gegenwartskunst und Kolloff die Verbannung anekdotischer Biographik anschloß, spielte die Unterscheidung zwischen Holland und Italien stets eine assistierende Rolle. Bei Springer tritt diese
Frage mit einem nationalpolitischen Impetus aus dem Hintergrund hervor. Ich nehme diese
inhaltliche Verschiebung zum Anlaß einer Diskursstrukturierung. Mit dem Sprung von
Kolloff zu Springer haben wir die diskursive Grenzlinie überschritten, mittels derer ich das
engere Feld der deutschen Rembrandtrezeption um 1900 von seiner Vorgeschichte unter69
Dies impliziert eine Veränderbarkeit des „Nationalcharakters“, wie sie etwa bei Julius Langbehn als undenkbar erscheinen müßte.
62
scheide. Bevor wir zum Kernzeitraum der Untersuchung überleiten, sollen die möglichen politischen Implikationen der Rembrandtrezeption der Jahrhundertmitte an ihrem vermutlich
markantesten Beispiel demonstriert werden: der ‘Verteidigung Rembrandts‘ durch Théophile
Thoré.
4 Im Zeichen des ‘homme libre‘: Rembrandt und die Holländer bei Théophile Thoré
(1858)
Der Reiz der Texte Théophile Thorés liegt nicht allein in seiner Bedeutung als Kunstkritiker
des seconde empire. Vielmehr begegnen wir in Thoré einer facettenreichen Autorfigur, die
eine besondere Interessantheit aufzubieten hat, da die biographischen Informationen, die über
sie kursieren, eine prägnante Ergänzung ihrer publizistischen Tätigkeit darstellen.
Théophile Thoré tritt zuerst 1833 in Paris als Journalist und Kunstkritiker in Erscheinung.
Wie Frances Suzman Jowell nachweist, ist er dabei stark vom Gedankengut des Saint-Simonismus beeinflußt.70 Die Argumentationweise seiner frühen Schriften basiert auf der Geschichtskonzeption dieses Kreises, die eine soziale Evolution der Gesellschaft und des Menschen postuliert. Ungleich weniger komplex und systematisch als später bei Marx, wird hier
ein Gleichheitskonzept mit Mustern religiöser Heilserwartung kombiniert. Die Analyse der
gegenwärtigen Gesellschaft, wie sie Thoré z.B. in seinem Artikel L’art social et progressif
(1834) entwickelt, weist dabei wesentliche Elemente moderner kulturkritischer Programmatik
auf, die uns im weiteren immer wieder beschäftigen werden. Dazu zählt die Vorstellung, in
einer Übergangszeit zu leben, die als gespalten empfunden wird und aus der sich, mit Hilfe
einer zeitgemäßen, zukunftsweisenden Kunst, eine neue Ära gesellschaftlicher Einheit und
„Synthese“ entwickeln wird. Während die Zeit von Christus bis Luther bei Saint-Simon als
„la synthèse chrétienne“ (die christliche Synthese) dargestellt wird, sei mit Luther eine Übergangszeit angebrochen, die „protestation“, die bis in die Gegenwart reiche (Jowell 1977, 16).
Auf Basis dieser Epocheneinteilung attackiert der junge Thoré die Kunst der letzten 300 Jahre
einschließlich der seiner Zeitgenossen, da sie sich nicht der heiligen Aufgabe stelle, den Menschen auf seinem Weg zur zukünftigen Vervollkommnung zu geleiten, sondern sich durch die
Nachahmung von Antike und Renaissance nach rückwärts orientiere:
70
Thorés persönliche Mitgliedschaft in der „Sekte“ Saint-Simons ist unwahrscheinlich (vgl. Jowell 1977, 2). Für
die folgenden Darstellungen greife ich primär auf diesen Text zurück, dessen Darstellungen Unterstützung finden bei Herding 2 1984, 111 ff.; Boomgaard 1995, 46 ff. und Chu 1974,14.
63
„Inmitten dieser ständigen Anarchie erschien allein die Kunst als stillstehend; sie allein hatte sich
lange Zeit dem unvermeidlichen Gesetz der fortschreitenden Veränderung entzogen: im Innersten
dieser Gesellschaft, die sich verändert hatte, spiegelte sie noch immer regungslos die alten Formen
wieder, während alles um sie herum neu war (...). Es muß gesagt werden, daß also keine Kunst
mehr vorhanden war.“ (Thoré 1834, zit. nach Jowell, 17) 71
Die Kunst soll Anteil nehmen an den gesetzmäßigen Entwicklungsprozessen der Gesellschaft,
so wie es Thoré selber tat, als die Revolution von 1848 die Gelegenheit zur aktiven Gestaltung von Geschichte bot. Seine Besprechung des Salons jenes Jahres beendete er mit den
Worten:
„Wir halten unsere Leser nicht lange mit dem Salon von 1848 auf. Die Politik hält für uns wesentlich interessantere Ereignisse bereit. Wir machen heute besseres als Kunst und Poesie: wir machen
lebendige Geschichte." (Thoré, Salon de 1848, 565, zit. n. Jowell 1977, 173) 72
Diese Chance währte nicht lange. Im kurzen Frühling der Februarrevolution war Thoré an der
Veröffentlichung republikanischer Zeitschriften beteiligt und kanditierte auf einer sozialistisch orientierten Liste erfolglos für die Nationalversammlung. Nach dem gescheiterten Arbeiteraufstand vom 15. Mai ging er vorübergehend ins Exil, das für ihn, nach der Teilnahme
an einem weiteren bewaffneten Aufstand gegen die Regierung Louis Napoleons im Juni 1849,
zu einem Dauerzustand wurde. Im November 1849 wurde dem „Citoyen Thoré“ offiziell der
Bann ausgesprochen (Jowell 1977, 175 f.). Erst die Generalamnestie von 1859 sollte seine
Rückkehr nach Frankreich ermöglichen.
In der Zwischenzeit hatte sich Thoré intensiv der Kunst der Vergangenheit zugewandt und
speziell in der holländischen Malerei das Objekt gefunden, in dem seine von der realen Entwicklung gedämpften politischen Ideale ihre kunsthistorische Ausformung finden konnten.
Seit 1855 publizierte er unter dem programmatischen Pseudonym „William Bürger“. In dieser
Kombination des englischen Vornamens mit dem deutschen Wort für „Citoyen“ trifft sich der
internationale Anspruch von Thorés politischen Idealen mit seiner erklärten Verehrung William Shakespeares (Jowell 1977, 180 u. 365).
Nach mehreren Artikeln und Veröffentlichungen erschienen 1858 und 1860 die beiden einflußreichen Bände über die Kunstschätze Hollands, Musées de la Hollande. Im Stile eines
kommentierenden Kataloges bespricht Thoré darin Hauptwerke der niederländischen Kunst,
71
„Au milieu de cette anarchie incessante, l’art seule semblait stationnaire; seul, il s’était soustrait longtemps à la
loi inevitable de transformation progressive: au sein de cette société qui était changée, lui, immobile, reflétait
encore les anciennes formes, quand autour de lui tout était nouveau (...) Il faut le dire, il n’y eut plus d’art alors.“
(Thoré 1834, zit. nach Jowell 1977, 17).
72
„Nous n’arrêtons pas longtemps nos lecteurs sur le Salon de 1848. La politique nous réserve des spectacles
plus intéressants. Nous faisons aujourd’hui mieux que de l’art et de la poésie: nous faisons de l’histoire vivante.“
(Thoré, Salon de 1848, 565, zit. nach Jowell 1977, 173).
64
wobei er jeweils die Werke eines Künstlers zusammenfaßt, die an einem bestimmten Aufbewahrungsort zu finden sind. Durch diese Gliederung gibt das Buch seine Ausrichtung auf das
Genre der Reiseliteratur zu erkennen. Seine Publikation ist demnach sowohl an dem Bedürfnis nach einer aktuellen Darstellung zur niederländischen Kunst als auch an der zeitgenössische Mode der Hollandreisen orientiert.73 Dem entspricht eine sachlich-deskriptive Sprache.
Euphorischer wird der Stil Thorés jedoch, wenn er in der Einleitung und im Schlußkapitel auf
seine Faszination für holländische Kunst zu sprechen kommt. In diesen Passagen bestätigt
sich auch die Kontinuität seines politischen Interesses. Denn mit der Kunst der Niederlande
des 17. Jahrhunderts erklärt er implizit auch die ihr zugrunde liegende Gesellschaftsform für
zeitgemäß und vorbildlich, da in ihr die Ideale des selbstbestimmten Bürgers und der durch
diesen Bürger regierten Nation zum Ausdruck kämen. Die historischen Niederlande fungieren
als Projektionsfläche für programmatische politische Aussagen. Thorés Geschichtsbild des
17. Jahrhunderts trägt die utopischen Züge des Wunschbildes für eine eigene republikanische
Zukunft.
Das Ideal einer Kunst, die sich „der wahren Repräsentation unserer Epoche“74 verschreibt,
wie es schon in L’art social et progressif heißt, findet auch nach den Jahren politischer Frustration und kunstwissenschaftlicher Spezialisierung noch einen deutlichen Niederschlag.
Tatsächlich nimmt Thoré Grundzüge seines früheren Geschichtsbildes und vor allem die Kritik an der Kunst der vergangenen Jahrhunderte wieder auf, wenn er in der Einleitung der
Musées de la Hollande das klassizistisch geprägte Kunstideal beklagt. In allen Teilen Europas, so Thoré, sei die Geschichte der italienischen Kunst besser bekannt als die der jeweils
‘eigenen‘. Zwar bemühten sich die Gelehrten der jüngeren Generationen darum, diese Wissenslücken zu füllen, jedoch auch sie könnten für bestimmte Phasen der Kunstgeschichte kein
eigenständiges Kunstschaffen hervorzaubern, da sich die Künstler früherer Zeiten, namentlich
seit dem 16. Jahrhundert, zu sehr vom italienischen Vorbild beeinflußen ließen:
„Als diese Emigrationsbewegung [die Italienreisen der Künstler, M.H.] zur Norm wurde, verschwanden die niederländische Kunst, die flämische Kunst, die deutsche Kunst alle gemeinsam in
einer banalen Nachahmung der Italiener. Zwar gab es ohne Zweifel noch gewandte Künstler, die
jedes dieser Völker ihren Raffael oder ihren Michelangelo nannte, aber diese haben keinen Anteil
mehr an der Geschichte ihrer eigenständigen Kunst.
Die Eigenart des Menschen ist es, zu erfinden, er selbst zu sein und nicht ein anderer.“ (Thoré
1858,VIII f.)75
73
Vgl. Chu 1987 und van der Tuin 1935/1936.
“elle sent à peine la vie nouvelle, qui l’appelle à la représentation vraie de nôtre époque“ (Thoré 1834, zit.
nach Jowell 1977, 18 f.).
75
„Lorsque l’emigration se fut généralisée, l’art hollandais, l’art flamand, l’art allemand, disparaissent tous ensemble dans un pastiche banal des Italiens. Il y eut encore, sans doute, des maîtres habiles, que chacun de ces
74
65
Die Verknüpfung der Individualität des Künstlers mit der nationalen Eigenart seiner Herkunft
ist ein weiteres Charakteristikum moderner Programmschriften, das uns später wiederbegegnen wird. Hier soll zunächst betont werden, wie gewandt der Autor den politischen Gehalt der
Anlehnung holländischer, flämischer und deutscher Künstler (die französischen spart er hier
aus) an die Regeln des Renaissance- und Antikenideals herausstellt und von der eigenständigen Kunst der Nationen auf eine allgemeine Aussage über das Wesen des Menschen kommt:
Er selbst zu sein, und nicht ein anderer.76
Thorés Schlüsselbegriffe in diesen programmatischen Passagen sind „homme“, „vie“, „peuple“, „pays“ und „humanité“. Der Hoffnung auf eine Kunst, in der die Menschen und die Nationen ihre Eigentümlichkeit entfalten, stellt der Autor die niederländische Kunst als Leitbild
voran. In einer häufig zitierten Passage greift er dabei auf ein wesentliches Stilmittel der klassizistisch-literarischen Künstlerbiografik zurück, auf die Anekdote, um sein Konzept einer
Polarisierung von feudalistischen und republikanischen Kunstprinzipien zu veranschaulichen.
Aufgrund ihrer rezeptionsgeschichtlichen Bedeutung, ihrer Aussagekraft über den literarischen Stil Thorés und ihrer topischen Potentiale erscheint mir ein längeres Zitat dieser Passage als angemessen:
„Über Jahre hinweg haben wir nun fast ohne Unterlaß zur einen Hälfte mit den Italienern und Raffael und zur anderen Hälfte mit unseren Holländern und Rembrandt gelebt, der uns niemals verläßt.
Diese erlesenen Toten, unsere einzige Begleitung in der Einsamkeit, haben uns gequält, Tag und
Nacht, indem sie uns ständig ihre so gegensätzlichen Rätsel stellten.
Eines Morgens, als wir in einem illustrierten Magazin die Porträts von Raffael und Rembrandt fanden, machten wir uns automatisch daran, sie auszuschneiden, um sie mit einer Nadel an der Wand
anzubringen, wie es die Plebejer, die Kinder und die Künstler tun. Raffael ist nach links gewendet,
Rembrandt nach rechts. Unmöglich sie von Angesicht zu Angesicht zu befestigen: das trüge den
Zug einer doppelten Ironie. Ganz unbefangen setzten wir sie Rücken an Rücken und, oberhalb der
beiden Köpfe (...) schrieben wir ‘JANUS‘, begleitet durch die mystische Bezeichnung mit dem
Monogramm der beiden Meister, wie folgt angeordnet:?R
Das war das instinktive Ergebnis unserer ganzen [élubrations] über diese beiden großen Genies.
Und sind diese beiden nicht in der Tat der Janus der Kunst? Raffael schaut zurück; Rembrandt
schaut nach vorn. Der eine hat die Menschheit abstrakt gesehen, unter den Symbolen der Venus
und der Jungfrau, Appolls und Christi; der andere hat unmittelbar und mit seinen eigenen Augen
peuples appela ses Raphaël ou ses Michel-Ange, mais qui ne comptent plus dans l’histoire de son art autochtone.
Le propre de l’homme est d’inventer, d’être soi et non pas un autre.“ (Thoré 1858, VIII f.).
76
Das Verständnis von Individualität als Abgrenzung des Einzelnen durch eine Hervorhebung der Subjektivität,
der einzigartigen Eigenartigkeit, weist hier als Muster über den anthropologischen Bereich hinaus. Es erscheint
interessant, diese moderne Konzeption vom abgeschlossenen singularen Individuum als Parallelphänomen der
Bildung der Nationalstaaten zu betrachtet.
66
eine wirkliche und lebendige Menschheit gesehen. Der eine ist die Vergangenheit, der andere die
Zukunft.“ (Thoré 1860, X)77
Die Orientierung nach rückwärts, die er schon 1834 der zeitgenössischen Kunst zum Vorwurf
machte, findet in dieser Anekdote nicht nur eine symbolische Form, es ist ihr inzwischen auch
ein greifbares Gegenbild erwachsen. Was Thoré in der Kunst seiner eigenen Zeit nicht fand,
hat er in einer historischen Epoche ausgemacht. In der rhetorischen Gegenüberstellung von
Raffael und Rembrandt formuliert er ein Bild für den Paradigmenwechsel in der Kunst und
der Kunstgeschichte seiner eigenen Zeit, der parallel verläuft mit gesellschaftlichen Umbrüchen und hegemonialen Kämpfen. Dabei verwirft er nicht länger die ganze Kunstgeschichte
der letzten dreihundert Jahre, sondern wiegt zwei Epochen gegeneinander ab, wobei er die
eine der Vergangenheit zuschlägt, während er die andere als zukunftsweisend deklariert.
Gleichzeitig stehen die beiden Künstler-Stellvertreter jedoch nicht nur für ihre Epochen. Sie
repräsentieren jeweils ein Kunst- und ein Gesellschaftsideal der Gegenwart, die in der Mitte
des 19. Jahrhunderts miteinander im Streit liegen. Raffael, der Idealkünstler der Klassizisten,
steht für eine Welt der festgelegten Schönheitsregeln und der symbolischen Ordnungen, in der
auch die Herrschaft nach traditionellem Muster unveränderlich verteilt ist. Dagegen wird
Rembrandt gesetzt. Er repräsentiert die Republik der Niederlande. In seiner Kunst sind nicht
länger die abstrakten Menschen mythischer Erzählungen die Helden, sondern die wirkliche
und lebendige Menschheit, wie er sie mit seinen eigenen Augen gesehen hat.
Thoré entwirft sein Bild der Kunst Hollands als ein Idealbild seiner Kunst für die Gegenwart
und damit als Gegenbild jener klassizistischen Kunstregeln, die an den Akademien weiterhin
bestimmend waren. Wie die akademische Kunstpraxis sich an der Aufgabe einer Repräsentation der Welt orientiert, ihrer systematisch verstehbaren Erscheinungen, ihrer auch politisch
relevanten Ordnung, so verlangt Thoré nach einer gegensätzlichen Kunst für einen republikanischen Staat. In der Kunst Hollands sieht er vor allem ihr Interesse am zeitgenössischen bürgerlichen Alltagsleben, ihre stilistische Freiheit von Einflüssen und Rückgriffen auf Antike
und Renaissance und ihre wirtschaftliche Fundierung auf einem breiten, dynamischen Markt,
77
„Durant des années, nous avons donc vécu presque sans cesse, moitié avec les Italiens et Raphael, moitié avec
nos Hollandais et Rembrandt qui jamais ne nous quitte. Ces morts illustres, notre seule compagnie dans la solitude, nous ont tourmenté, le jour et la nuit, en nous proposant sans cesse leurs énigmes si divergentes.
Un matin, trouvant dans un magazine à images les portraits de Raphaël et de Rembrandt, nous nous mîmes à les
découper machinalement pour les accrocher avec une épingle à la muraille, comme font les plébéiens, les enfants
et les artistes. Raphaël est tourné à gauche, Rembrandt à droite. Impossible de les attacher face à face: ça aurait
l’air d’une double ironie. Naïvement, nous les accolâmes dos à dos, et, au-dessus des deux têtes (...) nous écrivîmes: JANUS, accompagnant le nom mystique du monogramme des deux maîtres ainsi disposé: ?R. Tel fut le
résumé instinctif de toutes nos élubrations sur ces deux grands génies. A eux deux, en effet, ne sont-ils pas le
Janus de l’art? Raphaël regarde en arrière; Rembrandt regarde en avant. L’un a vu l’humanité abstraite, sous les
symboles de Vénus et de Vierge, d’Apollon et de Christ; l’autre a vu directement et de ses propres yeux, une
humanité réelle et vivante. L’un est le passé, l’autre l’avenir.“ (Thoré 1860, X).
67
die sie vom Diktat einzelner Auftraggeber unabhängig macht.78 Thoré versteht diese Kunst als
den Ausdruck einer Zeit, in der die Holländer als demokratische Protestanten, „frei im Denken und im Handeln“,79 sich gegen die katholischen Monarchien behaupteten und dabei jene
charateristischen Züge zum Ausdruck bringen konnten, die er als ihre nationale Charakteristik
ansieht:
„Das ist der Charakter der holländischen Schule in ihrer Gesamtheit. Das Leben, das lebendige Leben, der Mensch, seine Gebräuche, seine Beschäftigungen, seine Freuden, seine Launen. Die einen
zeigen den Bürger in Aktion für die öffentliche Sache, wie er sich der Waffenübung widmet oder
der Abwicklung von Geschäften; die anderen zeigen die Familien in häuslicher Umgebung oder
während ihrer Entspannung im Freien, diese die gebildeten Klassen, jene die arbeitenden Klassen
oder die Randgruppen. (...) Überall ist Bewegung, das aktuelle Leben, das zugleich das ewige Leben ist, - die Geschichte des Volkes und des Landes.“ (Thoré 1858, 322 f.)80
Mit diesen Worten können besonders zwei Bilder Rembrandts verbunden werden: die Nachtwache (der „Bürger [...] wie er sich der Waffenübung widmet“) und die Staalmeesters („oder
der Abwicklung von Geschäften“).81 Alle weiteren Beschreibungen ließen sich besser mit
Brouwer, ter Borch, van Ostade oder Steen illustrieren. Entscheidend ist jedoch der ‘Realismus‘, den Thoré einklagt. Der Kanon des im klassizistischen Sinne Bildwürdigen soll durch
den Einzug des Alltagslebens in die Kunst gebrochen werden. Und mit dieser Macht über die
Ordnung der Bilder wird implizit auch dem politischen Herrschaftsanspruch der Päpste und
der Könige, der Götter und der Helden widersprochen:
„Ah! das ist nicht länger eine mystische Kunst, die den alten Aberglauben umfaßt, eine mythologische Kunst, die alte Symbole wiedererrichtet, eine fürstliche, aristokratische Kunst, die deshalb
außergewöhnlich wäre und ausschließlich zur Glorifizierung jener dient, die über die Menschheit
herrschen. Es ist nicht länger die Kunst der Päpste und der Könige, der Götter und der Helden. Raffael hatte für Julius II gearbeitet und für Leo X; Tizian für Karl V und Franz I; Rubens arbeitete
noch für den Erzbischof Albert und die Könige von Spanien, für die Medici von Frankreich und für
78
Dieses ‘Autonomiepostulat‘ wird uns im zweiten Teil der Untersuchung noch eingehender beschäftigen.
„libre de pensée et d’action“ (Thoré 1858, X).
80
„Tel est le caractère de l’école hollandaise dans son ensemble. La vie, la vie vivante, l’homme, ses moeurs, ses
occupations, ses joies, ses caprices. Les uns ont pris le citoyen en action pour la chose publique, qu’il se livre à
l’exercice des armes ou à la délibération des affaires; les autres ont pris les familles chez elles, ou dans leurs
distractions extérieures; ceux-ci les classes distinguées, ceux-là les classes laborieuses, ou les classes excentriques. (...) Partout l’animation, la vie présent, qui est aussi la vie éternelle, - l’histoire du peuple et du pays.“
(Thoré 1858, 322 f.).
81
Man beachte, daß Thoré, der ehemals aktive Revolutionär, hier Kampfübungen und Geschäftstätigkeit als
repräsentative Beschäftigungen freier Bürger gleichwertig nebeneinander stellt.
79
68
Charles I von England. Aber Rembrandt und die Holländer haben für niemanden gearbeitet als für
Holland und die Menschheit.“ (Thoré 1858, 323) 82
In seiner Aufzählung leitet Thoré fließend von Raffael zu Rubens über und platziert damit
einen weiteren Künstler, der häufig als Antipode Rembrandts Verwendung fand.83 Zudem
kann diese Passage verdeutlichen, in welchem Maße Thoré die Politisierung des Kunstdiskurs
reflektierte und den Künstler zum Stellvertreter des Menschen an sich erhob. In der Kunst
sind demnach nicht länger jene Erzählungen tonangebend, die allein der Glorifikation der
Beherrscher der Menschheit geweiht sind. Und der Künstler ist nicht länger abhängig vom
Wohl der kirchlichen und weltlichen Fürsten, sondern er ist frei. Was er erarbeitet kommt
nicht mehr konkreten Personen, den Repräsentanten der Herrschaft zu Gute, sondern es wirkt
mit am Wachstum abstrakter Herrschaftsstrukturen, an denen der einzelne Bürger selbst partizipiert, dem Staat und der Menschheit.
Thorés sieht den Künstler im Feudalismus als ein Werkzeug, das dem Willen des Herrschers
untergeordnet ist. Dieser entscheidet über das ‘Wie’ der künstlerischen Ausführung, über das
‘Was’ des Bildmotivs und über das ‘Wofür’ der gesellschaftlichen Funktion. Die Kunst dient
demnach nur als Hülle eines Aberglaubens, der zur Erhaltung wie zur Glorifizierung der
fürstlichen Herrschaft diente. Wirtschaftliche Abhängigkeit, so Thoré, machte den Künstler
zum Handlanger der Macht und die Kunst zum Vehikel der Machtausübung. In der holländischen Republik werde dagegen anstelle einzelner Adliger oder der Kirche die ganze bürgerliche Gesellschaft zum Auftraggeber. An die Stelle eines hierarchischen Machtgefüges tritt die
Eigenständigkeit der Nation freier, für sich selbst wie für ihre Nation verantwortlicher Bürger.
Diese Elemente lassen sich im modernen Künstlerdiskurs wiederfinden: Die Freiheit des Einzelnen in der künstlerischen Autonomie, die Eigenständigkeit der Nation in einer charakteristischen nationalen Kunst und die Verantwortlichkeit des Bürgers in der Seriösität und
‘Tiefgründigkeit‘ eines an ewigen Werten und Wahrheiten orientierten künstlerischen Schaffens. Auch darauf wird zurückzukommen sein.
Théophile Thorés Argumentation kann allein aufgrund ihrer deutlichen Abgrenzung von einem Gegenbild bereits als ‘revolutionär‘ gelten. Daß sich sein Kunstideal aber nicht nur ge-
82
„Ah! ce n’est plus l’art mystique, envelloppant de vieilles superstitions, l’art mythologique, ressuscitant de
vieux symbole, l’art princier, aristocratique, exceptionnel par conséquent, et consacré uniquement à la glorification des dominateur de l’espèce humaine. Ce n’est plus l’art des papes et des rois, des dieux et des héros. Raphael avait travaillé pour Jules II et Léon X; Tiziano, pour Charles-Quint et Franςois Ier; Rubens encore travaillait pour l’archiduc Albert et les rois d’Espagne, pour les Médicis de France et Charles Ier d’Angleterre. Mais
Rembrandt et les Hollandais n’ont travaillé que pour la Hollande et l’humanité.“ (Thoré 1858, 323).
83
Es wäre überaus lohnend, den Vergleich von Rubens und Rembrandt als Variante des Dioskuren-Topos durch
die Rezeptionsgeschichte zu verfolgen (vgl. z.B. Kugler 1837, 177; Fromentin 1876, passim; Lübke 1877, 227;
Escherich 1909, 262; Hetzer 1984 [1926], 249 ff.; Schmidt-Degener 1928, 35).
69
gen etwas richtet, sondern vor allem für etwas kämpfen will, bringt er in den Schlußworten
zum ersten Band der Musees nochmals auf den Punkt:
„Die holländische Kunst, mit ihrem Naturalismus, wie man es gerne nennt, ist also einzigartig im
modernen Europa. Es ist das Merkmal einer Kunst, die auf ganz andere Weise inspiriert ist, als die
mystische Kunst des Mittelalters oder die allegorische und aristokratische Kunst der Renaissance,
die in der zeitgenössischen Kunst noch immer ihre Fortsetzung findet.
Die Kunst Rembrandts und der Holländer, das ist ganz einfach DIE KUNST FÜR DEN
MENSCHEN.“ (Thoré 1858, Bd. 1, 326) 84
In Thorés Bild der niederländischen Kunst steht der Mensch zentral. Seine zeitgenössische
Entsprechung ist der homme libre der bürgerlichen Revolution. Wenn sich auch in der kunstliterarischen Produktion Thorés eine quantitative Verschiebung zugunsten einer entpolitisiert
erscheinenden Beschreibung der sichtbaren Fakten eingestellt hat, so bleibt seine qualitative
Orientierung eindeutig politisch. Kunst ist für ihn ein Redeanlaß, um politisch Position zu
beziehen. Im Gegensatz zu vielen seiner kunstwissenschaftlichen Nachfolger war er sich der
Unmöglichkeit bewußt, öffentlich eine unpolitische Aussage zu treffen. Im Dezember 1864
schrieb er an einen Freund:
„Früher sprach ich in den Clubs über Kunst, wenn die politische Leidenschaft uns erfaßte und auch
die Zuhörer mitriß. Heute hätte ich Angst davor. (...)Wie sie wissen muß man, um die Geschichte
auszulegen, sie von drei Blickpunkten aus betrachten: von Angesicht zu Angesicht, das ist die Gegenwart; von hinten und von vorne - die Zukunft. Es scheint mir aber unmöglich, z.B. über Rembrandt zu sprechen, ohne die Heuchelei und den Despotismus anzuprangern, ohne das Licht zu
preisen, das die Freiheit ist, und all die menschlichen Qualitäten, die die Politik, die Revolution,
den Fortschritt und die Zivilisation berühren.“85
Der bewußte Umgang Thorés mit den politischen Implikationen kunsthistorischer Rede bildet
in der französischen Rembrandtrezeption seiner Zeit keine Ausnahme. Im Geiste des Saint-Simonismus hatte bereits 1848 Arsène Houssaye, Herausgeber der Zeitschrift L’Artiste, Rembrandt als bekennenden Lutheraner und damit als einen frühen Aufklärer geschildert. Rem84
„L’art hollandais, avec son naturalisme comme on se plaît à dire, est donc unique dans l’Europe moderne.
C’est l’indication d’un art inspiré tout autrement que l’art mystique du Moyen-âge, que l’art allegorique et aristocratique de la Renaissance, toujours continuée par l’art contemporain. L’art de Rembrandt et des Hollandais,
c’est tout simplement, L’ART POUR L’HOMME.“ (Thoré 1858, Bd. 1, 326).
85
„Vous savez bien que, pour interpréter l’histoire, il faut la voir de trois points de vue: en face, c’est le présent;
en arrière, et en avant - l’avenier. Il me semble impossible de parler de Rembrandt, par exemple, sans abîmer
l’hypocrisie et le despotisme, sans glorifier la lumière, qui est la liberté, et toutes les qualités humaines qui touchent à la politique et à la Révolution, au progrès et à la civilisation.“ (Thoré, zit. nach Jowell 1977, 259, übersetzt und ergänzt unter Verwendung von Herding 1978, 111 f. Ebd. ist als Quelle verzeichnet: Paul Cottin (Hg.)
Thoré peint par lui-même, Paris 1900, 222. Nach Herding ist der Brief an M. Delhasse gerichtet, nach Jowell
schrieb ihn Thoré dagegen an E. Leclerq).
70
brandt habe in Luther jenen Reformator erkannt, „der ihnen [den Holländern, M.H.] den Geist
der Revolte eingeflößt habe, der aus seinen Brüdern freie und starke Menschen gemacht
habe“ (Houssaye 1848, zit. nach Carasso 1992, 191). Auch Alfred Dumesnil, Autor des 1850
anonym publizierten Buches La foi nouvelle cherchée dans l’art de Rembrandt à Beethoven,
läßt in den maskierten Angaben zu seiner eigenen Person die aktive Verstrickung in die
1848er Revolution erkennen86 . Politische Impulse verbinden sich in dieser Schrift mit christlichen Idealen zur Utopie von einer menschlicheren Gesellschaft, als deren prophetische Visionen unter anderem die Bilder Rembrandts interpretiert werden. Wenn der Autor seine Intention beschreibt, ist neben einer Tendenz zur Harmonisierung gesellschaftlicher Konflikte die
Aufforderung zu einem ‘Rückzug ins Private‘ unverkennbar:
„Ich möchte mit Hilfe Rembrandts den heimischen Herd beschreiben, seine Wärme und seinen
Schein; die christliche Legende zeigen, die in den Kellern der Industrie demokratisch geworden ist;
jedes Haus, jede gesegnete Hütte des heiligen Gastes würdig, besonders die ärmste.
Das Ideal, welches ich in Rembrandt finde, ist das Heilen, das Lindern. Er versteht Christus als den
großen Heilkundigen.“ (Dumesnil 1850, 1) 87
Diese vereinzelten Beispiele können die Spannweite kunstpolitischer Reflexionen aus der Zeit
Thorés nur andeuten. Speziell für das Frankreich des 19. Jahrhunderts hat die kunsthistorische
Forschung in den vergangenen Jahrzehnten die Eingebundenheit der Kunstentwicklung, sowohl der Künstler als ihrer Interpreten, in die gesellschaftspolitischen Prozesse nachgewiesen.88 Wie der engagierte Realismus Courbets in besonderem Maße zeigt, spielt das Vorbild
der niederländischen Kunst und ihr Verständnis als ein einzigartiges Beispiel für eine republikanische Kunstproduktion dabei ein wichtige Rolle, sowohl im Hinblick auf die Motivwahl
als auch bezüglich der gestalterischen Umsetzung.89
In diesem ersten Teil meiner Arbeit habe ich versucht, durch die stichprobenartige Darlegung
der Positionen einzelner Autoren das Problemfeld zu skizzieren, in dem sich die Neubewertung Rembrandts in der Mitte des 19. Jahrhunderts vollzieht. Dabei sollte die Auseinandersetzung mit literarischen und kunsttheoretischen Traditionen ebenso angedeutet werden wie die
86
„Des événement publics et privés survinrent, ils le [den Autor, M.H.] jetèrent bien loin de ces pensées.
Après dix-huit mois d’agitation diverses, retrouvant un peu de loisir à la campagne (...).“ (Dumesnil 1850, IV f.).
87
„Je veux caractériser, par Rembrandt, le foyer, sa chaleur er ses lueurs; montrer la légende chrétienne devenue
démocratique dans la cave industrielle; toute maison, toute cabane bénie, digne de l’hôte divin, surtout la plus
pauvre.L’idéal que je trouve dans Rembrandt, c’est guérir, soulager. Il comprit le Christ comme le grand guérisseur.“ (Dumesnil 1850, 1).
88
Als Beispiele sei verwiesen auf Hofmann 2 1974, Herding 1978, Clark 1999.
89
Zum politischen Engagement Courbets vgl. Herding 1978, besonders den Aufsatz von Linda Nochlin. Die
unterschiedlichen Positionen realistischer und impressionistischer Kunst in den gesellschaftlichen Konflikten hat
Albert Boime (1995) herausgearbeitet. Zum Einfluß Rembrandts und der Niederländer auf Courbet vgl. Chu
1974; Hoffmann 2 1974, 14.
71
Problematik einer veränderten Bildästhetik und die politischen Implikationen dieser Prozesse.
Einige der hier ausgelegten Fäden werden wieder aufzunehmen sein. Da sich die nun folgende
Analyse der deutschen Rembrandtrezeption in den Jahrzehnten um 1900 von der bisher gewählten Konzentration auf Autoren und ihre Texte löst, ist jedoch zunächst der Einschub einiger Reflektionen über meine Konzeption des ‘diskursiven Feldes‘ und die Methodik seiner
Untersuchung notwendig.
72
Zweiter Teil
Der autonomisierte Künstler. Rembrandtrezeption um 1900
73
74
1 Einführung: Rembrandtrezeption als ‘diskursives Feld‘
Der zweite Teil meiner Arbeit kann als Versuch einer ‘topologischen Darstellung‘ der diskursiven Künstlerfigur ‘Rembrandt‘ um 1900 bezeichnet werden. Neben der Benennung der dominanten Topoi, ihrer Variationen und ihrer wechselseitigen Bezüge ist dabei auch zu demonstrieren, in welcher Weise ein Grundbestand historischen Materials durch Verfahren der Selektion und der Ausschließung, durch Überbrückung von Lücken, durch Glättung von Brüchen und Widersprüchen, durch dramaturgische Gestaltung, durch psychologistische Projektion und andere reanimierende Maßnahmen zur Vorstellung von einem homogenen, sinn- und
tugendhaften imaginären Individuum ausgestaltet wird.
Das Ziel der folgenden Analyse ist es also, die Ordnungen des Rembrandtbildes in der deutschen Literatur der Jahrzehnte um 1900 zu beschreiben. Im Anschluß daran wird nach Modellen zur Erklärung der Funktion zu fragen sein, welche dieser diskursiven Künstlerfigur in
der gesellschaftlichen Kommunikation jener Zeit zukommt.
Vorab ist es jedoch notwendig genauer zu charakterisieren, was unter dem diskursiven Feld
der Rembrandtrezeption verstanden werden soll. Den Ausgangspunkt der Analyse bildet die
Entscheidung für die Thematik: Die Arbeitshypothese lautet, daß die Rembrandtliteratur zwischen ca. 1880 und 1950 für eine Beschreibung der Topik des autonomen Künstlersubjekts
einen geeigneten Gegenstand darstellt.
Die Topographie des damit angedeuteten Feldes gilt es nun in dreierlei Hinsicht zu konkretisieren. Um den ausgewählten Rahmen der Untersuchung zu rechtfertigen, müssen, neben der
Frage nach der geopolitischen Herkunft der zu untersuchenden Texte, die Zeitspanne ihrer
Entstehung sowie die Differenzierbarkeit ihrer literarischen Typik umschrieben werden.
1.1 Zur raum-zeitlichen Eingrenzung der Untersuchung
Die ersten beiden Fragen - nach dem geopolitischen Raum und nach der Zeitspanne des Materials - sind nur im Zusammenhang zu klären. Die deutschsprachige Rembrandtliteratur steht
im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in Wechselwirkungen mit französischer und niederländischer Literatur. Die Gewichtung dieser internationalen Verbindungen verändert sich
jedoch: Zwischen 1850 und 1910 geht die Bezugnahme deutscher Autoren auf ihre französischen Kollegen zurück, während die Anzahl der Verweise auf Niederländer konstant bleibt.
Autoren anderer Nationalitäten spielen praktisch keine Rolle.
Diese Aussagen sind zu differenzieren: Autoren der 70er und 80er Jahre, etwa Lübke (1877),
Bode (1883) und Springer (1886), legitimieren ihre Aussagen zu Rembrandt noch regelmäßig
75
durch Verweise auf jene französischen und niederländischen Werke, die einige Jahrzehnte
lang in diesem Bereich als Standardwerke gelten konnten. Hier sind besonders die Musées de
la hollande von Theophile Thoré (1858 und 1860)1 und Carel Vosmaers Monographie Rembrandt Harmens van Rijn. Sa vie et ses œuvres (1868)2 zu nennen. In den 90er Jahren hat sich
die Situation bereits etwas geändert. Durch das nun auch in Deutschland wachsende Interesse
an der Kunst und der Person Rembrandts kommt es zu einer Erhöhung des Publikationsaufkommens. Zugleich verbreitert sich der Diskurs. Es etablieren sich Autoritäten wie Wilhelm
Bode und Carl Neumann, die für die deutschsprachigen Texte als wesentliche Bezugspunkte
fungieren.3 Als Folge dessen erhält die umfangreiche Rembrandt-Monographie des französischen Autors Emile Michel (1893)4 in Deutschland nicht mehr die Bedeutung, die noch Vosmaers Buch einnahm, das ja ebenfalls in französischer Sprache erschienen war.
Eine Parallele zu diesen Verflechtungen findet sich auf der Ebene des internationalen Kunstmarktes. Da mit seiner Popularität auch die Nachfrage nach Originalen Rembrandts wächst,
machen Kunsthändler zum Ende des 19. Jahrhunderts mit diesem Namen gute, häufig grenzüberschreitende Geschäfte. Nicht nur in den Niederlanden, sondern auch in Deutschland wird
der öffentliche Besitz an Werken Rembrandts dabei zu einer Angelegenheit von nationalem
Interesse, speziell mit Blick auf die zahlreichen Verkäufe europäischer Kunstwerke in die
wirtschaftlich prosperierenden USA. 5 In seiner Funktion als Berliner Museumsdirektor hat
Wilhelm Bode es verstanden, die Konkurrenz zwischen privaten und öffentlichen Sammlungen in eine Kooperation umzuwandeln und dabei seine internationalen Kontakte zu nutzen
und zu pflegen.6 Sein ambitioniertes Projekt eines achtbändigen Werkkatalogs, das zwischen
1897 und 1905 durch die erstmalige Reproduktion aller verzeichneten Gemälde neue Maßstäbe setzte, erschien unter der Mitarbeit des niederländischen Kunsthistorikers Cornelis Hofstede de Groot im Verlag des Pariser Kunsthändlers Charles Sedelmeyer, einer ersten Adresse
des Rembrandthandels. Gedruckt wurde sowohl eine deutschsprachige als auch eine französische Ausgabe.7
Wenn Bode hier seine Kompetenz auch auf den französischen Sprachraum ausweitet, so sind
zugleich in der deutschen Literatur nach 1900 immer weniger Verweise auf Texte aus Frankreich zu finden. Selbst bei Rückblicken auf die Literatur der Jahrhundertmitte steht nun nicht
1
Théophile Thoré (alias William Bürger, bzw. Burger): Musées de la Hollande. 2 Bände. Band 1: Amsterdam et
La Haye. Études sur l’école hollandaise, Paris 1858: Renouard . Band 2: Musée van der Hoop à Amsterdam et
Musée de Rotterdam, Paris 1860: Renouard.
2
Carel Vosmaer: Rembrandt Harmens van Rijn. Sa vie et ses œuvres, Den Haag und Paris 1868 (2 1877).
3
Zu Bodes Stellung in der Rembrandtforschung vgl. Stückelberger 1996, 40 ff.
4
Émile Michel: Rembrandt. Sa vie, son oeuvre et son temps, 2 Bände, Paris 1893.
5
Vgl. Bruin 1995, 48 ff. und Stückelberger 1996, 56 ff.
6
Zu Bodes Geschick im Umgang mit Privatsammlern vgl. Otto 1995, 30 ff.
7
Wilhelm Bode: Rembrandt. Beschreibendes Verzeichnis seiner Gemälde. Mit den heliographischen Nachbildungen, 8 Bände, Paris 1897 - 1905: Sedelmayer.
76
mehr Thoré, sondern Kolloff im Mittelpunkt.8 Niederländische Texte werden weiterhin rezipiert. Allerdings handelt es sich dabei vor allem um die Veröffentlichungen von Archivfunden. Gerade in kleineren, populärer orientierten Texten verlaufen diese Verweise meist indirekt über die Werke deutscher Kunsthistoriker. Wenn die Präsenz niederländischer Autoren
dennoch bis in die 20er Jahre zu beobachten ist, so ist das entweder aus der elementaren Bedeutung ihrer Arbeit zu erklären (neben den Quellenpublikationen ist hier besonders an das
Werkverzeichnis von Hofstede de Groot zu denken) 9 oder aus der Tatsache, daß sie selbst
Texte in deutschsprachigen Übersetzungen publizierten. Gelegentlich werden Zitate niederländischer Kunstgelehrter in Texten deutscher Autoren auch als eine Art ‘Zeugen‘ mit einem
Gestus der Authentizität vorgeführt, als hätten diese als ‘Landsleute‘ Rembrandts ein besonderes Organ für das Verständnis des Künstlers. In meiner Untersuchung werden deshalb auch
einige Beispiel von niederländischen Autoren eingebunden.10
Ich werde die Struktur und Entwicklung der deutschen Rembrandtliteratur des Untersuchungszeitraums in der anschließenden chronologischen Skizze noch etwas ausführlicher beschreiben. Vorerst sei festgehalten, daß sich die geopolitische Begrenzung des diskursiven
Feldes nur als ein Bereich von Überlagerungen und Übergängen darstellen läßt. Ähnlich verhält es sich mit der zeitlichen Eingrenzung. Einzelne Topoi der Rembrandtliteratur bleiben
während des gesamten 19. Jahrhunderts aktuell, zum Teil auch darüber hinaus. Sie würden
demnach eine zeitliche Eingrenzung kaum rechtfertigen. Und doch läßt sich ein Einschnitt
ausmachen, der eine relativ scharfe Begrenzung ermöglicht: die Veröffentlichungen der neuen
Archivfunde zu Leben und Werk des Künstlers, die in den ersten Jahrgängen der 1883 gegründeten Zeitschrift Oud Holland erschienen sind. Sie veränderten den Standard der Lebensschilderungen und beeinflußten dabei auch die Deutung des Werks. Wenn sich Wilhelm Bode
ebenfalls 1883 mit seiner ersten umfangreichen Publikation als deutsche Rembrandt-Autorität
empfahl, läßt sich mit Recht von einer bedeutenden Veränderung der Struktur und der Inhalte
des Rembrandtdiskurses in dieser Zeit reden. 11 Wesentlich schwieriger ist allerdings die
8
Eine Ausnahmeposition nimmt hier das Buch Les maîtres d’autrefois von Eugène Fromentin ein. Hinweise auf
diesen bereits 1876 in Paris erschienenen Text, der verkürzt als subjektiv-belletristischer Reisebericht durch
niederländische Museen beschrieben werden kann, sind in Deutschland nach 1900 häufig zu finden, besonders
nach dem Erscheinen der ersten Übersetzung (1903). Die Autorität Fromentins gründet sich auf die Qualität
seiner Bildbeschreibungen sowie auf seine anerkannte Position als orientalistischer Maler (vgl. Thomp son/Wright 1987).
9
Zum Werk Rembrandts ist hier relevant: Cornelis Hofstede de Groot: Beschreibendes und kritisches Verzeichnis der Werke der hervorragendsten holländischen Meister des XVII. Jahrhunderts, nach dem Muster von John
Smith’s catalogue raisonné zusammengestellt von Dr. C. Hofstede de Groot, Band 6, Esslingen/Paris/London
1915.
10
Weitaus häufiger verweise ich jedoch auf die vorhandene Sekundärliteratur, besonders auf die herausragende
Darstellung der Geschichte der niederländischen Kunstgeschichtsschreibung, die Jeroen Boomgaard am Beispiel
der Rembrandtrezeption entwickelt hat (Boomgaard 1995).
11
Auch Boomgaard und Scheller sprechen von einer Veränderung des Rembrandtbildes im letzten Viertel des
19. Jahrhunderts, wenn auch aus anderen Gründen (Boomgaard/Scheller 1991, 117).
77
zweite chronologische Begrenzung des Untersuchungsmaterials. Einiges spräche für das Jahr
1926, in dem zwei voluminöse monographische Werke zu dem Künstler publiziert wurden
(Weisbach und Hausenstein). Ab diesem Zeitpunkt kann zudem ein Rückgang des fachübergreifenden Interesses an Rembrandt verzeichnet werden, dessen Tragfähigkeit als Symbolfigur über den engeren Bereich der Kunstliteratur hinaus offenbar verbraucht war. Doch die
zentralen Topoi der Rembrandtfigur änderten sich nicht, und wenn in den Kriegs- und Nachkriegsjahren wieder einige neue Publikationen mit breiterer Orientierung zu verzeichnen sind
(Pinder 1942, Hanfstaengl 1947, Kaschnitz 1948, Hamann 1948), so merkt man diesen auf
inhaltlicher Ebene die 40 Jahre kaum an, die seit dem ‘Rembrandtjahr‘ 1906 vergangen sind.
Ich werde deshalb immer wieder Beispiele aus dieser jüngeren Literatur zitieren, um die
Kontinuitäten des Künstlerbildes anzuzeigen und damit die Rechtmäßigkeit einer entsprechenden Ausweitung des Feldes der Untersuchung zu belegen. Wenn man um 1945 von einer
kleinen Renaissance Rembrandts als Symbolfigur der tragisch-heroischen Individualität in der
deutschen Öffentlichkeit sprechen könnte, so ist diese in den 50er Jahren deutlich rückläufig.
Längst hat die Moderne ihre eigenen Künstlerfiguren in Stellung gebracht, allen voran Vincent van Gogh. Rembrandt tritt zwar bis heute als einer der ranghöchsten Künstler auf, und es
hat ihn, wie Tümpel und andere richtig festgestellt haben, auch weiterhin jede Generation mit
anderen Augen betrachtet (Tümpel 1977, 131), aber seine frühere Hauptrolle als Symbolfigur
für Modernität, für zeitgemäßes Künstlertum und vorbildliche Subjektivität hat er an andere
abgetreten. 12
Diese Überlegungen zur Topographie des diskursiven Feldes der Untersuchung werde ich nun
in zwei Schritten ergänzen. Um die Orientierung im Material zu erleichtern und die Problematik der zeitlichen Aufeinanderfolge einzelner Publikationen nicht zu vernachlässigen,
werde ich ein kurzes chronologisches Profil der deutschen Rembrandtrezeption anschließen.
Zunächst soll jedoch nach den Möglichkeiten einer typologischen Differenzierung gefragt
werden, also nach der Bedeutung von Gattungsunterschieden zwischen den untersuchten
Texten.
1.2 Zur typologischen Differenzierung des Untersuchungsmaterials
Eine konventionelle Perspektive würde die Texte in denen Rembrandt im Untersuchungszeitraum in Erscheinung tritt nach bestimmten Kriterien unterscheiden und sie dann verschiede12
Den Rückgang der Bedeutung Rembrandts als Kollektivsymbol datiere ich in die Mitte der 50er Jahre. Eine
Revision des um 1900 etablierten Rembrandtbildes ist jedoch nochmals zehn Jahre später anzusetzen. Jeroen
Boomgaard und Robert W. Scheller haben die Ansicht geäußert, die Rembrandtforschung sei bis 1969 ohne neue
Impulse geblieben (Boomgaard/Scheller 1991, 120). An diese Aussage sei die Hypothese angeschlossen, daß
hier wiederum ein veränderter Zuschnitt des Werkes (in diesem Fall durch die Aktivitäten des Rembrandt Research Projects) den Anlaß zu einer neuen Vorstellung vom Künstler gab.
78
nen Diskursen zuordnen. Denkbar wäre hier die Differenzierung zwischen Texten mit wissenschaftlichem, populär-unterhaltendem, volkserzieherisch-politischem oder ästhetisch-literarischem Anspruch. Ich möchte diese Einstufungen nicht übersehen, werde daraus jedoch keine
methodische Eingrenzung ableiten. Statt mittels dieses Rasters vier unterschiedliche Diskurse
zu begründen, sehe ich darin lediglich vier gesellschaftliche Kontexte, in welche jeder einzelne Text in je spezifischer Weise eingebunden ist: Wissenschaft, Wirtschaft, Politik/Moral
und Kunst/Ästhetik. Im weiteren werde ich von diesen Bereichen als Diskursebenen sprechen
und sie als Faktoren einer Binnenstrukturierung des Feldes der Rembrandtrezeption behandeln.13
Die zu Rembrandt publizierten Texte werden im Untersuchungszeitraum von Fragen nach der
Autorschaft und dem Künstlersubjekt dominiert. Es ist dieses weitgehend übereinstimmende
Interesse, das mir eine synchrone Sicht auf die Texte verschiedener Jahrzehnte und eine nur
geringe Differenzierung zwischen Texten mit wissenschaftlichem, populär-unterhaltendem,
volkserzieherisch-politischem oder ästhetisch-literarischem Anspruch als gerechtfertigt erscheinen läßt. Eine strenge Abgrenzung dieser vier Diskursebenen und ein dementsprechender
Versuch ihrer separaten Beschreibung erscheint mir als ebenso falsch, wie eine ausschließlich
chronologische Schilderung der Rezeptionsgeschichte. Diese beiden Vorgehensweisen würden zwei wichtige Aspekte der Struktur des diskursiven Feldes in unangemessener Weise
nivellieren: (1) die Offenheit zwischen den Diskursebenen, die durch ständige Fluktuationsbewegungen, Neuregulierung hinsichtlich der Gültigkeit von Aussagen und Abgrenzungsbemühungen gekennzeichnet sind, sowie (2) die vielzitierte ‘Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘, angesichts derer eine einseitig entwicklungs- oder gar fortschrittsgeschichtliche Perspektive ihre Neutralität preisgibt, wodurch aus einer synchronen Vielfalt der Phänomene,
Motive und Positionen eine wertende Ordnung von überkommenden, aktuellen und zukunftsweisenden Elementen würde.14
13
Meine Betrachtung der Texte verzichtet also nicht gänzlich auf deren Kategorisierung vor dem Hintergrund
eines Strukturmodells des diskursiven Feldes. Allerdings ziehe ich keine undurchlässige Trennlinie, die der Vergleichbarkeit von Texten entgegenstehen würde, sobald diese unterschiedlichen Diskursbereichen zugeordnet
wären. Mit diesem Prinzip einer offenen Kategorienbildung folge ich meinen Beobachtungen hinsichtlich der
Dynamik des Feldes. Würde man eine strenge Unterscheidung anstreben, etwa mit Hilfe der vier genannten
Diskursebenen, so ließe sich die überwiegende Mehrzahl der Texte nur als Mischformen einstufen. Zwar schreiben sich zahlreiche Texte selbst dezidiert einer (oder mehrerer) dieser Ebenen zu, doch hält diese Selbstadressierung einer kritischen Überprüfung nicht immer stand. Um die Problematik der Standorte bewußt zu halten, die
sich Autoren innerhalb des Diskurses selbst zuweisen oder die ihnen auf Basis eines normativen Modells zugewiesen würde, werde ich immer wieder auf solche Diskursposition hinweisen. Damit möchte ich keine Wertungen aussprechen, sondern die Rechtmäßigkeit hierarchischer Abstufungen in Frage stellen, die durch die Anwendung geläufiger Ordnungsraster in dieses diskursive Feld eingeschrieben würden.
14
Aus dieser Perspektive bliebe unberücksichtigt, daß sich Fortschrittskonzepte auf eine entsprechende Ge schichtsphilosophie stützen. Eine ironisch wertende Sicht auf die Geschichte gefällt sich zudem in einem Gestus
der Überlegenheit, der dem Analytiker/der Analytikerin nur scheinbar durch die Schärfe seines/ihres Werkzeugs,
tatsächlich jedoch durch den kontingenten und in keiner Weise als intellektuelles Verdienst einzuklagenden
Umstand der historischen Rückschau zufällt. Ich bewerte die Vorstellung, historische Rückschau ermögliche
eine Übersicht über die Ereignisse der Vergangenheit, gleichsam wie von einem erhöhten Betrachterstandpunkt
79
Als theoretisches Paradigma, das diese hinsichtlich ihrer Adressatenkreise und der von ihnen
jeweils fortgeschriebenen Diskurssegmente unterscheidbaren Texte miteinander verbindet,
mache ich die Hermeneutik aus. Ihr wesentliches Charakteristikum sehe ich in der deutenden
Erschließung künstlerischer Werke im Hinblick auf deren schöpferischen Urheber.15 Was die
auf anderer Ebene unterscheidbaren Texte eint, ließe sich auch als eine ‘biographische Perspektive‘ bezeichnen. Eine methodische Gemeinsamkeit zwischen den Texten verschiedener
Diskursebenen findet sich dabei in der Bevorzugung der bildnerischen Werke als Quellen
zum Verständnis des Künstlers. Diese werden in der Regel höher eingeschätzt als die historischen Schriftquellen aus dem Archiv.
In zweierlei Hinsicht treffe ich dennoch Unterscheidungen hinsichtlich der Binnenstruktur des
Feldes:
(1) Den einzelnen Aussagen, aus denen sich ein Text zusammensetzt, läßt sich auf Basis des
breit angelegten Materialvergleichs eine zentrale oder eine periphere Stellung innerhalb des
diskursiven Feldes zuweisen. Diese Einstufung erfolgt abhängig von der Quantität des Auftretens des fraglichen Motives sowie von seiner Anschlußfähigkeit oder Schlüsselstellung im
Bezug auf andere Aussagen. Zentrale Motive, die als etablierte Elemente im Feld auftreten
und entsprechende Bedeutung entfalten, nenne ich Topoi.
(2) Im Hinblick auf einzelne Texte läßt sich darüber hinaus angeben, ob diesen innerhalb des
diskursiven Feldes eine zentrale oder eine periphere Stellung zukommt. Von Zentralität läßt
sich sprechen, wenn auf einen Text häufig direkt Bezug genommen wird, sein Autor als ‘Autorität‘ angeführt wird oder sich indirekte Übernahmen in Form von Begriffen, Bewertungen
und Ordnungsmustern erkennen lassen.
Im Rahmen dieses zweiten Unterscheidungsprinzips kann einer kunsthistorischen Fachliteratur, die sich auf eine hermeneutische Methodik stützt und ihren Aussagebereich nicht auf
technische, ästhetische oder motivische Detailanalysen eingrenzt, eine zentrale Stellung im
gesamten diskursiven Feld zugesprochen werden. Diese Behauptung wird - neben der Vielzahl der Verweise auf bestimmte Autoren - vor allem durch die Prozesse der Stabilisierung
und der Ausweitung einzelner Topoi belegt, die ihren Ausgangspunkt häufig in der Formulierung von Forschungsthesen nehmen und dann bis in die Peripheriebereiche des Diskurses
fortgetragen werden. 16 Diesen zentralen Texten gilt mein besonderes Untersuchungsinteresse.
aus, als Selbsttäuschung. Durch den scheinbaren ‘Vorsprung‘ des Wissens über nachfolgende Zeitläufte erweist
sich die Rückschau vielmehr als eine gehemmte Perspektive, der ein selektives Wahrnehmungsraster die Interpretation der Vergangenheit unmerklich vorstrukturiert, so daß ein begrenztes und durch unreflektierte Einschreibungs- und Ordnungsprozesse vorstrukturiertes Bild entsteht. Meinem Verständnis nach versucht historische Diskursanalyse, diese Effekte soweit wie möglich zu nivellieren.
15
Vgl. den Exkurs zur Hermeneutik in diesem Teil, Abschnitt 2.14.
16
Dieser Prozeß wird in den Fallstudien zur Nachtwache und zu den Selbstbildnissen beispielhaft beschrieben
(Dritter Teil).
80
Im Anschluß an sie werde ich versuchen, die Präsenz der jeweils angesprochenen Topik in
den verschiedenen Ebenen des diskursiven Feldes nachzuweisen. 17
Unter den Autoren, deren Aussagen die Topik nachfolgender Texte entscheidend mitbestimmt
haben, können besonders Wilhelm Bode und Carl Neumann hervorgehoben werden. In ihren
Publikationen (Bode 1883, 1897-1905, 1906; Neumann 1902)18 werden die Gedanken früherer und zeitgleicher Sekundärtexte internationaler Provinienz zusammengebracht und dem
deutschsprachigen RezipientInnenkreis vermittelt. Eine ähnliche Stellung ist auch Julius
Langbehn zuzusprechen, der die nationalistische Tendenz eines weiten Teils der Rembrandtliteratur entscheidend geprägt hat.19 Im Anschluß an diese Autoren (beziehungsweise
‘Autoritäten‘) gibt es eine Vielzahl von Texten, die als diskursreproduktiv bezeichnet werden
können. Sie bewegen sich hinsichtlich ihrer Topik im Rahmen der zentralen Setzungen, bringen die Bedeutungspotentiale dieser Topik mehr oder weniger markant zum Ausdruck und
tragen damit nicht unwesentlich zu deren Verbreitung bei (Rosenberg 1904, Valentiner 1906).
Einige Texte bemühen sich ausdrücklich um eine Veränderung oder Verfeinerung der Topik.
Hierzu können die umfangreichen Darstellungen aus der Feder verschiedener Kunsthistoriker
gezählt werden (Hetzer 1926, Weisbach 1926, Pinder 1943, Hanfstaengl 1947, Hamann
1948), aber auch Georg Simmels lebensphilosophischer „Versuch“ über Rembrandt (Simmel
1916), die literarischen Ansätze einer prosaischen Fortschreibung der geläufigen Erzählungen
(Eulenberg 1917, Ludwig 1923) und nicht weniger die mitunter dezidiert anti-wissenschaftlichen Buchprojekte von Lautner (1891 und 1910), Verhaeren (1912) oder Hausenstein (1926).
Andere Texte setzen dagegen auf eine Reproduktion des Bekannten und versuchen sich primär in dessen stilistischer Reformulierung, so etwa die typischen Bildbände (Hamann 1906,
Hanfstaengl 1939, Graul 1941, Stange 1954), die zahlreichen Artikel, die aus Anlaß des Jubiläumsjahres 1906 erschienen (Avenarius, Grimm, Heyck, Muther) oder die biographischen
Romane (van Loon 1933, Tornius 1934).
Als ein weiterer Typus können die Versuche einer offensiv aktualisierenden Sichtweise betrachtet werden, die, ausgehend von dem Topos ‘Rembrandt und wir‘ (oder ‘Rembrandt und
17
In den Zeitraum der Untersuchung fällt eine zentrale Phase des Prozesses der Ausdifferenzierung eines kunstgeschichtlichen Fachdiskurses. Die verschiedenen Institutionen - vom Institut für Kunstgeschichte über die Museen bis hin zu Kunstliteratur, Kunstkritik und Kunstmarkt - entwickeln Komplexität und Eigenständigkeit und
grenzen ihre Kompetenzen untereinander in einer Weise ab, die sich bis heute in Grundzügen erhalten hat. Diese
Ausdifferenzierung hat in der Rembrandtliteratur ihre Spuren hinterlassen und wird im folgenden ebenfalls zu
beachten sein.
18
Alle Literaturverweise in diesem Abschnitt sind als Beispiele aus einer größeren Auswahl zu verstehen.
19
Julius Langbehns Rembrandt als Erzieher (1890) begründet einen neuen Zweig nationalistischer Topik in der
Rembrandtrezeption, der in Ansätzen in der Nord/Süd-Polarisierung vorgebildet war und der von nun an bis zum
Ende der nationalsozialistischen Herrschaft eine durchgängige, wenn auch stark schwankende Präsenz aufweist.
Es kann dabei unterschieden werden zwischen Texten, die diese nationalistischen Tendenz in den Mittelpunkt
stellen und Texten von literarischer, pädagogischer oder wissenschaftlicher Ausrichtung, in deren Darstellungen
eine nationalistische Argumentation eingebunden ist. Diese Problematik steht nicht im Zentrum meiner Untersuchung; sie wird jedoch in den Analysen des zweiten Teils gelegentlich zur Sprache kommen.
81
unsere Zeit‘), über die Relevanz des Künstlers für eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe
oder für virulente Fragestellungen nachdenken (Goldbeck 1906, Pfister 1906, Israels 1910,
Grunewald 1929, Kaschnitz 1948). Auch sie bleiben allerdings in der Regel im Bereich der
zentralen Topik oder beziehen von dort doch zumindest die Legitimität für ihre Argumentationen.
Um die Orientierung im diskursiven Feld der Untersuchung zu verbessern und damit die Voraussetzungen für die Nachvollziehbarkeit der Analyse zu schaffen, sind diese Andeutungen
zur typologischen Struktur der deutschen Rembrandtrezeption um 1900 nun durch eine chronologische Skizze zu ergänzen. Damit soll zudem gewährleistet werden, daß angesichts der
synchronen Perspektive der nachfolgenden Analyse die Aufmerksamkeit für chronologische
und diskursive Abstufungen nicht verloren geht.20
1.3 Chronologische Skizze der Rembrandtrezeption in Deutschland, 1880 - 1950
In der Öffentlichkeit des 1871 gegründeten Deutschen Reichs kann ein stetiges Wachstum der
Kommunikation über Rembrandt beobachtet werden. Dieses Phänomen steht im Zusammenhang mit dem allgemein anwachsenden Interesse für Kunst und mit der zentralen Stellung von
Geschichte. Als Ursache dafür läßt sich eine identitätspolitische Erklärung anführen. Demnach wäre in der Errichtung und Stabilisierung der nationalen Identität des neuen Staatsgebildes die Strategie einer historischen Selbstversicherung zu sehen, einer Definition des Aktuellen über die Umdeutung des Vergangenen. Als Zweig der Geschichtswissenschaft wird die
akademische Disziplin der Kunstgeschichte in dieser Phase entwickelt, wobei sie ihre Legitimität nicht zuletzt aus ihrer identitätsstiftenden Leistung für den neuen Staat bezieht.21 Das
Museum entfaltet zur gleichen Zeit seine volle Bedeutung als Institution der bürgerlichen Ge-
20
Der folgende Abschnitt dient der Vorbereitung. Dementsprechend ist dieser Überblick über die Situation der
Rembrandtrezeption in Deutschland vom letzten Viertel des 19. bis ins zweite Viertel des 20. Jahrhunderts weder
innovativ noch auf Vollständigkeit und Detailreichtum ausgerichtet. In diesen Aspekten greifen die bereits vorliegenden Arbeiten weiter aus (Stückelberger 1996, 29 ff.; Wyss 1985, IX ff.; Boomgaard 1995).
21
Auf die patriotische Ausrichtung der Geschichtswissenschaft hat Dietrich Schäfer bereits 1884, anläßlich
seiner Antrittsvorlesung in Jena, in affirmativer Absicht hingewiesen: „Sie [Die Geschichtswissenschaft, M.H.],
hält es, und mit Recht, für eine ihrer wichtigsten, vielfach in einseitiger Übertreibung, für ihre einzige Aufgabe,
nationalen Sinn zu pflegen und zu beleben. Und sie hat, das ist nicht zu leugnen, überwiegend in diesem nationalen Fahrwasser erst schwimmen gelernt.“ (Dietrich Schäfer, Deutsches Nationalbewußtsein im Licht der Geschichte, Jena 1884, 30 f., zit. nach Elias 1989, 172). Heinrich Dilly hat den Zusammenhang zwischen der
Staatsgründung und dem Aufschwung der akademischen Kunstgeschichte hervorgehoben: „Die Kunsthistoriker
jedoch, die um 1870 zu Hochschullehrern berufen wurden, traten aus der Reserve heraus und rechtfertigten mit
den Historikern den neuen Staat als ein ‘positives Gut, eine ethische Größe, ohne die Kultur und Sittlichkeit‘
unmöglich verwirklicht werden könnten“ (Dilly 1979, 249). Auch die Bedeutung der kunsthistorischen Biographik für die Stabilisierung des wilhelminischen Herrschaftssystems hat Dilly betont (ebd., 252). Zum Patriotis mus der akademischen Kunstgeschichte und zur ‘deutschen Kunst‘ als Merkmal nationaler Identität vgl. auch
Belting 1992, 11 und 28.
82
sellschaft,22 die Sammlungsschwerpunkte von Kunstmuseen geben Auskunft über den
Wunsch nach Partizipation an der Kulturgeschichte des Abendlandes von der Antike bis zur
Gegenwart, sowie nach einer ästhetischen Manifestation des Eigenen, des ‘Nationalcharakters‘.23
Die schrittweise Einrichtung kunsthistorischer Lehrstühle an den Technischen Hochschulen
und Universitäten in Deutschland erfolgte in den Jahrzehnten nach 1870. Die Vertreter dieser
Institution zeichneten sich jedoch vorerst durch einen zurückhaltenden Umgang mit der Kunst
der Niederlande aus. Artikel wie jene von Wilhelm Lübke (1877) oder Anton Springer (1886)
blieben zunächst die Ausnahme. Mit Wilhelm Bodes 1883 erschienenem kommentierten
Werkverzeichnis, als 200 Seiten starker Aufsatz in seinen Studien zur Geschichte der holländischen Malerei publiziert, kam eine richtungsweisende Arbeit zu Rembrandt eben nicht von
einem Akademiker, sondern von einem Museumsmitarbeiter. Wie an anderer Stelle bereits
erwähnt, konkurrierte Bodes Text mit der Monographie Emile Michels (1893) um die Nachfolge von Carel Vosmaers Rembrandt Harmens van Rijn. Sa vie et ses oeuvres (1868) als
‘Standardwerk‘ zu Kunst und Leben Rembrandts. Die Archiv- und Quellenstudien niederländischer Forscher, vor allem Nicolaas de Roevers, trugen in den 80er Jahren zu einer Ausweitung der wissenschaftlich akzeptierten Kenntnisse über Rembrandts persönlichen und künstlerischen Entwicklungsgang bei und stabilisierten so das neue, noch im Werden begriffene
Rembrandtbild. Die erste umfassende Monographie, die aus deutschen Universitätskreisen zu
Leben und Werk des Künstlers hervorging, ließ bis 1902 auf sich warten. Ihr Autor war der
Heidelberger Kunsthistoriker Carl Neumann. 24 Bis zu diesem Zeitpunkt war die italienische
Renaissance, ganz in der traditionellen Ordnung der Kunstakademien, unangefochtener
Hauptgegenstand der akademischen Kunstgeschichte in Deutschland. Die Anekdote, der zufolge der Berliner Professor Hermann Grimm von seinem Schüler, dem späteren Hamburger
Museumsdirektor Alfred Lichtwark, noch zu Beginn der 1880er Jahre davon überzeugt werden mußte, daß man neben den Italienern auch die Niederländer kennen sollte, mag dies illustrieren.25 An zweiter Stelle stand die deutsche Kunst der Dürerzeit, deren angemessene Darstellung als Aufgabe von nationaler Bedeutung angesehen wurde.26
Die Impulse der internationalen Rembrandtrezeption der 1850er Jahre wurden in Deutschland
zunächst im musealen Rahmen aufgenommen. Zentrale Bedeutung ist hier der Person Wil22
Vgl. Bennett 1995.
Vgl. Gaehtgens 1992; Schuster 1995, 6 ff. Zum Begriff des Nationalcharakters vgl. Larsson 1985.
24
Zum Zeitpunkt der Publikation seines Rembrandt war Neumann Privatdozent und Extraordinarius am Heidelberger Institut für Kunstgeschichte, dem er von 1911 bis 1929 vorstehen sollte. Andrea Fink-Madera hat die
zentrale Bedeutung des „Rembrandt-Erlebnisses“ für die wissenschaftliche Entwicklung Neumanns herausgestellt (Fink-Madera 1993, 79 ff.).
25
Vgl. Stückelberger 1996, 47; Kultermann 1966, 227.
26
Vgl. Belting 1992.
23
83
helm Bodes zuzumessen. In konstruktiv-konkurrierendem Austausch mit den niederländischen Kollegen aus Amsterdam (Cornelius Hofstede de Groot, Jan Veth) und Den Haag
(Abraham Bredius) war Bode nicht nur entscheidend an der Reformulierung des Werkkorpus
durch eine Vielzahl von Zuschreibungen beteiligt. Mit seinen Ankäufen für die Berliner Galerie, deren spektakulärer Präsentation als Meisterwerke der Kunstgeschichte sowie den zahlreichen Publikationen zu Rembrandt und seinen niederländischen Künstlerkollegen war Bode
vom Beginn der 1880er bis in die 1920er Jahre ‘die‘ deutsche Autorität in Sachen Rembrandt.27
Während sich akademische Kunsthistoriker langsam von der Bevorzugung italienischer Renaissancekunst lösten und die museale Kunstpraxis, mit Hauptsitz in Berlin, einer kultischen
Verehrung Rembrandts zuarbeitete, trug Julius Langbehn mit seinem Buch Rembrandt als
Erzieher entscheidend dazu bei, den Namen des Künstlers auch außerhalb der Fachdiskurse
zu einem Schlagwort, einem Modebegriff interdiskursiver Kommunikation zu erheben. Wie
in der Forschung hinreichend dargelegt wurde, hält sich dieses Buch, das 1890 zunächst anonym erschien und bis in die 1940er Jahre über 40 Auflagen erlebte,28 von jeder Art biographischer Faktendarstellung, ästhetischer Bildbeschreibung oder stilhistorischer Debatte fern und
stellt Rembrandt statt dessen inmitten einer zutiefst nationalchauvinistischen und kulturpessimistischen Analyse der zeitgenössischen Gesellschaft als heilsames Vorbild für eine kulturelle und politische Wiedererweckung Deutschlands dar. Für Langbehn verkörperte Rembrandt den deutschen Nationalcharakter in seiner ur- und eigentümlichsten Weise. Wie Rembrandt in ‘seinem Helldunkel‘ die widerstrebenden Kräfte von Licht und Schatten zur Synthese bringe, so müsse in Deutschland die übermäßig vorherrschende Rationalität in Wissenschaft, Wirtschaft, Bürokratie etc. durch eine Aufwertung ihres ‘dunklen‘ Gegenstücks, der
Irrationalität (Religion, Mystik, Volkstum, Kunst etc.), zu einer heilsamen Synthese geführt
werden. Es ist der Furore um Langbehns politische Programmschrift zu verdanken, daß Rembrandt als Kollektivsymbol in die öffentliche Diskussion gelangte.29 Der Erfolg des Buches ist
mit den Verkaufszahlen allein nicht hinreichend beschrieben. Welche Aufmerksamkeit es
erhielt, ist durch die große Zahl an Rezensionen dokumentiert sowie durch die Vehemenz, mit
der die Debatte um seine Thesen geführt wurde.30 Aus heutiger Sicht erscheint es erklärungsbedürftigt, daß sich die wichtigsten kunsthistorischen Autoren jener Zeit trotz des offensichtlich gesellschaftspolitischen Gehalts dazu aufgefordert fühlten, die Schrift zu rezensieren.31
27
In den ausführlichen Würdigungen Bodes durch die Berliner Ausstellungen zu seinem 150. Geburtstag wird
diese Bedeutung des langjährigen Museumsdirektors für die deutsche Rembrandtrezeption leider nur angedeutet
(Wesenberg 1995a).
28
Fritz Stern schätzt die verkaufte Gesamtstückzahl auf 150.000 (Stern 1963, 155).
29
Zum Begriff des Kollektivsymbols vgl. Link 1982.
30
Zur Resonanz auf Langbehns Buch vgl. Behrendt 1984.
31
Der Grund dafür liegt nicht allein in Langbehns Rückgriff auf einen bildenden Künstler. Vielmehr zeigt sich
hier das ‘volkserzieherische‘ Selbstverständnis damaliger Kunsthistoriker, das Interesse jener Autoren, Kunst
84
Sowohl Wilhelm Bode als auch Cornelius Gurlitt, Carl Neumann und selbst der niederländische Museumsdirektor Abraham Bredius waren mit dem Buch in wesentlichen Punkten einverstanden. Kritik übten sie nahezu ausschließlich an der unangemessenen Reduktion des
Künstlers auf eine Symbolfigur.32
Daß Rembrandt als Erzieher über Jahrzehnte hinweg im öffentlichen Bewußtsein präsent
blieb, beweisen die zahlreichen Verweise auf dieses Buch, die sich in der Rembrandtliteratur
immer wieder finden.33 Der Erfolg des Buches kann sicher auch durch die ‘verkaufsfördernde‘ Wirkung des Namens ‘Rembrandt‘ erklärt werden, wodurch allerdings nicht die
breite Akzeptanz der wertkonservativ-nationalistischen Thesen Langbehns angezweifelt werden soll. Der Historiker Fritz Stern hat Langbehns Buch treffend als eine kulturpessimistische
Programmschrift charakterisiert. Demnach spiegelt Rembrandt als Erzieher die politische
Unzufriedenheit und die Verunsicherung wieder, die in den 90er Jahren herrschten. 20 Jahre
nach der Reichsgründung, im Jahr des Rücktritts des Kanzlers und Reichsgründers Bismarck,
äußerte sich Langbehn stellvertretend für eine Generation, die bereits im Kaiserreich aufgewachsen war und in der verfestigten Machtstruktur der nachgründerzeitlichen Gesellschaft
keinen politischen Einfluß zu erlangen vermochte (Stern 1963, 190 ff.).
In seiner Bindungslosigkeit zu den historistisch orientierten Fachdiskursen akademischer und
musealer Kunstgeschichte übertraf Rembrandt als Erzieher die älteren Strategien der Politisierung dieses Künstlers, etwa jene von Thoré, Dumesnil oder Coquerel, bei weitem. Einmal
als Kollektivsymbol funktionalisiert, blieb Rembrandt in der Folgezeit als interdiskursive Figur präsent und trat dabei auch wiederholt in verschiedenen Gewandungen, primär natürlich
in einer nationalistischen, als Vorkämpfer gesellschaftspolitischer Konzepte in Erscheinung.34
und Künstler als Ausgangspunkt zur Teilnahme an der aktuellen politischen Diskussion zu nehmen. Während
diese Kunsthistoriker Langbehn regelmäßig vorhielten, daß er Rembrandt lediglich als Redeanlaß benutze und
dem Künstler damit nicht gerecht werde, fühlten sie sich selber offenbar durchaus zu Äußerungen legitimiert, die
einen engeren Kreis des Kunstdiskurses überschreiten.
32
Vgl. Bode 1890. Neumann diskutiert das Buch im Vorwort zu seiner Rembrandt-Monographie von 1902 zunächst kritisch, seine eigenen politischen und nationalistischen Aussagen im direkten Anschluß lassen jedoch
den Einfluß Langbehns deutlich erkennen. Zu Gurlitt vgl. Wyss 1985, XI; zu Bredius vgl. Boomgaard 1995, 234.
33
Vgl. Voll 1906, 442; Goldbeck 1906, 1162; Grimm 1906, 220 f.
34
Verhaeren 1912, Eulenberg 1917, Grunewald 1929. In diesem Zusammenhang ist zu diskutieren, inwiefern
der Vorwurf aus dem kunsthistorischen Fachdiskurs zu rechtfertigen ist, Langbehn und seine Nachfolger hätten
Rembrandt seiner ‘eigentlichen‘ diskursiven Umgebung entrissen, ihn entfremdet und für politische Zwecke
‘mißbraucht‘. Dieser Vorwurf setzt eine ‘normale‘ Diskursposition eines Kommunikationsgegenstandes voraus,
von der meiner Ansicht nach nicht die Rede sein kann. Was die Kunstwissenschaft empört, ist der Bruch des
Kanons, den Langbehn vollzieht. Während sie ihre Darstellungen zur Kunst in der Regel als unpolitisch zu deklarieren und mit allerlei Rhetorik eine Grenzlinie zwischen Politik und Kunst zu etablieren versucht, hat Langbehn diese Ordnung der Diskurse aggressiv mißachtet und das maskierte politische Sprechen der Kunstgeschichtsschreibung in eine offene Politisierung umgewandelt. Bis heute wird er dafür von den Wächtern der
Diskursnormen gescholten, was ihnen um so besser gelingt, da sie den Regelbrecher Langbehn in einem Atemzug mit dem zutiefst politisch unkorrekten Kulturpessimisten, Chauvinisten, Antisemiten und Protofaschisten
verdammen können (Jüngstes Beispiel: Gabriele Genge/Angela Stercken: „Vom Wirbel bis zur Zehe niederdeutsch“. Julius Langbehns „Rembrandt als Erzieher“ und die Rezeption der Genremalerei in der Moderne, in:
Kritische Berichte, Jg. 27, 1999, Heft 4, 49 - 63.).
85
Neben Langbehns Publikation trugen zwei weitere Ereignisse in besonderem Maße zur Steigerung der öffentlichen Aufmerksamkeit für Rembrandt bei:
(1) Die große Werkschau, die 1898 anläßlich der Tronbesteigung Königin Wilhelminas im
Amsterdamer Stedelijk Museum gezeigt wurde, lockte zahlreiche Besucher an, darunter viele
Künstler und nicht zuletzt Fachleute aus Museum und Universität.35 Daß die internationale
Kunsthistorikertagung von 1898 eng mit der Rembrandtausstellung verbunden war, dürfte
angesichts der dort versammelten Multiplikatoren nicht ohne Auswirkungen auf die zunehmend euphorische Rembrandtrezeption geblieben sein.36 Ausführliche Besprechungen in auflagenstarken Wochen- und Monatsschriften wie den Preußischen Jahrbüchern, der Deutschen
Rundschau oder Die Nation bezeugen den Stellenwert, der dieser Ausstellung zugesprochen
wurde. Rembrandt war mittlerweile zum elementaren Bildungsgut geworden.37
(2) Einen zweiten Höhepunkt erlebte die Rembrandtbegeisterung im ‘Jubiläumsjahr‘ 1906.
Anläßlich seines 300sten Geburtstages wurde der Künstler in Festveranstaltungen und kleineren Ausstellungen gewürdigt. Die zentralen Feiern fanden in Amsterdam statt. Feierstunden, Kranzniederlegung und Bankette wurden von einem mehrtägigen Volksfest flankiert, das
als frühes Beispiel für die breite Kommerzialisierung des Künstlergedenkens dienen kann.38
Eine offizielle Nobilitierung des aktuellen Standes der Rembrandtforschung ist in der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Amsterdam an Wilhelm Bode, Abraham Bredius, Cornelis Hofstede de Groot, Emile Michel und Jan Veth zu sehen, die internationalen
Autoritäten auf diesem Felde. Doch es sind weniger diese ephemeren Rituale als die bleibenden Produkte des Verlagswesens, die den Charakter der damaligen Rembrandtverehrung bezeugen. In diesem Sektor wurde das Jubiläum zum Anlaß genommen, um die bereits vorhandenen wissenschaftlichen Kataloge und ihre ‘Volksausgaben‘39 durch eine Vielzahl von Bildbänden aller Arten und Preisklassen zu ergänzen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt muß neben
den kunsthistorischen und kulturpolitischen Motivationen auch der kommerzielle Aspekt der
Rembrandtbegeisterung berücksichtigt werden. Die Publikationsschwemme erklärt sich jedoch nicht allein aus der Popularität Rembrandts und den deshalb erwarteten Verkaufserfol35
Stückelberger führt Belege für folgende Besucher an: Wilhelm Leibl, Hans Thoma, Max Liebermann, Max
Slevogt, die Mitglieder der Worpsweder Künstlerkolonie (Clara Westhoff, Otto Modersohn, Fritz Overbeck,
Fritz Mackensen), Alfred Lichtwark, Carl Neumann und Emile Verhaeren (Stückelberger 1996, 38 und 52).
Auch Karl Voll ist als Besucher nachgewiesen (Stückelberger 1996, 111).
36
Vgl. den Artikel in: Kunstchronik. Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe, Neue Folge, 10. Jg., Nr. 1 (13.
Oktober), Sp. 1-6.
37
Auch die Londoner Ausstellung von 1899, die 102 Gemälde, 106 Skizzen, Zeichnungen und Entwürfe zeigte
und weitgehend aus englischem Privatbesitz bestückt wurde, fand ein großes Besucherinteresse und Presseecho
(vgl. von Schleinitz 1899).
38
Vgl. Bruin 1995, 25 - 44.
39
Hiermit beziehe ich mich besonders auf den achtbändigen Werkkatalog von Wilhelm Bode (1897-1905) und
den daran orientierten Band Rembrandt. Des Meisters Gemälde in 643 Abbildungen, der 1904 in der Reihe Klassiker der Kunst erschienen war. An der Herausgabe war Bodes Mitarbeiter W.R. Valentiner beteiligt, die Einleitung stammte von dem Kunstschriftsteller Adolf Rosenberg.
86
gen. Bei der Beurteilung dieses Phänomens sind darüber hinaus die geradezu revolutionären
Fortschritte zu berücksichtigen, die im vorangegangenen Jahrzehnt im Bereich der Reproduktionstechnik gelungen waren und die den kommentierten Bildband als attraktive Variante
kunsthistorisch orientierter Literatur erst möglich machten. So warten 1906 selbst einige der
preisgünstigsten Publikationen bereits mit der einen oder anderen Farbabbildung auf.40 Wenn
vom wachsenden Stellenwert der Kunst in der zweiten Hälfte des wilhelminischen Kaiserreiches die Rede ist, sollte die Bedeutung dieses medienhistorischen Aspekts nicht unterschätzt
werden.
Glaubt man den bibliographischen Verzeichnissen von Zeitschriftenartikeln, so war Rembrandt im Jubliäumsjahr 1906 tatsächlich in aller Munde.41 Von der Fachzeitschrift über das
populäre Familienblatt bis hin zu spezialisierten Magazinen - ein Artikel zu Rembrandt durfte
nicht fehlen. Von den Burschenschaftlichen Blättern und dem katholischen Hochland reicht
die Spanne über Der Deutsche, Die Hilfe, Daheim und Gartenlaube bis hin zu Die neue Gesellschaft oder Der alte Glaube.42 Bereits die Titel solcher Veröffentlichungen geben dabei
Auskunft über deren weitgehend diskursreproduktiven Charakter, lesen sie sich doch wie eine
Auflistung der wichtigsten Topoi, die den durchschnittlichen Text zu Rembrandt in jener Zeit
dominierten. Sie heißen Rembrandt und die Phantasie, Das Menschliche in Rembrandt’s
Kunst, Rembrandt als Maler des Seelischen, Rembrandts Leben in seinen Selbstbildnissen,
Rembrandt’s Leben eine Tragödie, Rembrandt und die moderne Kunst oder Rembrandt und
wir.43 Viele der Autoren sind bekannte Kunsthistoriker oder Kunstliteraten, die bereits durch
Texte zu Rembrandt hervorgetreten sind. Nicht geringer ist jedoch die Zahl jener Autorennamen, die uns hier im Zusammenhang mit Rembrandt zum ersten und letzten Mal begegnen.
40
Z.B. der Rembrandt-Almanach 1906 1907. Eine Erinnerungsgabe zu des Meisters dreihundertstem Geburtstage, Stuttgart/Leipzig: DVA. Die im selben Verlag erschienenen Klassiker der Kunst waren zur gleichen Zeit
noch ganz in Schwarzweiß gehalten.
41
Bis zum Beginn des 20. Jahrhundert sind in der IBZ (Bibliographie der Deutschen Zeitschriftenliteratur) jährlich kaum eine Handvoll Einträge zu Rembrandt verzeichnet. Verglichen mit den Artikeln die zu Rubens angeführt werden, herrscht in der Regel Gleichstand. Erst 1905 steigt die Zahl der Publikationen an, für 1906 sind 77
Einträge verzeichnet. In den folgenden Jahren bleibt Rembrandt bei einer durchschnittlichen Zahl von 12 Artikeln, während sich zu Rubens im gleichen Zeitraum nicht mehr als 4 Einträge finden. Zur Bewertung dieser
Zahlen ist zu bedenken, daß diese Bibliographie eine ständig anwachsende Zahl von Publikationen erfaßte, aber
zu keiner Zeit den gesamten Zeitschriftenmarkt abdeckte.
42
H. Grimm (1906) Rembrandt, in: Burschenschaftliche Blätter, 215-221; H. Knackfuß (1906) Rembrandt, in:
Daheim (Leipzig), Nr. 41; L. Brehm (1906) Rembrandt, in: Der Deutsche (Berlin) IV, Nr. 14; C. Voll (1906)
Rembrandt, in: Gartenlaube, Nr. 28; E. Schur (1906) Rembrandt, in: Die neue Gesellschaft, Berlin, Nr. 28; W.
Lang (1906) Rembrandt, in: Der alte Glaube, Leipzig, Nr. 41; Paul Schubring (1906) Rembrandt, in: Die Hilfe
(Berlin), Nr. 28; C. Voll (1906) Rembrandt, in: Hochland (Kempten), Juli, 442-449.
43
E. Kalkschmidt, Rembrandt und die Phantasie, Deutsche Zeitung, Beiblatt: Deutsche Welt, Berlin, Nr. 42; K.
Weymann, Das Menschliche in Rembrandt’s Kunst, Deutschland, Monatsschrift, Berlin, Sept. 670-675; K.
Storck, Rembrandt als Maler des Seelischen, Der Türmer, Stuttgart, Juli 520-524; W. Pastor, Rembrandts Leben
in seinen Selbstbildnissen, Tägliche Rundschau, Leizig, Beilage, Nr. 162; E. Witte, Rembrandt’s Leben eine
Tragödie, Hamburger Nachrichten, Beilage, Nr. 28; W. R. Valentiner, Rembrandt und die moderne Kunst, Jugend, München, Nr. 42; E. Heyck, Rembrandt und wir, Deutsche Tageszeitung, Berlin, Beilage, Nr. 29 (jeweils
1906).
87
Neben diesen Beispielen für die Rezeption des holländischen Meisters in den unterschiedlichen Bereichen der Publizistik sei auch auf die künstlerische Auseinandersetzung mit Rembrandt und seinen zeitgenössischen Kollegen hingewiesen, die auf ihre Weise zur öffentlichen
Präsenz der niederländischen Kunst beitrug. Wie bereits zur Jahrhundertmitte in Frankreich,
hatte auch in deutschen Künstlerkreisen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine wachsende Beschäftigung mit den Niederländern des 17. Jahrhunderts eingesetzt (Chu 1974,
Stückelberger 1996). Der Impuls ging dabei jedoch von französischen Künstlern wie Courbet,
Rousseau oder Daubigny aus, die zudem mit ihrem forcierten Realismus das markantere antiakademische Konzept verfolgten. Es spricht für diese Einschätzung, daß etwa Wilhelm Leibl,
eine Hauptfigur der Münchener Hollandrezeption, Künstler wie Hals oder Rembrandt zunächst indirekt über seine Kontakte nach Paris, speziell zu Courbet, kennenlernte. Leibl,
Trübner und andere übernahmen Anregungen aus der niederländischen Porträtkunst, während
Carl Schuch sich durch Landschaften und Stilleben inspirieren lies und dabei seinerseits den
Anschluß an französische Kollegen wie Manet und Fantin-Latour suchte (Stückelberger 1996,
36 ff.). Deutlicher noch treten die ästhetischen Parallelen bei den deutschen Impressionisten
hervor. Neben Liebermanns Reisen in die Niederlande ist hier besonders auf die Adaption der
Selbstbildnisse Rembrandts durch Lovis Corinth hinzuweisen, die Stückelberger überzeugend
herausgearbeitet hat.44
Auch über die politischen Veränderungen der Kriegs- und Nachkriegszeit hinweg blieb Rembrandt eine zentrale Figur kunsthistorischer und kunstliterarischer Publikationen. Mitten im
Ersten Weltkrieg erschien Georg Simmels lebensphilosophischer Essay (1916), der seinen
zentralen Anknüpfungspunkt in den Selbstbildnissen fand.45 Aus Reihen der akademischen
Kunstgeschichte, die inzwischen als etablierte Disziplin gelten konnte, ist vor allem Werner
Weisbachs Monographie von 1926 hervorzuheben, die sich in vielen Punkten dezidiert gegen
die verbreiteten Heroisierungen des Künstlers wendet. Ihr anti-wissenschaftlich ausgerichtetes
Gegenstück bildet Wilhelm Hausensteins Rembrandtbuch aus dem gleichen Jahr.
44
Widersprechen möchte ich jedoch Stückelbergers These, die Lektüre von Langbehns Rembrandt als Erzieher
sei in diesem Zusammenhang ohne jede Bedeutung gewesen. Gemäß seiner vereinfachenden Unterscheidung
zwischen einem negativ bewerteten ‘Historismus‘ und den ‘fortschrittlichen Modernen‘ will Stückelberger eine
konservative Rembrandtrezeption bei den Worpsweder KünstlerInnen von einer progressiven bei Liebermann,
Corinth, Slevogt und Nolde unterscheiden, wobei er Langbehn nur einen Einfluß auf erstere zuspricht, während
letztere „in einen wirklichen Dialog mit Rembrandt“ eingetreten seien (Stückelberger 1996, 53). Mangels Belegen erscheint mir eine derartige polarisierende Unterscheidung als rhetorischer Nobilitierungsversuch. Trotz der
stilistischen und damit auch ideologischen Differenzen zwischen den verschiedenen Künstlerkreisen halte ich es
für unangebracht, Liebermann und seine impressionistischen Kollegen geradezu aus ihrer Zeit herauszuheben,
um sie so von den ‘schädlichen Einflüssen‘ ihrer Zeitgenossenschaft mit Langbehn zu befreien.
45
Simmels Sonderstellung in der Rembrandtliteratur und die kulturphilosophische Position seines Essays sind in
letzter Zeit mehrfach untersucht worden. Zuerst hat Beat Wyss mit seiner Einleitung der Neuauflage von Simmels Rembrandt diesem Desiderat abgeholfen (Wyss 1985). Zum Gegenstand monographischer Forschungsarbeiten wurde Simmels Rembrandt dann bei Alois Kölbl (1998) und bei Anette Wauschkuhn-Nagel (1998).
88
Im Zuge der nationalsozialistischen Machtübernahme erhielten die heroischen und nationalistischen Konzepte innerhalb der Kunstgeschichte erneut Aufwind (Dilly 1988, Larsson
1985). Trotz der erfolgreichen Wiederauflagen des Langbehnschen Buches, trotz des Geniefilmes Rembrandt von 1942 und trotz der pathetischen Erschließung der Selbstbildnisse durch
Wilhelm Pinder (1943), dem Vorzeige-Kunstwissenschaftler des nationalsozialistischen
Deutschlands, kann jedoch von keiner neuen Blüte des Rembrandtkultes gesprochen werden.46 Um erneut zum Ideal für die deutsche Kunst der Gegenwart zu werden, war die nationalistische Vorgeschichte der Rezeption Rembrandts zu stark an jene völkischen Konzepte
gebunden, die im Kampf um die Kunst der Gegenwart ebenso unterlagen, wie dies der progressiven Moderne widerfuhr.47 Mit dem auf höchster Ebene favorisierten neoklassizistischen
Kunstideal war ein Rembrandtkult nicht zu vereinbaren.48 Er rangierte als einer der höchsten
Meister ‘germanischer Kunst‘, ohne jedoch, wie einstmals bei Langbehn, erneut eine besondere Mission für die Gegenwart zugesprochen zu bekommen.49 Als politischer Vermittler
wurde Rembrandt von der deutschen Propaganda in den besetzten Niederlanden eingesetzt.
Mittels eines regelmäßigen Rembrandttages wollte man dort den ‘germanischen Maler‘ zur
deutsch-niederländischen Integrationsfigur erheben, doch blieb diesem Konzept, einer indirekten Wiederanwendung Langbehnschen Gedankenguts, der Erfolg versagt.50
Die Präsenz Rembrandts in der Kunstliteratur der direkten Nachkriegsjahre hatte ich bereits
im Kontext der historischen Eingrenzung des Untersuchungsmaterials angesprochen.51 Deshalb soll der Überblick über die Binnenstruktur des diskursiven Feldes an dieser Stelle geschlossen und aus der distanzierten Sicht in die Nahsicht gewechselt werden. Zunächst thematisiere ich dabei jenen inhaltlichen Aspekt des Künstlerbildes, der mir als wesentliches
Charakteristikum des Übergangs zwischen erster und zweiter Phase der Rembrandtrezeption
erscheint: den Wechsel vom Integrations- zum Marginalisierungsmodell.
1.4 Passage: Vom integrierten zum marginalisierten Individuum
Die Rede vom Künstler wird seit dem Aufkommen romantischer Positionen zu Beginn des
19. Jahrhunderts in zunehmendem Maße durch die Problematisierung von Subjektivitätskon46
Es ist darauf hinzuweisen, daß die Heterogenität der nationalsozialistischen Kulturpolitik eine Verallgemeinerung dieser Aussagen kaum als sinnvoll erscheinen läßt.
47
Vgl. Brenner 1963; Backes 1988.
48
Vgl. Wyss 1985, XXVI f.
49
Entsprechend wird Rembrandt in kunstgeschichtlichen Überblicksdarstellungen und in kleineren Monographien eingestuft, die während der nationalsozialistischer Herrschaft erschienen (Waldmann 1933, 49; Werner
1934, 87; Müseler 1938, 19; Pinder 1944, 84 f.).
50
Vgl. Bruin 1995, 65 ff.
51
Vgl. den Abschnitt 1.2 in diesem Teil.
89
zepten dominiert. Der Erfolg der diskursiven Künstlerfigur Rembrandt in der Moderne ist
entscheidend mit ihrer Leistungsfähigkeit in diesem thematischen Kontext verbunden. Rembrandtliteratur ist spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts im wesentlichen Literatur über
moderne Individualität. Nicht in dieser Thematik, durchaus jedoch in den jeweiligen Vorstellungen von der Singularität und Subjektivität des Individuums und von seinem Verhältnis zur
Gesellschaft lassen sich dabei Unterschiede aufzeigen, deren Reichweite über die feinen Differenzierungen zwischen einzelnen Autoren hinausgeht. Ich sehe hierin die Möglichkeit, ein
wichtiges inhaltliches Kriterium für die Unterscheidung zweier Phasen der modernen Rembrandtrezeption zu benennen: In den französischen Texten der Jahrhundertmitte erscheint der
Künstler als integraler Bestandteil der Gesellschaft seiner Zeit und seine Kunst entsprechend
als Ausdruck dieser Gesellschaft, während er in den deutschen Beispielen des Zeitraums von
1880 bis 1950 als ‘Außenseiter der Gesellschaft‘ auftritt.52
Diese historische Differenzierung der These von der Zentralität der Subjektivitätsthematik im
modernen Künstlerdiskurs soll im folgenden Abschnitt belegt werden. Neben seiner Funktion
der Begründung meiner Unterscheidung ‘zweier Phasen moderner Rembrandtrezeption‘
kommt dem Abschnitt innerhalb der Arbeit die Aufgabe einer ‘Passage‘ zu, einer inhaltlichen
Überleitung vom Material der Jahrhundertmitte zum mittlerweile strukturell skizzierten diskursiven Feld der Rembrandtliteratur der Jahrhundertwende.
Die romantische Opposition zum klassizistischen Künstlerbild bedeutet den Einstieg in jene
affirmative Konzeption von Subjektivität als Charakteristikum des Künstlertums, die das 19.
und 20. Jahrhundert dominieren wird.53 Parallel zur Spaltung künstlerischer Praxis zwischen
akademischen und secessionistischen Positionen bleiben jedoch auch im 19. Jahrhundert widersprüchliche Subjektentwürfe virulent. Als bedeutende Stimme der akademischen Tradition
im letzten Drittel des Jahrhunderts kann der Baseler Kunstgelehrte Jacob Burckhardt angeführt werden. Zum Abschluß seines Rembrandtvortrags von 1877 fällte er folgendes kritische
Urteil über den markanten Subjektivismus, der dieser Figur ja bereits in der klassizistischen
Vorstellung vom phantastischen und regelwidrig agierenden Künstler anhaftete:
52
Es ist wohl selbstverständlich, daß ich darin keine ‘nationale‘ Differenz sehe. Die Fallstudie zur Nachtwache
wird zeigen, daß in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts auch in Frankreich das Marginalitätskonzept
bevorzugt wird. Zur Erklärung dieses Phänomens verweise ich vorerst nur auf die gesellschaftliche Entwicklung,
die in beiden Ländern eine Stabilisierung der bürgerlichen Strukturen mit sich bringt. Die Bedeutung des Subjekts als zentrale Bezugsgröße dieser Gesellschaftsform erscheint mir als der Schlüssel zum Verständnis des
Künstlerbildes. In der Bezeichnung ‘der moderne Künstler‘ wird diese Bedingtheit der künstleris chen Subjektvorstellungen, ihre sekundäre Position als eine Funktion der Gesellschaft, nicht hinreichend reflektiert. Besonders mit Blick auf die Darstellungen Wolfgang Rupperts plädiere ich dafür, weniger vom ‘modernen‘ als vom
‘bürgerlichen‘ Künstler zu reden. Wenn diese Bezeichnung auf Widerspruch stößt, da sie die emphatischen Konzepte vom Künstler als einem subversiven, provokativen oder radikal-autonomistischen Rebellen wider das Bürgertum als illusorisch denunziert, so ist das in meinem Sinne (vgl. den Abschnitt 3.2 im Zweiten Teil dieser
Arbeit).
53
Zum Künstlerbild der Romantik vgl. Hofmann 1982; Busch 1982; Bätschmann 1997, 64 ff.
90
„Übrigens ist eine so aparte Persönlichkeit, wie Rembrandt gewesen, ein gefährlicher Lehrer. Es ist
nicht wahr, daß Licht, Luft, Harmonie, Haltung eines Bildes mit genauer Ausführung unvereinbar
seien. (...) Es ist nicht wahr, daß Lichtmalerei von der Schönheit und Wahrheit des menschlichen
Leibes dispensiere, und der alternde Meister hat es durch Ausbleiben des frühern Beifalls und Abfall der Schüler empfinden müssen, daß er seine Zeit entzürnt hatte. Es ist nicht wahr, daß die Gegenstände der Malerei ein bloßer Vorwand sein dürfen, damit eine einzige Eigenschaft, welche
noch nicht zu den höchsten gehört, ein souveränes Gaukelspiel daran aufführe. Und wenn dem
Meister selbst, als einem Unikum, alles nachgesehen werden soll, so dürfen doch auf sein Tun
keine Theorien gebaut werden. Die Praktiker aber, welche ihn zum Leitstern wählen, kann man
getrost dem unausbleiblichen Schicksal überlassen: ihn nie zu erreichen und wesentlich sekundäre
Leute zu bleiben.“ (Burckhardt 1919 [1877], 37)
Bei Burckhardt erscheint Rembrandt als Ausnahme, die die Regel bestätigt, an deren Richtigkeit und Gültigkeit der Autor ebenso festhält, wie an der Vorbildlichkeit der italienischen Renaissancekunst. Entgegen der aufkommenden Tendenz nutzt Burckhardt den Holländer nicht
als „Leitstern“ für zukünftiges Kunstschaffen, sondern zur Bestärkung des akademischen Ideals mit Hilfe der Demonstration der Mängel Rembrandtscher Bilder. Wenn er am Schluß seines Vortrags, der über weite Passagen den Charakter einer Anklageschrift trägt, zur Bestärkung seiner Position eine Anapher - den dreifach wiederholten Satzanfang „Es ist nicht wahr“
- zur Hilfe nimmt, so ist das Beschwörende, das in dieser Rhetorik liegt, nicht zu überhören.
Gerade der Punkt, durch den Burckhardt den niederländischen Maler hier entscheidend zu
schwächen versucht, war schon einige Jahre zuvor zur Keimzelle der neuartigen Würdigungen Rembrandts geworden. Während Burckhardt aus dem „Unikum“ Rembrandt, aus der
„aparte[n] Persönlichkeit“ dieser „unvergleichliche[n] Originalgestalt“ (Burckhardt 1919
[1877], 6) die Unmöglichkeit herleitet, auf diesem eine stilistische Schule zu bilden und damit
die Unfruchtbarkeit seiner Kunst im Sinne eines ästhetischen Ideals behauptet, liegt etwa für
Athanase Coquerel (1869) gerade in seiner künstlerischen Individualität das Kennzeichen der
zeitgemäßen Vorbildlichkeit Rembrandts:
„Ich bin, für meinen Teil, davon überzeugt, daß in der religiösen Kunst wie überall sonst die einzig
tatsächlich fruchtbare und seriöse Methode der Individualismus ist, die Spontaneität. Daß jeder für
sich selbst denke und empfinde, und dann die freien Kreationen seines Genius auf die Leinwand
werfe oder aus dem gehorsamen Marmor hervorhole. Daß der Mensch im Künstler lebe. Daß die
Kunst der Konventionen, die offizielle Bilderwelt, Abglanz des Befehls, patentiert vom Staat oder
von der Kirche, in den Verruf gerate, der ihr gebührt.“ (Coquerel 1869, X f.)54
54
„Je suis persuadé, pour ma part, que dans l’art religieux comme partout, la seule méthode véritable féconde et
sérieuse c’est l’individualisme, la spontanéité. Que chacun pense et sente par lui-même et jette ensuite sur la toile
91
Der kämpferische Lutheraner Coquerel will im Künstler den Menschen wirksam sehen, und
dieser erscheint ihm zuerst als freies Individuum. Coquerels Text Rembrandt et
l’individualisme dans l’art (Rembrandt und der Individualismus in der Kunst), dem dieses
Zitat entnommen ist, stellt weniger eine kunstgeschichtliche Forschungsarbeit als ein religionspolitisches Traktat dar. Der individualistische Rembrandt fungiert darin als Gegenbild
einer staatlichen und kirchlichen Steuerung des bürgerlichen Handlungsspielraums. In dieser
Kritik des Eingriffs der Obrigkeit auf das künstlerischen Schaffen findet der Autor ein geeignetes Demonstrationsobjekt, um seine Vorstellung von Freiheit in der protestantischen Glaubenspraxis von seinem klar benannten Feindbild, der katholischen Kirche, zu unterscheiden.
Der Symbolcharakter Rembrandts wird dabei besonders deutlich, wenn Coquerel bekannte
Motive aus der Rembrandtbiographik einsetzt, um den niederländischen Maler mit Christus
zu vergleichen. Ein Beispiel: Houbraken (1718) hatte zur Erläuterung der ungewöhnlichen
Lehrmethoden Rembrandts erzählt, der Meister habe die Arbeitsbereiche seiner Schüler durch
Papierbahnen oder Segeltuch voneinander separiert, um diesen zu ermöglichen, „nach dem
Leben malen zu können, ohne einander zu stören“.55 Während die klassizistische Literatur
diese Anekdote zur Illustration der Skurrilität Rembrandts aufgriff, stellt Coquerel sie als Beleg für das Interesse des Meisters an einer unabhängigen Entfaltung seiner Schüler dar und
erklärt:
„Es ist uns unmöglich, nicht auf eine tatsächliche Analogie dieser Verfahrensweise mit den erhabenen Lehrmethoden Christi hinzuweisen, die Menschen zum Nachdenken zu zwingen, die Samenkörner der Wahrheit in die Geister zu säen.“ (Coquerel 1869, 110) 56
Sieht Jacob Burckhardt im Ausbleiben einer ‘Rembrandt-Schule‘ den Beleg für die Unfruchtbarkeit von dessen Bildästhetik, so findet Coquerel in derselben Beobachtung die Bestätigung
für den Erfolg der Lehrmethode des Holländers. Seine Schule sei als solche kaum auszumachen, sie sei so vielgestaltig wie keine andere (Coquerel 1869, 110).57 Ihre Vertreter folgten
der Richtung des Meisters, aber jeder auf seine ganz persönliche Weise:
ou fasse sortir du marbre obéissant, les libres créations de son génie. Que l’homme vive dans l’artiste. Que l’art
de convention, l’imagerie officielle, le pastiche de commande, breveté par l’État ou par l’Église, tombe dans le
discrédit qu’il mérite (...).“ (Coquerel 1869, X f.).
55
„zonder elkander te storen naar’t leven te konnen schilderen“ (Houbraken 1718, zit. nach Veth 1906, 67).
56
„Il nous est impossible de ne pas signaler une analogie réelle entre cette manière de procéder et la sublime
méthode d’enseignement du Christ, forçant les hommes à penser, semant dans les esprit des germes de vérité
(...).“ (Coquerel 1869, 110).
57
Diese Interpretation Coquerels wird wiederum selbst zum Topos, z.B. bei Knackfuß: „Es wird erzählt, er habe
seine Schüler in gesonderten Zellen arbeiten lassen, zu dem Zwecke, daß das Individuelle ihrer Begabung besser
gewahrt bleibe und ihre Kunst vor schulmäßiger Gleichförmigkeit behütet werde.“ (Knackfuß 1921 [1897], 10).
92
„Sie marschieren, ein jeder für sich, in seine eigene Richtung, einen Ruhm vorweisend, der gänzlich ihm allein zukommt. Und das ist es, was Rembrandt vor allem wollte.“ (Coquerel 1869, 113) 58
Coquerels protestantische Deutung des künstlerischen Individualismus‘ schließt an die Beobachtungen zur gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung mit Rembrandt und den Niederländern an, die wir bereits an den Beispielen Théophile Thorés und Alfred Dumesnils machen
konnten. Die eindringlichste Formel für die Forderung nach Eigenständigkeit des Subjekts hat
dabei wohl Thoré geprägt, als er die Idealvorstellung vom ‘individualisme‘ im Stile einer
Menschenrechtserklärung vorbrachte:
„Die Eigentümlichkeit des Menschen ist es, zu erfinden, er selbst zu sein und nicht ein anderer.“
(Thoré 1858, IX )59
Wie oben bereits gezeigt wurde, läßt sich die Betonung des Individuellen als eines positiven
Wertes in Gestalt des Motivs der künstlerischen Autonomie in der Rembrandtliteratur zuerst
in Frankreich nachweisen. In den revolutionär gestimmten Texten der Jahrhundertmitte werden die Abhängigkeit des Künstlers im Feudalregime und die bürgerliche Freiheit des Künstlers in der Republik einander gegenübergestellt. Die Erlangung der künstlerischen Unabhängigkeit wird bei Thoré in einer Weise mit der republikanischen Gesellschaftsstruktur verknüpft, die sie als Metapher für die bürgerliche Freiheit an sich erkennbar werden läßt. Der im
romantischen Künstlerbild vorbereitete Topos von der Autonomie des Künstlers, der zu den
Grundelementen der weiteren modernen Kunstgeschichtsschreibung zählt, wird hier in einer
politischen Perspektive aktualisiert und ausgearbeitet.
Folgen wir der französischen Rembrandtrezeption noch einen Schritt weiter und fragen nach
dem Zuschnitt, den Eugène Fromentin in seiner einflußreichen Schrift Les Maîtres d’autrefois
(1876) dem Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft verleiht. Der damals 54jährige Fromentin, als Maler und Schriftsteller ein erfolgreicher Vertreter des Orientalismus, hatte die
holländischen und belgischen Museen im Juli des Jahres 1875 besucht.60 Er trat die Reise mit
dem Vorsatz an, „Rubens und Rembrandt bei ihnen selbst aufzusuchen“61 und die Erlebnisse
dieser Begegnung in einem ausführlichen Reisebericht zu veröffentlichen. Dies geschah ab
Januar 1876 in sechs Lieferungen der traditionsreichen Zeitschrift Revue des Deux Mondes
58
„Ils marchent, chacun de son côté, dans une direction à lui, présentant un mérite qui lui est parfaitement personnel. Et c’est que Rembrandt voulait avant tout.“ (Coquerel 1869,113).
59
„Le propre de l’homme est d’inventer, d’être soi et non pas un autre.“ (Thoré 1858, IX ).
60
Vgl. Moissy 1972, LV.
61
„Je viens voir Rubens et Rembrandt chez eux (...).“ (Fromentin 1972 [1876], 3).
93
sowie wenig später in monographischer Form. Rezensionen und lobende Verweise in späteren
Publikationen bezeugen die breite Rezeption dieser Veröffentlichung.62
Stärker noch als Thoré konzipiert Fromentin seinen Text entlang des statischen Gerüstes einer
Gegenüberstellung von Rubens und Rembrandt, die er als ebenso unangefochtene wie gegensätzliche Häupter der „école hollandaise“63 ansieht (Fromentin 1972 [1876], 3.). Politische
Kontexte behandelt Fromentin wesentlich zurückhaltender. Eine vehemente Parteinahme für
die Republik, wie sie bei Thoré zu finden ist, sucht man hier vergeblich. Fromentin war gewiß
kein Revolutionär, er ist dem gemäßigten Bürgertum zuzurechnen.64 Wenn er die niederländischen Künstler mit seiner Gegenwart in Verbindung bringt, ist er darum bemüht, dies auf dem
Feld rein ästhetischer Erwägungen zu tun und sein Publikum nicht explizit auf die politische
Dimension seiner Ausführungen hinzuweisen.65
Entsprechend ausgeglichen ist auch Fromentins Bewertung der beiden „Meister von einst“.
Ästhetisch kommt Rubens seinem persönlichen Ideal näher, doch würdigt er Rembrandt als
einzigartigen Meister des Helldunkels, eines künstlerischen Mittels, das die Tiefe und Wahrhaftigkeit eines Bildes in besonderem Maße erhöhen könne:
„Alles in allem ist es die Kunst, ein Bild zu vertiefen, die Wahrheit gleichzeitig näher und ferner zu
rücken, sie zu verhüllen und doch wieder zur Geltung zu bringen, die Wirklichkeit aufgehen zu lassen im geistigen Gehalt - und das alles bedeutet Kunst und bedeutet die ‘Kunst des Helldunkels‘.“
(Fromentin 1876, zit. nach der Übersetzung von Bodenhausen 1903, 280) 66
Fromentins Konzentration auf Bildgestaltung, Bildwirkung und Aussagegehalt bedeutet jedoch keinen völligen Ausschluß gesellschaftsgeschichtlicher Kontexte. Vielmehr werden auch
hier der ‘fürstliche‘ Rubens und der ‘bürgerliche‘ Rembrandt gegenübergestellt. Wie vor ihm
bereits Thoré,67 beschreibt Fromentin Rembrandt ausgehend von Rubens, wobei Rubens ein
62
Zur Entstehung, Struktur und Aufnahme des Textes vgl. Ritter 1998.
Es deutet bereits die politische Zurückhaltung Fromentins an, daß er die beiden Künstler hier als Vertreter
einer gemeinsamen Schule auftreten läßt und damit die gesellschaftliche Differenz zwischen nördlichen und
südlichen Niederlanden begrifflich nivelliert.
64
Einige biographische Daten mögen diese Einschätzung illustrieren. Fromentin, geb. 1820 in La Rochelle,
stammt aus bürgerlichen Kreisen. Auf väterlichen Wunsch begann er 1839 in Paris ein Jurastudium, von dem ihn
sein Vater erst 1847, im Jahr der ersten Salon-Teilnahme Fromentins, entband. Während der 13 Jahre ältere
Thoré im Frühjahr 1848 die Kunstkritik gegen den revolutionären Kampf auf den Barrikaden eintauschte (Herding 1978, 111), verbrachte Fromentin die Monate Februar bis Mai in Algerien, fern der politischen Unruhen,
mit seinen literarischen und künstlerischen Orientstudien (Moissy 1972, LII).
65
Fromentins Position zu den stilistischen und kulturpolitischen Konflikten seiner Zeit wird im Kapitel Nachtwache eingehender beleuchtet.
66
„En résumé, il y a une manière de creuser la toile, d’éloigner, de rapprocher, de dissimuler, de mettre en évidence et de noyer la vérité dans l’imaginaire, qui est l’art, et nominativent l’art du clair-obscur.“ (Fromentin
1972 [1876], 226). Ein Hinweis: Bei Zitaten Fromentins greife ich auf verschiedene Übersetzungen zurück,
besonders auf jene von Schellenberg und von Bodenhausen. In einigen Fälle habe ich diese Übersetzungen überarbeitet, in der Absicht, den Gehalt des Originaltextes deutlicher hervortreten zu lassen. Die Mitbenutzung der
älteren Übersetungen habe ich dabei in jedem Fall gekennzeichnet.
67
Thoré 1858, 321 f.
63
94
althergebrachtes Ideal verkörpert, während wir in Rembrandt eine veränderte, sich vom Gewohnten absetzende Künstlerfigur zu sehen haben:68
„Kein Palast mit hochherrschaftlichem Glanze, keine Dienerschaft, keine italienische Bildergalerie.
Eine mittelmässige Einrichtung, das schwärzliche Haus eines kleinen Kaufmanns; drinnen das
Durcheinander, wie bei einem Sammler, einem Antiquar, einem Liebhaber von Stichen und Seltenheiten. Keine öffentliche Angelegenheit, die ihn an der Politik seiner Zeit mitwirken lässt, keine
bedeutenden Gunstbezeugungen, die ihn jemals an irgendeinen Fürsten gebunden hätten.“ (Fromentin 1876, zit. nach der Übersetzung von Schellenberg 2 1919, 321)
Rubens die Öffentlichkeit, Rembrandt die Innerlichkeit, so ließe sich diese Passage Fromentins verkürzen. Der Autor ruft zunächst noch einmal den Hausstand des Rubens in Erinnerung, und zwar durch eine Beschreibung dessen, was man bei Rembrandt nicht antrifft: „Kein
Palast mit hochherrschaftlichem Glanze, keine Dienerschaft, keine italienische Bildergalerie“.
Wenn er dann auf Rembrandts Lebensumstände eingeht, wählt er sogleich die Interieuransicht: „Eine mittelmässige Einrichtung, das schwärzliche Haus eines kleinen Kaufmanns;
drinnen das Durcheinander, wie bei einem Sammler, einem Antiquar, einem Liebhaber von
Stichen und Seltenheiten.“ Während die ex negativo-Beschreibung von Rubens’ Haus aus
würdevoller Distanz erfolgte, werden wir an Rembrandt in der Nahansicht herangeführt. Was
sich dort den Blicken darbietet, ist nicht auf den glanzvollen Moment der Gegenwart, sondern
auf die Vergangenheit gerichtet. Sammler, Antiquar und Liebhaber stehen für einsame Augenblicke von Stille und Versunkenheit, und auch für die Speicherung von Erinnerung. Mit
dem Haus des Rembrandt liefert Fromentin einen metaphorischen Ausblick auf seine Vision
von Rembrandts psychologischer Disposition.
Als Vorbedingung für das Reich der Ideen, das zu schaffen Rembrandts Berufung werden
sollte (Fromentin 1972 [1876], 262), gilt schließlich auch bei Fromentin der Verzicht auf die
Gunst der Fürsten, und, dies im krassen Kontrast zu Thoré und in Vorwegnahme späterer Positionen, der Verzicht auf Teilnahme an der politischen Öffentlichkeit: „Keine öffentliche
Angelegenheit, die ihn an der Politik seiner Zeit mitwirken lässt, keine bedeutenden Gunstbezeugungen, die ihn jemals an irgendeinen Fürsten gebunden hätten“.
Und tatsächlich liegt die entscheidende Differenz zwischen der Darstellung Thorés und jener
Fromentins in der Verortung Rembrandts innerhalb der Gesellschaft. Während Thoré den
Künstler als Repräsentanten seiner Zeit und dessen Kunst als bewußte politische Positionierung eines Bürgers betrachtet hatte, sieht Fromentin den Ort dieses Bürgers im Privaten.
68
Die wechselseitige Konturierung der Künstlerfiguren Rubens und Rembrandt ist ein Topos, der die gesamte
Rezeptionsgeschichte durchzieht und eine eigenständige Untersuchung, etwa unter Verweis auf die literarische
Tradition des Dioskurenpaars, verdient hätte. Einen interessanten Ansatzpunkt dazu bietet Rolf Parrs Analyse
des Bismarckbildes der Jahrhundertwende (Parr 1992, 26).
95
Thoré hatte in Rubens und Rembrandt, so wie in Raffael und Rembrandt, die Gegenüberstellung einer künstlerischen Position der Vergangenheit mit einer zukunftsweisenden Ästhetik
gesehen, und er hatte die Kunst dabei als Funktion der Gesellschaft dem politischen Feld
letztlich untergeordnet. Der Unterschied zu Fromentin ist signifikant: Während Thoré die
Kunst der beiden Meister als Ausdruck ihres politischen Bewußtseins deutete und einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Gesellschaftsform und künstlerischer Praxis hervorhob,
bleiben Fromentins Ausführungen im deskriptiv ästhetischen Bereich. Er stellt Übereinstimmungen zwischen Motivik und Ausführung der Werke einerseits und der gesellschaftlichen
Stellung und der Lebensführung der Künstler andererseits fest, sieht darin jedoch nicht die
Auswirkungen der Gesellschaft oder die Kennzeichen politischen Engagements seitens der
Künstler, sondern lediglich zwei unterschiedliche Ebenen, auf denen sich in analoger Weise
die Spuren des jeweiligen Individualcharakters dieser Künstler abzeichnen. Wo sich Thorés
Blick letztlich zur Gesellschaft wendet, hat Fromentin das ‘Wesen‘ des Künstlers im Auge.
Mit anderen Worten: Thoré situiert das Phänomen ‘Kunst‘ in der Öffentlichkeit, Fromentin
im Privaten. Im Wechsel zwischen diesen beiden Autoren verfolgen wir einen Prozeß des
Rückzugs eines öffentlich engagierten Individuums in die Innerlichkeit.
Diese Einschätzung bestätigt ein Blick auf das unterschiedliche Verständnis der Aufgabe der
Kunst, wie sie beide Autoren in den Beispielen der ‘holländischen Schule‘ hervortreten sehen.
Wie die folgende, bereits früher zitierte Passage belegt, weist Thorés Interesse auch hier nach
außen:
„Das ist der Charakter der holländischen Schule in ihrer Gesamtheit. Das Leben, das lebendige Leben, der Mensch, seine Gebräuche, seine Beschäftigungen, seine Freuden, seine Launen. Die einen
zeigen den Bürger in Aktion für die öffentliche Sache, wie er sich der Waffenübung widmet oder
der Abwicklung von Geschäften; die anderen zeigen die Familien in häuslicher Umgebung oder
während ihrer Entspannung im Freien, diese die gebildeten Klassen, jene die arbeitenden Klassen
oder die Randgruppen. (...) Überall ist Bewegung, das aktuelle Leben, das zugleich das ewige Leben ist, - die Geschichte des Volkes und des Landes.“ (Thoré 1858, 322 f.)69
Fromentin dagegen findet das Wesen der Kunst nicht in der Repräsentation öffentlichen Geschehens, sondern darin, verborgene Bilder aus einer inneren Welt hervorzuholen:
69
„Tel est le caractère de l’école hollandaise dans son ensemble. La vie, la vie vivante, l’homme, ses moeurs, ses
occupations, ses joies, ses caprices. Les uns ont pris le citoyen en action pour la chose publique, qu’il se livre à
l’exercice des armes ou à la délibération des affaires; les autres ont pris les familles chez elles, ou dans leurs
distractions extérieures; ceux-ci les classes distinguées, ceux-là les classes laborieuses, ou les classes excentriques. (...) Partout l’animation, la vie présent, qui est aussi la vie éternelle, - l’histoire du peuple et du pays.“
(Thoré-Bürger 1858, 322 f.)
96
„Die Kunst des Malens ist nichts anderes als die Kunst, das Unsichtbare durch das Sichtbare zum
Ausdruck zu bringen (...)“ (Fromentin 1972 [1876], 3.)70
Es kann als symptomatisch gelten, daß Fromentin seine Kritik an Rembrandt gerade an der
Nachtwache ausführt, jenem Bild, auf das Thoré mit seinem Verweis auf den „Bürger in Aktion für die öffentliche Sache, wie er sich der Waffenübung widmet“ anspielt. Statt im bewaffneten Engagement für die Rechte des Bürgers und das Fortbestehen seiner Gemeinschaft
bevorzugt Fromentin dezentere Szenen mit privatem Charakter. Bei der Bewertung der Gruppenbilder Rembrandts ist es zuerst Fromentin, der die Staalmeesters höher einschätzt als die
Nachtwache. Zudem stellt dieser Autor besonders die Bedeutung der Einzelporträts heraus.
Und gerade in diesem Bereich setzt er die Leistung des Holländers positiv von Rubens‘ Kunst
ab. Dabei ist es die Individualisierung der Porträtierten durch Rembrandt, die Fromentins Begeisterung hervorruft, ihre differenzierte, auf die Unterschiede zwischen den Personen gerichtete Kennzeichnung. In seiner Rezension der Maîtres d’autrefois für die Kunst-Chronik
hat Oskar Berggruen (1877) diese Rubens-Kritik Eugène Fromentins herausgearbeitet:
„Am schärfsten wirft Fromentin den Bildnissen von Rubens vor, daß sie nicht individuell genug
sind, sondern sämmtlich eine gewisse Ähnlichkeit besitzen, welche davon herrührt, daß der Meister
sie nach einem ziemlich gleichförmigen Typus bildete.“ (Berggruen 1877, 460)
Die Einzigartigkeit der menschlichen Individuen ist also durchaus für beide Autoren, für
Thoré wie für Fromentin, ein positiver und zeitgemäßer Wert. Thoré stellt dem Menschen die
Aufgabe „er selbst zu sein, und nicht ein anderer“. Fromentin kritisiert an den Bildnissen des
Rubens die unzureichende Individualisierung:
„[Rubens’] Männer haben alle denselben chevalesken Zug, seine Frauen alle die nämliche, prinzessenhafte Schönheit; nirgends findet man eine Eigenthümlichkeit, die auffällt, fesselt und im Gedächtnis haftet; nirgends eine ausgesprochene Häßlichkeit der Physiognomie, oder magere, eckige
Umrisse, oder gar eine widerwärtige Absonderlichkeit.“ (Fromentin 1876, zit. nach Berggruen
1877, 460)
Trotz dieser Ähnlichkeit liegen die Konzepte der beiden französischen Autoren weit auseinander. Bei Thoré steht die Beschäftigung mit Rembrandt im Zeichen einer Abgrenzung von
hierarchischen Gesellschaftsstrukturen. Dabei legt er eine polare Gegenüberstellung künstlerischer Praxis im Feudalismus und in der Republik zugrunde und bezieht klare politische Position, indem er den Adel zugunsten des Bürgertums abwertet. Dieser Tendenz folgen in Variationen auch Coquerel (1869), Dumesnil (1850), Planche (1853) oder Houssaye (1848), die
70
„L’art de peindre n’est que l’art d’exprimer l’invisible par le visible (...).“ (Fromentin 1972 [1876], 3).
97
sich gegen die Reglementierungen seitens des katholischen Klerus oder des traditionell royalistischen Instrumentes der Kunstakademien wenden oder allgemeiner für mitunter etwas unscharfe Konzepte der ‘Gleichheit‘ oder der ‘Menschlichkeit‘ eintreten. Rembrandt dient demnach in dieser ersten Phase seiner unter ausschließlich positive Vorzeichen gestellten modernen Rezeption als Redeanlaß zur Formulierung der politischen und sozialen Stellung des
idealen Individuums einer bürgerlichen Gesellschaft in Abgrenzung zum Feudalismus. Dabei
wird die Vergleichbarkeit seines Künstlertums mit aktuellen oder als Aktualität angestrebten
bürgerlichen Lebensbedingungen herausgestellt. Bei Fromentin verlieren sich dagegen diese
gesellschaftspolitischen Orientierungen des Künstlerdiskurses; an ihre Stelle treten Ästhetisierung und Verinnerlichung.
Besonders merkwürdig ist nun, daß diese Tendenz zum Rückzug des Künstlers ins Private,
die sich bei Fromentin abzeichnet, in der deutschsprachigen Rembrandtliteratur zum Ende des
19. Jahrhunderts auf breitem Feld beobachtet werden kann. 71
Auch in der deutschen Literatur finden sich bis in die 80er Jahre Darstellungen, die Rembrandt als idealtypisches Beispiel des freien Bürgers seiner Zeit und Gesellschaft schildern.
So gilt er bereits Franz Kugler als „trotziger Republikaner“ (Kugler 1837, 177), und wenn
Eduard Kolloff (1854) diesem Ausdruck entgegentritt, dann keineswegs, um Rembrandt zum
gesellschaftlichen Außenseiter zu erklären:
„Rembrandt war allerdings in gewissen Beziehungen das Widerspiel des galanten, mythologischen
und katholischen Rubens, dessen Leben sich in einem adligen Schlosse unter allen Elementen des
Luxus und der Sommitäten der Zeit bewegte, wogegen Rembrandt in einem bürgerlichen Hause
und Kreise lebte. Aber daraus folgt noch nicht, daß Rembrandt ein trotziger Republikaner oder gar
ein schnöder Religionsspötter gewesen. Er war, wie alle seine damaligen Landsleute, gut republikanisch gesinnt (...). Mit den politischen Gesinnungen eines guten Republikaners verband er gewiß
die religiösen Überzeugungen eines guten Protestanten.“ (Kolloff 1854, 486 f.)
Die Ansichten Rembrandts fügen sich nach Kolloff also fest in die bürgerliche Gesellschaft
der Niederlande seiner Zeit ein. Diese Perspektive findet sich 1886 auch noch bei Anton
Springer. Ein Jahr zuvor hielt Alfred Lichtwark seinen Vortrag über Rembrandt und die
holländische Kunst, in dem der Künstler ebenfalls als Prototyp des Bürgers in die Gesellschaft
seiner Zeit integriert ist und den Werten dieser Gesellschaft in seiner Kunst Ausdruck verleiht. Einer dieser Werte ist der ‘Individualismus der Darstellung’. Im Gegensatz zu späteren
Autoren versteht Lichtwark darunter noch nicht die secessionistische Eigentümlichkeit des
71
Aus dieser Perspektive kann auch erklärt werden, warum Fromentins Text in Deutschland erst 20 - 30 Jahre
nach seiner Erstpublikation umfassend rezipiert wurde (vgl. Ritter 1998).
98
Künstlers, sondern ein Kennzeichen, mit dem sich der Bürger von den idealisierenden Vorstellungen religiöser und feudalistischer Kunstpraxis abgrenzt. Wie es bei den französischen
Autoren mehrfach zu finden ist, bildet auch für Lichtwark die Unterscheidung der niederländischen Kunst von italienisch bestimmten Traditionen den Einstieg in seinen Text, eine Oppositionsstellung, die er als Folge der eigenständigen gesellschaflichen Entwicklung der Niederlande beschreibt. Während die italienische Kunst sich um das religiöse Kultbild entfalte,
stehe in den Niederlanden das Porträt, besonders das Gruppenporträt, im Zentrum der Entwicklung, und mit diesem die Möglichkeit, ja der Zwang zur Individualisierung. Lichtwark
betont den Unterschied zu den „Kultbildern, an denen die italienische Kunst groß geworden
ist“ (Lichtwark 1917 [1885], 266):
„An der Stelle der Heiligen mit idealer Existenz und idealer Schönheit stand der schlichte Bürger
mit all seinen Unvollkommenheiten, aber auch mit seinem individuellen Leben. Er selbst und seine
Genossen saßen über dem Maler zu Gericht und ließen keinerlei Idealisierung durch. Was wußten
sie auch in ihrer entlegenen Heimat von idealer Form? Sie wollten auf dem Bilde in ungeschminkter Wirklichkeit dastehen, wollten zu erkennen sein. In den meisten Fällen sind uns ihre Namen bis
heute aufbewahrt. Was ist gegen diesen streng kontrollierten Realismus das Naturstudium des italienischen Künstlers der Frührenaissance? Mochte er auch einmal seinem Heiligen den charakteristischen Kopf eines guten Freundes, einer hervorragenden Persönlichkeit aufsetzen - der Heilige
verlangte auf die Dauer gebieterisch eine ideale Verallgemeinerung.“ (Lichtwark 1917 [1885], 266)
Aus dieser Passage spricht eine Polarisierung des Individuellen mit dem Idealen, die zunächst
ungewöhnlich erscheint, wird doch in den Texten sonst meist dem Idealen das Reale gegenüber gestellt, auch dieses verknüpft mit ‘dem Italienischen‘ beziehungsweise ‘dem Niederländischen‘. Bei Lichtwark werden die beiden Begriffe jedoch als Entsprechungen auf unterschiedlichen Ebenen verwendet. Individualisierung des Porträts erscheint als eine Variante
des künstlerischen Realismus, sogar eines „streng kontrollierten Realismus“. In der Kontrolle
der Ähnlichkeit der Porträts durch das Kollektiv offenbart sich dieser Realismus als Reaktion,
indem er sich deutlich gegen etwas wendet: Sie „ließen keinerlei Idealisierung durch“.
Idealismus und Realismus stehen einander gegenüber, ein gewohntes Muster, jedoch, verglichen mit der akademischen Position eines Jacob Burckhardt, in veränderter Wertigkeit. Dabei
sind selbst in Lichtwarks Text noch Spuren einer Realismuskritik Burckhardtscher Prägung
zu erkennen. Wenn er als Grund für die anti-idealistische Haltung der porträtierten Bürger
fragt: „Was wußten sie auch in ihrer entlegenen Heimat von idealer Form?“, führt er die Naivität als Argument zugunsten des Realismus‘ an. In ähnlicher Weise hatten klassizistische
Autoren realistische Stilerscheinungen aus der mangelnden Bildung der Maler begründet und
eben deshalb kritisiert (Emmens 1968, 30 ff.). Wir sehen hier erneut, daß Lichtwark traditionelle Unterscheidungsschemata übernimmt und lediglich deren Bewertung ändert.
99
Diese Beispiele deutschsprachiger Autoren zwischen 1837 und 1886 stimmen mit ihren französischen Zeitgenossen insofern überein, als sie Rembrandt als integralen Bestandteil der Gesellschaft seiner Zeit verstehen. Differenzen finden sich lediglich bei der politischen Bewertung dieser republikanischen Position, wobei der aktive Revolutionär Theophile Thoré und
der konservative Franz Kugler vermutlich die Extrempositionen unter den hier zitierten Autoren markieren. Für alle gilt jedoch, daß der Künstler in das Gefüge eines mehr oder weniger
utopischen Gesellschaftsentwurfes integriert wird, daß er als Bürger in die gemeinschaftliche
Ordnung eingebunden ist und sowohl sein Handeln als auch die Gesetze, nach denen es sich
vollzieht, in Entsprechung zum Handeln der anderen freien Bürger einer selbständigen Nation
stehen. Die bürgerliche Gesellschaft und das Feudalsystem stehen sich gegenüber. In den republikanisch orientierten Beispielen wird die politische Aktivität des Bürgers dabei zugleich
als Recht und Pflicht verstanden; sie stellt ein Gebot der Natur, der Vernunft und des Verantwortungsbewußtseins dar. Die Einbindung des Einzelnen in das gesellschaftliche Kollektiv
wird positiv bewertet, und das Handeln des freien Künstlerindividuums fungiert als Beispiel
dafür.
Im weiteren Verlauf der Rembrandtrezeption läßt sich eine Verschiebung dieser Position erkennen. In der deutschen Rembrandtliteratur der Jahrhundertwende, die nun zum Gegenstand
einer systematischen Analyse werden soll, ist von einem harmonischen Eingebundensein des
Künstlers in eine Gesellschaft freier Bürger kaum noch etwas zu finden. Der Begriff des Individualismus steht hier nicht länger im Kontext einer Abgrenzung bürgerlicher Vorstellungen
nach außen (‘Bürgertum vs. Feudalismus’), er fungiert nun vielmehr als Element einer Differenzierung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Wie ich am Beispiel Fromentins bereits
andeutete, kommt es zu einer Privatisierung des Künstlers, die in der Literatur der Jahrhundertmitte noch kein relevantes Thema darstellte. Nun jedoch wird die Kommunikation über
die Künstlerfigur Rembrandt nach Maßgabe einer zentralen Codierung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft gebildet: der Unterscheidung zwischen ‘öffentlich‘ und ‘privat’. Wo das
Verhältnis des Künstlers zur Gesellschaft beschrieben ist, steht er nicht mehr als Angehöriger
des Bürgertums positiv gegen die adlige Feudalherrschaft, sondern als idealer Vertreter des
autonomen Individuums gegen eine negativ bewertete ‘Gesellschaft’.72
72
Diese diskursive Positionierung hat in sozialgeschichtlichen Darstellungen immer wieder, zuletzt bei Ruppert
(1998), zur Einstufung des Künstlers als eines ‘Außenseiters der bürgerlichen Gesellschaft‘ geführt. Wenn wir
den Künstler jedoch nicht primär als ‘soziales Faktum’, sondern als diskursive Figur beschreiben, erkennen wir
in seiner scheinbaren ‘Ausgrenzung’ lediglich eine Ableitung der Unterscheidung zwischen ‘öffentlichen‘ und
‘privaten’ Orten, Gütern oder Verhaltensweisen. Der Künstler erscheint somit nicht als vom Bürger abgegrenztes
‘Anderes’, sondern als eine Indentifikationsfigur des Bürgers, die den elementaren Konflikt zwischen öffentlicher und privater Existenz exemplarisch auslebt.
100
Der erste Schritt meiner Analyse des Feldes der deutschen Rembrandtrezeption um 1900 wird
sich auf die Praxis der Unterscheidung der Werke des Künstlers nach dem Code ‘Auftrag vs.
Autonomie‘ konzentrieren. Ich vertrete dabei die Ansicht, daß diese Unterscheidung eine Paraphrase des gesellschaftskonstitutiven Codes ‘öffentlich vs. privat‘ darstellt.
101
102
2 Analyse
2.1 Kunstschaffen
2.1.1 Die Unterscheidung des Werks nach dem Code ‘Auftrag vs. Autonomie‘
In seiner 40-seitigen Besprechung der großen Amsterdamer Rembrandt-Ausstellung von 1898
für die Deutsche Rundschau trifft der Historiker Otto Seeck innerhalb der Rembrandtschen
Bildniskunst eine im kunsthistorischen Sprachgebrauch geläufige Unterscheidung zwischen
‘eigentlichen Bildnissen‘ (Auftragsporträts) und ‘Studienköpfen‘. Zu letzteren zählt er, neben
Bildnissen von Familienmitgliedern, auch die Selbstbildnisse Rembrandts. Er unterscheidet
diese beiden Bildnistypen zunächst hinsichtlich ihrer Ausführung und Stilistik und dann auch
in Bezug auf die Motivation, der ihre Entstehung zu verdanken ist:
„Was diesen [Studienkopf] für uns bezeichnet, ist eben nur, daß er nicht auf Bestellung gemalt ist,
sondern als freier Ausfluß künstlerischer Laune. Fand sich ein zahlungsfähiger Mann, dem eines
dieser farbenreichen schönen Bilder gefiel, so besann sich Rembrandt gewiß nicht, sein eigenes
derbes Gesicht oder auch die weichen Züge seiner Saskia für gutes Geld wegzugeben. Hätten doch
die Wände seiner Wohnung gar nicht den Raum geboten, um alle Exemplare dieser beiden Köpfe,
die es ihn immer wieder nachzubilden drängte, darauf unterzubringen. Aber was ihn zu dieser Art
der Malerei trieb, war nicht das Bedürfnis nach Gelderwerb - dieses ließ sich auf andere Weise viel
besser befriedigen - , sondern die nie ermüdende Freude am Gegenstande.“ (Seeck 1898, 41 f.)
Die Studienköpfe entstehen demnach aus „Freude am Gegenstande“ und für den Hausgebrauch. Ihre Produktion ist nicht auf die Nachfrage zugeschnitten; ihr Verkauf ist nicht vorgesehen, bei entsprechendem Interesse jedoch auch nicht ausgeschlossen. Diese Bildgattung der
Studienköpfe formt bei Seeck einen Gegenpol zu der direkt am „Gelderwerb“ orientierten
Malerei. Kunstproduktion ist demnach nicht prinzipiell marktabhängig, sie k a n n dies jedoch
sein. Aufgrund dieser Unterscheidung ist Rembrandt nicht als bloßer Handwerker anzusehen,
selbst wenn er seine Fähigkeiten a u c h für den Gelderwerb nutzte. Denn außerhalb des
Marktgeschehens „drängte“ es ihn, „trieb“ es ihn mit „nie ermüdende[r] Freude“ zum Malen.
Zu diesem inneren Zwang kam der äußere Zwang existentieller Art hinzu:
„Der junge Mann hatte sich schon mit fünfundzwanzig Jahren einen Hausstand gegründet; er sammelte Kunstwerke, kostbare Kleiderstoffe, blankes Geräth und glänzendes Geschmeide, schon weil
er dessen für seinen Beruf bedurfte, und mit dem Gelde haushalten hat er niemals lernen können.
So galt es denn verdienen und zwar recht viel, wozu die Bildnismalerei damals wie heute das geeignetste Mittel war. Zum Glück war er früh in Mode gekommen; aber wenn er sich die Gunst des
Publikums erhalten wollte, mußte er auf dessen Wünsche Rücksicht nehmen.“ (Seeck 1898, 42)
103
Der äußere Zwang besteht zunächst aus der reinen Existenzsicherung, dazu kommt die Sammellust Rembrandts, die zum Teil durch einen Teufelskreis begründet wird: Bedarf an glänzendem Geschmeide zum Malen - Bedarf an Geld zum Erwerb glänzenden Geschmeides Malen zum Gelderwerb. In diesem Zusammenhang reflektiert Seeck auch die Aktualität der
Phänomene „Gunst des Publikums“ und „Mode“, indem er „damals“ und „heute“ vergleicht.
Bis zu diesem Punkt hat Seeck jedoch die Unterscheidung des Werkes lediglich neutral beschrieben, ohne eine Wertung damit zu verbinden. Bevor er dies tut, führt er die Differenz
zwischen ökonomisch motivierter Produktion und freiem Arbeiten zunächst weiter aus.
„Der Unterschied dessen, was wir Studienköpfe nennen, und der eigentlichen Bildnisse, besteht
also wesentlich darin, daß diese gemalt sind, wie Rembrandt's Kunden es verlangten, jene, wie sein
eigenes Herz ihn trieb. Dieser Unterschied aber ist so groß, daß man Bildnisse, die nach ihrer erhaltenen Datierung demselben Jahre angehören, nach ihrem äußeren Eindrucke, je nachdem sie
Studien oder wirklich Porträts sind, ganz verschiedenen Stilperioden, ja selbst ganz verschiedenen
Meistern zuschreiben möchte; so wenig sehen sie einander ähnlich.“ (Seeck 1898, 42)
Die stilistischen Differenzen zwischen zeitgleich entstandenen Werken, die Rembrandt zuzuschreibenden sind, lassen sich für Seeck offenbar nicht harmonisch erklären. Er schließt daraus vielmehr auf einen Konflikt innerhalb der künstlerischen Praxis Rembrandts, die aufgespalten wird zwischen einer öffentlichen und einer privaten Orientierung. An diesem Konflikt
wird die Identität des Künstler problematisch: Sein Werk sieht sich selbst nicht mehr ähnlich.
Mit Blick auf die große Anzahl von Auftragsporträts in der Amsterdamer Ausstellung kommt
Seeck nun auch zu einer Bewertung jener beiden als widersprüchlich aufgefaßten Kunstpraxen:
„Niemals wieder wird man solche Gelegenheit haben, gerade diese Seite von Rembrandt's Thätigkeit in so umfassender Weise zu überblicken; und mag sie auch nicht gerade die erfreulichste sein,
die am Wenigsten interessante ist sie nicht. Wir sehen hier den Pegasus im Joche, aber es ist bewundernswerth, mit welchem Anstand er es zu tragen weiß.“ (Seeck 1898, 43)
„Diese Seite von Rembrandt’s Thätigkeit“ ist „nicht gerade die erfreulichste“. Dem Markt genügen zu müssen ist für Rembrandt, im Gegensatz zu den Familienbildnissen, keine „Freude“,
sondern ein Zwang, dem er wider Willen unterworfen wird.73 Das Bild vom „Pegasus im Joche“ indiziert, wie unpassend Seeck diese von äußeren Zwängen dominierte Praxis für einen
Künstler wie Rembrandt erscheint. Die im Auftrag entstandenen Arbeiten werden nicht als
73
Otto Seeck gewinnt aus der Unterscheidung des Werks nach dem Code ‘Auftrag vs. Autonomie‘ das Potential
für eine Verhaltensanweisung angesichts ökonomischer Zwänge. Wer das „Joch“ mit Anstand zu tragen weiß,
verhält sich „bewundernswert“. Wie so viele der hier behandelten Zitate, läßt sich diese Passage auch als metaphorische Spiegelung bürgerlicher Alltagsphänomene des ausgehenden 19. Jahrhunderts in der Beschreibung des
Künstlerdaseins im 17. Jahrhundert lesen.
104
gleichwertiger Bestandteil des künstlerischen Schaffens angesehen, sondern als ein notwendiges Übel; es haftet ihnen der Makel des Abhängigkeitsverhältnisses an, in dem der Künstler
bei ihrer Produktion stand. Die Unterscheidung zwischen Auftragsarbeit und autonomem
Kunstschaffen wird dabei von einer bloßen Benennung der Kontexte einzelner Werkentstehungen zu einem qualitativen Urteilskriterium. In dieser Weise durchzieht sie die Rembrandtliteratur der Jahrhundertwende als ein konstitutives Element.
Carl Neumann, Professor für Kunstgeschichte in Heidelberg, gibt zum Beispiel in seiner Bewertung der frühen Schaffensphase Rembrandts den Zeichnungen den Vorzug vor den ausgeführten Gemälden:
„In dem Maße, wie die Zeichnungen keine großen Gelegenheiten waren, bei denen der Künstle r
sich erhitzte, unöffentlich in der Art von Selbstgesprächen, sind die Zeichnungen der ersten Periode
vielen der gleichzeitigen größeren Werke überlegen.“ (Neumann 1918, 15)
In diesen „größeren Werke[n]“ des frühen Rembrandt, gemeint sind vor allem Historienbilder,
macht Neumann die „Überreste des Italianismus“ mit ihrem „falschen Pathos“ sowie den
„dramatischen Formwillen der Zeit“ aus (Neumann 1918, 14). Von diesen ‘schädlichen
Außeneinflüssen‘, von dieser Reibung mit der Gesellschaft die zu einer negativ konnotierten
‘Erhitzung‘ des Künstlers führt, seien die Zeichnungen, „unöffentlich in der Art von Selbstgesprächen“, frei.
Während Neumann die Unterscheidung der Werke Rembrandts nach dem Code ‘öffentlich vs.
privat‘ anschaulich an die technische Unterscheidung von Zeichnungen und „größeren Werke[n]“ koppelt, zieht Jan Veth (1906) auch innerhalb einer Technik, innerhalb der Gemälde,
eine qualitative Grenze. Die Plausibilität seiner Argumentation verstärkt er dabei ebenfalls
entlang des Codes ‘öffentlich vs. privat‘, indem er, ähnlich wie Seeck, Auftragsbildnisse von
Porträts aus Rembrandts Familienkreis unterscheidet. Im folgenden Zitat ist von einem Bildnis die Rede, das Veth zufolge, in Übereinstimmung mit zeitgenössischen Titelzuschreibungen, Rembrandts Vater zeigt:
„Ungezweifelt ist sich der Maler in diesem Liebhaberei-Porträt, in dem er sich im Vergleich zu den
Auftragsbildnissen freier bewegen konnte, ein ganzes Stück, ja Jahre voraus. In die sem Werk eines
gerade Fünfundzwanzigjährigen spürt man die Klaue des Löwen, sieht man den Mann der, obwohl
er die Anatomie des Dr. Tulp erst noch vor sich hat, die Nachtwache bereits erahnen läßt.“ (Veth
1906, 32)74
74
„Ongetwijfeld is de schilder zich in dit liefhebberij-portret, waarmee hij zich vrijer bewegen kon, bij zijn bestelportretten vergeleken, een heel eind, ja jaren vooruit. In dit werk van den nog maar vijf-en-twintig-jarigen
bespeurt men de klauw van den leeuw, ziet men den man die, ofschoon hij de Anatomische Les nog voor de
105
Bei Veth wie bei Neumann ist, im internen Wettbewerb des ‘gespaltenen Rembrandt’, der private Maler dem öffentlichen „überlegen“ bzw. um „Jahre voraus“. Dieser Darstellung zufolge
wird dem Maler im Rahmen einer konventionellen, professionellen Berufsausübung eine Einschränkung seiner Freiheit auferlegt, die der Qualität abträglich ist. Die ‘reiferen’ Werke entstehen aus „Liebhaberei“.75 Einer derartigen Einschätzung liegt unausgesprochen die Vorstellung von der Gesellschaft als einer Korsettierung des Individuums zugrunde. Das Verhältnis
des Einzelnen zu seiner sozialen Umwelt wird als Konfliktsituation verstanden; nur außerhalb
der Öffentlichkeit kann sich das Individuum frei entfalten, das heißt hier: Nur im privaten Innenraum kann sich die ‘wahre’ Gestalt des Künstlers zeigen.
Ein weiteres Beispiel für diese Zweiteilung des Werks: In der Einleitung zum Werkkatalog
der Gemälde Rembrandts, der 1904 in der Reihe Klassiker der Kunst erschien, unterscheidet
der Kunstschriftsteller Adolf Rosenberg ebenfalls klar zwischen Auftrag und Autonomie.
Demnach verlangt die Auftragsarbeit vom Künstler eine Anpassung an von außen kommende
Anforderungen:
„Bisher hatte er nur seine nächsten Verwandten (...) porträtiert, und diese mußten es sich gefallen
lassen, daß er mit ihnen nach seiner künstlerischen Laune umsprang und sie als Versuchsobjekte
für seine Beleuchtungsstudien benutzte, ohne sich um die gemeine Ähnlichkeit zu kümmern. Jetzt,
wo die Aufträge kamen, mußte er sich den Wünschen seiner Besteller anbequemen.“ (Rosenberg
1904, XVII)
Der Autor legt jedoch Wert darauf, daß sich der Künstler für die Auftragsarbeiten nicht ‘verstellt’ habe, sondern sie als lehrreiche Aufgabe und finanzielle Notwendigkeit betrachtete und
insofern auch ernst nahm. In der direkten Fortsetzung des Zitates kritisiert Rosenberg spöttisch die Abwertung der künstlerischen Qualität der Auftragsarbeiten, wie sie in Texten seiner
Kollegen vorzufinden ist:
„Gleichwohl ist den zahlreichen Bildnissen, die in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre entstanden
sind, nicht anzusehen, daß er sie mit Unlust oder gar mit Widerwillen ausgeführt hätte, nur weil er
etwa nicht nach seiner eigenen Laune mit den Modellen schalten und walten konnte. Im Gegenteil,
fast alle diese Bildnisse zeichnen sich durch eine überaus große Sorgfalt der Ausführung in allen
Einzelheiten (...) aus, so (...) daß man noch jetzt mit einer gewissen Mißachtung von dem ‘Modemaler‘ spricht, der sich mit Verleugnung seines eigentümlichen Naturells um des schnöden Erwerbs willen dem herrschenden Zeitgeschmack anbequemt hätte. Wenn er dann wieder ‘ganz
borst heeft, de Nachtwacht al vóórgevoelt.“ (Veth 1906, 32).
75
Hier sei auf eine weitere begriffliche Paraphrase des Codes ‘öffentlich vs. privat‘ hingewiesen, die Unterscheidung des zweckgerichteten ‘Professionellen‘ und des lustvollen ‘Amateurs‘.
106
Rembrandt‘ sein wollte, hätte er sich erfrischt, indem er mythologische Bilder in romantisch phantastischem Stil (...) malte. Das ist eine durchaus irrige Auffassung. Sein Ehrgeiz trieb ihn vielmehr,
unmittelbar mit de Keijser zu wetteifern (...) und ihn dann möglichst nach allen Richtungen hin zu
übertreffen.“ (Rosenberg 1904, XVII)
Rembrandt wollte sich also nicht „anbequem[en]“, sondern sich mit den erfolgreichsten
Künstlern seiner Zeit messen und diese übertreffen. Rosenberg, der hier seinerseits den Diskurs beobachtet und dabei die Unterscheidung zwischen Auftrag und Autonomie bemerkt,
richtet seinen Widerspruch nicht prinzipiell gegen diese Einteilung, sondern gegen deren
scharf wertende Aufladung. Sein junger Rembrandt vermag es, die eigene „Laune“ angesichts
der Porträtaufträge zu unterdrücken, ohne seine Berufung zu verraten; er kann Aufträge mit
Gewinn erfüllen, indem er nicht nur davon lebt, sondern auch daraus lernt. Die Polarität zwischen Auftrag und autonomem Werk ist dadurch nicht angetastet. Vielmehr deutet sich hier
eine Narrativierung des Problems an, das Konzept einer Entwicklung des Künstlers, das uns
noch beschäftigen wird. Die grundlegende Spannung zwischen Autonomiestreben und Auftragszwängen tritt in Rosenbergs Deutung erst im Laufe der Jahre in Erscheinung:
„(...) nachdem sie [Saskia, M.H.] erst in Rembrandts Haus eingezogen war, um ihm fast ein Jahrzehnt lang als liebstes Modell zu dienen, schaltete er in souveräner Künstlerlaune mit ihr, wie er es
mit seinem eigenen Ich gewohnt war. Schon auf dem Kasseler Bilde hat er sie mit einem phantastischen Kostüm nach eigenem Geschmack und eigener Zusammenstellung herausgeputzt, das in seiner heiteren Farbenpracht in schroffem Gegensatz zu der steifen, farb- und reizlosen Tracht steht,
in der sich die Frauen der reichen Handelsherren malen ließen. Mochten sie es immerhin! Rembrandt erhielt um diese Zeit 200 bis 300 Gulden für jedes Bildnis, und er brauchte das Geld, da es
ihn danach lüstete, seinen jungen Hausstand auf einen großen Fuß zu stellen oder doch wenigstens
sein junges Glück in Juwelen zu fassen.“ (Rosenberg 1904, XX f.)
Rembrandt toleriert den Geschmack der Besteller, da er sich dadurch seinen eigenen Geschmack leisten kann, dem er dann im Bilde Ausdruck verleiht. Wie wir sehen werden, ist
diese Toleranz ein zeitlich begrenztes Phänomen, das mit der Jugend Rembrandts zu erklären
ist. Sein Reifen zum vollkommenen Künstler verändert auch seine Ansprüche an die Auftragswerke. Und bei der Nachtwache bricht dann, nach Rosenberg, der Graben zwischen
Auftrag und Autonomie auf:
„In dem seit jener Zeit [seit der Anatomie des Dr. Tulp, M.H.] verflossenen Jahrzehnt war er aber
ein völlig anderer geworden. Wie er sich innerlich zu voller künstlerischer Freiheit hindurchgerungen hatte, so glaubte er sich auch äußerlich seinen Auftraggebern gegenüber jede Freiheit erlauben
zu dürfen. Die Zeit war vorüber, wo er sich bei den Bildnissen dem Geschmack der Besteller fügen
mußte. Jetzt wollte er einmal den Amsterdamern, insbesondere auch seinen Kunstgenossen zeigen,
107
wie man derartige Schützenbilder anfassen mußte, um etwas anderes, Besseres daraus zu machen,
als es die Maler bisher vermocht, die sich meist mit der Darstellung von langweiligen Musterungen
oder im besten Falle von Schützenmahlzeiten begnügt und ihre Aufgaben auch zu allgemeiner Zufriedenheit gelöst hatten, wenn nur jeder Teilnehmer dabei recht ähnlich herauskam.“ (Rosenberg
1904, XXVI)
In dieser Passage wird die Polarität mit einer Wertung verbunden. Es geht Rosenberg zwar
nach wie vor nicht um eine harte Differenzierung von ‘gut‘ und ‘schlecht’, aber um die von
„künstlerischer Freiheit“ und „allgemeiner Zufriedenheit“, wobei das ‘Bessere‘ deutlich benannt wird. Die sanfte Unterscheidung des Werks in gute und bessere Kunst dient demnach
lediglich zur Vorbereitung auf die eigentliche Abspaltung, die sich im chronologischen Verlauf von Rembrandts Leben und Schaffen einstellt: die Abspaltung des autonomen Künstlers
von der Gesellschaft. Zur Nachtwache schreibt Rosenberg:
„(...) Rembrandt wollte eben trotz der phantastischen Grundstimmung des Bildes einen Ausschnitt
aus dem Leben von unmittelbarer Naturwahrheit geben, und dieser seiner höchsten künstlerischen
Absicht opferte er alle Rücksichten auf die persönliche Eitelkeit der Porträtierten. (...) Dieses Gemälde, das wir heute als eine der höchsten Offenbarungen des malerischen Genies verehren, ist von
den Zeitgenossen seines Schöpfers, insbesondere aber von den Bestellern, bei weitem nicht in gleichem Maße gewürdigt worden. Es erregte im Gegenteil unter den zunächst Beteiligten eine so allgemeine Unzufriedenheit, daß Rembrandts ganze Malerei in Mißkredit kam und die Gunst des Amsterdamer Publikums sich ebenso schnell von ihm abwandte, wie sie ihm zehn Jahre früher zugeflogen war.“ (Rosenberg 1904, XXVII)
Der Konflikt zwischen der gesellschaftlichen Repräsentationsfunktion des Porträtbildes und
der „höchsten“, das heißt der autonom künstlerischen Absicht Rembrandts bricht aus, als der
Künstler sich, ausgerechnet bei seinem größten Auftrag, nicht zur Gesellschaft, sondern zur
Kunst bekennt. Diese dramaturgische Zuspitzung ist zur Zeit von Rosenbergs Text bereits ein
Topos der Rembrandtliteratur. Wo die künstlerische Entwicklung Rembrandts als eine Befreiungsgeschichte des Künstlers von den Zwängen der Gesellschaft erzählt wird, kommt der
Nachtwache häufig die Rolle einer ‘Unabhängigkeitserklärung’ zu. Sie gilt dann als größtes
Wagnis und radikalste künstlerische Äußerung, sie löst dann zugleich den wirtschaftlichen
Niedergang Rembrandts und seinen postumen Ruhm aus. Der Entstehung dieses Topos und
seinen Variationen ist im dritten Teil der Arbeit eine eigene Fallstudie gewidmet. Vorerst sei
an dieser Stelle nochmals die Praxis der Unterscheidung betont, mittels derer das gesamte
Werk Rembrandts in ‘abhängige‘ und ‘autonome‘ Arbeiten aufgeteilt wird.
Dieser Sicht zufolge gibt es unter den eigenhändigen Werken des Künstlers solche, deren Gestaltung mit Blick auf das Publikum ausgeführt wurde, und solche, in denen der Künstler al108
lein seinen eigenen Maßstäben Rechenschaft schuldig war. Mit dieser Unterscheidung wird
auf der Ebene des Werks die Differenzierung zwischen einem äußeren Rembrandt (öffentliche
Person, ‘Mensch‘, Auftragsmaler) und einem inneren Rembrandt (Privatperson, autonomer
Künstler) wiederholt. Die auftragsbezogenen Arbeiten werden dabei durchaus weiterhin zum
‘Werk‘ des Künstlers gezählt, gelten jedoch nicht als Schlüssel zum Innersten desselben (Charakter, Wesen, Seele), sondern dienen der Veranschaulichung des Konfliktes zwischen dem
autonomen Individuum und der Gesellschaft. Im Kontext der Diskussion hermeneutischer
Methodik am Ende dieses Abschnittes wird auf diese Thematik zurückzukommen sein. Zunächst möchte ich jedoch die Behandlung der beiden Seiten dieser Unterscheidung in der Literatur weiter verfolgen. Die Darstellung von Rembrandts Verhältnis zu seinen Auftraggebern
soll dabei den Anfang machen.
2.1.2 Rembrandts Verhältnis zur Auftragsarbeit
Stellt man der wertenden Unterscheidung zwischen autonomem Kunstschaffen und Auftragsarbeit die große Zahl der Rembrandt zugeschriebenen Porträts entgegen, so drängt sich die
Frage auf, ob die Erhebung des Holländers zu einer Idealgestalt künstlerischer Autonomie
nicht einen allzu offensichtlichen Widerspruch produzieren mußte. In den untersuchten Texten schlägt sich dieses Problem unter anderem in der Schilderung der Spannungen nieder, die
der Künstler seinen Auftragsarbeiten und deren Bestellern entgegengebracht habe. Die folgenden Zitate sollen diese Facette der Arbeit an ‘Rembrandts Autonomie‘ illustrieren. Sie
setzen sich primär mit Porträtaufträgen auseinander, denn es war vor allem diese Bildgattung,
die während der hier untersuchten Rezeptionsphase als marktorientierte Auftragskunst wahrgenommen wurde.76 Problematisiert werden dabei besonders die Arbeiten der als ökonomisch
und gesellschaftlich erfolgreich geltenden Amsterdamer Jahre des Künstlers (ca. 1630-1650).
Hinsichtlich der Biographie herrschte hier der Konsens, daß sich Rembrandt zunächst als Porträtmaler einen Namen gemacht habe, daß er sich aber mehr und mehr vom Porträt abgewandt
habe und daß seine bedeutendste Schaffensphase, das Spätwerk, schließlich im wirtschaftlichen und künstlerischen Konflikt mit seinen Zeitgenossen entstanden sei. Im Hinblick auf das
Idealbild vom autonomen Kunstschaffen bereiteten die Auftragsarbeiten dieser frühen Amsterdamer Jahre vielen Autoren Probleme, da sie Rembrandt hier als glückliches und erfolgreiches Mitglied der „vornehmen Gesellschaft Amsterdams“ (Neumann 1902) sahen - ein
76
Über ökonomische Hintergründe anderer Bildgattungen, der Historienbilder, der historisierenden oder
allegorisierenden Rollenporträts in denen z.B. Saskia als Modell fungiert haben könnte, oder der Selbstbildnisse,
werden nur in Einzelfällen Überlegungen angestellt. In der Regel wird es offenbar als selbstverständlich erachtet,
daß hier, um einen häufig verwendeten Ausdruck jener Zeit zu benutzen, ‘rein künstlerische‘ Motivationen
vorlägen.
109
Umstand, von dem sich die zitierten Kunsthistoriker und Literaten in der Regel mit eigenen
Augen ein Urteil gebildet hatten: Die große Zahl der Auftragsporträts in der Amsterdamer
Ausstellung von 1898 ließ daran wenig Zweifel.77 Wie am Beispiel Rosenbergs demonstriert,
wurde dieser Problematik zum Teil durch die Errichtung einer Narration entgegengewirkt, die
Rembrandts frühen Erfolg als ein Durchgangsstadium beschreibt, als eine Höhe äußerlichen
Glanzes, welche durch innerlich reinigende Schicksalsschläge zur seelischen Tiefe des Spätwerks führt. Dieses Erzählmodell, das letztlich auch umfangreicheren Monographien, etwa
der Carl Neumanns (1902), zugrunde liegt, stellt die Erfolgsjahre also in den Zusammenhang
eines sinnstiftend dramatisierten Lebenslaufes.78 Damit wird der Stellenwert der Auftragsporträts für die Bewertung der Kunst Rembrandts insgesamt reduziert.
Wo dieser ökonomische Entstehungskontext dennoch konstatiert wird, steht neben der Würdigung der Auftragsbildnisse - vor allem für ihre technische Brillanz - immer wieder der
Verweis auf Zukünftiges. Dem Eindruck harmonischer Verhältnisse zwischen Künstler und
Gesellschaft wird durch die Andeutung eines elementaren Konfliktes entgegengewirkt.
Grundlegend ist dabei die Vorstellung von der Unabhängigkeit Rembrandts in seinen künstlerischen Entscheidungen.
Schon kurz nachdem Rembrandt sich als Porträtmaler in Amsterdam etabliert hat, sieht Wilhelm Bode (1883) in dessen Werken eine Tendenz zur Selbstermächtigung:
„Das eigentliche Porträt sehen wir fast ausschließlich auf den Kreis der Freunde und Verwandten
des Meisters beschränkt. Und selbst wenn er ausnahmsweise einen vornehmen Gönner oder einen
durchreisenden Fürsten zu malen übernimmt, so kleidet, posiert und malt er ihn fast immer nach
seinem künstlerischen Gutdünken (...).“ (Bode 1883, 442)
Bode privatisiert die Rembrandt zugeschriebenen Bildnisse, indem er in den „eigentliche[n]
Porträt[s]“ vor allem Freunde und Verwandte erkennen will. Diese Werke fallen damit nicht
länger in die Kategorie der Aufträge oder sonstiger an Markt und Geld orientierter Produkte.
Das von Fremden bestellte Porträt wird als Ausnahme dargestellt. Zudem nobilitiert der Autor
das Feld der potentiellen Kunden und entkleidet den Akt des bezahlten Malens seiner ‘Banalität‘ und seines Handwerkscharakters. Bode legt Wert auf die Feststellung, daß die Auftraggeber dem Künstler nichts diktiert hätten, daß dieser vielmehr „nach seinem künstlerischen
Gutdünken“ habe schalten können. Zudem verschärft sich, nach Bode, im Lauf der Zeit die
Widerspenstigkeit Rembrandts im Umgang mit porträtwilliger Kundschaft:
77
Vgl. die Rezension Weizsäckers (1899). Vgl. auch das Zitat von Otto Seeck im vorausgegangenen Abschnitt
dieser Arbeit (Seeck 1898, 43).
78
Wie im Abschnitt zum ‘Künstlerleben‘ zu zeigen sein wird, ist aber zugleich eine Tendenz zur Reduktion des
Umfanges marktorientierter Bildnisproduktion zu beobachten.
110
„Bildnisse finden wir auch in dieser Epoche des Künstlers zahlreich vertreten; aber wie schon in
den ersten Jahren nach seiner Verheiratung, so verschmäht es der Künstler auch jetzt, jedem Fremden, der ihm gut bezahlte, eine Sitzung zu bewilligen oder sich gar bei der Anordnung oder Ausführung des Bildes dreinreden zu lassen. Die Bildnisse dieser Zeit, die uns bekannte Persönlichkeiten vorführen - und solche bilden die Mehrzahl -, zeigen den Künstler selbst, seine Gattin, seine
Verwandten, Freunde und Gönner. Und auch unter den uns bisher nicht bekannten Personen werden wir vielleicht in den meisten Fällen dem Künstler Nahestehende vermuten dürfen (...).“ (Bode
1883, 454)
Wiederum entzieht Bode das Schaffen des Künstlers den öffentlichen Einflußnahmen und
verlagert es ins Private.79 Zugleich stellt er das Verhältnis zwischen Auftraggeber und
Künstler als ein grundsätzlich prekäres dar; die Bezahlung der Leistung des Künstlers
erscheint wie eine Profanisierung, seine Einwilligung in die Porträtsitzung wie eine
Erniedrigung, deren Verschlimmerung sich in der Neigung der Porträtierten zum ‘Dreinreden‘
äußert. Aus einer ähnlichen Situation heraus erklärt Adolf Rosenberg (1904) die Entstehung
des Porträts der Elisabeth Bas, dessen naturalistische Bildgestalt ihm nicht in die eher
phantastische Stilphase Rembrandts zu passen scheint:
„Hier ist Rembrandt ohne einer phantastischen Laune zu folgen, wieder einmal mit strengster Objektivität der Natur nachgegangen. Die alte Dame war aber auch, wie ihr energischer Zug um die
fest geschlossenen, schmalen Lippen erkennen läßt, ganz dazu angetan, dem Maler eine gebundene
Marschroute vorzuschreiben: So will ich’s und nicht anders! Wenn es der Fall gewesen, hat dem
Künstler in diesem Falle der Zwang nicht geschadet. Mit unvergleichlicher Kunst hat er in dem
Antlitz der Greisin widergespiegelt, was ein langes Leben voll Freude und Trübsal in ihr Herz geschrieben!“ (Rosenberg 1904, XXX) 80
79
Bodes Privatisierungsbestrebungen gingen so weit, daß er aus der begüterten Herkunft Saskias darauf schloß,
Rembrandt habe durch seine Heirat vorübergehend eine weitgehende finanzielle Unabhängigkeit erreicht. Saskia
brachte 40 000 Gulden in die Ehe mit. Bode folgert: „Dadurch war der Künstler in den Stand gesetzt, auf die
zwar einträgliche, aber einförmige und namentlich den Launen der Besteller unterworfene Bildnismalerei zu
verzichten (...) und ausschließlich aus dem inneren Bedürfnis heraus zu schaffen.“ (Bode 1883, 416) Obwohl
Bode diese Darstellungen mit einiger Vorsicht handhabte, fiel seine These von der heiratsbedingten
Unabhängigkeit des Künstlers auf fruchtbaren Boden (Z.B. Seeck 1898, 48). Bei manchen der nachfolgenden
Autoren konnte die Abneigung Rembrandts gegen die Auftragsarbeit schon einmal radikaler ausfallen. So
schreibt Franz von Reber (Kunsthistoriker an der Alten Pinakotek in München) 1894: „Das Vermögen Saskias
hatte überdies den Meister in die Lage gesetzt, die Kunst nicht mehr in erster Linie auf den Erwerb zu treiben.
Deshalb werden die Bildnisse jetzt seltener, wenn nicht besondere Verhältnisse ihn zur Porträtarbeit bestimmten
(...). Das eigentliche Bildnis als Bestellarbeit hassend, weil es seine Phantasie wie seine künstlerischen Absichten
in Fesseln schlug, wendete er sich lieber biblischen und mythologischen Stoffen zu.“ (Reber 1894, 337).
80
Rosenbergs Eindruck, daß dieses Bildnis nicht in die entsprechende stilistische Phase Rembrandts passe,
schließt sich die nachfolgende Rezeptionsgeschichte an: 1912 wird das Bild zum Gegenstand eines Expertenstreits zwischen Abraham Bredius, der es dem Rembrandt-Schüler Ferdinand Bol zuschreibt, und Cornelis Hofstede de Groot, der es weiterhin als Werk Rembrandts ansieht. Heute hat sich die Einschätzung Bredius‘ durchgesetzt (vgl. Boomgaard 1995, 124 f.).
111
Von seiner persönlichen Einschätzung des Charakters der Porträtierten, welchen er aus deren
Erscheinung im Porträt ableitet, schließt Rosenberg auf ihr Verhalten als Auftraggeberin. Die
Struktur, die Künstler und Auftraggeberin in diesem Fall verbindet, wird dabei deutlich als
Machtverhältnis geschildert, in dem die Zahlende dem Beauftragten Kommandos erteilt.
Würde man solche Verhältnisse als Regelfall der Kunstpraxis Rembrandts angenehmen, so
könnte die Kunst nicht länger als Idealwelt fungieren und der Künstler büßte seine Position
als Symbolfigur autonomer Subjektivität ein. Statt dessen würden sich darin gesellschaftliche
Ordnungsprinzipien der Gegenwart des wilhelminischen Deutschland spiegeln, wie sie in
Wirtschaft, Militär und Regierungsstruktur ihren Ausdruck fanden. Von derartigen Machtprinzipien wollten die Autoren den Künstler und sein Schaffen jedoch offenbar entbinden. In
der Regel wird statt dessen betont, daß sich Rembrandt bei der Ausführung von Aufträgen
souverän über die Wünsche der Besteller hinweggesetzt habe. So schreibt Carl Neumann
1902:
„Die Menschen kommen, geben ihm Aufträge, nennen ihm ein wohlumschriebenes Thema: einerlei, er macht etwas anderes daraus, er verwandelt, er läßt den Strom seiner künstlerischen Leidenschaft darüber fließen.“ (Neumann 1902, 334)
Selbst bei der Umarbeitung eines radierten Porträts in ein Gemälde konnte man, so Jan Veth
(1906a), den mit Rembrandt getroffenen Absprachen nicht vertrauen:
„Aber wenn er einem andern, und noch dazu kontraktlich, zusagte, sein Porträt genau so auszuführen wie jene Platte, so wurde solch frommer Plan niemals verwirklicht. Sich wiederholen war ihm
zu allen Zeiten ein Greuel.“ (Veth 1906a, 36)
Daraus resultiert noch bei Eberhardt Hanfstaengl (1939) die Vorstellung von einem Vertrauensverlust des Künstlers bei seiner zahlenden Kundschaft:
„Bei aller Hochschätzung für sein Können, man empfindet ihn als eigenwillig und unberechenbar,
der ‘Ordnung‘ widerstrebend und immer wieder muß man die Erfahrung machen, daß er in Erledigung eines Auftrages oder geldlicher Angelegenheiten enttäuscht.“ (Hanfstaengl 1939, 7 f.)
Kehren wir zum Problem der Bewertung auftragsgebundener Arbeiten Rembrandts durch
seine späten Rezensenten, die Autoren der Jahrzehnte um 1900, zurück. Wie vermochten es
diese, die Ausführung und Erscheinung der fraglichen Bilder trotz des vermeintlichen Makels
der wirtschaftlichen Zusammenhänge ihrer Entstehung nicht zu verwerfen? Wesentliche
Strategie war es hier, die Bedeutung des Auftragsverhältnisses für Fragen der konkreten Bildgestaltung zu minimieren. Cornelius Gurlitt findet in seinem Handbuch zur Geschichte der
112
Kunst (1902) zu einer hohen Wertschätzung der Porträtkunst Rembrandts, stellt diese jedoch
in Abhängigkeit zu einer freien Modellwahl:
„In seinen Einzelbildnissen steht Rembrandt auf der höchsten Stufe der Menschendarstellung. Aber
er erhebt sich nur dort gewaltig über seine geschickten Zeitgenossen, wo er sich selbst den Gegenstand suchte und wo ihm durch diesen etwas anderes zu sagen gestattet war als das, was ein Besteller oder seine Anverwandte im Porträt suchen. Ihm stand eine alte Frau mit einem Labyrinth
von Runzeln und mit dem ganzen Reichtum der Ausdrucksformen, die das Leben in diese hineinschrieb, ihm stand das verwitterte Gesicht eines polnischen Edelmannes, die blitzartig wechselnden
Züge eines verschmitzten Juden künstlerisch höher als die wohlgepflegte Tüchtigkeit der Ratsherren, Gelehrten und Großkaufleute.“ (Gurlitt 1902, 435) 81
Rembrandts Qualitäten entfalteten sich demnach in Reaktion auf das Gesehene, seine Höchstleistungen waren nicht durch finanzielle Zuwendung abrufbar, da erst ein inneres Interesse sie
wachrufen konnte. Letztlich drängten Rembrandt nicht wirtschaftliche, sondern inhaltliche
und gestalterische Fragen zum Bild:
„Geht man die Reihe seiner Einzelbildnisse durch, so versteht man, wie es kam, daß Rembrandt
arm starb, van der Helst neben ihm reich wurde: Nicht die Bestellung lockte ihn, sondern das Bild.
Man erkennt sehr bald, wieviel mehr Rembrandt solche Leute zu malen liebte, die er bezahlte, als
solche, die ihn bezahlten; wie wenig er geneigt war, Bildnisse zu schaffen, die im Wohnzimmer des
Dargestellten diesem zur Genugthuung hingen, wie sehr er an die Besitzer seiner Bilder künstlerische Anforderungen stellte.“ (Gurlitt 1902, 435)
Gurlitt dreht das Abhängigkeitsverhältnis kurzerhand um. Der Künstler hat hier nicht länger
den Ansprüchen des Porträtkunden zu entsprechen, er stellt vielmehr selber Ansprüche an die
Modelle seiner Bildnisse, ja sogar an die Besitzer seiner Bilder. Die Armutsformel ist dabei
weniger zur Heroisierung dieser Praxis als zur Beglaubigung des beschriebenen Sachverhaltes
eingeflochten. Dekorative Wirkungen und zufriedene Auftraggeber erscheinen dagegen als
Kennzeichen für mindere künstlerische Qualität.
Gurlitts Satz „Nicht die Bestellung lockte ihn, sondern das Bild“ zieht sich als Formel durch
die untersuchten Texte, wenn es darum geht, die Vorstellung von einem autonomen Ursprung
der Kunst mit der Tatsache der Auftragsarbeit zu harmonisieren. Noch Eberhardt Hanfstaengl
(1947) beschreibt das Interesse des Künstlers an seinem Motiv als bestimmenden Qualitätsfaktor eines Werkes:
81
Es sei angemerkt, daß Gurlitt mit den „blitzartig wechselnden Züge[n]“ ein antisemitisches Stereotyp
verwendet (vgl. Klein 1999).
113
„An der Qualität der Bilder läßt sich auch das Interesse des Malers an seinem Gegenüber erkennen.
Manchmal spürt man die innerlich unbeteiligte, man möchte sagen rein geschäftsmäßige Erledigung des Auftrages, dann wieder die energische, intensive Besitzergreifung des Wesens einer Persönlichkeit, deren Charakter sich in Haltung und Gesichtszügen ausgeprägt hat.“ (Hanfstaengl
1947, 22)
Die ‘innere Beteiligung‘ des Künstlers ist Voraussetzung für die Produktion von Kunst. Wird
dem nicht entsprochen, so handelt es sich lediglich um die „rein geschäftsmäßige Erledigung
des Auftrages“. Wie Bode und andere ist auch Hanfstaengl bemüht, Rembrandt zum Amsterdamer Bürgertum auf Distanz zu halten:
„Mit diesen zahlreichen Bildnisaufträgen, die für die Dargestellten manche Anforderung an ihre
Geduld und ihr Kunstverständnis stellten, war Rembrandt in die vornehmen, patrizischen Kreise
der Stadt als Künstler eingetreten (...).“ (Hanfstaengl 1947, 24)
Er betritt ihre Kreise, aber nicht ohne, wie schon bei Gurlitt, Anforderungen an seine Auftraggeber zu stellen. Wie in diesem eingeschobenen Nebensatz wird immer wieder das Konfliktpotential angedeutet, das in der Berührung Rembrandts mit der Gesellschaft entsteht. Als
harmonisierendes Element tritt in diesen Darstellungen vermehrt Saskia auf. Neben dem privaten Glück, das Rembrandt auch von außen zugänglicher macht, werden ihr gute Kontakte in
vornehmen Bürgerkreisen zugeschrieben. Carl Neumann sieht in ihr ein Bindeglied des
Künstlers zur Außenwelt:
„Diese Beziehungen knüpften sich also fester, und in den nächsten Jahren finden wir Rembrandts
Pinsel sogar für die höchsten Kreise, für den Statthalter selbst, beschäftigt; es gab einen Punkt, wo
auch seine Kunst sich den Anschauungen und dem Geschmack der vornehmen Gesellschaft zugänglich zeigte. Macht aber gewann sie nic ht über ihn, und es wird sich eine Grenze erkennen lassen, an der sein innerstes Wesen dem, was in dem Habitus der oberen Kreise modisch und fremdländisch war, Halt gebot.“ (Neumann 1902, 70)
Die Annäherungsbewegung des Künstlers an die Gesellschaft wird hier sogleich konterkariert,
der Geschmack der „oberen Kreise“ ist offenbar verdächtig und über eine vorübergehende
‘Zugänglichkeit‘ reicht die Verbindung nicht hinaus. Vor allem gewannen diese Vornehmen,
die Neumann mit den Adjektiven „modisch und fremdländisch“ diskreditiert, nie „Macht“
über Rembrandt, sein „innerstes Wesen“ behielt die Grenze im Blick. Die Autonomie des
Künstlers darf nicht durch den Verdacht äußerer Einflußnahmen in Zweifel geraten. Der bereits zitierte Eberhard Hanfstaengl wird den späten Rembrandt gerade für seine Fähigkeit bewundern, Auftragsarbeiten in einer Weise auszuführen die ohne kompromittierende Wirkung
für sein Künstlertum bleibt:
114
„Wie sicher geht Rembrandt immer wieder den schmalen Pfad zwischen den Wünschen des Bestellers und der eigenen kompromißlosen künstlerischen Verpflichtung!" (Hanfstaengl 1947, 66)
Auch Jan Veth (1906) weist auf die Kontrolliertheit hin, mit der sich Rembrandt in der Zeit
seines gesellschaftlichen Erfolgs mit den Auftragsporträts befaßt habe. Gemäß den bereits
skizzierten Entwicklungsnarrationen sieht Veth in den Aufträgen eine vorübergehende Tätigkeit, die noch zur Lehrzeit Rembrandts zu zählen sei. Dem Verdacht der Einflußnahme und
der „rein geschäftsmäßige[n] Erledigung“ tritt er dabei entgegen:
“Von einem Sich Fügen nach einer Mode-Vorschrift scheint in all dem viel weniger die Sprache zu
sein, als von einem Aufsuchen der eigenartigen Schwierigkeiten, von einer strengen Übung der
Selbstzucht, von einem geduldigen Durchgründen der Forderungen des Faches. (...) Allein auf der
Basis solchen demütigen Betrachtens kann sich eine tiefere psychologische Wiedergabe
entwickeln.“ (Veth 1906, 49 f.)82
Veth relativiert die Auftragspraxis des frühen Rembrandt als fortgeschrittenes Stadium der
Selbstausbildung. Rembrandt habe sich in diesen Bilder nicht dem Modegeschmack unterworfen, sondern die Gelegenheit genutzt, um die „eigenartigen Schwierigkeiten“ einer Gattung zu suchen und sich in strenger „Selbstzucht“ weiterzubilden. Auch hier interessierte ihn
demnach, mit Gurlitt gesprochen, „das Bild, nicht die Bestellung“. Die ästhetische Differenz
dieser Auftragsbilder zum Spätwerk erklärt Veth nicht als Opportunismus, sondern aus der
Notwendigkeit des Erlernens bestimmter Techniken, die erst die ‘psychologische Tiefe’ des
reifen Rembrandt ermöglichten. In seiner scheinbaren Nähe zum Publikum bereitet der
Künstler somit nur seine spätere Distanzierung vor.
Daß der späte Rembrandt seinen Zeitgenossen entfremdet gewesen sei, steht für die Autoren
dieser Rezeptionsphase außer Zweifel (vgl. die Fallstudie zur Nachtwache). Die Thematik der
‘Verkennung‘ soll hier nur angesprochen werden, soweit sie für Rembrandts Umgang mit den
Auftraggebern von Bedeutung ist. Dabei ist auf ein wichtiges Charakteristikum des Topos
vom ‘verkannten Künstler‘ hinzuweisen: Daß nämlich die Ablehnung auf Gegenseitigkeit beruht. Die Gesellschaft verachtet den Künstler und der Künstler verachtet, so sehr er darunter
leiden mag, die zeitgenössische Gesellschaft. Wie Neumann es ausdrückte, gebot das ‘innerste Wesen‘ Rembrandts Halt, als die Annäherung zu einer Gefährdung seiner Kunst zu werden drohte. Bei Hanfstaengl war vom Desinteresse an Auftragsarbeiten die Rede, die rein ge-
82
„Van een zich voegen naar eenig mode-voorschrift schijnt in dit alles veel minder sprake te zijn, dan van een
opzoeken der eigenaardige moeielijkheden, van een strenge oefening en zelftucht, van een geduldig doorgronden
der eischen van het vak. (...) Alleen op de bazis van zulk deemoedig aanschouwen kan een dieper psychologische vertolking zich ontwikkelen.“ (Veth 1906, 49 f.).
115
schäftsmäßigen Charakter hatten. Karl Storck (1903) sieht dieses Desinteresse am außen und
am Erfolg bereits zu Lebzeiten Saskias umgesetzt, als Rembrandt, diesem Autor zufolge, die
Auftragsmalerei zurückstellte:
„Es ist bezeichnend, daß der Meister gerade jetzt, wo sich die Aufträge drängten, immer wieder
seine Saskia und sich selber malte. Er verlangte ja nie nach Geld und verstand nie zu wirtschaften.
Er wollte nur die Kunst.“ (Storck 1903, 510)
Ihn interessiert das Bild, nicht die Bestellung; „er verlangte ja nie nach Geld (...). Er wollte
nur die Kunst“ - dem Interesse Rembrandts an der Kunst entspricht sein Desinteresse an der
Auftragsmalerei. So ist auch die Distanzierung Rembrandts von der Gesellschaft nicht nur
eine ‘Verkennung‘, sondern eine notwendige und bewußte Abkehr, kann doch Kunst nur dort
sein, wo keine Auftraggeber sind. In den Worten von Wilhelm Hausenstein (1926):
„Das Interesse Rembrandts am Bildnis hat in dem nämlichen Verhältnis abgenommen, wie das Interesse des Bildnisses an Rembrandt. Im gleichen Verhältnis werden die Bildnisse allerdings schöner...“ (Hausenstein 1926, 179)
2.1.3 Die Privatisierung der Kunstproduktion: Zur Einheit von Leben und Werk
„Das Wesentliche, was er [Rembrandt, M.H.] schafft, ist im tiefsten Sinne Emanation seines Lebens und seiner Persönlichkeit, und dieses Leben heißt: schaffen, grübeln, wachsen, verwerfen und
gewinnen, diese Persönlichkeit hält ungemessene Steigerungen eines großen Temperaments umschlossen. Alles fließt. Deshalb betont auch die Literatur bei keinem Künstler so stark wie bei
Rembrandt den Zusammenhang von Arbeit und Lebensschicksal.“ (Theodor Heuss 1964 [1906],
o.S.)
Wie in der wertenden Polarisierung zwischen Auftrag und Autonomie bereits deutlich wurde,
ist die diskursive Praxis einer Distanzierung des Künstlers von seiner Umgebung in eine Dialektik eingebunden: Dem negativen Pol steht die Privatisierung der Kunstproduktion als positiv bewerteter Pol gegenüber.
In drei Abschnitten möchte ich nun die Topik beschreiben, mittels derer sich in der Kunstliteratur um 1900 die Vorstellung einer Einheit von Leben und Werk Rembrandts entfaltet:
1. Die Vergabe von Bildtiteln, die sich auf Personen oder Ereignisse aus dem
dokumentarisch belegten Leben des Künstlers beziehen (Biographische Bildtitel).
2. Die wechselseitige Erklärung von Phänomenen des Werks und äußeren
Lebensumständen des Künstlers (Werk und Leben).
116
3. Die Deutung des ‘inneren Lebens‘ Rembrandts, seines ‘Charakters‘ oder seines
‘Wesens‘ (Werk und Charakter).
Den theoretischen Hintergrund dieser Topoi bildet die Hermeneutik, deren Interesse an der
Genese einer Vorstellung vom Autor aus dem Werk in einem Exkurs darzulegen sein wird.
Zunächst sollen jedoch die drei hier aufgeführten Punkte im einzelnen verdeutlicht werden.
2.1.3.1 Biographische Bildtitel
Ein früher und einflußreicher Protagonist der Praxis, die Werke Rembrandts auf dessen Biographie zu beziehen und diese Verbindung auch in der Wahl des Bildtitels zum Ausdruck zu
bringen, war Wilhelm Bode. Er soll uns hier als Fallbeispiel dienen.
Bodes früheste Äußerung Zur Rembrandt-Literatur (1870) ist zunächst darauf ausgerichtet,
die kurz zuvor erschienene Monographie Vosmaers (1868) würdigend zu besprechen (Bode
1870, 174). Zu diesem Zeitpunkt war der gerade 25jährige Bode noch mit dem kunsthistorischen Studium in Berlin und Wien befaßt. Er nutzte den Text auch, um Vosmaers Werkverzeichnis aus eigener Kenntnis zu ergänzen und sich somit erstmals als Rembrandtkenner zu
profilieren.83 Mit dem zentralen Interesse an Zuschreibungsfragen,84 das die Publikationen
Bodes über Jahrzehnte hinweg bestimmen sollte, sind die ‘Privatisierungen‘ eng verbunden.
So mag es als symptomatisch erscheinen, daß die frühesten Neuzuschreibungen, mit denen
Bode Vosmaers Übersicht ergänzt, Selbstbildnisse Rembrandts sind,85 also einer Gattung angehören, die es in besonderem Maße nahezulegen scheint, im Blick auf das Bild zugleich die
Person des Künstlers als Objekt der Wahrnehmung aufzufassen. Um auch andere Porträts mit
namentlichen Titeln zu versehen, waren 1870 die Informationen über Rembrandts Lebensumstände noch nicht detailliert genug. Erst auf Basis der Archivfunde der 80er Jahre war der
Neigung Raum gegeben, die Werke möglichst nahe an die Privatperson des Künstlers heranzuführen. Dokumentiert ist diese Neigung in den Versuchen, Familienmitgliedern und anderen Personen aus dem engeren Umfeld des Künstlers, deren Namen in Archivdokumenten
überliefert sind, ein Gesicht zu geben, sie in den Bildnissen Rembrandts dingfest zu machen.
Offensiv, umfassend und mit weitreichender Wirkung ist diese Privatisierung der Bildnisse in
dem 200 Seiten starken Aufsatz Rembrandt’s künstlerischer Entwicklungsgang in seinen Gemälden ausgeführt, mit dem Bode 1883 seine vorläufige Version eines Werkkataloges der
Gemälde vorlegte und der bis zur Publikation von Neumanns Monographie (1902) als eine
83
Zur Biographie Bodes vgl. den zweibändigen Katalog der Berliner Gedächtnisausstellungen von 1995, besonders Otto 1995.
84
Vgl. Otto 1995, 31.
85
Es handelt sich um die zwei Bildnisse, Bode stuft sie als ‘Studienköpfe‘ ein, die damals in Kassel und Gotha
zu finden waren (ersteres heute als Kopie eingestuft, RS 5b; letzteres heute in München, RS 7).
117
wesentliche Referenzliteratur der deutschsprachigen Rembrandtrezeption betrachtet werden
kann.86 Teilweise im Anschluß an Vosmaer und andere Autoren, macht Bode neben einer
quantitativ stetig anwachsenden Zahl sogenannter Selbstbildnisse hier unter anderem Rembrandts Gattin Saskia, den Vater, die Mutter und die Schwester des Künstlers im Werk aus.
Außerbildliche Quellen für solche Zuschreibungen fehlen fast völlig.87 Die Bezeichnung
stützt der Autor in der Regel auf drei Punkte. (1) Aus einer augenscheinlich bestimmten
‘Ähnlichkeit‘ von Bildnisköpfen schließt er auf mehrfache Verwendung desselben Modells.
(2) Die Inszenierung des Modells bezeichnet er als wenig repräsentativ, auch sei die Ausführung der Bilder untypisch für Porträtaufträge. Daraus folgt eine Einstufung der Bildnisse als
‘Studienköpfe‘ die zu ‘rein künstlerischen Zwecken‘ entstanden seien. (3) Findet sich zu der
abgebildeten Person schließlich ein durch Quellen belegtes Familienmitglied, dessen Alter
zum Zeitpunkt der Datierung der fraglichen Bildnisse ungefähr mit dem geschätzten Alter der
Abgebildeten übereinstimmt, so ist die Betitelung perfekt.
Prinzipiell geht Wilhelm Bode 1883 davon aus, daß die Mehrzahl Rembrandtscher Bildnisse
aus solchen rein künstlerischen Motivationen im privaten Kontext entstanden seien oder als
Freundschaftsbilder verstanden werden müßten. So sei bereits kurz nach der Heirat mit Saskia, also zu einem Zeitpunkt, zu dem der Künstler sich eben erst als Porträtist in der Amsterdamer Gesellschaft etabliert hatte, die Porträttätigkeit „fast ausschließlich auf den Kreis der
Freunde und Verwandten des Meisters beschränkt“ gewesen (Bode 1883, 442):
„Die Bildnisse dieser Zeit, die uns bekannte Persönlichkeiten vorführen - und solche bilden die
Mehrzahl -, zeigen den Künstler selbst, seine Gattin, seine Verwandten, Freunde und Gönner.“
(Bode 1883, 454)
Diese Beobachtung schließt für Bode einen ökonomisch motivierten Hintergrund der Bildproduktion aus; sie gestattet vielmehr einen Umkehrschluß:
„Und auch unter den uns bisher nicht bekannten Personen werden wir vielleicht in den meisten
Fällen dem Künstler Nahestehende vermuten dürfen (...).“ (Bode 1883, 454)
Daß dieser Praxis einer privatisierenden Deutung der Kunstproduktion die Tendenz zur Autonomisierung des Schaffens innewohnt, zu seiner Befreiung von äußeren Einflüssen, wird später noch ausführlich dargestellt. Hier soll zunächst die Beschreibung des Versuchs im Vorder-
86
Der Text erschien gemeinsam mit Arbeiten zu Elsheimer und Hals in Bodes Buch Studien zur Geschichte der
holländischen Malerei.
87
Eine Ausnahme bildet die berühmte Silberstiftzeichnung der Saskia, die im Berliner Kupferstichkabinett aufbewahrt wird und die Bode bereits 1870 in einem Nachstich publiziert hatte (Bode 1870, 137). Sie trägt einen
handschriftlich Rembrandt zugeschriebenen Vermerk, der über die Identität der Abgebildeten Auskunft gibt.
Daran anschließend lassen sich verschiedene Doppelbildnisse, Gemälde und Radierungen als porträthafte Darstellungen bezeichnen.
118
grund stehen, Bezeichnungen für unbekannte Porträtköpfe zu finden und diese möglichst persönlich mit dem Künstler zu verbinden. Der Berliner Kunsthistoriker schließt dabei direkt an
aktuelle Forschungsergebnisse an. Noch im Jahr des Erscheinens von Bodes Studien (1883)
hatte der Archivar Nicolaas de Roever erste Ergebnisse seiner Quellensuche zu den letzten
Lebensjahren Rembrandts in der neu gegründeten Zeitschrift Oud Holland veröffentlicht. Die
wichtigste ‘Ausgrabung‘ war dabei der Name Hendrickje Stoffels, der den dürftigen Spekulationen ein Ende machte, die bis dato über die ‘zweite Frau‘ des Künstlers in der Literatur
kursierten. Wilhelm Bode schließt umgehend an diese Entdeckung an und stellt die Verbindung der Archivquellen mit den Bildquellen her:
„Vertrat nun Hendrikje zweifellos lange Zeit, vielleicht bis zum Lebensende des Künstlers die
Stelle einer Gattin bei demselben, so hat dieser sie auch gewiß in seinen Gemälden, Radirungen
und Zeichnungen verewigt. Nach den zahlreichen und mannigfaltigen Erinnerungen, die seine
Werke an seine Mutter, seine Schwester und namentlich an seine Gattin Saskia Ulenburgh enthalten, dürfen wir dies von vornherein annehmen.“ (Bode 1883, 548)
Nun ist sich Bode der Schwierigkeiten durchaus bewußt, die eine Identifizierung der fraglichen Person mit sich bringt:
„Freilich wie zu einer Sicherheit, zu einem Beweis dafür kommen? Ein Bildnis der Hendrikje Stoffels ist uns nicht bezeugt; wir wissen nichts über ihr Aussehen, ja kennen nicht einmal ihr Alter. Es
bleibt uns also (...) nur der mühsame und schwierige Weg (denn wie verschieden sind die Ansichten, wenn es sich darum handelt, eine Ähnlichkeit festzustellen!), in Rembrandt’s Werken ein jugendliches Frauenbildnis herauszusuchen, das in den fünfziger Jahren in Bildnissen und als Modell
für historische Compositionen häufiger wiederkehrt und in einer Weise aufgefaßt und wie dergegeben ist, daß wir daraus auf eine sehr enge Beziehung zu Rembrandt schließen dürfen.“ (Bode 1883,
548)
Nach einigem Abwägen wird Bode fündig, und schlägt dann, unter Vorbehalt, neue Titel für
eine ganze Reihe von Bildern vor, die nun also nicht länger ein anonymes Frauenbildnis zeigen, sondern das Porträt der Hendrickje Stoffels in unterschiedlichen Altersstufen, Situationen
und Kostümen. In gleicher Weise äußert sich Bodes Interesse auch gegenüber Rembrandts
Sohn Titus. Im Vergleich dreier studienartig aufgefaßter Porträtdarstellungen eines Jünglings
stellt er fest:
„Daß Rembrandt fast gleichzeitig von einer und derselben Person drei Bildnisse in ganz freier
künstlerischer Auffassung malte, ist wohl ein sicheres Zeichen für ein besonderes Interesse und ein
ganz nahes Verhältnis derselben zu unserem Künstler. Wer kann der Dargestellte sein? Ohne den
119
Beweis führen zu können, möchte ich die Vermuthung aussprechen, daß wir in diesen Zügen Titus
van Ryn, den im Jahre 1642 geborenen Sohn der Saskia, zu erkennen haben.“ (Bode 1883, 535)
Wie ‘sicher‘ das besagte Zeichen auch immer für ein „ganz nahes Verhältnis“ des Modells
zum Künstler sein mag, Bodes Argumentationen zeugen jedenfalls von seinem eigenen „besondere[n] Interesse“. Die Privatperson des Künstlers im Blick, enthüllt sich das Begehren
des Kunsthistorikers, dem Idol nahe kommen zu wollen, den Kreis von dessen Vertrauten ‘in
effigie‘ wieder auferstehen zu lassen und sich selbst, im Rahmen der musealen Hängung, in
diesem Kreis bewegen zu können. Fragen nach dem Nutzen einer solchen fast schon kriminologischen Personenidentifikation stellen sich Bode offenbar nicht. Allerdings zeigt er bei
aller Neigung zur Reanimation von Person und Umfeld des bewunderten Meisters durchaus
Problembewußtsein hinsichtlich der Beweiskraft seiner Titelfindungen, etwa wenn er später
feststellt:
„Schon gegenüber jenen Bildnissen eines Jünglings vom Ausgange der fünfziger Jahre mußte ich
bei dem Versuche, dasselbe als das Portrait von Rembrandt’s Sohn Titus nachzuweisen, zugestehen, daß ich nur eine Hypothese zu geben vermöchte, die ich nur auf das Alter des Dargestellten,
auf die Auffassungsweise und die häufige Wiederholung der Bildnisse ein und derselben Persönlichkeit in einem kurzen Zeitraum zu stützen vermochte.“ (Bode 1883, 545)
Es sei darauf hingewiesen, daß die Unterscheidung zwischen Hypothese und Tatsache sich in
der kultischen Verehrungspraxis mehr als einmal verlor.88
88
Hier noch einige Beispiele für Bodes Zuschreibungen und deren Rezeption. In dem Ehebildnis der königlichen
Sammlung des Buckingham Palace, gewöhnlich mit dem Titel Bürgermeister Pancras und seine Gattin versehen, machte Bode ein Doppelporträt Rembrandts und Saskias aus (1883, 418 f.).
1891 stellte er einem jüngst vom Haager Mauritshuis erworbenen Männerbildnis nicht nur ein Echtheitszertifikat
aus, sondern legte auch nahe, in diesem Bildnis Adrian van Rijn, den älteren Bruder Rembrandts zu sehen: „Die
skizzenhafte Behandlung des Haager Portraits, die Verwendung derselben Gestalt für seine historischen Gemälde, namentlich aber das Auftreten derselben in Rembrandt’s radirten Studien führen nach den zahlreichen Analogien in den Werken des Künstlers mit Sicherheit zu dem Schlusse, dass der Dargestellte eine dem Künstler
ganz nahestehende Persönlichkeit sein muss. Die Hypothese, dass hier Rembrandt’s Bruder Adriaen Harmensz
dargestellt sei, wird daher keineswegs zu gewagt erscheinen.“ (Bode 1891, 4). Dieser Bildtitel wird von anderen
Autoren übernommen (vgl. Valentiner 3 1908, 334; Bredius 1935, Nr. 130). Seinen spekulativen Charakter mahnt
dagegen ausdrücklich Hofstede de Groot an (1915, 184, Nr. 384: „Alter Mann mit einer Narbe an der Stirn. (...)
Der Dargestellte gehört zu dem Typ, den man ‘Rembrandts Bruder Adriaen‘ benennt.“). Während Bauch (1966,
45) den identifikatorischen Verweis noch in vergleichbar skeptischer Weise mitführt, verzichten spätere Kataloge ganz darauf (Gerson 1968, Nr. 304: „Bildnis eines Mannes“; De Vries/Tóth-Ubbens/Froentjes 1978, 133:
„Portrait of a Man with Grey Curly Hair“). Dieser Fall kann auch die Verflechtungen der Rembrandt-Experten
Wilhelm Bode und Abraham Bredius illustrieren. Bredius hatte das Gemälde eben erst für das Mauritshuis erworben, als der Zuschreibungsartikel Bodes in Oud Holland erschien, jener Zeitschrift, deren Mitherausgeber
Bredius seit 1886 gewesen ist.
Im Anschluß an die von Bredius (gemeinsam mit Hofstede de Groot u.a.) organisierte Amsterdamer RembrandtAusstellung von 1898 erwarb Bode für die Berliner Galerie ein Bild, daß in Deutschland für einige Jahrzehnte
zum Inbegriff der Kunst Rembrandts werden sollte, den „Mann mit dem Goldhelm“ (so der Titel bei Gerson
1968, Nr. 261). Bode sah darin bereits 1891 ein weiteres Bildnis des Bruders Adriaen: „Ein noch im Handel
befindliches Bild Rembrandt’s (...) stellt denselben Mann dar, nach rechts gewandt und mit einem grossen Helm
auf dem Kopfe.“ (Bode 1891, 4). Auch diese Titelzuschreibung fand in der deutschen Literatur zunächst Nach-
120
Bodes Zuschreibung von Bildnissen in den privaten Bereich Rembrandts beschränkt sich jedoch nicht auf Köpfe, die bisher namenlos waren. Einige der Porträtierten, deren Namen auf
die eine oder andere Weise überliefert wurden, verortet Bode im Freundeskreis des Künstlers,
so daß wir es nun auch hier mit Personen zu tun bekommen, die Rembrandt nahe standen.
Eine bemerkenswerte Brücke schlägt er dabei im Falle der Porträts von Vater und Sohn Haring. Beide waren, Quellen zufolge, in die Abwicklung von Rembrandts Bankrott verwickelt,
der eine als Hausmeister, der andere als Auktionator der Insolventenkammer. Bode begründet
das Entstehen der Porträts mit einer Freundschaft, die sich im Laufe des gemeinsamen Umgangs eingestellt habe. Als einzigen Beleg für diese Beziehung dient dem Autor die Existenz
der Bildnisse. Die Möglichkeit einer geschäftlichen Ursache spricht er nicht an. Auch im Falle
Bruyninghs, des Sekretärs der Desolaate Boedelkamer, sieht Bode das Porträt als Freundschaftsbild. Grund genug, den Künstler für seine Tugendhaftigkeit zu loben:
„Es ist ein schönes Zeugnis für den Charakter Rembrandt’s, daß derselbe mit den Executionsbeamten, mit denen er fast ein Jahrzehnt hindurch die peinlichen Geschäfte seines unheilvollen Bankerotts abzumachen hatte, nicht nur leidlich auskam, sondern daß er in freundschaftlichen Verkehr
mit ihnen trat.“ (Bode 1883, 533)
Auch für einige Porträts von Geistlichen, von Bode in das spätere Werk Rembrandts datiert,
findet der Autor einen Weg zur ‘Privatisierung‘:
„In dem Malerwerke Rembrandt’s sind wir unter dessen Bekannten bereits nach seiner Uebersiedlung [nach Amsterdam, M.H.] mehreren Geistlic hen begegnet; in ihrem Kreise hatte er ja auch
Saskia Ulenburg, die Tochter eines holländischen Geistlichen, kennen und lieben gelernt. Auch in
dieser Epoche sehen wir ihn unter den protestantischen Predigern Amsterdams neue Beziehungen
anknüpfen, von denen uns seine Werke Zeugniß ablegen.“ (Bode 1883, 462)
Wenn Rembrandt protestantische Prediger malt, handelt es sich demnach weniger um Aufträge, die er erfüllt, sondern um Beziehungen, die er zu einem Kreis pflegt, mit dem ihn enge
persönliche Kontakte verbinden. Wie kann Bode, mangels Quellen, derartige Aussagen legifolger (Neumann 1902, 385: „Adrian van Rijn im Helm“; Valentiner 3 1908, 335: „Rembrandts Bruder mit dem
Helm“). Hofstede de Groot relativiert die Bezeichnung wiederum (1915, 136: „Älterer Mann mit vergoldetem
Helm. (...) Der Dargestellte wird mit Rembrandts Bruder Adrian identifiziert.“). Er gibt Gründe gegen diese
Identifikation an. Wie im vorigen Fall wird auch hier der Verweis auf die zweifelhafte Namensgebung noch
einige Zeit mitgeführt (Bredius 1935, Nr. 128; Rosenberg 1948, Nr. 93; Bauch 1966, 45).
In einzelnen Fällen hat Bode allerdings auch privatisierende Zuschreibungen abgelehnt. So widerspricht er angesichts des in Amsterdam aufbewahrten Doppelbildnisses eines prächtig gekleideten Paares der „von
verschiedenen Seiten und zu verschiedenen Zeiten“ geäußerten Absicht, hierin Rembrandt und seine Frau sehen
zu wollen und bleibt bei der tradierten Bezeichnung Die Judenbraut (1883, 552). Falsches Alter und
unzureichende Ähnlichkeit sind seine Argumente. In Band VII seines Werkkataloges (1897-1905) trägt das Bild
den Titel „Doppelbild eines holländischen Ehepaars, bekannt unter dem Namen die Judenbraut“ (o.S., Nr. 538).
Spätere Autoren haben das Bildnis erneut privatisiert und darin ein Hochzeitsbild von Rembrandts Sohn Titus
und seiner Braut Magdalene van Loo vermutet (Z.B. Valentiner 3 1908, 538).
121
timieren? Ein Beispiel für seine Argumentationen liefert der Fall eines Porträts, das bisher
unter den Titeln Rembrandts Vergolder und Rembrandt’s Schüler Doomer aufgetreten war.
Bode weist diese Titel zurück, stellt aber fest:
„Man ist gewiß nicht irre gegangen, wenn man in diesem so liebevoll vollendeten Meisterwerke
eine dem Künstler nahestehende Persönlichkeit gesucht hat.“ (Bode 1883, 464)
Es ist der Eindruck ‘liebevoller Vollendung’ eines Werkes, aus dem hier auf die Herzensnähe
des Modells zum Künstler geschlossen wird; der Übergang von Privatisierung zu Psychologisierung ist fließend. Deswegen wird es nun Zeit, über die bloße Titelgebung hinaus von der
Ebene der Anknüpfung biographischer Kontexte an einzelne Werke zu sprechen.
Zuvor sei jedoch das Beispiel Bodes durch einen Verweis auf dessen Einfluß abgeschlossen.
Den Höhepunkt der Beschäftigung Bodes mit dem Problem einer Übersicht der malerischen
Werke Rembrandts bildet der achtbändige Katalog der Gemälde (1897-1905), den die Literatur seiner Zeit kurz „Bode’s Rembrandt-Werk“ nennt.89 Die Verbreitung vieler seiner TitelZuschreibungen nimmt ihren Ausgang aber nicht nur direkt aus diesem monumentalen Verzeichnis, sondern auch aus jenem handlicheren und preiswerterem Band Rembrandt. Des Meisters Gemälde aus der Reihe Klassiker der Kunst, der zuerst 1904 erschien. Diese Publikation,
die sich weitgehend an Bodes Katalog orientierte, spielt vermutlich, mit ihrer proklamierten
Vollständigkeit und der fotografischen Reproduktion aller Werke (3 1908: 643 Abbildungen),
eine wichtige Funktion bei der weiteren Popularisierung des Künstlers.90
Von der Neigung zu einer intimen Annäherung an Rembrandt zeugen hier 64 Selbstbildnisse
und 92 Bildnisse nach Familienmitgliedern. Mitunter wird auf den spekulativen Charakter
einzelner Titulierungen verwiesen,91 jedoch werden Bildnisse Saskias, beider Eltern Rembrandts, seines Bruders Adrian nebst Gattin, seines Sohnes Titus und Frau, seiner Lebensgefährtin Hendrickje Stoffels mit dem gemeinsamen Kind Cornelia als gesichert vorgestellt;92
hinzu kommen noch verschiedene Freunde des Künstlers.
Mit Bezug auf die möglichen Motivationen für diese auffällige imaginäre ‘Bevölkerung‘ der
Welt des Künstlers gebe ich zu bedenken, daß mit dem steigenden Stellenwert für eine kultische Rezeption auch ein Anstieg des Marktwertes von Bildern verbunden sein kann. Wie im
89
Vgl. die Besprechungen der einzelnen Lieferungen durch Woldemar von Seidlitz in der Allgemeinen Zeitung
München.
90
Während Bodes Verzeichnis in acht Bänden etwa dem heutigen A2-Format entsprach und die deutsche Auflage auf 160 Stück limitiert war, erschien der nicht einmal A4 große Klassiker-Band 1908 bereits in dritter Auflage. Diese wurde, statt von dem inzwischen verstorbenen Adolf Rosenberg, von Bodes Mitarbeiter Wilhelm
Valentiner herausgegeben. Da die Anschaffungskosten auch bei diesem Buch beträchtlich gewesen sein dürften,
ist anzunehmen, daß die Nachfrage vor allem von Bibliotheken und aus dem Bürgertum kam.
91
Diese Relativierungen erfolgen durch ergänzende Adjektive („sog.“ oder „fraglich“).
92
Alle diese Figuren sind historisch belegt, aus quellenkritischer Sicht können jedoch nur einige Bilder Saskias
als „gesicherte“ Bildnisse der empirisch nachgewiesenen Person gelten. Um den Wert derartiger Bezeichnungen
zu ermessen, müßte allerdings grundsätzlich nach dem Abbildcharakter von Porträts gefragt werden.
122
Falle der Zuschreibungen von strittigen Werken an Rembrandt muß berücksichtigt werden,
daß ein öffentlich etablierter ‘Kenner’ wie Bode neben seinem musealen Hauptberuf nicht nur
als Autor, sondern auch als Gutachter und Berater auf dem Kunstmarkt eingebunden war.93
Wenn sich die Tendenz zur Privatisierung des künstlerischen Schaffens auch für den gesamten Untersuchungszeitraum, also mindestens bis in die 40er Jahre des 20. Jahrhunderts, fortgesetzt beobachten läßt, so konnten sich doch keineswegs alle Titulierungen Bodes durchsetzen. Dies mag auch mit einem Faktor zu tun haben, den Wilhelm Bode in seinen frühen
Publikationen (1870, 1883) noch nicht voraussehen konnte. Durch die umfassende Bereitstellung fotografischer Reproduktionen bieten sich dem Publikum zuvor ungekannte Vergleichsmöglichkeiten. Damit kam eine Grundschwierigkeit derartiger Zuschreibungen verstärkt zum
tragen, auf die Bode bereits 1883 in Parenthese hingewiesen hatte: die subjektiv unterschiedliche Bewertung von „Ähnlichkeit“.94 Adolf Rosenberg, Autor der Einführung in den Klassiker-Band, scheint sich dieses Problems bewußt zu sein. Am Beispiel einiger Saskia-Porträts
tritt er prophylaktisch Zweifeln entgegen, die sich aus dem Eindruck einer Unähnlichkeit
identisch benannter Personen auf verschiedenen Bildnissen ergeben mochten:
„Auf Bildnistreue kam es Rembrandt also auf den meisten Bildern, auf denen er sich und seine
Gattin oder diese allein dargestellt hat, gar nicht an. So sehr war es ihm immer um das malerische
Problem, das ihn jeweils beschäftigte, zu tun, daß es ihm schließlich ganz gleichgültig war, ob Saskia schwarze, braune oder gar hellblonde Haare bekam, wenn er nur in seinem Ringen um den ihm
vorschwebenden koloristischen Ausdruck einen Schritt vorwärts gelangte.“ (Rosenberg 1904, XXI)
Die privatisierende Titelgebung begibt sich hier in die Gefahr eines zerstörerischen Paradoxes. Denn wo bleibt der Reiz der Vorstellung, ein Künstler habe sich einer engen Verwandten
oder eines Freundes als Modell bedient, wenn konstatiert werden muß, er habe dieses Modell
nicht abbildgetreu wiedergegeben? Wo die Phantasietätigkeit des Künstlers das Abbild verfremdet haben soll, ist nicht nur dem ersehnten Erscheinen des Urbildes ‘in effigie‘ der Nährboden entzogen. Der Verweis auf den Anteil der künstlerischen Phantasie am Bild droht zudem prinzipiell den imaginären Charakter der Vorstellung vom Bild als einem Abbild einstmals sichtbarer ‘Wirklichkeit‘ zu enthüllen.
93
Auf diesen Zusammenhang verweist nicht zuletzt die Tatsache, daß Bodes Werkkatalog (1897-1905) im Verlag des Pariser Kunsthändlers Charles Sedelmeyer erschien, über den wiederholt Verkäufe Rembrandtscher
Werke abgewickelt wurden. Die genaue Bewertung der Preisentwicklung in Folge von Zuschreibungen und
Titulierungen bedürfte allerdings einer eigenen Untersuchung.
94
„(denn wie verschieden sind die Ansichten, wenn es sich darum handelt, eine Ähnlichkeit festzustellen!).“
(Bode 1883, 548).
123
2.1.3.2 Werk und Leben
„Rembrandts Kunst ist eine durchaus subjektive. In seinen Werken sind seine tiefsten Empfindungen, selbst seine Beziehungen und Erlebnisse niedergelegt; seine Gemälde und Radierungen geben
uns daher ein Spiegelbild seines Lebens und Denkens. (...) wenn man daher Darstellungen wie das
Opfer Manoahs mit der Erwartung der Geburt seines Sohnes Titus, das Opfer Isaaks mit dem Tode
eines seiner Kinder (...) in Zusammenhang hat bringen wollen, so hat man die Empfindungsweise
des Meisters zweifellos richtig getroffen. Gerade die nähere Bekanntschaft mit seinen Werken eröffnet uns einen ungeahnten Einblick auch in sein Leben (...).“ (Wilhelm Bode 1906, 12 f.)
„So erzählen uns die Gemälde und Zeichnungen Rembrandt’s den Roman seines Lebens (...).“
(Otto Seeck 1898, 48)
Als zweites Segment in der Topik der ‘Privatisierung der Kunstproduktion‘ sollen nun die
Beschreibung äußerer Lebensumständen des Künstlers mit Hilfe der Werkbetrachtung und die
Erläuterung von Phänomenen des Werks durch biographische Hinweise dargestellt werden.
Als Beispiel dafür wähle ich die Auseinandersetzung um einer Anzahl früher Frauenbildnisse,
deren umstrittene Identifikationen jeweils zu unterschiedlichen Vorstellungen von Rembrandts Junggesellendasein im Amsterdam der Jahre 1630-1633 führen.
Die fraglichen Bildnisse95 hatte Wilhelm Bode bereits 1883 und noch einmal 1897 als ‘Studienköpfe‘ eingestuft. Damit schloß er einen ökonomischen Entstehungskontext aus und behauptete statt dessen einen privaten Zusammenhang zwischen Künstler und Modell. Aus dem
Bildvergleich folgerte Bode zudem, daß es sich um ein und dasselbe Modell handele, weshalb
eine längere Bekanntschaft der jungen Dame mit dem Maler angenommen werden müsse.
Dem Vorschlag von Émile Michel, in einigen dieser Bildnisse Saskia zu sehen, lehnte er ab.
Erstens sei die Ähnlichkeit zu gering, zweitens würden die fraglichen Bilder in die Jahre 1632
und 1633 datiert, also vor die Verlobung und Eheschließung von Saskia und Rembrandt. Mit
Verweis auf die gutbürgerliche Herkunft Saskias schließt Bode die Hypothese Michels aus:
„Auch wenn es wahrscheinlich wäre, dass Saskia schon im Jahre 1632 in Amsterdam anwesend
war, und dass Rembrandt damals schon ihre Bekanntschaft machte, so ist doch wohl ausgeschlos-
95
Im ersten Band des Werkverzeichnisses von 1897 identifiziert Bode elf weibliche Porträtköpfe als
„Rembrandts Schwester“ (Bode 1897, Nr. 56 - 60, Nr. 62 - 66). Er datiert diese Bilder, meist der Signatur
folgend, in die Jahre 1632 und 1633. Die Mehrzahl der Bildnisse werden in späteren Werkkatalogen (Hofstede
de Groot 1915, Bredius 1935, Bauch 1966, Gerson 1969) übernommen, allerdings wird ihre Bezeichnung
relativiert. Bereits Rosenberg (1904) wird von der „Sogen. Schwester Rembrandts“ sprechen (Rosenberg 1904,
53 - 62). Nach dem Urteil des Rembrandt Research Projects sind heute noch zwei dieser Bilder Rembrandt
zugeschrieben, die Nummern A 49 und A 50 im zweiten Band des Corpus (Bruyn/Haak/Levie/van Thiel/van de
Wetering 1986), das entspricht Bodes Nummern 57 und 64. Die restlichen Gemälde sind als Werkstattkopien
oder als Arbeiten aus dem Umfeld Rembrandts eingestuft (vgl. die Nummern C 57 - C 61 ebd.).
124
sen, dass das Pflegekind eines strengen, protestantischen Geistlichen dem jungen Künstler für seine
Kompositionen, und zwar fast regelmäßig als Modell, gesessen haben sollte.“ (Bode 1897, 27) 96
Statt dessen plädierte er für die Identifikation der jungen Frau als Rembrandts jüngere Schwester Lysbeth, über deren Existenz die Geburtsregister der Stadt Leiden Auskunft geben. Bis zu
diesem Punkt der Argumentation haben wir es mit dem Problem eines Bildtitels zu tun. Im
folgenden wird daraus jedoch eine Verwendung des Bildes als biographische Quelle. Aufgrund der Datierung mußten die Gemälde nämlich bereits in Amsterdam entstanden sein.
Bode formuliert aus diesen Versatzstücken eine „interessante Hypothese für die Biographie“97
Rembrandts:
„Der zärtliche Sohn, der das Elternhaus nur vorübergehend verlassen hatte, würde sich gewiss am
liebsten von der Mutter in der grossen, fremden Stadt haben häuslich einrichten lassen. Aber sie
war zu alt, um sich dieser Mühe zu unterziehen; dafür schickte sie, so scheints, die jüngste, eben
erwachsene Tochter Lysbeth, das einzige noch ledige Glied der Familie nach Amsterdam, um ihren
Sohn dort einzurichten und für den Anfang Haus zu halten. Ein Dokument für diese Annahme fehlt
uns freilich; aber wie früher schon und wie durch das ganze Leben des Künstlers können wir wie der aus seinen Werken auf sein Leben zurückschließen.“ (Bode 1897, 24)
Mangels anderer Quellen stützt Bode seine Hypothese auf das Prinzip, welches er in Rembrandts künstlerischem Schaffen auszumachen glaubt, die Involvierung des Lebens in das
Werk. Verfolgen wir diesen Fall noch etwas weiter, um so die Konsequenzen der veränderten
Bildtitel für das Bild des Künstlers nachzuvollziehen. 1898 zog Otto Seeck im Rahmen seiner
Ausstellungsrezension für die Deutsche Rundschau die Bodesche Bezeichnung in Zweifel:
„In dieser ganzen Bildnisgruppe sieht daher Bode jene Lysbeth und nimmt danach an, sie habe, als
Rembrandt von Leyden nach Amsterdam übergesiedelt war, im Hause ihres Bruders gewohnt, obgleich dies nirgends überliefert ist (...).“ (Seeck 1898, 45)
Im Vergleich mit einem übereinstimmend als ‘Saskia‘ identifizierten späteren Bildnis, macht
Seeck statt dessen auch in den fraglichen früheren Gemälden die Braut des Künstlers aus. Mit
Bode stimmt er darin überein, der „Gegenstand“ dieser Bilder „müsse ganz bei Rembrandt
gewohnt haben“, denn:
„Während der kurzen Besuche (...), die ein vielbeschäftigter Bräutigam seiner Braut abstattet, lassen sich so zahlreiche Porträts nicht zu Stande bringen.“ (Seeck 1898, 46)
96
Michel und Bode sehen die mehrfach porträtierte Person auch in den Frauengestalten verschiedener Historienbilder, z.B. im „Raub der Proserpina“ und im „Raub der Europa“.
97
Bode 1883, 420.
125
Demnach könnte es wiederum nicht Saskia sein, da die Ehe erst 1634 geschlossen worden sei,
die Bilder aber früher datiert werden müßten. Um diesen Widerspruch zu lösen, formuliert
Seeck die Annahme, Rembrandts Ehe sei zweimal geschlossen worden, dieser habe Saskia
zunächst gegen den Widerstand seiner „Schwägerschaft“ entführt und eine „dem Rechte nach
ungültig[e]“ Ehe vollzogen (Seeck 1898, 47), die später unter Zustimmung der nächsten Angehörigen Saskias legalisiert worden sei. Für diese Darstellung, die gleich jener Bodes nirgends überliefert ist, findet Seeck Unterstützung in einem Porträt Saskias, das „vom Künstler
wohl als Darstellung der Flora gemeint“ gewesen sei:98
„Jenes (...) Porträt trägt die Jahreszahl 1634 und muß wohl im April oder Mai, also noch vor der
Hochzeit Saskia’s entstanden sein, da sie mit lauter Blumen des ersten Frühlings geschmückt ist
und diese offenbar nach der Natur getreulich nachgezeichnet sind. Trotzdem läßt sich deutlich
wahrnehmen, daß sie guter Hoffnung ist (...). Sie muß also nicht nur 1633, sondern schon 1632 mit
ihrem späteren Gatten verbunden gewesen sein, wenn auch nicht auf gesetzlichem Wege.“ (Seeck
1898, 47)
Indem er das Flora-Bild als ein in jeder Hinsicht naturalistisches Abbild Saskias auffaßt,
kommt Seeck somit zu einer neuen Konzeption der Lebensverhältnisse Rembrandts um 1633.
Eine weitere Hypothese zu diesen Bildern, und damit eine dritte Variante zu Rembrandts Amsterdamer Junggesellenzeit, liefert Wilhelm Valentiner 1906 in dem Band Rembrandt in Bild
und Wort. Valentiner kann den Bildnissen keine Ähnlichkeit mit Saskia entnehmen, obwohl
auch er darin ein und dieselbe Person sieht. Bodes Lysbeth-Hypothese spricht er an, kann sich
ihr jedoch nicht anschließen. Vielmehr erscheint ihm eine Folgerung als wahrscheinlich, der
sich sowohl Bode als auch Seeck verschlossen hatten:
„(...) fast geht es über Bruderliebe hinaus, wie er sie mit Schmuck und herrlichen Gewändern ausstattete. Auch mag man sich wohl fragen: Sollte der Künstler, mit seiner stark sinnlich angelegten
Natur in diesen Jahren frei von Leidenschaft für das weibliche Geschlecht geblieben sein? Dann
aber ist zu erwarten, daß sich seine Erlebnisse in seiner subjektiven Kunst spiegeln, ebenso wie
sich später in ihr alles offenbart, was ihm an Leid und Liebe im häuslichen Leben begegnete. Keine
weibliche Gestalt aber hat in diesen Jahren eine gleich tiefgreifende Bedeutung für seine Kunst,
wie jenes Mädchen gehabt (...).“ (Valentiner 1906, 61 f.)
Wir hätten es bei dieser Person demnach mit einer ‘Jugendliebe‘ des Künstlers zu tun. Dabei
kehrt sich in Valentiners Argumentation die Richtung der bisher zitierten Schlußfolgerungen
um. Er geht von einem mittlerweile offenbar konsensfähigen Charakterzug Rembrandts aus,
dessen „stark sinnlich angelegte[r] Natur“, und schließt von dort aus auf die Kunst. Und er
98
Seeck 1898, 47. Seeck bezieht sich hier auf das in der Petersburger Eremitage aufbewahrte Bild.
126
formuliert eine Grundannahme, die wir in ähnlicher Weise bereits bei Bode fanden: Daß
nämlich Rembrandts Kunst einen „subjektiven“ Charakter habe und die Bilder deshalb als
Offenbarungen von „Leid und Liebe im häuslichen Leben“ des Künstlers gelesen werden
dürften.99 Die Konsequenzen dieser Annahme demonstriert Valentiner sogleich ein weiteres
Mal. Eingeleitet durch ein Geschmacksurteil über weibliche Schönheit verknüpft er das Werk
des Künstlers mit dessen Erscheinung, Charakter und Lebensumständen:
„Wenn freilich die Gestalt nichts von einer ‘ersten Liebe‘ an sich hat, wenn ihre Augen halb kindlich, halb blöde dreinsehen und sie sich ungelenk und schwerfällig benimmt, nun - Rembrandt war
nicht als Märchenprinz zur Welt gekommen, der unter den Schönsten seines Landes Brautschau
hält. Die Gestalten seiner Frühwerke sind der Ausdruck seines Wesens: sie sind unbeholfen wie
junge Bären, in den Zügen voller Derbheit, in der Bildung des Körpers massig und eckig. Er war ja
doch ein Sohn des Volkes. Er griff die Arbeit mit schweren, knochigen Händen an; kein Wunder,
daß den ersten Werken noch der Schweiß der Arbeit anhaftet.“ (Valentiner 1906, 62)
Angesichts des Potentials zur Reanimation und Veranschaulichung von Leben und Schicksal
des Künstlers, welches sich mittels der hier geschilderten Auffassung der Werke als biographischer Quellen erschließen läßt, wird es nicht verwundern, daß die Häufigkeit und die Intensität von deren Verwendung zunimmt, je literarischer die Texte werden, je weniger wissenschaftlich sie sich geben. Nicht selten wird die von Valentiner postulierte ‘Subjektivität‘
der Kunst Rembrandts in solchen Beispielen absolut gesetzt. So stellt etwa der kulturreformerisch engagierte Ferdinand Avenarius, Vorsitzender des Dürer-Bundes und Herausgeber der
Zeitschrift Der Kunstwart (vgl. Hein 1992, 92), die Motivwahl Rembrandts stetig in direkten
Zusammenhang mit dessen Privatleben:
„Während des Brautstandes alle die biblischen Bräute; dann Saskias Bildnisse; das ausgelassene
Doppelporträt in Dresden (...); als aber Saskia gestorben, die Klage in den ‘Drei Bäumen‘; dann die
melancholischen Landschaften von den einsamen Gängen um Amsterdam; und weiter die verschiedenen Bilder von Trost und Mitleid.“ (Avenarius 1906, 332) 100
99
An dieser Praxis ändert auch die skeptische Äußerung wenig, mit der Valentiner kurz zuvor die Reichweite
des ‘Werks als Quelle‘ eingeschränkt hatte: „Die Biographie Rembrandts wird stets lückenreich bleiben (...).
Über die Zeit bis zu seiner Heirat wüßten wir nichts weiter, wenn nicht die Werke uns etwas zu Hilfe kämen.
Freilich sie geben unsicheren Bescheid, will man sie über Tatsachen befragen.“ (Valentiner 1906, 60).
100
Die Radierung Die drei Bäume deutet vor Avenarius auch Alfred Wurzbach als Totenklage; er macht dort ein
im Gebüsch verborgenes Bildnis Saskias aus (Wurzbach 1886, 11). Zudem versteht er eine der umstrittendsten
Figuren in Rembrandts Werk in dieser Weise: „(...) der Auszug der Compagnie des Capitäns Franz Banning
Cock, welcher in dem Todesjahr der Saskia 1642 vollendet wurde, zeigt ebenfalls ihr Porträt in der einen Mädchenfigur, welche wie ein leuchtender Schatten mitten durch die ausziehenden Schützen schlüpft.“ (ebd.) Daß er
mit dieser Deutung nicht allein steht, wird im Kapitel zur Nachtwache ausgeführt.
127
Ganz ähnlich klingt es im selben Jahr bei Richard Muther, der mit seiner Vorliebe für den
französischen Impressionismus kulturpolitisch eher als Antagonist des deutschnational orientierten Avenarius zu behandeln wäre:
„Überhaupt stehen alle Bilder jener Jahre im Zusammenhang mit Rembrandts Verlobung. Das
plötzliche, scheinbar unlogische Auftauchen ganz entlegener Stoffe erklärt sich nur daraus, daß
Rembrandts sämtliche Werke persönliche Stimmungen symbolisieren. Es war so seltsam, daß er,
der Müllersohn aus Leiden, diese vornehme Patriziertochter [Saskia, M.H.] fast gegen den Willen
ihrer Verwandten gewann. Darum malte er sich als Fürsten der Unterwelt, der die Proserpia entführt. (...) Als der Vormund Saskias gegen das Verlöbnis ist, erinnert sich Rembrandt der Szene der
Bibel, wie Simson zu seinem Weibe gehen will und das Haus verschlossen findet. ‘Ich glaubte, du
wärest ihr gram geworden, und habe sie einem andern gegeben‘, ruft der Alte herunter. Rembrandt,
als Simson, droht mit geballter Faust.“ (Muther 1906a, 13)
Am chronologischen Faden der Werke wickelt Muther so das Privatleben des Künstlers ab:
„1635, als Saskia sich Mutter fühlte, hatte er die jubelnde, lichtdurchflutete Radierung der Verkündigung an die Hirten gezeichnet. Nun, da sein erstes Kind starb, begann er das Bild des Abraham,
der den Isaak opfern muß.“ (Muther 1906a, 14)
Und schließlich, nach Saskias Tod:
„In seinen übrigen Werken klingt zunächst die Erinnerung an Saskia aus. (...) Es ist kein Zufall,
daß er gerade damals den Tod Marias radierte. (...) Beim guten Samariter gedachte er der Stunden,
als er selbst am Sterbelager Saskias saß.“ (Muther 1906a, 16)
In Muthers Darstellungen erscheint das gesamte Werk des Künstlers als dessen ‘Selbstbildnis‘. Der erfolgreiche Kunstschriftsteller und Professor für Kunstgeschichte in Breslau bringt
seinen Ansatz zur Deutung der ‘subjektiven Kunst‘ Rembrandts selbst auf folgende Formel:
„Vielleicht ist es überhaupt nur möglich, Rembrandt näherzukommen, wenn man sich entschließt,
seine Bilder gar nicht als Bilder, sondern nur als seelische Dokumente aufzufassen.“ (Muther
1906a, 11)
Bevor wir aber, diesem Hinweis folgend, zur Deutung der Kunst als Quelle des ‘inneren Lebens‘ ihres Urhebers überwechseln, möchte ich noch ein Beispiel dafür bringen, wie durch
Verweise auf das Leben des Künstlers eine Erklärung für ein bestimmtes Phänomen des
Werks gefunden wird. Schon in der frühen klassizistischen Rezeption hatte sich der Begriff
des Helldunkel, beziehungsweise des clair-obscur oder chiaroscuro, als wichtige Kategorie
128
für die Beschreibung der Bildsprache Rembrandts eingebürgert.101 Bezüglich der Ursachen
für diese gestalterische Vorliebe des Holländers kursieren in der Literatur der vergangenen
drei Jahrhunderte verschiedene Erklärungskonzepte. Während bereits die Klassizisten mit
dem Hinweis auf Rembrandts skurrilen Charakter und seinen Sinn fürs Phantastische das
Werk aus dem Künstler heraus zu erklären trachteten - hier findet sich die These, Rembrandt
habe ein düsteres Atelier mit nur einem kleinen und hoch gelegenen Fenster bevorzugt - , 102
wurde auch der Einfluß von Vorbildern wie Caravaggio und Elsheimer diskutiert.103 Zur
Jahrhundertmitte stellt sich diesem genealogischen Prinzip aus dem Umfeld der Milieutheorie
Hippolyte Taines der Vorschlag zur Seite, die niederländischen Lichtverhältnisse und die
Bauart der Häuser seien für die besonderen Lichteffekte verantwortlich zu machen.104 Noch
näher an die Person des Künstlers führt die Erklärung heran, die hier vorgestellt werden soll.
Sie reanimiert mögliche Kindheitserinnerungen Rembrandts, der, als Sohn eines Müllers, oft
und gerne in der Mühle gespielt haben mag. So fragt Eberhardt Hanfstaengl 1939:
„Ist es nicht verführerisch zu glauben, daß die dumpfe, aber phantasieanregende Atmosphäre einer
Windmühle mit ihrem ewig klappernden Räderwerk, mit dieser von Mehlstaub durchtränkten Luft,
in der ein Lichtstrahl fast greifbar eingeschnitten steht - bewegte Figuren plötzlich hell erleuchtet,
um sie gleich wieder in schattenhaftem Dunkel verschwinden zu lassen -, daß dieser heimlich-unheimliche Raum in dem Werk Rembrandts, der hier seine Kindheit verbracht hat, immer wieder
hintergründig mitschwingt?“ (Hanfstaengl 1939, 3)
Es ist eine populär orientierte Schrift, in der Hanfstaengl diesen Vorschlag formuliert. Der
vormalige Direktor der Berliner Nationalgalerie mußte sich nach seiner Entlassung 1937 als
101
Sandrart stellt lediglich fest, Rembrandt ließe „in seinen Werken (...) wenig Licht sehen“ (1674, zit. nach
Slive 1953, 209). Félibien (1685) spricht davon, Rembrandt habe die Lichter und die Schatten sehr gut
verstanden (vgl. Slive 1953, 212). Roger de Piles (1699) spricht dann vom Helldunkel: „Il avoit une suprême
intelligence du Clair-obscur“ (zit. nach Slive 1953, 218). Im 18. Jahrhundert wurde eine phantastische Motivik in
helldunkler Ausführung häufig als „goût de Rembrandt“ bezeichnet, auch das „clair obscur à la Rembrandt“ war
eine vertraute Wendung (Slive 1953, 142). Die Verbreitung dieses Topos ist wesentlich mit dem
Sammlerinteresse an Rembrandts Radierungen verbunden. Ein Beispiel für die Kontinuität mag die Bezeichnung
Rembrandts als „roi du clair-obscur“ liefern (ohne Autor, in: L’Artiste, Band VI, Paris 1840, 420).
102
In dieser Art äußert sich Adam Bartsch (1797, XXVI).
103
Der Name Elsheimer fällt unter anderem bei Lübke 1877, 203; Bode 1883, 264; Michel 1893, 242; Veth
1906, 12; Hamann 1906, 322; von Caravaggio sprechen zum Beispiel Burckhardt 1877, 7; Michel 1893, 242;
Bode 1905, 3; Valentiner 1906, 26; Goldbeck 1906, 1162.
104
Athanase Coquerel (1869) gibt an, Rembrandt habe unter den nebligen Himmeln seiner Heimat gelernt, sparsam mit Licht umzugehen („Avant tout, sous un ciel brumeux où la clarté est rare et faible, Rembrandt apprit à
économiser savamment la lumière.“Coquerel 1869, 36). Auch von Alfred Lichtwark (1917 [1886], 270) wird das
Helldunkel durch die lokalspezifischen Innenräume mit den Fensterläden und durch die Fülle der Lichteffekte in
der Dämmerung begründet. Für Bode bezeugt das Helldunkel die Vorliebe der Holländer für das häusliche
Leben (1883, 26). Seine Argumentation läßt an Hegels Definition der deutschen „Gemüthsrichtung“ denken in
die auch die Holländer eingeschlossen wurden (vgl. Hegel 1939, 122).
129
Privatgelehrter finanzieren.105 Der promovierte Kunsthistoriker wiederholt seine spielerisch
geäußerte Spekulation noch einmal in seinem umfassenderen Rembrandtbuch von 1947:
„Es bleibt immer ungeklärt, wie und wann bei Rembrandt der Sinn für das Licht geweckt wurde,
wo dies Grunderlebnis seinen Anfang nimmt - sicher nicht erst, als er in die Lehre ging und durch
seine Lehrer von Elsheimer, von Caravaggio erfuhr (...). Man möchte glauben, daß hier früheste
Kindheitseindrücke zugrunde liegen, die sich unauslöschlich im Gemüt des Künstlers eingegraben
haben. Hat er in der väterlichen Mühle beobachtet, wie ein steiler Sonnenstrahl in der mit Mehlstaub gefüllten Luft einen kompakten Lichtstrahl zeichnet? Wie Gegenstände, Gesichter plötzlich
unwahrscheinlich hell aufleuchten und anderes um so dichter in Dämmer und Nacht eingehüllt
wird? Unheimlich gespensterhaft tauchen Gestalten auf und unter, alles Rätselvolle kann in dieser
Atmosphäre gedeihen.“ (Hanfstaengl 1947, 13)
Wie Hanfstaengl seinen Vorschlag im Status der Frage beläßt, so müssen auch wir mit Mutmaßungen über die Vorläuferrolle Wilhelm Lübkes verfahren, der 1877 geschrieben hatte:
„Wohl aber mag der Knabe, der sich nach Kinderart gern und viel in der Mühle aufhielt, an den
durch die Luken einfallenden Sonnenstrahlen, die geheimnisvoll in die dunkeln mehldurchstäubten
Räume drangen, den ersten Eindruck jener zaubervollen Helldunkelwirkungen erfahren haben, die
er später zu einem neuen Element in der Kunst ausbilden sollte.“ (Lübke 1877, 197) 106
Wenn sich diese Äußerungen auch selbst als ‘Phantasien über Rembrandt‘ kennzeichnen, so
ist darin doch das besagte Prinzip erkennbar, Fragen des Werkes durch Bezugnahme auf die
Person Rembrandts, seine Erlebnisse und Erfahrungen, zu klären.
Weit häufiger als solche Versuche zu einer naturalistischen Begründung des gestalterischen
Phänomens ‘Helldunkel‘ finden sich Beispiele für dessen metaphorische Verwendung.107 Angesichts seiner hohen Präsenz in der Auseinandersetzung mit Rembrandts Kunst liegt das
nahe, zumal dieser Begriff mit seiner paradoxalischen Spannung und seinem Verweis aufs
Visuelle über lyrische Qualitäten verfügt. Als Wilhelm Bode 1905 im abschließenden Band
105
Vgl. Brenner 1963; vgl. auch die biographische Angabe in Hanfstaengl 1947, 189.
Ein drittes Beispiel dieser Animation Rembrandtscher Kindheitstage findet sich bei Otto Krimmel: „man kann
sich leicht den Knaben denken, wie er das seltsame Spiel des Lichtes verfolgt, wenn die Sonne durch enge
Luken, wie durch Kanäle, in das von Mehlstaub erfüllte Innere leuchtet, wenn geheimnisvoll die riesigen Flügel
sich drehen, gigantische Schatten weithin werfend“ (Krimmel 1906, 97). Ähnlich äußern sich Verhaeren (1912,
16) und Esswein (1921, 13). Vgl. zu diesen Beschreibungen auch die kurze Mühlen-Szene im Spielfilm
Rembrandt (Steinhoff 1942, Sequenz 4, Szene 25).
107
So trägt etwa der Rembrandt-Roman von Valerian Tornius (1934) den programmatischen Titel Zwischen Hell
und Dunkel. Zentrale Bedeutung hat der Begriff bei Julius Langbehn, der ihn zur Illustration seiner Vorstellung
einer ‘Synthese‘ der auseinandertreibenden Kräfte der Gesellschaft verwendet: „Jedes Ding strebt nach Ergänzung. Etwas wohltätige Dunkelheit würde der heutigen deutschen Bildung sehr gut tun; mit der gangbaren Aufgeklärtheit gemischt, würde sie für das geistige Dasein des Deutschen ein zukunftschwangeres Helldunkel ergeben.“ (Langbehn 50 1922, 79).
106
130
des achtteiligen Werkkatalogs seine Einführung in „Rembrandt’s Leben und Charakter“ beginnt, bedient er sich dieser Metaphorik als Einstiegsformel:
„Während der Lebenslauf des ‘Malerfürsten‘ in den spanischen Niederlanden, Peter Paul Rubens,
lichtvoll und glänzend ist wie seine Bilder, zeigt das Leben seines jüngeren Zeitgenossen in den
nördlichen Niederlanden einen starken Wechsel von Licht und Schatten, jenes eigentümliche Helldunkel wie in seinen Gemälden, worin das Dunkel einen weit grösseren Raum einnimmt als das
Licht.“ (Bode 1905, 1)
Wie die Gegenüberstellung von Rembrandt und Rubens, so hat auch die biographisch orientierte Verwendung der Helldunkel-Metaphorik zu diesem Zeitpunkt bereits weniger innovative als topische Qualitäten. Ihr wirkungsvoller Zusammenschluß findet sich bereits 1876 bei
Eugène Fromentin. Dieser Autor erschließt uns auch den Übergang zum nächsten Abschnitt,
indem er zwischen einem öffentlichen und einem privaten Rembrandt unterscheidet, deren
Schicksal unter dem Dach der Metapher zusammenfindet:
„Rembrandts Leben ist, wie seine Malerei, voll von Halbschatten und dunklen Winkeln. Ebenso
wie sich Rubens zeigt, so wie er war, im vollen Lichte seiner Werke, seines öffentlichen und seines
privaten Lebens, klar, strahlend, schillernd von Geist, gut gelaunt, von stolzer Anmut und Würde,
ebenso entzieht sich Rembrandt und scheint immer etwas zu verbergen, sei es gemalt, sei es gelebt.“ (Fromentin 1972 [1876], 251) 108
2.1.3.3 Werk und Charakter
Auch wenn die Datierungen der zum Thema ‘Helldunkel‘ zitierten Beispiele es zum Teil nicht
erwarten ließen, ist doch festzustellen, daß bereits im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts
das Interesse daran zurückging, Rembrandts Lebensumstände, die öffentliche Seite seiner
Biographie, aus seiner Kunst heraus deuten zu wollen. Ein Grund dafür ist in den Informationen zu sehen, die in den 80er Jahren beim Durchforschen der Archive bekannt wurden und
die sich mit den geltenden bürgerlichen Moralvorstellungen kaum zur Deckung bringen
ließen. Diese Beobachtung muß jedoch in die umfassendere Tendenz zum Wandel des Rembrandtbildes in der zweiten Jahrhunderthälfte eingeordnet werden, die den Künstler und sein
Werk von einem beispielhaften Vertreter der Gesellschaft seiner Zeit zu einem vermeintlichen
Außenseiter derselben werden läßt. Indem Rembrandt von den Autoren zunehmend im Kon108
„La vie de Rembrandt est, comme sa peinture, pleine de demi-teintes et de coins sombres. Autant Rubens se
montre tel qu’il était au plein jour de ses oeuvres, de sa vie publique, de sa vie privée, net, lumineux et tout chatoyant d’esprit, de bonne humeur, de grâce hautaine et de grandeur, autant Rembrandt se dérobe et semble toujours cacher quelque chose, soit qu’il est peint, soit qu’il est vécu.“ (Fromentin 1972 [1876], 251). Die
Übersetzung erfolgte unter Verwendung der deutschen Fassung von Schellenberg (2 1919, 321).
131
flikt mit seinen Zeitgenossen gesehen wird, verlagert sich der imaginierte Ursprungsort seiner
Kunst nach Innen. Analog dazu werden die einzelnen Arbeiten des Künstlers verstärkt als
Quellen für seinen Charakter gedeutet, man sieht in ihnen die Entäußerung seines Seelenlebens.
Begleitet wird diese Unterscheidung zwischen äußeren ‘Lebensumständen‘ und innerem
‘Seelenleben‘ von der des ‘Menschen Rembrandt‘ und des ‚Künstlers Rembrandt‘, wobei
letzterer als die schöpferische Instanz, und damit als der ‘Wahre‘ von beiden gilt. Dem ‘Rembrandt der Archivquellen‘ kommt nur noch eine sekundäre Bedeutung zu. Der ‘Künstler
Rembrandt‘ steht im Vordergrund; das Werk wird zur entscheidenden Quelle aller Vorstellungen von dieser Figur und zum Prüfstein109 für das Urteil über sie.
Statt wie Kris und Kurz angesichts dieses Phänomens von einer Verknüpfung von Leben und
Werk zu sprechen, 110 sehe ich darin im Anschluß an Foucaults „Funktion Autor“ eine ‘Generierung des Künstlers aus dem Werk‘. Denn es ist hier ja gerade nicht die Verknüpfung des
äußeren Lebens mit dem Werk zu beobachten, sondern die Negierung der Bedeutung der historisch-empirischen Figur und ihre Ersetzung durch eine rein diskursive Künstlerfigur, die
ihre Konturen im wesentlichen aus den Deutungen der Werke gewinnt. Die historisch-empirischen Figur bildet dabei nur die Hülle an sich unbedeutender Namen, Ereignisse und Daten,
die Charakterstudie dieser Gestalt wird jedoch allein aus dem Werk entwickelt. Bevor ich den
Zusammenhang dieser Beobachtungen mit der hermeneutischen Methodik herzuleiten versuche, möchte ich nun zunächst einige Beispiele für dieses werkfixierte Bild des ‘inneren
Rembrandt‘ vorstellen.
Carl Neumann formuliert 1902 offensiv die Vorstellung vom künstlerischen Artefakt als biographischer Quelle:
109
Als Prüfstein („toetssteen“) für alle Aussagen über den Künstler hatten De Roever und Bredius noch 1887 das
Archiv bezeichnet. Die kunsthistorische Biographik ist ihnen in den nächsten Jahrzehnten nicht darin gefolgt.
Von wenigen Ausnahmen abgesehen, ist ihr letzter Bezugspunkt zum Urteil über Rembrandt immer ‘dessen
Werk‘ (Bredius/Roever: Rembrandt. Nieuwe Bijdragen tot zijne levensgeschiedenis II, in: Oud Holland, 5. Jg.,
1887, 210 - 227.)
110
In ihrem epochenübergreifenden Vergleich der Motivik von Künstlerbiographien haben diese beiden Autoren
verschiedene Arten des Versuches beschrieben, Leben und Werk des Künstlers als Einheit darzustellen
(Kris/Kurz 1934, 113 ff.). Sie unterscheiden zwei „zentrale Gedanken“, um die sich die Beispiele ordnen ließen.
Der erste Gedanke betrifft den Versuch, „die Entstehung des Kunstwerks durch lebensnahen Vergleich zu
erfassen“, also biologistische Konzepte von Geburt und Schöpfung oder populäre Psychologisierungen wie das
Triebmodell des Sexuallebens auf die Kunstproduktion zu übertragen. Das zweite Modell versucht, „zwischen
Kunstwerk und Künstler eine unmittelbare Verbindung herzustellen“. Dabei seien neben den Ansätzen „aus
Eigentümlichkeiten des Kunstwerkes auf Lebensumstände des Künstlers zu schließen“ auch solche zu beobachten, „den Charakter des Künstlers mit dem seiner Werke zu verbinden, aus dem Werk auf den Künstler zu
schließen“ (ebd., 117). Mit diesen Beobachtungen stimme ich weitgehend überein, was allerdings nicht für die
Erklärung des Phänomens gilt, die Kris und Kurz vorschlagen. Sie sehen in diesen Strategien den literarischen
Ausdruck der „Auseinandersetzung mit der Aura von Macht und Geheimnis, die den Künstler umgibt“ und machen darin demnach eine Art psychologische Gesetzmäßigkeit aus. In Umkehrung dieser Erklärung wäre jedoch
zu bedenken, daß die „Aura“ nicht zuletzt ein Produkt der beschriebenen Erklärungsmodelle darstellt.
132
„Aus der Einsamkeit seiner Leydener Jahre und aus der äußerlichen Bewegtheit des ersten Amsterdamer Jahrzehnts dringt kaum ein artikulierter Ton, kaum ein Wort zu uns. Nur seine Werke sind
da, und sie haben Zungen, zu reden.“ (Neumann 1902, 333)
Unter Hinweis auf den geringen Umfang jener Art von Quellen, derer sich Biographik sonst
gerne bedient, fordert auch Wilhelm Valentiner (1906) zu dieser besonderen Form der Lektüre der Werke auf:
„Die Briefe [an Huygens, M.H.], im ganzen sieben, sind die einzigen, welche uns von Rembrandt
erhalten sind. Ihr wenig persönlicher Inhalt besagt, daß dem Künstler kaum daran lag, sein Wesen
anders als mit Hilfe der bildenden Kunst auszudrücken.“ (Valentiner 1906, 82)
In dieser Sichtweise lädt Rembrandt selbst zur biographischen Deutung seines Werks ein und
legitimiert so die Methodik des Kunsthistorikers. Noch 1948 wird Richard Hamann den Mangel an Dokumenten durch die besondere Quellenqualität der Kunstwerke ausgeglichen sehen:
„Ist es ein unglücklicher Zufall, daß nur so wenig Urkundliches über sein Leben erhalten ist?
Kaum! Rembrandts Leben ist sein Werk (...). In diesem Werk ist das Menschliche aufgespeichert,
das sein Leben bedeutet, in diesem Werk erlebte er es.“ (Hamann 1948, 11)
Wenn Rembrandts Leben sein Werk ist, dann haben wir mit diesem Werk zugleich ihn selber,
Rembrandt, oder doch wenigstens sein Wesentliches. Konsequenter als es Hamann hier faßt,
ließe sich die Vorstellung einer Identität von Autor und Werk wohl kaum formulieren. Hier ist
nicht von einer historischen Gestalt die Rede, sondern von einer ins Werk projizierten Erscheinung. Der empirische ‘Rembrandt‘ der Archivquellen verblaßt angesichts einer derartigen Wiederbelebung ‘Rembrandts‘ als diskursiver Künstlerfigur.
2.1.4 Exkurs: Hermeneutik als geisteswissenschaftliches Paradigma
2.1.4.1 Zur historischen Stellung hermeneutischer Theoriebildung
Den theoretischen und wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund der zuletzt beschriebenen
Ansätze einer Imagination des Künstlers aus dem Werk bildet die Hermeneutik. Als Lehre
oder Kunst vom ‘Verstehen‘ kann sie in den für uns relevanten Jahrzehnten um 1900 als ein
Konzept mit paradigmatischer Bedeutung für die Geisteswissenschaften angesehen werden.
Für eine hermeneutische Sichtweise auf bildende Kunst (bzw. Literatur, Musik etc.) stellt die
Person des künstlerischen Urhebers einen entscheidenden Faktor zum Werkverständnis und
zugleich selbst einen zentralen Gegenstand des Erkenntnisinteresses dar. Friedrich Schleiermacher, Wegbereiter der hermeneutischen Methodik im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts,
unterteilt die „psychologische Aufgabe“ des Verstehens in zwei Aspekte:
133
„Das eine ist, den ganzen Grundgedanken eines Werkes zu verstehen, das andere, die einzelnen
Teile desselben aus dem Leben des Autors zu begreifen. Jenes ist das, woraus sich alles entwickelt,
dieses das in einem Werke am meisten Zufällige. Beides aber ist aus den persönlichen Eigentümlichkeiten des Verfassers zu verstehen.“ (Schleiermacher 1977 [1838], 185) 111
Mit dem Werk gilt es demnach zwangsläufig zugleich den Verfasser oder, in unserem Fall,
den Künstler zu verstehen, dessen „persönliche[n] Eigentümlichkeiten“ das Energiezentrum
der Werkgenese bilden. 112
Zeitgenössisch zur hier untersuchten Literatur ist es der Berliner Philosophieprofessor Wilhelm Dilthey, der die theoretischen Grundlagen zur hermeneutischen Methodik bereitstellt. In
seinem Entwurf zur Entstehung der Hermeneutik sind die für unseren Zusammenhang wesentlichen Punkte formuliert. Bereits der erste Lehrsatz dieser Abhandlung stellt heraus, daß
sich das Verständnisinteresse über das Werk - Dilthey denkt hier primär an das literarische
Werk - auf dessen Urheber richtet:
„(Satz 1) Verstehen nennen wir den Vorgang, in welchem aus sinnlich gegebenen Äußerungen seelischen Lebens dieses zur Erkenntnis kommt. (...)
(Satz 3) Das kunstmäßige Verstehen von schriftlich fixierten Lebensäußerungen nennen wir Auslegung, Interpretation.“ (Dilthey, zit. nach Pöggeler 1972, 74)
Wie aber ist dieses Verstehen möglich, wenn doch zugleich die Eigentümlichkeit der subjektiven Äußerung betont werden soll? Wie bereits vor ihm Friedrich Schleiermacher,113 löst
auch Dilthey dieses Problem durch eine spannungsvolle Konstruktion des Individuums,
welches seine einzigartige Subjektivität auf einer überindividuellen Basis menschlicher
Wesensart entfaltet:114
„Jeder ist in sein individuelles Bewußtsein eingeschlossen gleichsam, dieses ist individuell und teilt
allem Auffassen seine Subjektivität mit. (...) Wie kann eine Individualität eine ihr sinnlich gegebene fremde individuelle Lebensäußerung zu allgemeingültigem objektiven Verständnis sich bringen? Die Bedingungen, an welche diese Möglichkeit gebunden ist, liegt darin, daß in keiner fremden individuellen Äußerung etwas auftreten kann, das nicht auch in der auffassenden Lebendigkeit
enthalten wäre. Dieselben Funktionen und Bestandteile sind in allen Individualitäten, und nur durch
111
Hier zitiert nach Werber/Stöckmann 1997, 237.
Der Begriff ‘Eigentümlichkeit‘ verweist auf die Verbindung zur juristischen Frage des Eigentumsrechts am
geistigen Werk. Dieses Problem wurde ausführlich von Plumpe (1979; 1981) und von Bosse (1981) erörtert und
wird von mir im Exkurs zur juristischen Konzeption des Eigentums dargestellt. Zum Zusammenhang mit der
Hermeneutik vgl. auch Werber/Stöckmann (1997) und Zons (1983).
113
Vgl. Gadamer 1970, 1064.
114
Diese Spannung kann verglichen werden mit dem zwiespältigen Verfahren der Abgrenzung Rembrandts von
seinen Lehrern, Schülern und direkten Zeitgenossen bei gleichzeitiger Verbindung des Künstlers mit historischen
Ahnen und zukünftigen Erben.
112
134
die Grade ihrer Stärke unterscheiden sich die Anlagen verschiedener Menschen.“ (Dilthey, zit.
nach Pöggeler 1972, 76)
Auf folgenden Voraussetzungen fußt demnach der hermeneutische Akt des „allgemeingültige[n] objektiven“ Verstehens:
(1) Das Werk gilt als sinnlich gegebene Äußerung seelischen Lebens, in ihm wird die Subjektivität des individuellen Bewußtseins mitgeteilt (Diese Position werde ich im Anschluß
unter dem Begriff des ‘Expressionsprinzips‘ analysieren).
(2) Der Unterschied zwischen fremder und auffassender „Lebendigkeit“ (d.i. ‘Individualität‘)
beruht lediglich auf einer graduellen Variation derselben „Funktionen und Bestandteile“.
Diese Gleichartigkeit des Materials ermöglicht es dem Interpreten, im Werk die eigentümliche Gestalt des schöpferischen Individuums zu erkennen.
(3) Damit auf Basis dieser grundlegende Gemeinsamkeit tatsächlich ein Verstehen ermöglicht
wird, ist allerdings eine besondere Befähigung dieses Interpreten gefordert:
„Die Auslegung ist ein Werk der persönlichen Kunst, und ihre vollkommenste Handhabung ist
durch die Genialität des Auslegers bedingt; und zwar beruht sie auf Verwandtschaft, gesteigert
durch eingehendes Leben mit dem Autor, beständiges Studium. (...) Hierauf beruht das Divinatorische in der Auslegung.“ (Dilthey, zit. nach Pöggeler 1972, 76)
Der Akt des Verstehens wird selbst zur Kunst, ihm wird divinatorischer (= seherischer) Charakter zugesprochen. Damit gleicht er sich dem Schöpfungsakt an. Entsprechend nobilitiert
Dilthey die Interpreten und spricht von „genialen Künstlern der Auslegung“ (ebd., 75). Sowohl die Fähigkeit zur Entäußerung als auch die zu deren Verständnis beruhen in dieser
Sichtweise zuletzt auf einer emphatischen Vorstellung von den Potentialen genialer Individuen. Hans-Georg Gadamer faßt Diltheys Position zusammen:
„Verstehen ist reproduktive Wiederholung der ursprünglichen gedanklichen Produktion aufgrund
der Kongenialität der Geister.“ (Gadamer 1970, 1064)
Die durch Schleiermacher und nach ihm durch Dilthey formulierten Möglichkeiten des Verstehens können als eine elementare Voraussetzung für die wissenschaftsgeschichtliche Epoche des Historismus gelten. Die Hermeneutik bildet die Grundlage für die historischen Geisteswissenschaften, also auch für die Kunstgeschichte:
„Insbesondere die psychologische Interpretation wurde in der Nachfolge Schleiermachers, gestützt
durch die romantische Lehre vom unbewußten Schaffen des Genies, die immer entschiedenere
theoretische Basis der Geisteswissenschaften insgesamt.“ (Gadamer 1970, 1064)
135
Raimar Zons stellt neben der Entwicklung geisteswissenschaftlicher Disziplinen aus einem
hermeneutischen Interesse zugleich den Zusammenhang dieses Interesses mit dem Konzept
der urheberrechtlichen „Werkherrschaft“ (Bosse) des Autors heraus:
„Geisteshermeneutik also, die sich später ‘Geisteswissenschaft‘ nennt, methodisiert Autorschaft
und Werkherrschaft.“ (Zons 1983, 121)
Damit ist die Hermeneutik als der wissenschaftliche Theoriekomplex benannt, der das Prinzip
künstlerischer Autorschaft stützt und entscheidend an der Plausibilisierung der modernen
Subjektkonzeption beteiligt ist.
2.1.4.2 Beispiele hermeneutischer Programmatik in der Rembrandtliteratur
Rembrandt zu ‘verstehen‘ und ein angemessenes Bild von seiner ‘eigentümlichen‘ Persönlichkeit zu zeichnen kann als ein primäres Interesse der überwiegenden Zahl der Publikationen angegeben werden, die sich in den Jahrzehnten um 1900 mit diesem Künstler befassen.115
Häufig liegt dieser Anspruch den Darstellungen als unausgesprochene, selbstverständlich erscheinende Prämisse zugrunde, nicht selten wird er jedoch auch programmatisch vorgetragen.116 Als erstes prominentes Beispiel der expliziten Formulierung eines hermeneutischen
Begehrens kann uns nochmals Carl Neumann dienen. Im Vorwort zur ersten Auflage seiner
Rembrandt-Monographie (1902) formuliert Neumann sein Erkenntnisinteresse und benennt
die Quellen, die er zum Erreichen seines Ziels nutzen will:
„Der Genius enthält in sich eine Überfülle von Möglichkeiten, von denen die geleisteten Werke
vielleicht nur eine kleine Lese und Auswahl sind. In dem Augenblick, wo diese Beobachtung und
Erkenntnis gewonnen wird und sich als ein Problem auftut, und wo es nun gilt, die Künstlerseele
als das eigentlich Schaffensmächtige und Ursprüngliche zu schildern, zu begreifen, in ihrer Psychologie zu analysieren, verwandeln sich die Werke ihrer Zahl und vermeintlichen Vollständigkeit
nach in etwas Zufälliges; sie erscheinen nun als Belege, als Äußerungsweisen - und um so wichtigere Belege, je charakteristischer sie sind - einer Kraft, die über ihnen steht. Die Künstlerpersönlichkeit wächst über den Werken empor, und es entsteht der unsägliche Reiz, diese Persönlichkeit
zu fassen, aus den Werken herauszuarbeiten und als das eigentlich Wahre zum Leben und Sprechen
zu bringen.
Etwas derart hat mir vorgeschwebt, als ich dieses Buch schrieb.“ (Neumann 1902, VI)
115
Es sei an dieser Stelle nochmals betont, daß die Rembrandtliteratur hier lediglich als ein Beispiel für das umfassende Feld einer biographisch orientierten Kunstgeschichtsschreibung fungiert und daß dieses Feld um 1900
insgesamt von einer hermeneutischen Annäherung an Kunst und Künstler bestimmt ist.
116
In diesem Anspruch stimmen Texte überein, die wir im Falle eines Rückgriffs auf konventionelle Unterscheidungskriterien (wissenschaftlich vs. populär; seriös vs. trivial) voneinander abgrenzen müßten - eine Beobachtung, die wiederum für eine großzügigen Rahmung des Analysematerial spricht.
136
Diesem Bekenntnis zufolge betrachtet es Neumann als seine Aufgabe, „die Künstlerseele als
das eigentlich Schaffensmächtige und Ursprüngliche zu schildern, zu begreifen, in ihrer Psychologie zu analysieren“. Als wesentliche Quellen dazu sieht er die Werke an, die er „als Belege, als Äußerungsweisen“ der „Künstlerpersönlichkeit“ betrachtet. Ganz im Sinne einer
diltheyschen Hermeneutik besteht das Ziel seiner interpretatorischen Bemühungen darin,
diese Persönlichkeit „als das eigentlich Wahre zum Leben und Sprechen zu bringen“.
In vergleichbarer Weise verleiht auch Wilhelm Valentiner (1906) einem Interesse Ausdruck,
daß zum Künstlerindividuum durchdringen möchte. Dabei sieht er die Archivdokumente als
ungeeignete Quellen an und setzt dagegen die Werke als Spuren, die wenigstens ein partielles
Verständnis der „innere[n] Geschichte“ Rembrandts zulassen:
„Die Finanzgeschichte Rembrandts kann man aus diesen Akten schreiben, aber nicht die Geschichte seines Lebens. Sie geben keine Antwort auf die Frage, wo die Gönner und Freunde blie ben, als die Not hereinbrach, und als so viele Schätze verschleudert wurden; sie geben noch weniger Einsicht in die Empfindungen und Leiden Rembrandts. Für die innere Geschichte des Künstlers
in den Jahren von 1642 bis 1656 sind die Urkunden stumm. Wieder sind aber die Werke da, um zu
reden. (...) Nur den allgemeinen Umriß einer tiefgehenden Wandlung des Menschen lassen sie erkennen. Und diese Wandlung ist Entäußerung, Vertiefung, Beseelung. (...) Die Erscheinung mag
eine Täuschung wechselnder Formen sein; aber sie läßt uns ahnen, daß hinter ihr eine Wahrheit
steht, die ihr Wesen ist, auch wenn es uns nicht beschieden wäre, dieses Wesen voll zu erfassen.“
(Valentiner 1906, 365/366)
Wenn Valentiner die Werke Rembrandts als Zeugnisse zur Einsicht in die „Empfindungen
und Leiden“ des Künstlers bezeichnet, stellt er sich methodisch in die Tradition Diltheys und
dessen Programm der Erkenntnis des „seelischen Lebens“ aus den „sinnlich gegebenen Äußerungen“. Seinen Ansatz einer Genese der Künstlerfigur aus dem Werk erklärt der Autor als
angemessene Methode zum Verfassen der Geschichte von Rembrandts Leben, wobei er zugleich den Anteil historisch-empirischer Quellen an der Lösung dieser Aufgabe abstreitet. Das
‘eigentliche‘ Leben des Künstlers liegt in den Werken, in den Akten liegt nur dessen „Finanzgeschichte“.
Ein weiteres Element der diltheyschen Methodik, die elitaristische Konzeption der Möglichkeit eines „kongenialen“ Verstehens, findet sich bei Theodor Hetzer (1926):
„Es ist sehr leicht, aber auch sehr billig, in einem allgemeinen und rührenden Sinne auf das tiefe
Gemüt, den frommen Sinn des ‘magischen Lichtmalers‘ Rembrandt hinzuweisen. Allein, es ist ungeheuer schwer, wahrhaft in die seelischen Tiefen Rembrandts, dieses sehr ungewöhnlichen Individuums Rembrandt zu dringen. Es ist wahrhaft etwas Rätselvolles und Abgründiges, etwas Uner-
137
gründliches in seiner Kunst, es ist ganz etwas anderes als die Gefühle, die ein Durchschnittspublikum sich von ihm bestätigen läßt. Es gehört ein irgendwie kongeniales Wesen dazu, hier mit Rembrandt umzugehen, ihn hier zu interpretieren.“ (Hetzer 1926, 250)
Im selben Jahr in dem Hetzer diese Äußerung in seiner Vorlesung zu Rubens und Rembrandt
vorträgt, veröffentlicht Werner Weisbach seine Rembrandt-Monographie. In diesem umfassenden Werk vereint der Berliner Professor für Kunstgeschichte wissenschaftlich-kritische
Methodik mit der Absicht, eine breite Leserschaft zu erreichen. 117 Die quellenkritische Praxis
des Kunsthistorikers und sein offensiver Widerspruch gegen zahlreiche empirisch nicht tragbare Topoi der Rembrandtliteratur schließen dabei keineswegs eine hermeneutische Perspektive auf Werk und Künstler aus. Vielmehr beginnt Weisbach seinen Text, indem er eine derartige Beschäftigung mit „Werk und Leben der großen künstlerischen Genien“ als ein gleichsam anthropologisch konstantes „Bedürfnis von Kulturvölkern“ beschreibt:
„Aus dem Interesse für die als beglückende ästhetische Erscheinungen empfundenen Werke erwächst ein Interesse für ihre Schöpfer, das sich in verschiedenen Formen äußert. Die Menschen
bringen diesen, die sie als Ausnahmen und als Gestalter schöner wertvoller Dinge ansehen dürfen,
auch eine besondere menschliche Teilnahme entgegen, suchen sie sich auf diese oder jene Weise
verständlich zu machen und in ihr Wesen einzudringen.“ (Weisbach 1926, 1)
Weisbach warnt zwar davor „aus mehr oder weniger zuverlässigen Quellen und Dokumenten
eine menschliche Physiognomie (...) [des] Helden herauszupräparieren, Lücken durch eigens
konstruierte psychologische Motivierungen und aus der Phantasie geschöpfte Zutaten auszufüllen, um ein möglichst abgerundetes Bild“ zu bieten (ebd.), doch erscheint ihm andererseits
auch eine „rein formale Analyse (...) [die] von allem Menschlich-Persönlichen abzusehen
sucht“ als unzureichender Weg zur „Aufhellung von Kunstwerken und der Kunst“ (ebd., 2):
„Ist durch sie [die rein formale Analyse, M.H.] das künstlerische Verständnis gewiß in e i n e r
Richtung vertieft und verfeinert worden, so genügt sie doch nicht gegenüber Werken, die sich als
Schöpfungen von durchaus individueller Prägung im höchsten Sinne erweisen.“ (Weisbach 1926,
2)
Und für diese ‘höchsten‘ Leistungen der künstlerischen Natur stellt Weisbach fest:
„In jedem Fall sind in die Werke (...) wesentliche Eigenschaften ihres Schöpfers eingegangen, sie
stellen sich als Manifestationen seines Inneren dar; feinste Schwingungen der Seele haben in ihnen
Spuren hinterlassen. Die Schöpfung als Ganzes kann als Ausdruckssymbol für die geistig-seelische
117
Zur Person Weisbachs vgl. dessen Autobiographie (Weisbach 1956).
138
Gerichtetheit und für die Anschauungsform des Menschen genommen werden.“ (Weisbach 1926,
2)
Von dieser Theorie des Werks als Ausdruck der „wesentliche[n] Eigenschaften“ seines
Schöpfers geht der Kunsthistoriker dazu über, seine methodische Position zu erläutern, die
mit der Hermeneutik Diltheys im Einklang steht:
„Das Werk und den Menschen als eine Einheit zu begreifen ist eine Hauptaufgabe unserer Betrachtungsweise: das Werk aus dem Menschen und den Menschen aus dem Werke zu deuten. In je dem Individuum steckt eine geistige Einheit, die das Zentrum seines Wesens bildet. (...) Die geistige Einheit eines Menschen kann für uns nur verständlich und nachfühlbar gemacht werden durch
eine Synthese dessen, was an geistigen Regungen, an Bekundungen, an Handlungen bei ihm das
Wesentliche und Maßgebende ist. Ein Erschauen jener wesentlichen Symptome muß der Zusammenschau vorangehen. Ebenso muß durch eine Analyse der im zeitlichen Verlaufe sich entwic kelnden Werke der Gesamtcharakter des Werkes als ein Ganzes erschlossen werden.“ (Weisbach
1926, 2 f.)
Ähnlich wie bereits Schleiermacher und Hegel beschreibt Weisbach den ‘hermeneutischen
Zirkel‘ des Verstehens als eine Folge von Lektüren, die sich vom einzelnen Werk auf das
‘Lebenswerk‘ und wieder zurück bewegt und so erst bei „zweiter und dritter Lektüre den
‘Sinn‘ des Teils“ erschließt (Zons 1983, 119). Auch Schleiermachers Regel von dem „ganzen
Grundgedanken eines Werkes“, dessen Verständnis erst die Bedeutung der einzelnen Teile
erschließt und im Hinblick auf die „persönlichen Eigentümlichkeiten des Verfassers“118 entwickelt werden muß, wird von Weisbach aufs Neue formuliert:
„Will man die Werke, die sich in einer Reihe von Einzelleistungen darstellen, als Gesamtheit erfassen, so muß man ihrem Zusammenhang mit der geistig-seelischen Einheit, aus der sie hervorgewachsen sind, nachgehen. Man hat in der Wandlung und Entwicklung, der sie sich unterworfen
zeigen, den Pol aufzusuchen, auf den sich alles beziehen läßt. Dann erweisen sich die einzelnen
Kundgebungen als Emanationen jener individuellen Einheit, als Spiegelungen von Seele und Charakter ihres Schöpfers. Alles was an geistig-seelischen Elementen in einem Werke Ausdruck gewinnt, geht in irgendeiner Form auf die geistig-seelische Struktur des Schaffenden zurück.“ (Weisbach 1926, 4)
Der Kunsthistoriker bindet in diese Bewegung eines wechselseitigen Verstehens des „Grundgedankens“ eines Künstlers und seiner Werke auch die Frage nach den sozialen und histori-
118
Schleiermacher 1977 [1838], 185, hier zitiert nach Werber/Stöckmann 1997, 237.
139
schen Bedingungen der Werkentstehung ein (ebd., 3). Zweck dieser zusätzlichen Informationen ist und bleibt jedoch die Erkenntnis des schöpferischen Individuums:
„Das Phänomen Rembrandt mit seiner zwiefachen Wesensäußerung: als gelebtes Leben und als geschaffenes Werk in seiner Einheit zu erfassen, sei das Ziel, dem wir uns nach Möglichkeit anzunähern bestrebt sein wollen.“ (Weisbach 1926, 5)
2.1.4.3 Zur hermeneutischen Tendenz anti-wissenschaftlicher Einfühlungsmethoden
Diese Reihe von Beispielen hermeneutischer Programmatik in der Rembrandtliteratur ließe
sich fortsetzen,119 und in der Tat sollte sie noch um einen Aspekt ergänzt werden: um eine dezidiert anti-wissenschaftliche Abgrenzungsformel, der sich verschiedene Autoren zur Legitimierung ihrer Aussagen bedienen. Die fraglichen Autoren folgen in der Regel einem Modell,
das Wissenschaft und Kunst als zwei konträre Methoden zur Wirklichkeitserkenntnis ansieht,
wobei der wissenschaftlichen Rationalität die künstlerische Intuition als Methode gegenübergestellt wird. Aus dieser Perspektive erscheint es ihnen verständlicherweise absurd, wissenschaftliche Erkenntnisse über Kunst gewinnen zu wollen. Was an die Stelle dieser negativ
bewerteten Wissenschaftlichkeit gesetzt wird, erinnert allerdings durchaus an die methodischen Konzepte der Hermeneutik. Die Richtung und Reichweite derartiger Abgrenzungsformeln soll im folgenden veranschaulicht werden.
Julius Langbehns erfolgreiche kulturpessimistische Programmschrift Rembrandt als Erzieher
(1890) stellt ein markantes Beispiel für die simplifizierende Polarisierung dar, welche den
„Objektivismus“ der Wissenschaften als einseitige Irrlehre anprangert und ihm den künstlerischen „Irrationalismus“ als Heilmittel entgegenstellt. Langbehn fordert für die „deutsche
Kultur“ eine Synthese zwischen diesen beiden Polen und greift auf das „Helldunkel“ Rem119
So stellt etwa Wilhelm Fraenger (1920) die Bedeutung eines hermeneutischen Erkenntnisansatzes für die Zuschreibungsproblematik heraus: „Die Stilkritik ist völlig außerstande mit jener simplen Frage: Gut oder schlecht
= echt oder unecht? einen endgültigen Entscheid zu fällen, solange sie nichts anderes als die technische Qualität
als Wertkriterium erstellen kann. Erst der Versuch, den groben Griff rein technischer Befragung durch die Methoden psychogrammatischer Formdeutung zu verfeinern, führt durch ein Forschungsneuland zu dem Ziele.“
(Fraenger 1920, VIII). Der junge Heidelberger Kunsthistoriker beabsichtigte nichts Geringeres als die „Durchdringung der Seelenform des jungen Rembrandt zur Grundlegung für seine frühe Kunst“ (ebd., IX).
Des weiteren findet eine der zentralen methodischen Forderungen Diltheys, der Interpret solle durch „eingehendes Leben“ mit dem zu deutenden schöpferischen Individuum und durch dessen „beständiges Studium“ die innere Verwandtschaft vertiefen, in der Vorstellung von kunsthistorischer ‘Kennerschaft‘ ihre Entsprechung. Der
Kenner legitimiert sein Urteil durch einen quantitativ hohen Aufwand für das Studium eines Künstlers, respektive der diesem Künstler zugeschriebenen Werke. Veranschaulicht wird dieser Aufwand bis heute nicht nur in
Maßeinheiten der Zeit, sondern auch in solchen des Raumes. Zum Itinerar als Kompetenzformel vgl. Bode 1883,
VII ff.; zu dessen Unzulänglichkeit vgl. Werner Dahls Kritik an Max Lautner: „So leicht, wie Herr Lautner es
sich mit dem Besuch der ‘meisten‘ Galerien Deutschlands und dem kunstgeschichtlichen Studium gemacht hat,
so leicht wiegt auch seine Kunstkenntnis und sein Urteil.“ (Dahl 1891, 247).
140
brandts als visuelle Metapher für diese Synthese zurück.120 Der Diagnose des selbsternannten
„Rembrandtdeutschen“ zufolge leidet die Gegenwart an zuviel Rationalismus, zuviel Vernunft, zuviel Spezialismus. Im Einklang mit zahlreichen Autoren seit der Romantik empfindet
er die Zeit in der er lebt als zerrissen und sehnt sich nach einer alles vereinenden Synthese.
Wie im „Helldunkel“ Rembrandts sollen sich deshalb das Helle (Optimismus, Verstand, Wissenschaft, etc.) und das Dunkle (Pessimismus, Mystizismus, Kunst, etc.) „vermählen“ und so
zu einer Heilung des „deutschen Geisteslebens“ führen (Langbehn 50 1922 [1890], 80). Wenn
wir die nationalistischen Implikationen an dieser Stelle einmal beiseite lassen, dann ist Langbehn nicht zuletzt ein radikaler Vertreter der Kunsterziehungsbewegung, deren Anliegen unter
anderem darin besteht, die Kunst nicht dem alleinigen Zugriff der Wissenschaft untergeordnet
sehen zu wollen.121 Vielmehr müsse Kunst mitten im Leben stehen, damit sie ihre lebensspendende, bei Langbehn „heilsam verdunkelnde“, Wirkung ausüben könne. Die isolierte Präsentation von Kunst in Museen erscheint Langbehn denn auch schädlich, weil die dort ausgestellten Werke heimatlos würden - „das Schlimmste, was [ihnen] passieren kann“ (Langbehn
50
1922 [1890], 86). Langbehn fordert eine kontextualisierende Hängung, die dem „Durch-
schnittsmenschen“ Anhaltspunkte bietet, statt nur sinnlos wie in einem Wörterbuch aufzureihen:
„Museen sind Erziehungsorgane; das ist ihr Verhältnis zum gesamten Volk; bloße Belegsammlung
für wissenschaftliche Forschung sollen sie nicht sein.“ (Langbehn 50 1922 [1890], 86) 122
In seinem gesamten Buch tritt Langbehn vehement einer rein wissenschaftlichen Weltsicht
entgegen. Unter dem Stichwort „einseitige Gelehrsamkeit“ präsentiert er in vier Punkten seine
Kritik der zeitgenössischen Wissenschaft (ebd., 120 ff.). Sein erster Kritikpunkt ist der „Spezialismus“, mit der die heutigen Universitäten den Blick für das Ganze verlören. Im Zusammenhang damit spricht er als zweites von einer „mikroskopischen Weltanschauung“, dem
übermäßigen Zergliedern der Dinge in kleinste Details, der er eine „makroskopische“ Sicht
entgegensetzen will. So blicke z.B. Rembrandts „verwischte, verblasene“ Darstellungsweise
nur „scheinbar über die Dinge hinweg, wirklich aber ihnen ins Herz“ (ebd., 124). Langbehns
120
Die dichotomische Unterscheidung zwischen rational und irrational stellt sicher einen der wesentlichen Codes
dar, der in der Moderne als Raster zur Welterklärung wie auch zur Handlungsorientierung der Individuen dienen
konnte. Ich würde jedoch nicht so weit gehen wie Eckhardt Neumann, der in verschiedenen Passagen seiner
Künstlermythen den Widerspruch gegen den Rationalismus als die dominante Grundfigur der Moderne schlechthin erscheinen läßt und hierin auch, auf Basis eines diffusen anthropologischen Bedürfnisses nach Irrationalität,
den Schlüssel zur Kunstproduktion von der Romantik bis Beuys ausmacht (Neumann 1986, z.B. 52 ff. und 100
ff.).
121
Vgl. zu den lebensreformerischen Ganzheitskonzepten im Kontext der Kunsterziehungsbewegung Hein 1992,
97 ff.
122
Hier erscheint die konzeptionelle Verwandtschaft zwischen den Thesen Langbehns und Wilhelm Bodes
musealer Praxis historistischer Raumensembles als interessanter Ansatzpunkt für eine weiterführende
Untersuchung. Vgl. dazu Schuster 1995; Gaehtgens 1992.
141
dritter Kritikpunkt ist der tiefgreifendste. Mit dem Vorwurf der „falschen Objektivität“ attackiert er nichts Geringeres als die empirische Prämisse der Wissenschaften und verlangt deren
Fundierung auf normativen Werturteilen. Hier durchdringt seine rassistische Weltsicht die
Wissenschaftskritik. Die „Objektivität“ der meisten modernen Gelehrten, so Langbehn, „welche alle Dinge als gleichwertig behandelt“, sei „genau so unwahr wie jene moderne ‘Humanität’, welche alle Menschen für gleichwertig“ erkläre (ebd., 125). Schließlich wirft er der Wissenschaft im Kern eine „mechanistische Weltauffassung“ (ebd., 129) vor, also eine Vorstellung absoluter Rationalisierbarkeit und Zerlegbarkeit aller Aspekte des Lebens, der er, in diesem Detail im Einklang mit lebensphilosophischen Sichtweisen bis hin zu Simmels Rembrandtbuch, 123 eine „organische“ Sicht entgegenhält:
„Erst wenn der starke Hauch einer reinen und seelentiefen Mystik, vereint mit dem Feuer des Geistes, in die dürren Reiser der spezialistischen Beobachtung fährt, kann eine neue, gewaltige
Flamme des inneren nationalen Lebens emporlodern!“ (Langbehn 50 1922 [1890], 130)
In wahrer Kunst ist für Langbehn vor allem diese Mystik präsent, so in der gotischen Kunst
des Mittelalters. Rembrandt sei noch einen Schritt weiter gegangen, indem er die Synthese
zwischen Wissenschaft und Kunst vollzogen habe. Deswegen erscheint Langbehn ein im
‘heutigen‘ Sinne wissenschaftlicher Umgang mit Kunst geradezu als absurd.
In die Reihe der kulturpessimistischen Positionen, die der Immunität irrationalen Kunstschaffens gegen die Zergliederungsmethoden moderner Rationalisten das Wort reden, fügt sich
auch Emil Verhaeren ein. Hinsichtlich der hymnischen Tonlage steht das Rembrandtbuch
(1905 [deutsch 1912]) des belgischen Autors den Schriften Langbehns in nichts nach. Allerdings proklamiert Verhaeren kein chauvinistisches, sondern ein radikal subjektivistisches Bild
des Künstlers; politisch steht er nicht dem Nationalismus, sondern dem Anarchismus nahe.
Seine Position schärft Verhaeren durch eine Abgrenzung von den Methoden moderner Wissenschaft, die seiner Ansicht nach auf Objektivität zielen:
„Die moderne, geduldige, schnüffelnde, zerkrümelnde, kleinliche Kritik, die nur mit den feinsten
Instrumenten arbeitet, war glücklich, ein so gewaltiges Stück Ruhm in ihre Klauen zu bekommen.
Sie hat ihre Zähne darin eingegraben, ihn [Rembrandt, M.H.] gierig ringsum von außen benagt, nie
aber ist sie dazu gelangt, von innen aus diese gewaltige, dunkle Riesenmasse zu durchdringen. Was
wir versuchen wollen, ist, eine Studie zu geben, die nicht von außen, sondern von innen zu erfassen
strebt.“ (Verhaeren 1912, 6)
123
Vgl. Kölbl 1998, 47 ff.
142
Die moderne Kritik mutiert hier zur Bestie, der es trotz feinsten Instrumenten, Klauen und
Zähnen nicht gelingen kann, die „gewaltige, dunkle Riesenmasse“ des genialen Individuums
zu durchdringen, da sie sich ihr von außen nähert. Statt auf solche die Materie zergliedernde
Methoden, setzt Verhaeren auf geistige Durchdringung. Er will Rembrandts Genie von innen
erfassen.
In gerade diesem Punkt, dem Vertrauen auf ein intuitives Moment zur Annäherung an den
Künstler (beziehungsweise zum ’Verstehen’ von Künstler und Werk) kann jedoch keineswegs
eine Grenzlinie zu einer sich wissenschaftlich legitimierenden Kunstgeschichtsschreibung
gezogen werden. Die hermeneutische Methodik setzt nicht weniger auf Intuition und grenzt
sich ebenfalls gegen als ‘rationalistisch‘ aufgefaßte Ansätze ab.124 So zielt auch Carl
Neumann statt einer kleinteiligen historischen Kritik auf die Künstlerpersönlichkeit als etwas
Ganzes, Großes, das „über den Werken“ ‘emporwächst’ (Neumann 1902, VI). Allerdings
führt er nicht genau aus, wie er sich dieses Genie vorstellt. Sicher ist für ihn allein, daß es
existiert und daß es mit dem Instrumentarium rationalistischer Kritik nicht erklärt, ja nicht
einmal erfaßt werden kann. Ohne eine Auflösung für dieses Problem anzubieten, konstatiert
Neumann 1918:
„Man mag zweifeln, ob z.B. unser im tiefsten Kern mit dem Vorurteil des naturwissenschaftlich
Gesetzlichen und Entwicklungsmäßigen belastetes Zeitalter das Wesen des Genius versteht. Das
Genie ist Überraschung und Rätsel. Das Erscheinen großer Staatsmänner und großer Künstler ist
keine Art Notwendigkeit. Mit dem Wünschen und der Kausalrechnung allein bringt man es nicht
über die Homunkulität.“ (Neumann 1918, 24)
Die Vorstellung von einer irrationalen Herkunft und dem damit verbundenen „Rätsel“ des
genialen Künstlerindividuums führte auch einen weiteren Professor für Kunstgeschichte zu
der rhetorischen Wendung, rationalistischen Methoden die Zugangsmöglichkeit zum wesentlichen des ‘Phänomens Rembrandt‘ abzusprechen. Richard Muther, seit 1895 Professor in
Breslau, wählt als Einstiegsmotiv in seinen Rembrandt-Aufsatz (1906) ein Gemälde, das sich
thematisch bestens zur Problematisierung der ‘Rätselhaftigkeit‘ des Künstlers eignet:
„Ein Bild von Rembrandt in der Dresdner Galerie stellt Simson dar, wie er den Philistern Rätsel
aufgibt, und Rembrandts ganzes Schaffen, den Philistern seiner Zeit ein Rätsel, ist rätselhaft bis
zum heutigen Tag geblieben. (...) Alle Hilfsmittel der Wissenschaft sind in Bewegung gesetzt, er
läßt sich nicht packen, nicht deuten. Wie kein andrer Mensch den Vornamen Rembrandt trug, ist er
124
Wilhelm Dilthey unterscheidet in diesem Punkt ausdrücklich zwischen Geisteswissenschaften und Naturwis senschaften: „(Satz 5) Verstehen (...) ist das grundlegende Verfahren für alle weiteren Operationen der Geisteswissenschaften (...). Wie in den Naturwissenschaften alle gesetzliche Erkenntnis nur möglich ist durch das Meßbare und Zählbare in den Erfahrungen und in diesen enthaltenen Regeln, so ist in den Geisteswissenschaften
jeder abstrakte Satz schließlich nur zu rechtfertigen durch seine Beziehung auf die seelische Lebendigkeit, wie
sie im Erleben und Verstehen gegeben ist.“ (zit. nach Pöggeler 1972, 75/76)
143
auch als Künstler etwas Einziges, spottet jeder geschichtlichen Analyse, bleibt, der er war, eine rätselhafte, unfaßbare Hamletnatur - Rembrandt.“ (Muther 1906, 11)
Die Mittel einer rationalistischen Wissenschaft sind dieser Darstellung zufolge unzulänglich,
sie mühen sich vergeblich darum, Rembrandts rätselhafte Geschlossenheit aufzubrechen. Ihre
Zielrichtung wird dabei abwertend charakterisiert: Sie wollen den Künstler „packen“, ihn
„deuten“, doch reichen sie nicht an ihn heran. Mit Gelehrsamkeit allein können die Philister
der Gegenwart, die Vertreter der Wissenschaft, nicht zu dieser rätselhaften „Hamletnatur“125
durchdringen. Nicht durch eine wortreiche Analyse, so veranschaulicht Muther im letzten
Satz dieses Zitates, nur durch ein einziges Wort kann das Mysterium dieses Künstlers zum
Ausdruck gebracht werden. Und dieses Zauberwort, das Lösungswort von Rembrandts Rätsel,
spottet tatsächlich jeder geschichtlichen Analyse, verschafft es doch einer Erzfeindin aller
logischen Untersuchungs- und Schlußverfahren, der Tautologie, den ersehnten Zugang zum
Heiligtum. Es ist nicht mehr und nicht weniger über ihn sagbar als sein Name: Rembrandt.126
Der Autor des letzten Zitats, Richard Muther, ist in diesem Zusammenhang besonders interessant, da um seine Person 1896 ein gleichsam ‘symptomatischer‘ Streit entbrannte, in dem es
Eingangs um einen Plagiatsvorwurf, insgesamt jedoch um die Differenzierung zwischen
kunstgeschichtlichem Fachdiskurs und populärer Kunstliteratur ging. Die Fachkollegen
grenzten Muther faktisch aus ihrer wissenschaftlichen Gemeinschaft aus, sie kritisierten seine
Berufung zum Professor für Kunstgeschichte, und zwar im wesentlichen aufgrund seiner erfolgreichen, eingängig formulierten und in Details empirisch vereinfachenden Bücher.127 Der
„Fall Muther“ kann somit als ein Exempel für praktizierte Diskurshygiene betrachtet werden:
Ein institutionalisierter Zirkel reserviert für sich den Kompetenzanspruch und fordert von allen Rednern, die mit diesem Anspruch auftreten wollen, nicht nur eine bestimmte Position
innerhalb ihres Zirkels, sondern die Einhaltung von Diskursregeln.128
Daß für derartige ‘Grenzbeziehungen‘ zur Konsensfindung über die Zuständigkeit wissenschaftlich fundierter Kunstgeschichte und über ihre methodischen Legitimierungsformen um
125
Der Vergleich mit Figuren Shakespeares wie mit Shakespeare selbst hätte als Topos einen eigenen Untersuchungsabschnitt verdient. Hier sei lediglich darauf verwiesen, daß auch Langbehn sich der dramatischen und
zugleich elitaristischen Metaphorik bedient und Rembrandt mit Hamlet vergleicht (Langbehn, 50 1922, 72).
126
Die Sakralisierung des Namens ist eine weitere rhetorische Strategie zur pathetischen Aufladung der Texte.
Hier einige Beispiele ähnlicher Verwendungen des Namens als ‘einzig Sagbares‘ und als tautologischer Schlüssel zum Geheimnis: „Er war eben Rembrandt. (...) Ein durchaus Eigener.“ (Pfleger 1906, 464), „(...) dieser Sonnenstrahl ist der Geist höchster Individualität. Er hat Rembrandt zu Rembrandt gemacht.“ (Bode 1890, 304 f.),
„Rembrandt versucht sich als Cyniker, wie er sich als gentilhomme versucht; er ist aber weder Cyniker noch
Bohème, wie er auch nicht gentilhomme ist. Er ist Rembrandt. Er ist eine Welt für sich (...).“ (Hausenstein 1926,
21).
127
Vgl. Schleinitz 1993.
128
Zu einer theoretischen Reflexion über die Prozeduren der Ausschließung, die die Produktion des Diskurses
kontrollieren, vgl. Foucault 1991, 11 ff.
144
1900 durchaus noch grundsätzlicher Bedarf bestand, läßt sich durch weitere Beispiele des
Zweifels bezeugen, der von Außenstehenden gegen den Fachzirkel vorgebracht wurde.
Theodor Heuss diskutiert in seinem kurzen Rembrandtaufsatz 1906 kritisch die Reichweite
einiger Versuche der Annäherung an Rembrandt. Dabei distanziert sich der Autor zunächst
mit ironischem Unterton von Langbehns Stilisierung des Künstlers zum ‘nationalen Erzieher‘,
um sich dann, jetzt im affirmativen Anschluß an Langbehn, gegen rationalistische Forschungsmethoden zu wenden:
„An Rembrandts Wesen sollte Deutschland genesen. Der holländische Maler wuchs zum nationalen Propheten (...).
Dies Unmögliche allein zeigt die Unklarheit des Buches und des Mannes, dem immerhin das Verdienst bleibt, die kulturpolitische Diskussion in Fluß gebracht zu haben. Aber darin äußerte sich Instinkt, daß Rembrandt aus der Geschichte der bildenden Kunst herausgehoben und vor einen größeren Hintergrund gestellt wurde. Man begriff, daß es sich hier um ein seelisches Phänomen handelt,
das weit über die Fragen nach Kolorit, Komposition und Pinselführung hinausgreift.“ (Heuss 1964
[1906], o.S.)
Es sind demnach nicht die Fragen einer technischen und ästhetischen Kunstanalyse, Fragen
„nach Kolorit, Komposition und Pinselführung“, auf die sich eine Betrachtung Rembrandts
beschränken soll, er ist vielmehr „aus der Geschichte der bildenden Kunst“ herauszuheben um
„vor eine[m] größeren Hintergrund“ seinen tatsächlichen Wert zu offenbaren, den eines „seelische[n] Phänomen[s]“. Die Erlangung von Erkenntnissen auf dieser erweiterten Ebene bindet Heuss wie die Theoretiker der Hermeneutik an eine quasi-organische Befähigung und an
ein intensives Studium:
„Wer sich schon in den Bannkreis dieses Mannes begeben hat, weiß: hier liegen Verborgenheiten
und Probleme, die nicht im Vorübergehen entdeckt und ergründet werden können. Man muß in sie
hineinwachsen.“ (Heuss 1964 [1906], o.S.)
Von der Angemessenheit einer intuitiven Methode, die in Rembrandt „hineinwachsen“ will
und sich dabei entschlossen vom Fachdiskurs (hier: von den ‘offiziellen Kunsthistorikern‘)
abgrenzt, lesen wir ein weiteres Mal im programmatischen Nachwort der umfangreichen
Rembrandt-Monographie Wilhelm Hausensteins (1926):
„(...) ich habe der ‘Kritik‘ nichts hinzugefügt; ich habe empfunden und habe versucht, Empfindungen aufzurühren; hier ist nichts als ein Buch der Gefühle; ich werde mich damit abfinden, wenn die
im buchstäblichen Sinne erdrückende Mehrheit der offiziellen Kunsthistoriker, die für eine von ihr
betriebene Hilfsdisziplin den tönenden und in sich unsinnigen Namen der ‘Kunstwissenschaft‘ in
Anspruch nimmt, an diesem Buch ironisch vorübergeht; ich zöge es bei weitem vor, mich in ge-
145
lehrten Einzelheiten geirrt zu haben (...), als von Berufenen etwa das Urteil hören zu müssen, dies
Buch sei ohne Wärme des Herzens, ohne Ernst der Gedanken, ohne jegliche Kunst verfaßt.“ (Hausenstein 1926, 550)
Für Hausenstein erscheint ein künstlerisches Verfahren als der einzige Weg, um sich Kunst zu
nähern. ‘Wissenschaft‘ steht für ihn, ganz in der Tradition der Polarisierung rationalistischer
und intuitiver Erkenntnistypen, der Kunst prinzipiell unverständlich gegenüber. Seine betont
subjektive Beobachtungsposition sowie sein Anspruch, ein Buch über einen Künstler dürfe
selbst nicht „ohne jegliche Kunst“ verfaßt sein, könnten sich durchaus auf Dilthey berufen,
der „die Auslegung“ „ein Werk der persönlichen Kunst“ genannt hatte (Dilthey, zit. nach
Pöggeler 1972, 76).
Eine umfassende Abgrenzung zu verschiedenen literarisch-wissenschaftlichen Perspektiven
auf Rembrandt vollzog auch Kurt Pfister, der 1919 seinen Annäherungsversuch an den
Künstler veröffentlichte. Auf Basis einer Unterscheidung zwischen dem Künstler als Alltagsmenschen und dem Künstler als Schöpfer129 geht es ihm wesentlich darum, die Legitimität
einiger kunsthistorischer Arbeitsmethoden für den zweiten dieser Forschungsgegenstände zu
verwerfen:
„Es soll hier die Gebärde eines Schaffenden gedeutet werden. Nicht die Legende seines täglichen
Lebens. Man kann gewiß (Hofstede de Groot hat in einer sehr sorgfältigen Sammlung den Versuch
unternommen) Urkunden und Dokumente zusammenstellen und so ein Gerüst des äußeren Lebens
errichten. Aber alles, was über die Feststellung solcher Tatsächlichkeiten hinausgeht, - Länder und
Städte, deren Dunst und Rhythmus einer in sich einsog, Frauen, die er liebte, Freunde, die um ihn
standen oder auch nur der Duft und sanftes Dunkel eines Sommerabends, in den er schritt - alles
dies entzieht sich begrifflicher Festlegung und erschließt sich nur, in seltener Stunde der Gnade,
dem ahnungsvollen Gefühl des Liebenden.“ (Pfister 1919, 7)
Kurt Pfisters Literaturdiskussion ist zwar nicht dazu geeignet, ihrem Autor einen Platz innerhalb der akademischen Disziplin zu erwerben, vielleicht zeigt sie dennoch das Problem der
frühen akademischen, biographisch-hermeneutisch orientierten Kunstgeschichtsschreibung in
aufrichtigerer und direkterer Weise an, als diese es selbst zu artikulieren vermochte.
Ist es ungerechtfertigt, die hermeneutische Methodik jener historischen Phase, die von
Diltheys Konzeption des „Verstehens“ geprägt wurde, durch den Hinweis auf ihre Nähe zu
explizit anti-wissenschaftlichen Ansätzen zu kritisieren? Oder muß nicht tatsächlich eingestanden werden, daß beiden Zugangsweisen die Sehnsucht nach der Einswerdung mit dem
129
Wenn auch der Autor Pfister einem solchen Vergleich nicht standhält, muß doch vorausgeschickt werden, daß
diese wesentliche Unterscheidung u.a. bei Benedetto Croce vorgeprägt ist (vgl. Kris/Kurz 1934, 16 f.).
146
imaginären Genius gemeinsam ist, und daß sich die Unterschiede lediglich auf der Ebene der
mehr oder weniger elaborierten Begründung bewegen, in welche diese narzißtischen Selbstprojektionen erhabener Größenphantasien eingekleidet werden?
Pfister jedenfalls vermag in den rationalistischen Methoden kunsthistorischer Arbeit keine
Befriedigung für sein expressionistisches Begehren nach einem Nachvollzug der „Gebärde
eines Schaffenden“ zu finden. Wie auch manchem akademischen Kunsthistoriker liefern ihm
diese Verfahren keine hinreichende Möglichkeit zur Artikulation dessen, was ihn die Begegnung mit Kunst zu sagen drängt:
„Nichts von Katalog und Inventar. Der kunstphilologischen und kunstwissenschaftlichen Arbeit
von Bode, Neumann, Hofstede de Groot (...) und anderen danken wir die (im großen und ganzen
endgültige) Festlegung des Rembrandtschen Werkes. Aber wir sind doch alle darin einer Meinung,
daß dadurch nur die allerdings unerläßliche Grundlage geschaffen wurde, auf der die eigentliche
Arbeit, das Jacobsringen um das Werk, erst zu geschehen hat. (...) Hier soll die Gebärde eines
Schaffenden gedeutet werden. Gebärde ist sinnlicher Ausdruck innerer Gesichte. In die Sprache der
Kunstbetrachtung übersetzt: Seelischer Antrieb wird körperlich vermittels Farbe und Umriß.“
(Pfister 1919, 7 f.)
2.1.5 Beispiele zur Topik hermeneutischer Kunstgeschichtsschreibung
Nachdem ich im letzten Abschnitt die Bedeutung hermeneutischer Prämissen für die Rembrandtliteratur um 1900 dargestellt habe, sollen nun drei Topoi skizziert werden, durch welche diese theoretische Perspektive innerhalb des Diskurses konkretisiert wird. Für die hermeneutische Konzeption, der diese einzelnen Beispiele untergeordnet werden können, möchte
ich zuvor den Begriff des ‘Expressionsprinzips‘ einführen. Damit sei die Vorstellung von
Kunst als unmittelbar sinnlichem, wenn auch ästhetisch verschlüsseltem Ausdruck einer zuvor unsichtbaren Wahrheit verstanden, bei welcher es sich um die subjektive Wahrheit des
Künstlers und/oder um eine als umfassend verstandene Wahrheit der Dinge (bzw. der Welt)
handelt. Dieses Prinzip impliziert die Vorstellungen von der Singularität des Künstlersubjekts,
von der radikalen Autonomie jedes wahrhaften Kunstschaffens und von einer irrationalen
Motivation des Künstlers zu seiner Tätigkeit. Innerhalb dieses mit dem Begriff des ‘Expressionsprinzips‘ bezeichneten diskursiven Segments werde ich mich im einzelnen mit (1) den
unterschiedlichen Varianten der Metaphorik von Oberfläche und Tiefe, (2) der Verwendung
von psychologistischem Vokabular und (3) der Vorstellung von einer folgerichtigen Entwicklung des Gesamtwerks beschäftigen.
147
2.1.5.1 Die metaphorische Paraphrasierung der Dichotomie ‘Oberfläche/Tiefe‘
Mit seiner Konzeption des künstlerischen Schaffens als Ausdruck (Visualisierung, Entäußerung) einer verborgenen Wahrheit basiert das Expressionsprinzip auf einer dichotomischen
Vorstellung, in der Phänomene der Oberfläche und Phänomene der Tiefe einander gegenüberstehen.130 In der Rembrandtliteratur spielt diese Dichotomie eine wichtige Rolle bei den
Versuchen, die Bedeutungspotentiale der Kunst und den Prozeß des Kunstschaffens zu
beschreiben. In unterschiedlichen Metaphoriken variieren die Autoren diese Unterscheidung
zwischen Oberfläche und Tiefe und tragen so zur Stabilisierung der Vorstellung vom
Expressionsprinzip als einer Art ‘Naturgesetz‘ des Kunstschaffens bei.
So sieht zum Beispiel Jan Veth (1906) im Durchschauen und Überwinden der Oberfläche des
Alltäglichen die Leistung des Künstlers:
„So offenbarte sich ihm das Leben von allen Seiten. An allem, dem er seine Andacht widmete, entdeckte er neue Züge. Aus dem physisch Alltäglichen löste er das psychisch Schöne. Es ist, als ob er
überall einen tieferen Grund, einen wahrhafteren Organismus bloßlegt.“ (Veth 1906 a, 38)
In ähnlicher Weise stellt Hans Grimm (1906) die Kunst Rembrandts als Transzendierung der
Tiefe an die Oberfläche, als Überwindung einer Dichotomie von Schein und Sein dar:
„Nicht die Körper und Figuren, die äußere Scheinwelt, die das Thema der italienischen Kunst sind,
sucht er wiederzugeben, sondern, was er von dem Nichtsinnlichen, dem wirklich Wirklichen ahnt,
welches nicht in tausend und abertausend Egoismen sich erschöpft, sondern ein Allverbindendes,
Alleiniges und Allumfassendes ist. So zerbricht Rembrandts Kunst die verhüllende körperliche
Form und sucht die Seele, und so hat sie in der Darstellung des Seelischen und Empfundenen ihr
Tiefstes und Mächtigstes gegeben (...).“ (Grimm 1906, 217)
Die „äußere Scheinwelt“, die Rembrandts Kunst hier „zerbricht“, wird durch Grimm in abwertender Absicht der „italienischen Kunst“ als Gegenstand zugeordnet. Diesem sinnlichen
Schein stellt der Autor ein „wirklich Wirkliche[s]“ gegenüber, dem er eine synthetisierende,
‘allverbindende‘ Kraft zumißt. Rembrandt vermag es, dieses ‘Nichtsinnliche‘ vor Augen zu
führen, indem er es in den Erscheinungen sichtbar macht:
„Er erkennt, daß das innere Wesen alles ist, und daß Hülle und äußere Erscheinung nur Bedeutung
haben, soweit sie das Wesen abdrücken, verkörpern und verdeutlichen.“ (Grimm 1906, 219)
130
Es sei hier nur angedeutet, daß dieses dichotomische Muster als Aktualisierung traditionsreicher Konzepte der
abendländischen Philosophietradition verstanden werden kann, etwa der Unterscheidung von Schein und Sein,
wie sie exemplarisch in Platons Höhlengleichnis formuliert ist. Auch die christliche Weltsicht basiert auf einer
verwandten dichotomischen Aufteilung in diesseitiges und jenseitiges Leben. Mit Bezug auf meine Überlegungen zur Unterscheidung des Werks nach dem Code Auftrag vs. Autonomie möchte ich jedoch besonders darauf
hinweisen, daß sich auch die Dichotomie von Oberfläche und Tiefe als Ableitung der Unterscheidung zwischen
einem ‘äußerlichen Gesellschaftslebens‘ und einem ‚innerlichen Privatleben‘ beschreiben läßt.
148
Der Banalität der Welt der „äußere[n] Erscheinung[en]“ tritt in Rembrandts Kunst ein Abdruck des „innere[n] Wesen[s]“ entgegen, welches „alles ist“ und der „Hülle“ erst Bedeutung
verleihen kann. Der Künstler kann die Unvereinbarkeit zwischen außen und innen überwinden. In seiner Kunst finden die beiden Pole zu einer Synthese zusammen.131
Wilhelm Valentiners (1906) Anwendung der Tiefen-Begrifflichkeit ist etwas anders aufgebaut. Hier enthüllt Rembrandt nicht die Wirklichkeit hinter dem Sichtbaren, sondern er vertieft den Ausdruck der Bildkunst. Vertiefung, das bedeutet hier eine Verstärkung des „geistigen Gehalt[s]“ der Kunst, und zwar, ausgehend von religiösen Bildthemen, in den unterschiedlichsten Bildgattungen:
„Was Rembrandt bringen sollte, hieß Vertiefung alles vorher geleisteten. Um diese Aufgabe zu erfüllen, gewann er sich dieses neue Gebiet, die religiöse Kunst, für die seelischer Inhalt Lebensbedingung ist, während er zugleich die alten Darstellungsformen innerlich ausbaute: er gab dem Bildnis einen tieferen geistigen Gehalt und wies wie im Vorübergehen darauf hin, daß auch das Genre
noch durch Individualisierung der Gestalten neu zu beseelen sei; er führte die schlicht holländische
Landschaftsmalerei weiter und wies mit einigen Stimmungslandschaften weit über die eigene Zeit
hinaus.“ (Valentiner 1906, 50)
Porträt, Genre und Landschaft - Rembrandt vertieft den „geistigen Gehalt“ dieser Gattungen.
Die Herleitung dieser Fähigkeit aus der Beschäftigung mit religiösen Themen zeigt an, daß
für Valentiner die „Vertiefung“ eine spirituelle Kategorie darstellt. Er spricht vom ‘innerlichen Ausbau‘ der alten Darstellungsformen, benennt jedoch nicht die äußerlichen Merkmale
der Bildgestaltung, durch welche der Künstler diesen Ausbau zu erreichen vermag. Es deutet
sich hier lediglich an, daß sich die Vorstellungen von der seelischen Vertiefung des Künstlers
und der Tiefe des geistigen Gehaltes seiner Bilder gegenseitig stützen. Damit wird, ganz im
Sinne des ‘Expressionsprinzips‘, das Werk ein Zeichen, das einer an sich unzugänglichen,
verborgenen Kraft zur Sprache verhilft: Es ist Ausdruck der inneren Befindlichkeit des
Künstlers, es macht dessen wesenshaft-seelische Bedeutsamkeit auf der Oberfläche der Leinwand sichtbar.
Der tiefe Gehalt des Werkes wie des Künstlers, äußert sich dabei offenbar ausschließlich in
den Bildwerken selbst und kann nicht in die Sprache der Kunstliteraten transformiert werden.
Verbalisierbar ist allein der Verweis auf das Vorhandensein dieser ‘Tiefe‘, sowie die Aufforderung an die Betrachtenden, sich selbst das Instrumentarium für deren Nachvollzug zu erar-
131
Ähnlich noch einmal bei Seiffert-Wattenberg (1936): „Rembrandt wollte das fließende Leben. Das
Unsichtbare dem Auge sichtbar zu machen, den Fluß auf die Leinwand zu bannen, darauf kam es ihm an. Gelang
es ihm, so war die Schale durchstoßen; der Weg zu einer gültigeren, weil gegenwärtigen Wirklichkeit lag frei.“
(Seiffert-Wattenberg 1936, zit. nach Fischoeder 1937, 159).
149
beiten. Der Akt des Verstehens bedarf, wie oben ausgeführt, der gleichen subjektiven Tiefe
wie der des künstlerischen Schaffens. Doch worin besteht die Tiefe, worin offenbart sie sich?
Ist es die Präsenz religiöser Themen, die zur Rede über geistige Tiefen ermutigt? Wie verhält
sich dazu der Naturalismus, die Orientierung am bloß Sichtbaren, die zugleich häufig hervorgehoben wird. Theodor Heuss hat sich 1906 zum Verhältnis dieser beiden Aspekte, Naturalismus und geistiger Aussage, geäußert:
„Er ist der unbeirrte Maler der Wirklichkeit und sein Naturalismus, der seelische wie der gelegentliche stoffliche, nicht Tendenz, sondern Selbstverständlichkeit. Und dann dies: wohl ist er durch die
Oberflächen in Tiefen gedrungen, aber nie hat er dabei das Erscheinungsbild zu spiritualistischen
Experimenten vergewaltigt. Auch seine Mystik lebt von Anschauung und zarter Sinnlichkeit. Er hat
die Wirklichkeit nicht verschönert, sondern sie durchdrungen und erschöpft.
Wer sich schon in den Bannkreis dieses Mannes begeben hat, weiß: hier liegen Verborgenheiten
und Probleme, die nicht im Vorübergehen entdeckt und ergründet werden können. Man muß in sie
hineinwachsen.“ (Heuss 1964 [1906], o.S.)
Heuss betont die Gleichzeitigkeit von Anschauung und Durchdringung der Wirklichkeit in
Rembrandts Kunst. Die „Verborgenheiten und Probleme“ hat Rembrandt in ein naturalistisches Erscheinungsbild hineingelegt.132 Weder Phantastik noch Idealisierung teilen dem Betrachter hier etwas von den Tiefen mit; es ist offenbar die Oberfläche der Dinge selbst, in deren Darstellung der Künstler die geheimnisvollen Inhalte abzulegen wußte, die sich erst durch
eine geistige Durchdringung dieser Oberfläche erkennen lassen. Was hält die Kunst Rembrandts bereit, das den Autoren ein derartig widersprüchliches Konzept als plausibel erscheinen läßt?
Ein Beispiel Theodor Hetzers soll zu einem Versuch der Erklärung dieses Phänomens überleiten. Hetzer (1941) beschreibt die Wirkung, die der Anblick des Opfers Manoahs133 auf
einen idealer Betrachter ausübt:
„Tritt man in Dresden vor das Bild, so ist man sofort in seinem Banne; man hat Mühe, die anderen
in demselben Saal vereinigten Gemälde Rembrandts und seiner Schule zu betrachten. Es beherrscht
auf das herrlichste die Wand, es leuchtet aus unerschöpflichen Tiefen in den Raum. Es ist still und
entrückt, schlicht und einfach, aber wunderbar mächtig. Hier zum ersten Mal meint man etwas
ganz Echtes, ganz Wesentliches von Rembrandt zu vernehmen, jenen ergreifenden Klang tiefer
132
In vergleichbarer Weise stellt Alfred Stange 1954 eine Ambivalenz von Realismus und geistigem Gehalt in
Rembrandts Kunst fest: „Immer begegnet er uns in seinen Bildern als Holländer, und ein jedes lehrt, daß er mit
den realistisch geschulten Augen gearbeitet hat (...). Zugleich aber gab er allem, was er formte und darstellte,
eine bislang ungeahnte Transparenz. Seine Bilder öffnen Hintergründe, die vor ihm verschlossen, die nicht einmal geahnt waren. So wurde seine Kunst zur Vergeistigung der bodenständigen holländischen Malerei, holländischen Denkens und Lebens schlechthin.“ (Stange 1954, 6).
133
Zum Problem der Zuschreibung des Bildes vgl. Werner Sumowskis Kommentare in Hamann 1969, 450 ff.
150
Frömmigkeit und reiner Menschlichkeit, jene Versenkung, der das Treiben der Welt nichts anhaben
kann, wie wir ihr fortan immer wieder bis zum Verlorenen Sohn der Leningrader Eremitage begegnen.“ (Hetzer 1984 [1941], 325)
Hetzer läßt den Leser in der Rolle eines imaginären Betrachters („man“) die Begegnung mit
dem Bild erleben. Er schildert die Wirkung des Opfers Manoahs als eine allgemeingültige,
die nicht vom wahrnehmenden Subjekt ausgeht und entsprechenden Variationen unterliegen
mag, sondern tatsächlich als durch das Bild festgeschriebene Wirkung erscheint.134 Die Tiefen
des Bildes sind in Hetzers Beschreibung sinnlich erfahrbarer Natur, es sind die „unerschöpflichen Tiefen“ des Bildraumes, aus denen ein ‘Leuchten‘ in den Raum des Betrachters dringt.
Ausgehend von dieser letzten Beobachtung möchte ich die These aufstellen, daß ein Anlaß für
die Neigung zur Thematisierung der Dichotomie von Oberfläche und Tiefe in der Rembrandtliteratur in einem ästhetischen Charakteristikum der Rembrandtschule, nämlich in dem
ausgeprägten Helldunkel, auszumachen ist. Diese gestalterische Formel eignet sich zum Anschluß von Kommunikationen über Begriffspaare wie ‘Sichtbar/Unsichtbar‘, ‘Physisch/Metaphysisch‘, ‘Körperlich/Geistig‘ und besonders ‘Oberfläche/Tiefe‘. Eine Erklärung
dafür kann aus dem Eindruck diffuser Tiefenräumlichkeit hergeleitet werden, den das Helldunkel, wie verschiedenste Bildbeschreibungen bezeugen, beim Betrachter hervorzurufen
vermag. Der Begriff der ‘Tiefe‘ wird in dieser ersten Bedeutung, die auf den visuellen Wahrnehmungsakt bezogen ist und deren Voraussetzung das Helldunkel bildet, für die weitere
Kommunikation bereitgestellt. Seine zweite Bedeutung, eine abstrakte, die sich auf den geistigen Gehalt einer Darstellung bezieht, kann hieran anschließen.
In dieser Weise hatte bereits Eugène Fromentin (1876) von der Fähigkeit des Helldunkels
gesprochen, ein gutes Bild zu intensivieren, zu „vertiefen“. Hier sah der Autor der Maîtres
d’autrefois eine elementare Leistung des Ausdrucks der „Wahrheit“ durch die Kunst:
„(...) es gibt eine Art und Weise, das Bild zu vertiefen, die Wahrheit in der imaginären Erscheinung zugleich ferner und näher zu rücken, sie zu verbergen, klar vor Augen zu führen und sie ganz
darin aufgehen zu lassen, welche die Kunst, und namentlich die Kunst des Helldunkel ist.“
134
Einen besonderen Reiz entwickelt diese Passage im Hinblick auf die Normierung des Kunstgenusses, die hier
praktiziert wird und dabei ihre Verwandtschaft mit dem sakralen Andachtsmoment offenlegt. Als Pointe ist darauf hinzuweisen, daß hier Andacht vor einem Bild eingeübt wird, das selbst eine Andachtsszenerie vorführt: Ein
Paar kniet vor einem Opferfeuer, über dem sich ein Engel erhebt. Die Präsenz einer übersinnlichen Macht, die
von Hetzer in der Beschreibung des Rezeptionserlebnisses heraufbeschworen wird, ist zugleich ein Thema des
zum Beispiel genommenen Bildes. Mit Ausnahme des nicht offiziell geweihten Museumsraumes, in dem die
‘Andacht‘ vollzogen wird, sind also wichtige Momente der kultischen Verehrung des Bildes erfüllt.
151
(Fromentin 1972 [1876], Übers. unter Verwendung von Bodenhausen, 280 und Schellenberg,
290)135
Dreißig Jahre später variiert Wilhelm Bode diese Auffassung:
„Daß man Rembrandt von jeher wegen seines Helldunkels am meisten bewundert hat, ist durchaus
berechtigt; war es ihm auch nur ein Mittel zum Zweck, so war es doch eben das Mittel, durch welches er seine Wunder gewirkt hat. Nur durch sein Helldunkel war er imstande, alle die verborgenen
Schätze zu enthüllen, die sein Seherauge in der Natur entdeckte.“ (Bode 1906, 15) 136
Für Bode endet Rembrandts Interesse nicht in der künstlerischen Realisierung des Helldunkels, dieses ist ihm vielmehr nur „Mittel“ zu dem Zweck, die „verborgenen Schätze“ in der
Natur zu enthüllen. So gelangen wir vom Ausgangspunkt einer Vertiefung der Kunst durch
das Helldunkel zur Dichotomie von ‘sichtbarer Natur‘ und ‘verborgenen Schätzen‘, von
‘Wahrheit‘ und ‘imaginärer Erscheinung‘.
Fromentin hatte die visionären Potentiale des Rembrandtschen Helldunkels besonders in seiner ausführlichen Diskussion der Nachtwache zur Sprache gebracht. Er sieht hier die Ausweitung einer naturalistischen Porträtaufgabe ins Visionäre mittels des Helldunkels. Am Beispiel der Mädchenfigur in der linken Bildhälfte beschreibt Fromentin die Leistung Rembrandts:
„Und doch ist das Kleine Mädchen mit dem Hahne da, (...) um zu bezeugen, dass dieser grosse
Porträtist vor allem ein Visionär, dass dieser ganz ungewöhnliche Kolorist besonders ein Maler des
Lichtes (...) ist, und dass es ausserhalb der Natur, oder vielmehr in den Tiefen der Natur, Dinge
gibt, welche dieser Perlenfischer allein entdeckt hat.“ (Fromentin 1972 [1876], zit. nach Schellenberg, 318 f.)137
Mit dem Bild des „Perlenfischer[s]“ formuliert Fromentin nochmals besonders anschaulich
die Rembrandt zugeschriebene Fähigkeit, nicht „ausserhalb der Natur“, aber in deren „Tiefen“
verborgene Wahrheiten sichtbar zu machen. Seine Version des ‘Expressionsprinzips‘ hatte
Fromentin bereits in der Einführung zu seinem Buch formuliert:
135
„En résumé, il y a une manière de creuser la toile, d’éloigner, de rapprocher, de dissimuler, de mettre en évidence et de noyer la vérité dans l’imaginaire, qui est l’art, et nominativent l’art du clair-obscur.“ (Fromentin
1972 [1876], 226).
136
Wenige Sätze später bezieht sich Bode ausdrücklich auf Fromentin.
137
„Et cependant la Petite Fille au coq, bien ou mal à propos, est là pour attester que ce grand portraitiste est
avant tout un visionnaire, que ce très exceptionnel coloriste est d’abord un peintre de lumière, que son atmosphère étrange est l’air qui convient à ses conceptions, et qu’il y a en dehors de la nature, ou plutôt dans les
profondeurs de la nature, des choses que ce pêcheur de perles a seul découvertes.“ (Fromentin 1972 [1876], 248).
152
„Malerei ist die Kunst, das Unsichtbare durch das Sichtbare auszudrücken (...).“ (Fromentin 1972
[1876], zit. nach Schellenberg, 5) 138
Ein Schritt, den Fromentin noch nicht vollzieht ist, um 1900 häufig in der Rembrandtliteratur
zu finden: Die ‘Tiefe‘ der Werke wird mit der ‘Seelentiefe‘ des Künstlers gleichgesetzt. Im
Werk bildet sich so nicht nur die Weitsicht seines Schöpfers ab, es belegt darüber hinaus dessen inneren Reichtum, dessen geistige Größe.
Nachdem in diesem Abschnitt die Präsenz des Expressionsprinzips in den metaphorischen
Paraphrasen der Dichotomie Oberfläche/Tiefe veranschaulicht wurde, folgt nun ein Abschnitt
zur Topik des psychologistischen Vokabulars. Darin ist zu präzisieren, wie sich die Autoren
jener Zeit den Prozeß der autonomen Kunstschöpfung als eine ‘Äußerung‘ des Künstlers vorgestellt haben.
2.1.5.2 Psychologistisches Vokabular
Im ‘Rembrandtjahr‘ 1906 publizierte der niederländische Künstler Joseph Israëls in deutscher
Sprache einen Text über seinen verehrten Landsmann (Boomgaard 1995, 137). 139 Als Maler
zählte Israëls neben George Hendrik Breitner und Anton Mauve zu den wichtigsten Vertretern
der Den Haager-Schule, die stilistisch dem Impressionismus nahestand. Sein Text, 1910
nochmals in gekürzter Fassung nachgedruckt,140 ist als ein persönlicher Erfahrungsbericht
über die Begegnung mit der Kunst Rembrandts abgefaßt. Israëls sieht in Rembrandt ein Vorbild modernen Künstlertums. Diese Einschätzung entwickelt er nicht zuletzt auf Basis der
Unterscheidung zwischen Auftragskunst und autonomem Kunstschaffen, die ich oben bereits
eingeführt habe. In seiner Auseinandersetzung mit Rembrandts Zeichnungen formuliert Israëls zudem die Vorstellung von einer intuitiven Arbeitsweise seines Vorbilds:
„(...) als ich begriffen hatte (was ich heute noch glaube), daß der Meister diese Zeichnungen nicht
gemacht hatte, um sie mit zierlichen Linien zu umgeben und sie dann dem Publikum vorzuführen,
da fühlte ich ihre wahre Tragweite. Meist warens Gefühlsäußerungen, mit denen er seinem phantasiereichem Gemüth zu Hilfe kommen wollte. Ohne jedes Nachdenken auf das Papier geworfen,
aber von einer Hand, die bei jedem Zucken und bei jeder Erregung Meisterstücke schuf.“ (Israëls
1910, 127)
138
„L’art de peindre n’est que l’art d’exprimer l’invisible par le visible (...)“ (Fromentin 1972 [1876], 3).
Israëls Text erschien zuerst als 26-seitige Einzelpublikation (Berlin: Concordia Deutsche Verlags-Anstalt), in
der Übersetzung von Else Otten.
140
Vgl. die Anmerkung Maximilian Hardens zum leicht gekürzten Nachdruck in: Die Zukunft, 72. Band, Berlin
1910, 125.
139
153
„Wahre Tragweite“ künstlerischer Produkte kann sich hier zunächst nur jenseits von Gefälligkeit („zierlichen Linien“) und Öffentlichkeit („dem Publikum vorzuführen“) entfalten. Dann
wird benannt, wohin diese Tragweite trägt, wenn nicht ins Gefällige und nicht nach außen.
Die Zeichnungen helfen dem „phantasiereichen Gemüth“, sich auszudrücken, es sind „Gefühlsäußerungen“, die nicht der Ratio und dem Kalkül („ohne jedes Nachdenken“), sondern
der Spontaneität und emotionalen Direktheit („auf das Papier geworfen“) unterliegen. Israëls
Vorstellung von Rembrandts künstlerischen Intentionen lassen diesen als Vorläufer einer im
weiteren Sinne ‘expressionistischen‘ Kunstpraxis erscheinen.141 Die Zeitgenossenschaft der
gleichnamigen Kunstrichtung zeigt die Virulenz des Prinzips an, das die Werke als unmittelbaren Ausdruck der singulären Subjektivität des Künstlers versteht und sie ganz in ihrem Urheber begründet wissen möchte. Zudem liefert dieses Verständnis künstlerischer Praxis einen
Baustein zur Plausibilisierung einer hermeneutischen Genese des Künstlers aus dem Werk.
Dabei kommt bevorzugt ein Vokabular zum Einsatz, das auf den psychologischen Fachdiskurs verweist, dessen wachsende Bedeutung im 19. und frühen 20. Jahrhundert auffällige Parallelen zur Entwicklung der hermeneutischen Biographik aufweist.
Diese Entlehnungen psychologischen Vokabulars sollen nun zunächst vorgestellt werden.
Wie die oben zitierte Passage Joseph Israëls bereits zeigte, sind wir nunmehr beim Gegenpol
zu den Darstellungen des gespannten Verhältnisses zwischen Künstler und Auftraggeber angekommen. Wurde dort der negativ bewertete Pol der Unterscheidung von Auftragsarbeit und
autonomer Kunst illustriert, so haben wir es nun mit den Veranschaulichungen der positiv
bewerteten künstlerischen Praxis zu tun. Diese elementare Unterscheidung, die am Anfang
der Analyse vorgestellt wurde, gewinnt hier deshalb erneut an Bedeutung.
Dies läßt sich beispielhaft bei August L. Mayer beobachten, der in seinem 1915 in der Zeitschrift Kunst und Künstler erschienenen Artikel ein Modell der künstlerischen Programmatik
141
Tatsächlich war die deutsche Übersetzung dieses Textes zuerst in Bruno Cassirers Kunst & Künstler erschienen, einer Zeitschrift, die zur gleichen Zeit als eine der ersten in Deutschland die Idealität der Stilistik und des
Künstlertums Vincent van Goghs proklamierte. Die Vorstellung von einer ‘Verinnerlichung’ des Ursprungs
künstlerischen Schaffens ist aber keineswegs auf die expressionistische Zeitgenossenschaft zu begrenzen. Bereits
in der romantischen Tendenz zum ‘Phantastischen’ wurde ein vergleichbares Konzept gegen die regelgerechte
akademische Kunstpraxis gestellt. Selbst in Franz Kuglers gelehrtem Handbuch der Geschichte der Malerei
(1837) schlug sich diese Betonung des Phantastischen in der Kunst Rembrandts nieder: „Es hat diese Art der
Darstellung etwas Phantasmagorisches, was an jene, am Schlusse des Mittelalters so überwiegende Richtung der
nordischen Kunst auf das Wunderbare und Seltsame erinnert; es treten uns hiedurch seine Gestalten wie fremde,
mährchenhafte Wesen entgegen (...).“ (1837, 177). Ein früheres Beispiel ist Goethes Adaption der sogenannten
Faust-Radierung (vgl. Carstensen 1993; Völker 1991). Diese Phänomene hat Udo Kultermann zum Anlaß
genommen, um die Neubewertung Rembrandts bereits in der Frühromantik beginnen zu lassen (Kultermann
1981, 233). Dem stelle ich entgegen, daß die Kriterien des romantischen Rembrandtbildes im Rahmen der
klassizistischen Prägungen verbleiben und den Schritt zum Sezessionismus der Jahrhundertmitte lediglich vorbereiten. Nicht mit der Romantik, sondern erst mit dem Realismus wird ein neues Rembrandtbild möglich. Die
auffälligen motivischen Verwandtschaften zwischen dem Künstlerideal um 1800 und jenem um 1900 können
nicht bestritten werden, dürfen aber ebensowenig über die gesellschaftlichen und ideengeschichtlichen Differenzen hinwegtäuschen, die es für ihr jeweiliges Verständnis zu berücksichtigen gilt.
154
Rembrandts entwirft, in dem dessen Abgrenzung von einer bewußten, effektorientierten, dekorativen und auftragsgebundenen Kunstproduktion konstitutiv ist:142
„(...) wenn man diese Dinge verfolgt, erkennt man, wie weit Rembrandt davon entfernt war, Bilder
im italienischen Sinne malen zu wollen, wie es gar nicht in seiner Absicht lag, einen dekorativen
Schmuck für Wände von Palästen und Bürgerhäusern zu schaffen. Man erkennt dabei immer mehr,
wie wenig es Rembrandt darum zu thun war, Bilder in dem gewöhnlichen Sinn des Wortes zu malen, sondern wie er mehr und mehr, einem innersten Drang folgend, seine Gesichte, seine Ideen auf
der Leinwand mit Farbe niederschreiben musste, wie Rembrandt kein Gemälde schuf, um Menschen ihre Behausungen wohnlicher zu gestalten, um Schönheit und Harmonie zu verbreiten, sondern wie er auf diese Weise dem Ausdruck verlieh, was ihm auf die Nägel brannte, ganz einerlei,
ob es beim Publikum Gefalle n fand oder nicht. Nie wurden Gemälde geschaffen, die so wenig Bilder sind, wie die Werke des reifen Rembrandt, nie aber auch Gemälde, die so unendlich viel mehr
sind.“ (Mayer 1915, 488)
Erneut begegnen wir hier der Spaltung künstlerischer Werke in dekorative Aufträge und autonome Bildfindungen; erneut wird Rembrandts Autonomie als Ergebnis eines Prozesses geschildert („mehr und mehr“); auch die negative Bewertung des ‘Gefälligen’ sei nur kurz angemerkt. Ähnlich wie Israëls führt auch Mayers Argumentation von der Formulierung dessen,
was Rembrandt ‘nicht‘ ist, zum Prinzip der Kunstschöpfung aus dem ‘Innersten‘. Zur Charakterisierung von Rembrandts künstlerischem Interesse eröffnet Mayer dabei zwei Kategorien von „Gemälden“. Die einen sind „Bilder in dem gewöhnlichen Sinn des Wortes“, sie dienen als „dekorative[r] Schmuck“, verbreiten „Schönheit und Harmonie“ und finden „beim
Publikum Gefallen“. Der Nachklang der Vorstellungen idealschöner Regelkunst ist deutlich.
Rembrandts Gemälde sind dagegen „unendlich viel mehr“ als diese Bilder. Dieser Gegensatz
wird nicht ästhetisch beschrieben, sondern aus der konträren Konzeption künstlerischen
Schaffens heraus begründet. Rembrandts Kunst nimmt demnach einen höheren Stellenwert
ein, da der Künstler „einem innersten Drang folgend, seine Gesichte, seine Ideen auf der Leinwand mit Farbe niederschreiben musste“, da er in seinen Gemälden „dem Ausdruck verlieh,
was ihm auf die Nägel brannte“.
Als Grundprinzip des Kunstschaffens variiert Mayer die Expressionsformel. Neben der Dichotomie von Oberfläche („Leinwand“) und Tiefe („Gesichte“) wird dabei die Frage nach der
Motivation der Kunstproduktion gestellt. Zu ihrer Beantwortung wird nicht nur ein psychologistischer Begriff angeführt („Drang“), sondern zugleich eine irrationale Notwendigkeit formuliert, die den Künstler zum Handeln zwingt („niederschreiben musste“).
142
Dieser Artikel Mayers steht unter dem starken Eindruck der Lektüre von Heinrich Wölfflins soeben publizierten Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen, auf die der Autor auch explizit Bezug nimmt.
155
Die Begrifflichkeiten, mit denen August Mayer Ursprung, Motivation und Prozeß künstlerischen Schaffens zu veranschaulichen sucht, sind symptomatisch für die Rembrandtliteratur
seiner Zeit. Seit dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts ist die auffällige Präsenz eines
Vokabulars zu beobachten, das eine psychologische Vorstellung von der Kunstproduktion zu
vermitteln sucht, dabei allerdings nicht nur bei Mayer auf der Ebene unscharfer, mit dilettantischem Gestus eingebrachter Begriffe stehenbleibt. Die Funktion dieser Darstellungen und der
für sie getroffenen Begriffsauswahl scheint mir weniger im Gewinn von Erkenntnissen über
die fraglichen Vorgänge zu liegen, als in der rhetorischen143 Abgrenzung der Vorstellungen
vom künstlerischen Schaffen gegen rationale Prozesse, wie sie als Grundlage für wissenschaftliche Erkenntnisgewinne, technische Fertigung und wirtschaftliche Produktion angesehen wurden.144
Einige Beispiele sollen die Diskussionsbasis für diese These verbreitern und zugleich die
Reichweite der gebräuchlichen Vokabeln aufzeigen. 1918 spricht Carl Neumann den Zeichnungen Rembrandts einen hohen Stellenwert im Gesamtwerk des Künstlers zu. Er unterscheidet dabei eine geringe Zahl von Skizzen und Vorarbeiten von einer überwiegenden Menge
„absichtslose[r] Zeichnung[en]“:
„Die Bedeutung der absichtslosen Zeichnung, die aus der Freude am Gestalten, aus reinem künstle rischen Trieb entspringt und ohne Hinblick auf Verwendbarkeit in Kompositionen, kann innerhalb
der Rembrandtschen Kunst gar nicht hoch genug angeschlagen werden.“ (Neumann 1918, 10)
Nach Ansicht des Heidelberger Kunsthistorikers entsteht also der quantitativ wie qualitativ
bedeutendste Teil der Rembrandtschen Zeichnungen unabhängig von jedem direkten Zweck.
Als Motivationen wirken hier vielmehr „Freude am Gestalten“ und „reine[r] künstlerische[r]
Trieb“. Mit seiner Kategorie des ‘Absichtslosen‘ betont Neumann die Autonomie des Schaffensprozesses, die in der Spontaneität zeichnerischer Praxis bevorzugt zum Ausdruck
käme.145
143
Es sei darauf hingewiesen, daß hier nicht von einer zielgerichteten Rhetorik der Autoren, sondern von einer
rhetorischen Funktionsweise des Diskurssegments die Rede ist.
144
Mit diesem Konzept schließe ich an Beobachtungen Gerhard Plumpes an, der im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen dem schöpferischen Potential bildender Künstler und der reproduktiven Leistung der Fotografen
bemerkt hat „Die entscheidende Pointe dieser Abgrenzung liegt in der unterstellten Rückführbarkeit sowohl von
technischen Verfahren wie von wissenschaftlichen Erkenntnissen auf generalisierbare Voraussetzungen, die
niemand für sich exklusiv reklamieren kann. Diese Ausschließlichkeit beansprucht aber der ästhetische Diskurs
für das künstlerische Werk, wenn er es kategorisch an die unverwechselbare Individualität seines Urhebers bindet.“ (Plumpe 1990, 17).
145
Ein weiterer Vorzug, der die zeichnerischen Arbeiten als Gegenständen einer solchen Argumentation
prädestiniert, kommt in diesem Zitat nicht direkt zum Ausdruck: Im Vergleich zu Gemälden und Radierungen
haben Zeichnungen die vermeintlich größte Distanz zu ökonomischen Motivationen, sind sie doch, jedenfalls in
der Wahrnehmung jener Zeit, nur in seltenen Fällen für den Verkauf bestimmt. Vor diesem Hintergrund ist auch
Neumanns Interesse zu sehen, den Zeichnungen einen vollwertigen Werkstatus zuzusprechen, würde doch durch
156
Neumanns Schüler Wilhelm Fraenger setzt sich 1920 ebenfalls mit Rembrandts Zeichnungen
auseinander. Er nimmt sie zum Anlaß, grundsätzliche Überlegungen über die ‘richtige Kunstausbildung‘ anzustellen:
„Es gibt zweierlei Arten des Zeichnenlernens: Eine von außen herangetragene, rezepthaft vorbereitete. Sie ist die vom Lehrer gebotene Anweisung zu gewissen Handfertigkeiten. Dies ist der Lehrgang aller Durchschnittskünstler, der stets U n e i g e n e n . Die andere bricht aus dem Erkenntnisdrang, den Raumzusammenhang der Dinge selbständig zu erfassen, triebhaft unstillbar empor.
U n d s i e g e b i e r t - hat nur der Künstler jene mütterliche Geduld, die Wochen eigenreifender
Formwerdung nicht vorzeitig zu durchbrechen - d e n g r o ß e n , i n d i v i d u e l l e n S t i l .“
(Fraenger 1920, VIII)
Fraenger trifft eine binäre Unterscheidung. Auf der einen Seite steht eine rationalisierte Ausbildungspraxis, die regelhaft abläuft, von einem Außenstehenden gesteuert wird und „zu gewissen Handfertigkeiten“ befähigt. Die Qualität der daraus resultierenden Arbeiten ist zur
Durchschnittlichkeit verdammt, der Schüler verbleibt im Bereich des „Uneigenen“. Das Gegenteil dessen ist der ‘individuelle Stil‘, der durch Befolgung „von außen herangetragene[r]“
Rezepte nicht erreicht werden kann. Dieser Verfahrensweise, aus der allein ‘wahre‘ Kunst
hervorgehen kann, ist wiederum eine Variation des Expressionsprinzips zugrundegelegt: Etwas im begabtem Individuum Verborgenes bricht „triebhaft unstillbar empor“, wobei als Movens ein „Erkenntnisdrang“ ausgemacht wird.146 Neben dieses psychologistische und eruptivistische Vokabular treten noch die Begrifflichkeiten ‘eigenreifend‘ und ‘mütterlich‘, so daß
sich insgesamt, neben der Betonung des Individuellen („selbständig“), von einer organischen
Konzeption des Kunstschaffens sprechen läßt. Weitere Fragen zu dem Ablauf der schöpferischen Prozesse oder zu deren Ursprüngen werden mit dieser Naturalisierungstrategie obsolet.
In der Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Kunstproduktion ist demnach keine Analyse kausaler Zusammenhänge, sondern lediglich die Beschreibung natürlicher Prozesse gefragt. Da derartigen Prozessen jedoch per definitionem Authentizität zugeschrieben wird, bedürfen sie keiner weiteren Erklärungen.147
Eine Variation zu den bisherigen Beispielen liefert der niederländische Kunsthistoriker Frederic Schmidt-Degener (1928, zuerst 1919). Er sieht in der künstlerischen Praxis Rembrandts
die Bereitschaft des Künstlers zu einem ungesteuerten Handeln:
eine derartige Einstufung der Anteil autonom entstandener Arbeiten am Gesamtwerk wiederum steigen.
146
Wenn Fraenger in dem Zitat von einem „selbständigen“ ‘Erfassen‘ des „Raumzusammenhang[s] der Dinge“
spricht, so grenzt er speziell die Raumgestaltung bei Rembrandt von einem renaissancistisch konzipierten Perspektivraum ab.
147
In Fraengers Zitat deutet dies auch der Vergleich des künstlerischen Schaffens mit der biologischen Gebärfähigkeit der Frau an. Mit dieser quasi-organischen Vorstellung vom Schaffensprozeß steht Fraenger nicht allein
(vgl. Wenk 1997).
157
„Was Rembrandt hervorbrachte, hatte meist etwas Unerwartetes und, vor allem später, etwas Beunruhigendes. Er wagte das Abenteuer des Künstlerdaseins, die vollständige Hingabe an seine Berufung. Kräfte, die er selbst entfesselte, reißen ihn mit; mitunter lebt er in den Tag hinein, oder
schweift ins Unbekannte, bis am Ende seines Lebens neue rätselhafte Aufgaben ihre Erfüllung fordern.“ (Schmidt-Degener 1928, 3)
Künstlertum wird in dieser Sichtweise nicht primär als Ausübung einer bestimmten beruflichen Praxis, sondern als eine umfassende Lebenspraxis verstanden - auch dies ist ein Aspekt
der Autonomisierung. Das Verhalten des Künstlers, die „Hingabe an seine Berufung“, erscheint dabei als Akt der Befreiung von den Zwängen bürgerlicher Verhaltensnormen.
Schmidt-Degeners Ausgangspunkt ist demnach die Repressionshypothese, die in der bürgerlichen Gesellschaft eine Unterdrückung der Potentiale ‘ursprünglicher‘ Subjektivität sieht.148
Rembrandt wird in dieser Beschreibung zum Beispiel erfüllter Subjektivität, die sich über eine
Abkehr vom Alltäglichen definiert. Indem er dieses Verhalten als unbewußtes, traumwandlerisches Agieren, als Lust an Abenteuer und Rätsel, als rauschhaften Genuß einer potentiellen
Gefährdung durch geheimnisvolle „Kräfte“ schildert, trägt Schmidt-Degener die zeitgenössischen Phantasien einer entfesselten Subjektivität in das Rembrandtbild hinein.149
Das unbewußte Handeln wird dabei jedoch nicht als willkürlich verstanden. Indem er sich von
den geltenden Verhaltensnormen löst, entfesselt Rembrandt Kräfte, die in ihm selbst ruhten,
und bringt damit letztlich nur die ihm ‘eigenen‘ Potentiale zur Entfaltung. Zwar erscheinen
seine künstlerischen Aufgaben als ‘rätselhaft‘, doch wird mit dem gelungenen Werk zugleich
ihre Sinnhaftigkeit und die Notwendigkeit des künstlerischen Handelns bestätigt. Dem
Künstler selbst ist dabei, wie einst dem durch göttliche Eingebung inspirierten Künstler der
Antike, der Prozeß der Werkentstehung unklar. Mit den Worten des Kunstschriftstellers Karl
Scheffler:
„Weiß doch der geniale Künstler selbst nicht, wie ihm das Unsterbliche gelingt. Er tut, was er nicht
lassen kann, befriedigt mit äußerster Anstrengung die Forderungen seines nicht analysierbaren Gefühls, und ihm gelingt das Werk, das, wie das Objekt der Natur, der Zergliederung spottet und nur
als Organismus, als Schöpfungswunder hingenommen werden kann.“ (Scheffler 1906, 24)
Die Wege der individuellen Gestaltungsentscheidungen sind nicht rationalisierbar, das Werk
gelingt nicht infolge erlernbarer und kalkulierter Regeln, sondern als ein veritables „Schöpfungswunder“, dessen Urheber „selbst nicht“ weiß, wie ihm geschieht.150 Auch hier kommt
148
Zur Kritik an der Repressionshypothese vgl. Foucault 1983, 25 ff.; vgl. auch Lemke 1997, 257.
Angesichts von Schmidt-Degeners ‘Rembrandt‘ ließe sich beispielsweise an die Machtphantasien eines Phantomas, an den Somnambulen Cesare in Robert Wienes expressionistischem Film Das Cabinett des Dr. Caligari
(1919) oder auch an das surrealistische Schaffenskonzept eines ‘psychischen Automatismus‘ denken.
150
Helmut Scheuer hat diese Betonung des Irrationalen in der Künstlerbiographik zum Ende des 19. Jahrhun149
158
eine organische Vorstellung zum Einsatz; Scheffler spricht vom Werk als „Organismus“, das
der Zergliederung - einem Phänomen moderner Wissenschaft wie Industrie - spotte.151 Die
‘äußerste Anstrengung‘, mit der Scheffler sein Genie dem irrationalen inneren Antrieb folgen
läßt, weist zudem auf die Nähe dieser Konzeption zur antiken Inspirationslehre hin, mit der
die ‘Exhaustation‘ verbunden ist, die auf den inspirierten Schöpfungsakt folgende äußerste
körperliche Erschöpfung.152 Nur selten überwiegt diese klassische Begrifflichkeit die bereits
zitierten Psychologismen neuerer Provinienz; das Beispiel Schefflers kann uns als Hinweis
darauf dienen, daß die hier referierten Intuitionskonzepte der Kunstgeschichte um 1900 tatsächlich nur auf der Begriffsebene am zeitgenössischen psychologischen Fachdiskurs partizipieren, daß sie im Kern jedoch traditionsreiche Topoi von Kunst und Künstlertum fortschreiben.
Diese Vorläuferrolle antiker Inspirationslehre wird noch einmal in dem Sprachbild deutlich,
das Theodor Hetzer (1926) verwendet, um die künstlerische Motivation Rembrandts zu charakterisieren und sie von der des Rubens zu unterscheiden:
„Bei Rubens die Malerei im objektiven Zusammenklang mit dem äußeren Leben, (...) Rembrandt
aber auf den Gott angewiesen, der in ihm lebte, sein Glück und seine Rechtfertigung in sich selbst
finden müssend, stolz sein müssend aus Erhaltungstrieb auf sich selbst, da er von der Welt verachtet oder gering geschätzt war (...)“ (Hetzer 1984 [1926], 250)
Hetzer führt die Motive der gesellschaftlichen Marginalisierung des Künstlers und dessen
‘innerer Beauftragung‘ zusammen und sieht darin ein Charakteristikum Rembrandts. In dieser
Vorstellung von der zerbrochene Einheit zwischen der Vision des einzelnen Künstlers und
den Anschauungen der Allgemeinheit findet der Leipziger Kunsthistoriker ein Indiz für die
‘Modernität‘ des Holländers:
„Auch darin ist Rembrandt nun wieder modernem Empfinden, und zwar erst recht spezifisch nordischem modernem Empfinden verwandt, daß er einer der ersten ist, die den Auftrag als Last empfinden, die den Ausgleich nicht finden zwischen sich, der inneren Nötigung und Vision, und den
derts an Beispielen von Hillebrandt, Justi, und Hermann Grimm illustriert. So schreibt etwa letzterer über
Goethe: „Dichten war ihm ein unbegreiflicher Proceß“ (Grimm 1877, zit. nach Scheuer 1979, 106). Im Rahmen
seiner These einer Ästhetisierung ursprünglich politischer Impulse in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts interpretiert Scheuer diese Tendenz zur unbewußten „Innerlichkeit der Künstlernatur“ als Symptom der „bürgerlichen
Selbsttäuschung dieser Zeit, denn Rationalität, Reflexion und Wendung nach außen hätten den gewebten Illusionsschleier allzuleicht zerreißen können“ (Scheuer 1979, 106; vgl. auch den Abschnitt 3.2 dieses Teils).
151
Die hier artikulierte Ganzheitsvorstellung erinnert an Julius Langbehns kulturpessimistische
Gegenwartskritik, zu deren wichtigsten Angriffspunkten ebenfalls die „Zergliederung“ („Mechanisierung“,
„Atomisierung“) zählt. Auf den Kontext lebensphilosophischer Konzepte, etwa bei Henri Bergson oder in
Simmels Rembrandtbuch, sei nur am Rande hingewiesen.
152
Eckhard Neumann (1986, 60) stellt die Rezeption der Exhaustationstheorie durch Nietzsche dar. Daß diese
Überlegungen gerade in einem frühen Text Karl Schefflers wiederkehren, erklärt sich aus der NietzscheRezeption, die diesen überaus produktiven Kunstliteraten in seiner ersten Werkphase prägte. Den Hinweis auf
diesen Zusammenhang verdanke ich Andreas Zeising.
159
Anschauungen und Wünschen der Allgemeinheit. Das, was sich bei uns als ein gefährlicher Ruhm
des Künstlers herausgebildet hat, daß er vom Publikum nicht verstanden wird, auch dies Phänomen
finden wir bei Rembrandt.“ (Hetzer 1984 [1926], 250 f.)
Das ‘Absichtslose‘ und der ‘rein künstlerische Trieb‘ bei Neumann, der „triebhaft unstillbar“
emporbrechende „Erkenntnisdrang“ bei Fraenger, das ‘nicht analysierbare Gefühl‘ und das
„Schöpfungswunder“ bei Scheffler, der ‘innerste Drang‘ und der Ausdruck dessen was ‘auf
die Nägel brennt‘ bei Mayer, die ‘inneren Nötigung und Vision‘ bei Hetzer - diese Formulierungen sind Paraphrasen über ein nicht genauer zu bestimmendes Geschehen und dessen Ursprünge, Phänomene deren Charakteristik hier nicht durch eine direkte Beschreibung, nicht
durch ein weiteres Hinterfragen ihrer selbst bestimmt wird, sondern durch ihre Gegenüberstellung mit einem anderen. Dieses andere wird dann auch jeweils benannt: Fraenger verweist
auf das von außen gelehrte, „rezepthaft vorbereitete“ Zeichnen als Weg aller „Durchschnittskünstler“ und der „stets Uneigenen“, Scheffler nennt das Prinzip der „Zergliederung“, Hetzer
spricht von den „Anschauungen und Wünschen der Allgemeinheit“ wie Mayer vom wohnlichen Gestalten der „Behausungen“ in „Schönheit und Harmonie“ und Frederic Schmidt-Degener wird Rembrandts Bereitschaft zum „Abenteuer des Künstlerdaseins“153 das Verhalten
seines dichtenden Zeitgenossen Vondel entgegenstellen:
„Vondel äußert sich klar und gleichmäßig. Erklärungen sind nicht vonnöten. Selbst was er unter der
Maske von etwas anderem sagt, begreift Jan- und Allemann. Bei Vondel gibt es keine geheimnisvollen Schleier, wie sie vor den Bildern seines Stadtgenossen hängen. Man schätzte Rembrandt
wohl und bewunderte vorübergehend Radierungen oder frühe Gemälde, doch für seine tiefen Gedanken hatte seine Zeit keinen Sinn.“ (Schmidt-Degener 1928, 3)
Es sind drei Aspekte, gegen die Rembrandts Kunstschaffen in diesen Zitaten abgegrenzt wird:
(1) eine allgemein verständliche und gefällige Ästhetik, (2) ein äußerlicher Zweck der Werke
sowie (3) ein planmäßiger (also auch zergliederbarer), nachvollzieh- und lehrbarer Weg, der
zu diesen Werken führt. Die Gegenseite dessen, also die Seite der Rembrandtschen Kunst,
wird durch Verweise auf Unklarheit und Verschleierung beschrieben. Hier besteht etwas, das
sich den Blicken und der Vernunft entzieht, das jenseits der rational erfaßbaren Welt existiert
und doch zugleich in ihrem Zentrum, im menschlichen Individuum, welches hier symbolhaft
durch den Künstler verkörpert wird.
Angesichts der auffälligen Virulenz von psychologischen Begriffen in der biographisch orientierten kunstgeschichtlichen Literatur um 1900 ist erneut auf die zeitgleiche Entwicklung
153
Schmidt-Degener 1928, 3.
160
eines psychologischen (bzw. psychoanalytischen) Fachdiskurses hinzuweisen. Die kunsthistorische Rezeption dieses sich neu formierenden Wissensfeldes bleibt - dies erscheint mir zumindest für den Bereich der Rembrandtliteratur als belegt - auf der Ebene einer Übernahme
von Begrifflichkeiten stehen. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Theoriebildung der
Psychologie oder der Verwendbarkeit von deren Vokabular für die eigenen Subjektkonzepte
fehlt. Wo im Zusammenhang mit dem künstlerischen Schaffen von ‘Trieb’, ‘Zwang’ oder
‘Drang‘ die Rede ist, werden weder Definitionen noch Verweise auf Autoren und Schriften
des damit angesprochenen Fachdiskurses angeführt. Ich sehe in diesem Begriffsgebrauch deshalb keine interdisziplinäre Erweiterung von Methoden und Theorien der Künstlerbiographik,
sondern lediglich eine interdiskursive Übernahme von Vokabeln eines anderen Fachdiskurses,
die dabei jedoch in ihrer Komplexität reduziert werden. 154 Die Verwendung dieser Begriffe,
auf denen die psychologistischen Erklärungsansätze basieren, erfolgt nicht durch präzise
Herleitung aus deren fachlichem Gebrauch, sondern als Übernahme eines unscharfen, alltäglichen Begriffsverständnisses.
Es erscheint mir sinnvoll, die verschiedenen Argumentationen, denen die künstlerische Praxis
als eine notwendige und unbewußt ausgeführte Veranlagung bestimmter menschlicher Individuen erscheint, unter einem Oberbegriff zusammenfassen. Ich schlage deshalb vor, in diesem
Zusammenhang von einem Prinzip des ‘Kunstmüssens‘ zu Sprechen. Diese Bezeichnung soll
Assoziationen zum Begriff des ‘Kunstwollens‘ wecken, den Alois Riegl um 1900 in der Absicht prägte, eine Motivationsquelle für die Entwicklung des Stilwandels in der Kunstgeschichte zu benennen und somit eine irrationale Notwendigkeit dieser Kunstentwicklung begrifflich neu zu fassen.155 Analog zu dieser überindividuell orientierten Begrifflichkeit werden
im ‘Kunstmüssen‘ die Strategien individuell orientierter Konzepte irrationaler Notwendigkeit
der Kunstproduktion zusammengefaßt.
Dieser Begriff soll hier eingeführt werden, um das rhetorisches Potential der in den einzelnen
Argumentationen verwendeten Psychologismen zu entschärfen, das darauf abzielt, im künstlerischen Schaffen die Errichtung eines Gegenpol zu den gesellschaftlich dominanten Prinzipien der ‘Zweckmäßigkeit‘ zu plausibilisieren. Vom Prinzip des ‘Kunstmüssens‘ spreche ich
also, um eine diskursive Strategie sichtbar zu machen, die sich selbst durch begriffliche Angleichung an einen Legitimierungsdiskurs, in diesem Fall den psychologischen und sein breites interdiskursives Echo, unsichtbar zu machen versucht. Ich sehe hinter dieser Strategie die
Absicht, in jenen aus dem ‘Kunstmüssen‘ hervorgegangenen Werken die Materialisierungen
des autonomen Subjekts erblicken zu können, und damit über sinnlich erfahrbare Belege für
dessen Existenz, über ‘Objektivierungen des Subjekts‘ zu verfügen.
154
Zu diesem Verständnis „interdiskursiver“ Sprachpraxis, ihrer Vermittlungsposition zwischen Fachdiskursen
und ihrer Reduktion der Bedeutungspotentiale von Begriffen vgl. Link 1982, 5 f.
155
Vgl. Riegl 1973 [1901] und Riegl 1931 [1902].
161
Das Prinzip des Kunstmüssens steht mit dem Expressionsprinzip in enger Verbindung. Letzteres versteht das Werk als Ausdruck einer im Künstler (oder in der Welt) verborgenen Wahrheit, ersteres versteht das künstlerische Schaffen als den ungesteuerten, notwendigen, organischen und aus sich selbst heraus motivierten Akt der Hervorbringung dieses Ausdrucks.
2.1.5.3 Die Folgerichtigkeit des Gesamtwerks
Eng verbunden mit der Vorstellung von einer Notwendigkeit der Entstehung des einzelnen
Werkes, wie sie im Konzept des Kunstmüssens ihren Ausdruck findet, ist der Topos der Folgerichtigkeit der künstlerischen Entwicklung des Gesamtwerks. Er besagt, daß die Entscheidungen und Handlungen des künstlerischen Genies nicht zufällig sind, obwohl sie intuitiv
getroffen werden mögen, weshalb ihre Folgerichtigkeit dem Künstler selbst unbewußt bleiben
mag. Dieser Topos ist von Bedeutung für eine organische Auffassung des Gesamtwerks, die
der nicht minder organischen Verbindung zwischen dem Künstler und seinem einzelnen Werk
entspricht. Ein folgerichtig entwickeltes Œuvre verfügt über Geschlossenheit, seine Teile sind
zu einem Ganzen verbunden und grenzen sich dadurch zugleich von allem ab, was außerhalb
dieses Geflechts steht. Das Gesamtwerk wird zum Korpus.
Entsprechend seinem Interesse, das Ansehen der Arbeiten des jungen Rembrandt innerhalb
der Kunstgeschichte zu verbessern, stellt Wilhelm Bode (1883) die Kontinuität heraus, die
Frühwerke und Hauptwerke verbindet:
„Rembrandt’s Genie bekundet sich aber vor allem darin, daß er trotz seiner im Grunde oberflächlichen und kleinlichen Lehrer und trotz der kleinen Verhältnisse, in denen er seine Lehrzeit zubrachte, gleich im Anfange seiner selbständigen Thätigkeit die seinem Talente entsprechende
Richtung wählt: die Schilderung des Gemüthslebens, die Stimmungsmalerei, als deren malerischen
Ausdruck er das Helldunkel erkennt und ausbildet.“ (Bode 1883, 395)
Rembrandt wählt „die seinem Talente entsprechende Richtung“, er beginnt nicht mit Werken,
sondern gleich mit ‘seinem Werk‘, das sich offenbar folgerichtig aus den (natürlichen) Anlagen des Künstlers entwickelt. Den Lehrern wird dabei kaum Bedeutung zugesprochen, sie
stehen außerhalb. Im wesentlichen wird der geniale Künstler als Autodidakt verstanden, der,
so Bode, „mit sich selbst gewissermaßen einen völlig systematischen Cursus durchmacht“
(ebd., 394).
Die Geschlossenheit des Individuums, eine elementare Anforderung in der hier dargestellten
Vorstellung vom Künstlersubjekt, wird bereits in den frühesten künstlerischen Schritten ausgemacht. Zur Rückkehr des jungen Rembrandt aus Lastmans Amsterdamer Werkstatt in die
Geburtsstadt Leiden bemerkt Hans Grimm (1906):
162
„Hiernach scheint es, daß Rembrandts Natur schon damals übermächtig nach Ruhe und Einsamkeit
verlangte und daß er nichts sehnender wünschte, als in der Stille den künstlerischen Problemen, die
ihn mit fragenden Augen ansahen, nachzusinnen und nachzuforschen. Seine Künstlerseele scheint
sich schon damals ihres Weges völlig klar und scheint mit bestimmten, selbstgefundenen Ideen beschäftigt zu sein.“ (Grimm 1906, 215) 156
Die „selbstgefundenen Ideen“ werden in der Zurückgezogenheit und Stille des Leidener Ateliers erkundet. ‘Rembrandts Weg‘ beginnt - eine Metapher, die Kontinuität und Folgerichtigkeit auch dann zu gewährleisten vermag, wenn von ‘Umwegen‘ die Rede ist oder wenn es
‘Talsohlen‘ zu durchschreiten gilt.
Mit dieser Konzeption des Genies ist die Idee einer unbewußten Folgerichtigkeit allen Handelns verbunden. Dabei wird der Künstler ständig und zu verschiedenen Seiten hin von Einflüssen seiner Umgebung abgegrenzt. Cornelius Gurlitt (1902), für den Rembrandt den Ausdruck germanischen Kunstwollens darstellt, demonstriert die Gratwanderung, der sich eine
derartige Abgrenzung des Künstlers und seines Weges sowohl vom „[F]remden“ wie auch
vom zeitgenössisch „[N]iederländischen“ ausgesetzt sieht:
“War er selbst gleich nicht nach Italien gereist - was sollte er dort? - so kannte er doch aus Stichen,
aus Kopien das, was seine Landsleute so oft aus ihren Bahnen herausgeworfen hatte. Raffael und
Michelangelo waren in seiner Sammlung vertreten. Aber (...) er, ein Schüler des italienisch geschulten Lastmann, gönnte fremdem Wesen auch nicht einen Hauch von Einfluß auf sein Schaffen:
Nicht Unkenntnis, nicht eine verbissene Gegnerschaft gegen alles Fremde, sondern die sorglose
Größe des eigenen Schauens macht ihn frei von aller Überlieferung: Man sieht seinen Werken an,
daß sie auf gleichem Boden erwuchsen als die seiner niederländischen Zeitgenossen, aber auch von
diesen hatte keiner Einfluß auf den unbeirrt geraden Weg seiner geistigen Entwicklung.“ (Gurlitt
1902, 434)
Folgerichtig beschreitet Rembrandt den „unbeirrt geraden Weg seiner geistigen Entwicklung“, und er tut dies allein aus sich selbst heraus, er läßt seine Richtung von keinem äußeren
Faktor bestimmen. Von den Italienern läßt er sich nicht ‘aus seiner Bahn werfen‘ und seine
Zeit- und Volksgenossenschaft ist in seinen Werken zwar wiederzufinden, jedoch ohne direkten Einfluß auf seinen Weg zu haben. Was er hervorbringt, gehört ihm unmittelbar zu und
bestätigt so zugleich seine singuläre Subjektivität.
156
Grimm paraphrasiert hier ausdrücklich Carl Neumann, der schrieb: „[Seine] Werke, die zwischen 1627 und
1631 in Leyden entstanden sind, (...) zeigen eine ihres Weges völlig klare, mit bestimmten, selbstgefundenen
Problemen sich beschäftigende, rastlose Künstlerseele.“ (Neumann 1902, 37). Ein weiteres Beispiel bei Karl
Storck: „Rembrandt muß sich sehr früh über sein künstlerisches Wollen klar geworden sein. In der Überzeugung,
dafür bei den Lehrmeistern keine Förderung finden zu können, kam der Achtzehnjährige ins Vaterhaus zurück
und betrieb seine Studien auf eigene Faust.“ (Storck 1920, 6).
163
Ein Zitat von Karl Voll kann uns deutlich machen, daß es sich dabei keineswegs um die häufig beschworene ‘künstlerische Freiheit‘ handelt. Zwar sind die Motivationen des Künstlers
als Gegenbild zu den ökonomischen und gesellschaftlichen Handlungszwängen des Bürgers
entworfen - der Bürger handelt in Folge äußerer Anforderungen, der Künstler gehorcht seiner
‘inneren Stimme‘ - doch ist in diesem Konzept für Freiheit im Sinne von Ungebundenheit,
Beliebigkeit oder gar Gesetzlosigkeit (Anarchie) kein Platz:
„[Es muß] konstatiert werden, daß er in einer wahrhaft heroischen Weise, gleichviel was des Lebens Gunst oder Ungunst ihm brachte, dem Ziel folgte, das ihm durch sein Genie gesteckt war.
Wer eine solch reiche Begabung als Geschenk der Natur erhalten hat, auf dem liegen schwere
Pflichten, und zu Rembrandts größter Ehre muß gesagt werden, das er sein ganzes Leben hindurch
sich dieser Pflichten bewußt war.“ (Voll 1906, 89)
Das Leben des künstlerisches Genies erweist sich in dieser Beschreibung dem bürgerlichen
Verhaltenskodex als wesentlich verwandt. Die Pflicht bestimmt sie beide. Wir werden auf
diese Beobachtung, die der lange Zeit geläufigen Vorstellung vom Künstler als Gegenbild des
Bürgers und als ‘Außenseiter der Gesellschaft‘ widerspricht, zurückkommen müssen. Halten
wir vorerst fest, daß Karl Voll im Künstlertum das Erfüllen einer Aufgabe sieht, eines Zieles,
welches Rembrandt „gesteckt war“. Der Rahmen des Handelns ist demnach klar begrenzt, die
Richtung vorgegeben, die vermeintliche Freiheit erweist sich als determiniert.
Mit Bezug auf die serielle Folge der Selbstbildnisse wird Wilhelm Pinder (1943) noch einmal
das organische Prinzip zum Ausdruck bringen, das in dieser Vorstellung von der Geschlossenheit und Folgerichtigkeit des Werks wirksam ist:
„Aber es bleibt bestehen, daß es doch einmal überhaupt zu dieser Erscheinung gekommen ist, daß
einmal ein Mensch von unvorstellbarer Größe (...) gleichsam aller Menschen Werden, Reife und
Vergehen in einer organischen Folge von Kunstwerken sichtbar gemacht hat.“ (Pinder 1943, 12 f.)
Schließen wir diesen Abschnitt mit dem Versuch, zu erklären, welche Funktion der Topos der
‘Folgerichtigkeit des Gesamtwerks‘ innerhalb des diskursiven Feldes des autonomen Künstlersubjekts erfüllt. Ich schlage vor, ihn als Auseinandersetzung mit einem spezifischen Problem der Subjektkonzeption zu betrachten. Die Vorstellung vom Individuum als einer in der
Zeit existierenden und dennoch mit sich selbst zu jedem Zeitpunkt identischen Form stellt ein
Problem dar, das im Bild der Folgerichtigkeit einer individuellen Entwicklung aufgehoben
wird. Zur diskursiven Darstellung einer solchen Entwicklung bedarf es einer Folge von Ereignissen, hier: der einzelnen Werke, die als eine zeitlich gestaffelte Folge unauflösbar miteinander gekoppelter Ereignisse oder als Teilereignisse innerhalb eines geschlossenen Ereignisrahmens dargestellt werden, dem Gesamtwerk. Da diese aufeinanderfolgenden Ereignisse
164
(oder Teilereignisse) voneinander unterscheidbar sein müssen, wohnt dem Ablauf die Gefahr
der Auflösung inne, als dessen Folge lediglich vereinzelte Ereignisse, nicht aber ein dadurch
generierter Korpus in Erscheinung treten würde.157 Um die diskursive Figur eines Künstlers
als einer geschlossenen Erscheinung aufrecht erhalten zu können, müssen plausible Kontinuitätsargumentationen gebildet werden, und es muß die Unauflöslichkeit der Kopplung
einzelner Werke zu einer Gruppe veranschaulicht werden. Die bloße Quantität der
zugeschriebenen Werke ist in eine chronologische Narration, in eine Entwicklungsgeschichte
einzubinden, so daß schließlich der Korpus des Gesamtwerks als materielles Dokument der
Existenz seines Urhebers fungieren kann und dessen die Lebenszeit umspannende Identität
mit sich selbst unterstreicht.
Ich verstehe den Topos der ‘Folgerichtigkeit des Gesamtwerks‘ demnach als eine rhetorische
Formel zur Plausibilisierung der Vorstellung von der Zusammengehörigkeit einer Folge unterscheidbarer Teile zu einem Ganzen; er bildet die zur Genese eines zeitlich ausgedehnten
Ereignisbündels notwendige Klammer. Eine gebräuchliche Metapher für dieses Prinzip der
Folgerichtigkeit ist der ‘Weg‘. In ihr wird der Zusammenhang unterscheidbarer Ereignisse
durch deren Verortung in einem raum-zeitlichen Kontinuum hergestellt, die Ereignisse werden zu Orten, die innerhalb einer zeitlichen Folge abgeschritten werden. Eine weitere Metapher ist die der ‘organischen Entwicklung‘. Hier wird eine nicht hinterfragbare Kraft angenommen, die zugleich in der Ereignisfolge wirkt und sich in ihr ausdrückt. Die organische
Konzeption plausibilisiert die Vorstellung von Identität im (kontinuierlichen) Wandel, indem
sie eine Analogie mit der Erfahrung von organischem Wachstum herstellt, die der Mensch aus
der Beobachtung seiner Umwelt und seiner selbst gewinnt.
Daß dieser Weg derjenige eines einzigartigen Individuums ist, kann schließlich nur durch
ständige Konflikte mit der Außenwelt verdeutlicht werden, die sein Beschreiten hervorruft.
Dem dritten und letzten Hauptteil („Rembrandt im Zenith“) seiner Rembrandt-Monographie
stellt Carl Neumann folgende Zeilen voran:
„Diese Ric htung ist gewiß,
Immer schreite, schreite!
Finsterniß und Hinderniß
Drängt mich nicht zur Seite.
Goethe.“
(Neumann 1902, 341)
157
Diese Gefahr läßt sich am konkreten Beispiel der Abschreibung von Werken aus dem Rembrandt-Korpus
veranschaulichen.
165
166
2.2 Künstlerleben
2.2.1 Autonomisierung als Läuterungsprozeß
Die Unterscheidung des künstlerischen Schaffens Rembrandts nach dem Code ‘Auftrag vs.
Autonomie‘, die zu Beginn des vorigen Kapitels beschrieben wurde, produziert auf den ersten
Blick ein beachtliches Problempotential, stellt sich dabei doch das paradoxe Bild eines
Künstlers ein, der zugleich der negativ bewerteten Marktnachfrage und dem positiv eingestuften ‘inneren Auftrag‘ Folge leistet. Faktisch tritt dieses Problem in den untersuchten Texten jedoch nicht in Erscheinung, da diese sich ein Prinzip zunutze machen, das seine theoretische Formulierung in Hegels Philosophie der Geschichte erfuhr: das Prinzip der Aufhebung
eines Paradoxons durch die Umwandlung der Gleichzeitigkeit von These und Antithese in
eine Narration (vgl. Gumbrecht 1997, 421). Die Auftragsorientierung erscheint dabei als läßliche ‘Jugendsünde‘ des frühen Rembrandt, die in Folge eines Läuterungsprozesses durch das
autonome Kunstschaffen abgelöst wird. Die beiden als widersprüchlich verstandenen Formen
künstlerischer Praxis werden aus einer bedrohlichen synchronen Konkurrenz in eine chronologische Narration überführt; das Paradoxon wandelt sich zu einer belehrenden Parabel.
In dieser dramaturgischen Ausgestaltung des Lebenswegs und der künstlerischen Entwicklung wird Rembrandt also infolge eines Reifungsprozesses, der einem Subjektivierungsprozeß
entspricht, eine stetig wachsende Distanz zu den Einflüssen des Kunstmarktes zugesprochen.
Rembrandt löst sich, so sieht es diese Narrativierung vor, Schritt für Schritt von den weltlichen Dingen ab, Mensch und Künstler ziehen sich ins Innere zurück, und erst dort, frei von
den Einflüssen der Außenwelt, erreicht das Werk seinen Höhepunkt. Nur vorübergehend treten die widersprüchlichen Aspekte ‘Auftrag’ und ‘Autonomie’ auch gleichzeitig in Erscheinung: in der Übergangsphase eines notwendigen und folgerichtigen
Entwicklungsprozesses.158 Die folgenden Beispiele sollen zeigen, wie diese autonomisierende
Narration in der Rembrandtliteratur umgesetzt wurde.
Ich beginne diesmal mit einem Zitat aus dem Bereich der kunsterzieherisch engagierten Zeitschriften, mit Ferdinand Avenarius. In seinem feierlichen Text zum Rembrandtjahr stellt der
Herausgeber des Kunstwart die Entwicklung von Leben und Werk des Meisters in einer dramaturgischen Zuspitzung dar, deren Grundstruktur von zwei gegenläufigen Bewegungen gebildet wird: dem Niedergang des weltlichen Glanzes bei gleichzeitigem Aufstieg des künstlerischen Ewigkeitswerts. Rembrandts Lebensweg beginnt demnach als wirtschaftliche Erfolgs-
158
Diese Ablösungsvorstellung ist an mythischen Erzählmustern wie Passion, Erleuchtung, Einweihung oder
Reinigung orientiert, aus denen sie zugleich ihre Plausibilität bezieht. Sie macht Rembrandt zur Figur in einer
meist nur vage bestimmten metaphysischen Szenerie.
167
geschichte. Direkt nach seiner Übersiedlung nach Amsterdam werden die ersten Triumphe als
Porträtmaler durch das private Glück gekrönt:
„Und als ihm ein reiches Mädchen, das er leidenschaftlich liebt, die Hand reicht, da, in der Ehe mit
Saskia, tritt er auf die Höhe seines Erdenglücks.“ (Avenarius 1906, 330)
Die Vorstellung vom gesellschaftlichen Erfolg und privaten Glück des jungen Rembrandt ist
bereits zur Jahrhundertmitte ein Topos, etwa bei Waagen (1862, 89-90), wo jedoch, nicht zuletzt aufgrund der beschränkten Quellenlage, von nachfolgendem weltlichem Unheil kaum die
Rede ist. Die biographischen Erzählungen stellen dagegen seit Ende der 80er Jahre einen kausalen Zusammenhang her zwischen den Ereignissen um die gesellschaftliche Person und die
künstlerische Entwicklung Rembrandts. In dieser Weise entwirft auch Ferdinand Avenarius,
eine zentrale Figur der Kunsterziehungsbewegung um 1900, sein heroisches Rembrandtbild,
in dem ein doppelter Schicksalsschlag die Abwendung des Künstlers von der Gesellschaft
hervorruft. Die berufliche Katastrophe der Ablehnung der Nachtwache durch die Besteller
fällt mit der privaten Katastrophe von Saskias Tod zusammen:
„Am Ende dieser Periode steht der höchste Hochgesang auf das Licht, den je ein Maler gesungen
hat: die Scharwache. Seine Besteller -- sind enttäuscht.
Es ist in demselben Jahr 1642, in dem seine Saskia stirbt.
Nun senkt sich sein Weg.“ (Avenarius 1906, 331)
Der metaphorische ‘Lebensweg’, der äußerlich bergab, zugleich aber innerlich bergauf führt,
hat seinen Kulminationspunkt in der Ablehnung der Nachtwache. Wie bei Avenarius, so ist
diese ‘Verkennung’ eines Meisterwerks bei vielen Autoren zum Elementarereignis in der Geschichte der Autonomisierung Rembrandts stilisiert worden (vgl. den Abschnitt zur Nachtwache). Dem chronologischen Zeitverlauf entspricht Avenarius auch im weiteren durch eine
Metaphorik von Weg und Bewegung:
„Er arbeitet nach wie vor mit ungeheurem Fleiß, aber die Mode zieht langsam von ihm weg, und
ihr nachzuschleichen ist er nicht der Mann.“ (Avenarius 1906, 331)
In der Bewegungs-Begrifflichkeit wird hier die Vorstellung der ‘Distanz’ zwischen Künstler
und Welt veranschaulicht. Dabei ist es jedoch die Mode, die „von ihm weg[zieht]“. Zum
Bruch führt die Bewegung der Welt - Rembrandt bleibt, wo er ist, genauer: Er geht seinen
‘eigenen’ Weg:
„(...) immer ist er schnell wieder dort, wo sein Weg geht, s e i n e r , den noch keiner gebahnt hat: zu
neuen Aussichten hoch über der Dumpfheit der Täler.“ (Avenarius 1906, 331)
168
Ein zweites Bild zur Veranschaulichung von Distanz: Täler und Höhen, dazu die ‘Eigentümlichkeit‘ des Künstlers, die sich von der Nachahmung absetzt („noch keiner gebahnt“) und die
Abwertung der Talseite als ‘dumpf‘. Die Polarität zwischen Künstler und Außenwelt wird in
der narrativen Entwicklungsvorstellung durch eine Polarität vom ‘vorher’ und ‘nachher’ des
künstlerischen Schaffens unterstützt:
„(...) wer hat das bloß Gefällige zugunsten tieferer Werte vollkommener überwunden, als er? Man
vergleiche mit der bunten Herrlichkeit der früheren die stille Größe der späteren Werke.“ (Avenarius 1906, 335)
Avenarius nutzt auch das Material der Selbstbildnisse, das sich besonders gut für die Schilderung einer zunehmenden Identifikation des Menschen Rembrandt mit seiner eigenen künstlerischen Produktion und einer Abkehr von der Welt zu eignen scheint:
„Welcher Weg vor allem von den Selbstbildnissen seiner Jugend mit ihrem Putz und ihrem Nachetwas-Aussehen-wollen bis zu den reifen und dann bis zu diesen späten, die mit so erbarmungslosem Gleichmut gegen sich selbst Verarmung und Verfall aufzeigen, aber auch ein Wachsen an innerer Größe, das uns in Ehrfurcht erschauern macht!“ (Avenarius 1906, 335) 159
Äußerer Verfall und inneres Wachstum in eine gegenläufige Bewegung zu koppeln, unternimmt auch Karl Voll (1906). In seinen Worten zur Charakterisierung von Rembrandts Verhältnis zur Gesellschaft scheint zudem die mythische Formel der ‘Prüfung‘ durch:
„Als dem großen Meister die Mittel zu behaglicher Lebensführung genommen waren, als seine Arbeiten anfingen, durch das Übermaß der künstlerischen Größe seinen Zeitgenossen unverständlich
zu werden: mit einem Wort, als Mißgeschick und Mißerfolg ihn bedrängten, da ist er nicht, wie
man glauben sollte, der Gewalt der widrigen Umstände erlegen, sondern, auf den Druck mit Gegendruck antwortend, hat er sich von allem befreit, was sozusagen äußerlich an seiner Kunst war;
er hat sie immer reiner und herrlicher gestaltet, und so stehen gerade seine spätesten Arbeiten im
umgekehrten Verhältnis zum moralischen und materiellen Erfolg.“ (Voll 1906, 443)
Die Prüfung durch „Mißgeschick und Mißerfolg“ läßt den Künstler nicht klein beigeben, sondern „mit Gegendruck“ antworten. Rembrandt „befreit“ sich von allem Äußeren. Eine derartige Aussage impliziert die Vorstellung von Kunst als einer ‘reinen‘, separaten Sphäre, die
159
Die Opferung des äußerlichen Glanzes als Preis für das Erreichen ‘innerer Größe‘ is t eine stark christologisch
inspirierte Mythisierungsformel, die zur gleichen Zeit eine Rolle bei der Personifikation des modernen Künstlerbildes in der Figur des Vincent van Gogh erhält. Ihre früheres Auftreten in der Rembrandt-Literatur zeigt, daß es
in diesen Texten nicht um die quellenkritische Nacherzählung eines ‘wahren Künstlerschicksals’ geht, sondern
um die Darstellung eines topisch konzipierten Idealmusters von modernem Künstlertum, das mit wenigen Variationen ebenso unter dem Namen ‘Rembrandt‘, wie unter dem Namen ‘van Gogh‘ auftreten kann.
169
‘außerhalb’ der „moralischen und materiellen“ Regionen existiert, in der andere Wertmaßstäbe gelten und in die sich der Künstler zurückziehen kann. Diese Unterscheidung wird auf
eine bipolare Struktur von innen und außen, also von ‘der Kunst’ und ‘der Gesellschaft’, reduziert. Die reine, autonome Region der Kunst liegt als Reich des Künstlers außerhalb der
‘Welt’. In Volls Zitat wird die Grenze zwischen beiden Bereichen in der Formel vom „Druck“
und „Gegendruck“ veranschaulicht. Indem der Künstler dem Druck der Ausschließung bestimmter menschlicher Verhaltensweisen und künstlerisch-ästhetischer Entscheidungen durch
die Agenten der Gesellschaft mit Gegendruck antwortet, wird eine Grenze definiert. In der
Formel vom „umgekehrten Verhältnis“ kommt die Binarität des Konzeptes und damit die
oppositionelle Haltung dieser Kunstwelt gegenüber der gesellschaftlichen Welt erneut zum
Ausdruck. Vergleichbare Formulierungen wären etwa ‘Wende’ oder ‘Richtungswechsel’.160
Ein längeres Zitat aus dem Rembrandt-Vortrag von Heinrich Wölfflin (zuerst 1909) kann die
Spannweite des narrativen Läuterungskonzeptes veranschaulichen. Wölfflin, damals Professor
für Kunstgeschichte in Berlin, beginnt seinen Text, indem er die Vorstellung von der Gegenläufigkeit äußerer und innerer Entwicklung Rembrandts als grundlegende Formel zum Verständnis des Künstlers vorschlägt:
„Wenn irgend etwas das Außerordentliche von Rembrandts Natur beweist, so ist es dies: Daß der
Gang seiner Kunst eine so ganz andere Linie ergibt als der Gang seines Lebens. Hier ein glänzender Anfang: früher Ruhm, Reichtum, ein hübsches Weib, ein stattliches Haus, und dann, nachdem
der Tod die Frau noch jung hinweggenommen, das Schwanken der materiellen Grundlage, Schulden, Bankerott, Verlust all der Sachen, die die Augenweide des Künstlers gewesen waren, ein armes Quartier, öffentlicher Verdruß wegen des illegitimen Verhältnisses mit einer jungen Magd, die
ihm Gefährtin geworden war, künstlerische Verkennung und Vereinsamung und endlich ein verlassenes Sterben im dreiundsechzigsten Lebensjahr. Aus den Bildern Rembrandts könnte man diese
Biographie unmöglich herauslesen. Gerade in dem Zeitpunkt, wo der Himmel für ihn sich hoffnungslos verdüstert - in den Jahren des finanziellen Zusammenbruchs - ist seine Schöpferkraft am
mächtigsten, und seine Kunst verklärt sich zu einer wunderbar stillen Feierlichkeit. Und während
die Unreinheit des jugendlichen Gefühls, wie man es ja öfter findet, bei Rembrandt ganz besonders
empfindlich herauskommt, so daß seine frühen Arbeiten oft einen sehr gemischten Eindruck hinterlassen, bietet die Kunst des alten Rembrandt einen gleichmäßig gewaltigen, fast heroischen Anblick. Es scheint, als ob durch ein böses Schicksal das Gold aus den Schlacken erst hätte herausgeschmolzen werden müssen.“ (Wölfflin 1946 [1909], 131)
160
Wilhelm Pinder spricht von der „Lebenswende“ (Pinder 1943, 14).
170
Das Schicksal als Geburtshelferin vollkommener Kunst - auch dieses Bild Wölfflins paraphrasiert die oben angesprochenen Prüfungs- und Reifungsnarrationen, denen die Basisopposition ‘Künstler vs. Gesellschaft’ zugrunde liegt.161 Wölfflins Begriff der ‘Entschlackung‘
verdeutlicht den Läuterungsprozeß: Hier wird Rembrandts Lebenslauf zu einer sinnstiftenden
Parabel geformt. Wie die Begriffe Verinnerlichung, Vertiefung und Beseelung tritt auch diese
‘Entschlackungsmetaphorik‘ wiederholt auf, wenn es darum geht, den Vorgang der Befreiung
des Künstlers zu veranschaulichen und zur Plausibilisierung der Narration beizutragen.
Welche Anschlußmöglichkeiten machen das Bild der ‘Entschlackung‘ in diesem Kontext erfolgreich? Zunächst liefert es einen positiven Entwicklungsprozeß, indem es das ‘Vorher’
eines unreinen - „gemischten“ - Zustandes vom erstrebenswerten ‘Nachher’ eines reinen
Idealzustandes (z.B. das „Gold“) unterscheidet. Dann kennzeichnet es diesen Prozeß als ‘urtümlich’, ist doch die Gewinnung des Metalls aus dem Gestein in menschheitsgeschichtlicher
Perspektive eine grundlegende Kulturtechnik, in der zudem irdische Elementarkräfte wirken.
Als wesentliche Kraft in der Entschlackung kann das Feuer als Verstärkung der Dramatik des
Befreiungsprozesses dienen. Daran lassen sich gut Begriffe wie Schmerz, Leid, Verlust oder
Kampf anschließen.
Carl Neumann bedient sich dieser Metaphorik in der Neuauflage seines Rembrandt-Buches
(1922). In seiner kritischen Antwort auf die lebensphilosophische Auseinandersetzung mit
Rembrandt bei Georg Simmel plädiert er dafür, „Rembrandts Kunst entgegen präzeptorhafter
Verabsolutierung als einen stetig vorschreitenden Befreiungskampf von historischen Schlacken zu ermitteln“ (Neumann 1922, 32). Auf diese dramatische Metaphorik, die Rembrandts
Kunst zum Befreiungskampf stilisiert, greift Wilhelm Pinder zurück, wenn er 1943 die wirtschaftliche Niederlage Rembrandts im Sinne einer Befreiung als Bedingung für dessen geistig-künstlerischen Sieg darstellt:
„[Wir, M.H.] verstehen, daß der stoffliche Reichtum jener äußeren Glückszeit auf die Dauer Trug
und Verführung war und daß er verloren gehen mußte, um geistiges Gold an den Tag zu fördern.“
(Pinder 1943, 33)
Zuvor hatte Pinder noch einmal die Parabel vom umgekehrt proportionalen Verlauf des weltlichen und des geistigen Glücks aufgegriffen, der wir bereits bei seinem Lehrer Heinrich
Wölfflin begegnet waren. Die Lebensskizze, die Pinder seiner Einführung in Rembrandts
Selbstbildnisse voranstellt, läßt den hagiographischen Charakter des Läuterungsmodells stark
161
Die dramaturgische Zuspitzung von Rembrandts Lebensweg in einer Gleichung, nach der sich das weltliche
Lebensglück umgekehrt proportional zur künstlerischer Vollkommenheit verhält, findet sich auch bei Adolf
Rosenberg: „Wenn der Lebensweg Rembrandts den Künstler auch aufwärts führte, so ging es mit den äußeren
Verhältnissen des Menschen nach dem Tode Saskias stetig bergab.“ (Rosenberg 1904, XXX).
171
hervortreten. Der Konflikt mit der Umwelt, die schmerzhafte Einsamkeit des Genies und die
Größe seines Heldentums sind wohl in keinem Rembrandt-Roman in glühenderen Farben
geschildert worden, als in diesem Text des Berliner Ordinarius für Kunstgeschichte:
„Sein Leben kennt etwas, das nun auch zu allen Gesetzen des Lebens gehört: das ‘Ungesetzliche’,
die Katastrophe. Sie umschattet schon den Mann in der zweiten Hälfte der Vierziger. Sie trifft den
Mann von fünfzig Jahren mit voller Wucht: Bankerott, Versteigerung, Vertreibung aus eigenem
Hause. Sie trifft ihn an der Lebenswende. Diese ist entscheidend; sie kann das Bergab der Lebenszeit zum Bergauf der Lebenskraft machen, sie kann aber auch eine zweite Jugend herbeiführen. Bei
Rembrandt scheint, so unglaublich es klingt, beides zu geschehen. Er empfängt einen schweren
Schlag, der ihn tief erschüttert und vorzeitig altert, aber eben der Schlag ruft kraftvolle Gegenwehr
hervor. Das letzte Gold in den tiefsten Gründen erschließt erst der Blitz. Nur der Rhythmus kommt
ins Wanken: von jetzt an geht alles schneller. Der Künstler vertieft sich fast erschreckend großartig,
aber noch vor der Mitte der Fünfziger ist der Mann ein Greis.“ (Pinder 1943, 13 f.)
In der Art eines Naturgesetzes („Das letzte Gold [...] erschließt erst der Blitz“) formuliert Wilhelm Pinder die heroische Vorstellung, derzufolge die ideelle Erfüllung durch materielle Opfer zu bezahlen sei. Sie wird uns im anschließenden Abschnitt zum topischen Motiv des Leidens noch einmal beschäftigen. Halten wir vorerst das narrative Muster der ‘Autonomisierung‘ fest, in dem der Künstler aus einer schädlichen Umklammerung durch die gesellschaftliche Welt befreit wird und zu sich selbst, zur Vollendung seiner Subjektivität im autonomen
Kunstschaffen gelangt.162
2.2.2 Zur Verkennungstopik
In der seit den 1890er Jahren gebräuchlichen Narration über Rembrandts Leben führt der
‘Weg‘ des Künstlers aus der Gesellschaft in die Isolation. Diese ‘autonomisierende‘ Erzählung fungiert als Beschreibung von Unterschieden, sie demonstriert, welche Charakteristika
einen ‘Künstler‘ ausmachen und wovon diese abzugrenzen sind. Am Zielpunkt dieser Entwicklung wird die diskursive Figur ‘Rembrandt‘ in Bezug auf die gesellschaftliche Welt ihrer
Zeit als außenstehend verstanden. 163 Zugleich wird ein stetiges Wachstum der
162
Es handelt sich hierbei um eine pädagogische Dramaturgie, die auf den bürgerlichen Bildungsroman der
Goethezeit als wesentlichen literarischen Vorläufer der Biographik der Jahrhundertwende zurückverweist (vgl.
Scheuer 1979, Kap. II).
163
Die wenigen privaten Bezugspersonen, die ihn in verschiedenen Erzählungsvarianten noch begleiten, fallen
für dieses Phänomen der Isolation nicht ins Gewicht. Mit dem Motiv der Verkennung durch die Zeitgenossen
wird speziell in den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts häufig der Verweis auf eine lang andauernde
Geringschätzung dieses Künstlers auch von Seiten von Kunstkennern des 18. und frühen 19. Jahrhunderts
172
überhistorischen künstlerischen Stellung Rembrandts postuliert, wobei diese beiden
Entwicklungen als kausal verknüpft erscheinen: Die Kennzeichen der äußeren Isolation
nehmen in den fraglichen Argumentationen die Position von Belegen der inneren Reifung ein.
Der Ausschluß des Künstlers durch seine Zeitgenossen bezeugt somit, daß die Bedeutung
seines Werks - und damit auch die des schöpferischen Individuums selbst - über die
Verständnismöglichkeiten seiner Zeit hinausgewachsen sei.164 Die Störung der
Kommunikation zwischen dem Künstler und seinen Zeitgenossen wird demnach Letzteren
angelastet. Es herrscht nicht einfach nur Unverständnis zwischen beiden Polen, sondern der
Künstler wird verkannt, da die Gesellschaft (noch) nicht in der Lage ist, seine wahre
Bedeutung zu überschauen.
Neben der narrativen Schilderung dieser Verhältnisse in Form des Autonomisierungsprozesses wird die Verkennung des Künstlers in einer Anzahl weiterer Topoi veranschaulicht. In
dieser Verkennungstopik geht es nur zum Teil um das Werk und die darauf erfolgenden Reaktionen.165 Als Zeichen für das Mißverhältnis zwischen künstlerischer Bedeutung und gesellschaftlicher Anerkennung spielt daneben die Beschreibung der näheren Lebensumstände des
Künstlers und seines körperlichen Zustandes eine bedeutende Rolle. Es sind drei Motive, das
Leiden, die Armut und die Einsamkeit, die in der Rembrandtliteratur die Vorstellung vom
schweren Schicksals des Künstlers zu veranschaulichen helfen und so den Prozeß seiner diskursiven Subjektivierung vorantreiben.
2.2.2.1 Das Leiden als körperliches Zeichen der Verkennung
Auf die topische Präsenz des Leidens in der Vorstellung vom modernen Künstlertum ist in der
Forschung wiederholt verwiesen worden. Seine Traditionslinien können auf die antike Mythologie und die christliche Heiligenvita zurückgeführt werden,166 seine Prägung für die Moergänzt, bis hin zu der Behauptung, Rembrandt sei über 150 Jahre lang vergessen gewesen (z.B. bei Lichtwark
1917 [1885], 261; Gurlitt 1902, 438).
164
Hier verbindet sich mit dem Isolationsmodell also eine genuin moderne Idee, die Vorstellung vom
historischen Fortschritt menschlicher Erkenntnispotentiale.
165
Dieser Aspekt der Verkennungstopik im engeren Sinne - die Ablehnung der künstlerischen Leistung - wurde
in Ansätzen bereits im vorangegangenen Abschnitt (Narrativierungen) angesprochen und fand zudem im
Abschnitt Rembrandts Verhältnis zur Auftragsarbeit Beachtung. Er kommt nochmals ausführlicher im Kapitel
Nachtwache zur Sprache, wo auch die rezeptionsgeschichtliche Entwicklung der Verkennungsthematik
aufgeschlüsselt wird.
166
Zahlreiche Beispiele könnten besonders die rhetorische Gleichsetzung des Künstlers mit dem christlichen
Märtyrer belegen. Ich verzichte hier auf eine Ausführung, da diese inhaltlich keine Erweiterung des Spektrums
liefern würde. Anstatt derartigen Bezugnahmen auf Heiligenviten eine psychologische Bedeutung im Sinne der
Sehnsucht nach einer Imitatio christi zu unterstellen (vgl. Neumann 1986, 58 ff.) sehe ich darin primär ein Phä-
173
derne erhält er in der Konzeption des romantisch-idealistischen Genies um 1800 (Neumann
1986, 54 ff.). Über weite Strecken des 19. Jahrhunderts bilden ‘Dichter und Denker‘ das Zentrum dieser heroischen Subjektvorstellung. Der bildende Künstler steht zunächst in ihrem
Schatten und weist erst in der zweiten Hälfte jenes Jahrhunderts eigenständige Konturen als
Sinnbild der Subjektivität auf.
In der Rembrandtliteratur tritt das Leiden nicht als eigenständiges Hauptmotiv, sondern als
Begleitmotiv innerhalb der Verkennungstopik auf. Verweise auf körperliches Leiden sind
dabei selten, es ist vielmehr das Leiden am Tod der engsten Familienmitglieder und das Leiden unter der sozialen Situation, die hier thematisiert werden. Beispiele dafür finden sich erst
im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, was zum einen mit den gleichzeitigen Tendenzen zur
Marginalisierung des Künstlers zu tun hat, zum anderen aber aus dem Umstand herzuleiten
ist, daß erst in dieser Phase in Folge der Archivstudien Informationen zum Privatleben des
mittleren und späten Rembrandt bekannt wurden, die als Anknüpfungspunkte für entsprechende Schilderungen dienen konnten.
Die fraglichen Stilisierungen bleiben dabei im Rahmen der seit der Frühromantik entwickelten und über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg variierten und etablierten Vorstellung vom
intensiven und schicksalsträchtigen Leben des Genies.167 Dabei kennt die Leidenstopik zwei
wesentliche Variationen. Beide bringen das Leiden des großen Individuums in einen kausalen
Zusammenhang mit dessen herausragender Leistung.
Beim Prometheusmotiv (1) wird dieser negativ bestimmt. Wie der Heros der antiken Legende
hat sich der Einzelne hier in einen übermenschlichen Bereich vorgewagt und wird dafür von
den Göttern, beziehungsweise in einer säkularisierten Sicht vom ‘Schicksal‘ oder vom ‘Le-
nomen der Metaphorik. In der Absicht, Rembrandts Leben und Wirken deutend darzustellen, greifen viele Autoren auf christlich geprägte Begriffe und Beispiele als eine verfügbare Kollektivsymbolik zurück, d.h. sie machen
metaphorischen Gebrauch von einem Themenfeld, das sich um 1900 aufgrund seiner allgemeinen Bekanntheit
für eine solche Verwendung anbot. Christliche Kollektivsymbolik ermöglicht aufgrund ihrer Komplexität eine
ausgezeichnete Differenzierung von Aussagen, kann die literarische Qualität eines Textes durch ihren Reichtum
an Äquivalenten steigern und bewirkt dabei gleichzeitig, für uns vielleicht der wichtigste Punkt, eine Nobilitierung des Erzählgegenstandes, seine Erhebung in den Status ‘geistigen Adels‘. Die dabei mitgeführte metaphysische Erhöhung der Kunst ist ebenfalls nicht zu übersehen.
167
Die historische Entwicklung unterschiedlicher Facetten dieses Geniekonzepts bei einzelnen Philosophen und
Literaten, wie sie Jochen Schmidt (1985) ausführlich herausgearbeitet hat, ist für unsere Zusammenhänge nur
von marginalem Interesse. Keiner der Autoren meiner Untersuchung bezieht sich in diesem Punkt direkt auf
einen Vordenker oder entwickelt selbst einen hinreichend komplexen Entwurf der Genialität, daß sich ein Vergleich mit den bei Schmidt ausgeführten Positionen lohnen würde. Es ist vielmehr festzustellen, daß in den Jahrzehnten um 1900 eine unscharfe Vorstellung vom Genie zirkuliert, die eine variable Anzahl von Topoi aufweist.
Diese Rede vom Genie stützt sich offenbar auf hinreichende allgemeine Akzeptanz, so daß sie im Kontext der
Künstlerbiographik ohne weitere Erklärungen abgerufen werden kann.
174
ben‘, bestraft. Die geistige Höhe seines Schaffens bezahlt der Künstler also durch Verluste,
Mängel und Schmerzen im materiellen Bereich. Das Leiden wird als Sühne aufgefaßt, als
Ausgleich eines Schuldenkontos. Unabhängig davon, ob die Sühne als gerechtfertigt betrachtet wird oder nicht, liegt dieser Sichtweise eine metaphysische Struktur zugrunde.
Das Erziehungsmotiv (2) kehrt die Kausalverhältnisse um. Hier wird das Leiden als produktiver Faktor verstanden, der einen entscheidenden Impuls zum schöpferischen Künstlertum
liefert und zur Verbesserung der künstlerischen Leistungen beiträgt. Schmerzen und Verluste
betreffen die äußerliche Ebene des ‘Menschen‘. Sie erziehen den ‘Künstler‘ dazu, sich von
dieser Ebene zu distanzieren und statt dessen die Aufgabe, das Glück und die Erfüllung im
geistigen Reich der Kunst zu suchen.168 Leiden ist hier also Mittel zur Verinnerlichung und
Vertiefung.169
(1) Ein Beispiel für das Prometheusmotiv finden wir bei Wilhelm Valentiner (1906). Er verweist zwar auf die mythische Struktur dieser Formel, jedoch ohne deren Geltung grundlegend
aufzuheben:
„(...) aus [Rembrandts] Kunst haben wir die Liebe zu den Gestalten und den Dingen, die ihn umgaben, so genau kennen gelernt, daß wir wohl mit Recht annehmen dürfen, daß jede plötzliche Veränderung, die mit ihnen vorging, zu einem tiefen, schmerzlichen Riß in seiner Seele wurde. Und
solcher erschütternder Ereignisse gab es mehr als genug in seinem Leben, zumal in dessen zweiter
Hälfte. Es war, als sollte der alte Glaube an ihm zur Wahrheit werden, das Menschengröße durch
Leiden erkauft werden soll. In rascher Folge starben Rembrandts Frau, seine Kinder und seine
nächsten Verwandten. Bald darauf kam der Künstler durch seine Kunstsammlungen in Schulden,
musste seinen Besitz versteigern lassen und ging aller Ehre verlustig. So wurde ihm entrissen,
woran er am meisten hing; er mußte auf die Stützen verzichten, die Menschen und Besitz bieten.“
(Valentiner 1906, 92)
Im Anschluß an derartige Schadensberichte wird in der Regel auf den ungebrochenen Schaffensdrang verwiesen, der Rembrandt bis in seine letzten Jahre zu Meisterleistungen befähigt
habe. Die vom Schicksal auferlegte Last des Leides mag den Menschen treffen, seinen künstlerischen Höhenflug kann sie jedoch nicht ernsthaft gefährden.
168
Eckhardt Neumann weist auf die christliche Tradition dieser „Interpretation des Leidens als eines pädagogi-
schen Instruments“ seit Augustinus hin (De civitate dei I, 8): „Gott bedient sich des Leids als eines Instruments
zur correctio, also zum Zweck der Besserung, und andererseits setzt er es als probatio zur Prüfung des Menschen ein.“ (Neumann 1986, 68).
169
Eine Variation bringt beide Motive zusammen: das Leiden erscheint als Strafe, die jedoch nur den Trotz des
Künstlers hervorruft und somit indirekt wiederum erzieherische Wirkung zeigt (so z.B. bei Verhaeren 1912, 22
und 54).
175
In einer Verkürzung der Narration der Prometheuslegende - diese sieht erst das Vergehen wider die Götter vor und dann, in einem zweiten Schritt, die Bestrafung - tritt bereits im romantischen Künstlerbild das Leiden zumeist als direkte Begleiterscheinung künstlerischer Praxis
auf (Neumann 1986, 55). Hier sehen wir, daß es in diesen Vorstellungen vom Künstlertum
primär nicht etwa um das Tradieren antiker Mythologie ging, sondern daß diese Mythologien
lediglich der Illustration und Nobilitierung aktuell bedingter Konzeptionen dienten. Prometheus sollte nicht nachgeahmt werden, er konnte vielmehr als Ahne zur Veranschaulichung
und Etablierung der neuen Vorstellung dienen. Nicht die Renaissance eines antiken Motivs,
sondern das romantisch-moderne Subjektivitätskonzept stand auf dem Programm.
Prometheus als leidender Kulturheros konnte viele Gewänder tragen. In der Gestalt Rembrandts opferte er sein materielles Wohl der hohen und wahrhaftigen Sache der Kunst.
Ein Beispiel: In einer patriotischen Miniatur über Rembrandt, 1916 im Sammelband Das
deutsche Angesicht erschienen (1917 als reduzierte Auswahl fürs Feld), konzentriert sich Herbert Eulenberg darauf, die Opferbereitschaft als Künstlertugend zu proklamieren:
„Rembrandts erhabenes tragisches Beispiel weist dem Künstler den Weg zur Unsterblichkeit. Vor
ihn sollte man die jungen Akademiker führen, nicht um ihn zu kopieren, sondern um Persönlichkeiten und eigene Menschen wie er zu werden. Und man sollte sie noch heute anreden wie der alte
Cornelius seine Schüler: ‘Nicht darauf kommt es an, meine Herren, möglichst viele tausend Taler
im Jahre zu verdienen und ein Haus in der vornehmsten Straße zu erwerben, sondern einzig darauf,
Kunst zu machen. Was nützt es dem Maler, wenn er sich hohe Orden und Titel und Revenuen wie
Rothschild ermalt und erster Klasse mit sechs Pferden und mit Musik begraben wird, wenn er zehn
Jahre später der Lächerlichkeit verfällt und seine Bilder immer höher bis auf den Speicher wandern
und die Motten selbst sie nicht mehr mögen? Auf Rembrandt schaut, ihn ehrt wie einen Heiligen,
den Welteroberer, der auf der Strohmatte gestorben ist und als Bettler erlosch, um als größter
Künstler fortzule ben!‘.“ (Eulenberg 1917, 95)
Der Nachruhm wird von Eulenberg als eigentliches Ziel des Künstlers dargestellt. Materieller
Erfolg zu Lebzeiten scheint dem Erreichen dieses Ziels eher abträglich zu sein, denn Materialismus ist hier als Gegenpol zum Idealismus gedacht, und dieser ist wahrem Künstlertum als
Existenzmodus bestimmt.
‘Leiden‘ - über den rein körperlichen Schmerz hinaus als Ausdruck des bedrohten Individuums schlechthin verstanden - wird in dieser Sichtweise geradezu zum charakteristischen
Kennzeichen für eine vorbildliche Geisteshaltung. In der Darstellung Eulenbergs erscheinen
die Bereitschaft zum Leiden und die Tatsache des Leidens wie die ersten unverzichtbaren
Schritte zum praktizierten Idealismus, hier imaginiert als Kardinaltugend der Künstler - und
Soldaten.
176
(2) Am häufigsten tritt das Leiden aber wohl mit einem erzieherischen Impetus in Erscheinung. So erzählt zum Beispiel Richard Hamann (1906) über die Jahre nach Rembrandts Konkurs:
„Diese Schicksale prägen sich im Äusseren Rembrandts immer mehr aus. Er verwahrlost immer
mehr. Wie er sie innerlich durchlebte, können wir nur ahnen. Eine unendliche Vertiefung - die Erziehung durch das Leiden - kündet sich in jedem Werke dieser Zeit an.“ (Hamann 1906, 17)
Wie diese Formel der „Erziehung durch das Leiden“ zu verstehen ist, erläutert Eberhardt
Hanfstaengl (1939):
„Dies Leid, diese grausamen Enttäuschungen trieben ihn in die Tiefe der Dinge, in eine totale Einsamkeit. So geht er dem Dunkel entgegen, das er mit wundersamen Gesichten und goldenen Strahlen erhellt hat, das für ihn nichts Erschreckendes haben kann - mit einer gelassenen Ruhe und in
unermüdlicher Arbeit.“ (Hanfstaengl 1939, 14)
Ohne das Leid direkt zu begrüßen, wird es hier doch als produktive Kraft aufgefaßt. Leid erzieht, indem es dem Leidenden die Oberflächlichkeit ‘äußerlicher‘ Phänomene als enthüllt,
indem es ihm die wahre und tiefe Bedeutung der Dinge erschließt. Carl Neumann
(1902/1922):
„Wo sind die Menschen, denen Glück auf die Dauer zuträglich ist? Unsere Natur ist zu eudämonistisch angelegt, um Unglück und Leid zu begrüßen, um sich ergeben ihnen zu unterwerfen. Dennoch sind es diese unerbetenen Mächte, die da kommen und das Erdreich locker machen, aus dem
die Quellen des Tiefsten, das in menschlicher Natur ruht, hervorbrechen.“ (Neumann 3 1922, 365)
Leiden führt zur Tiefe, auch wenn dies die „eudämonistisch angelegt[e]“, also auf das Lob der
Glückseligkeit ausgerichtete Natur des Menschen oft nicht wahrhaben mag.
Dem Leiden wird läuternde Kraft zugesprochen. Es vermag demnach, dem Individuum die
ganze Tiefe seiner Wesens zu erschließen, also als Schlüssel zur vollendeten Subjektivität zu
dienen. Hinsichtlich der Bedeutung des Leidenstopos erscheint mir dieser Zusammenhang
tatsächlich als entscheidend: Im Diskurs der Subjektivität fungieren Krankheit, Schmerz und
Leidensfähigkeit als Belege für die erhöhte Sensibilität des künstlerischen Subjekts und damit
als Ausdrucksmittel der Subjektivität selbst. Einer hermeneutischen Lektüre liefert der Leidende ein Zeichen seiner inneren, seiner ‘seelischen‘ Tiefe.170 Diese These wird durch die Beobachtung belegt, daß der Hinweis auf das Leiden zu den geläufigen Begleitmotiven zählt,
wenn in der Rembrandtliteratur von der Tiefe des künstlerischen Subjekts gesprochen wird.
170
Für eine ausführliche Diskussion der hermeneutischen Funktion des Schmerzes in der modernen Literatur und
Philosophie vgl. Christians 1999.
177
Wo sich beispielsweise das Leiden des Künstlers in seiner Kunst dingfest machen läßt, da
dient es, wie bei Jan Veths (1906) Deutung des radierten Selbstbildnis am Fenster (RS 62),
als Beleg der geistigen Tiefe und der Willensstärke:
„Hier sehen wir Rembrandt selbst, wie er, in andächtige Wahrnehmung versunken, von seiner Zeichentafel aus in die Welt späht, während er bereit ist, das so Betrachtete dem Papier anzuvertrauen.
Sein schmerzlich angespanntes Gesicht zeigt die Spuren von viel Streit und viel Leid, aber die tiefzerfurchten Züge sprechen auch von einer ungebrochenen, ja noch gestählten Hartnäckigkeit und
von einer fest entschlossenen Einkehr zu tieferem Lebensschatz.“ (Veth 1906, 109) 171
Alfred Stange verknüpft noch 1954 Künstlertum, Subjektivität, Tiefe und Tragik zu einem
kausalen Geflecht:
„Rembrandt begegnet in jedem seiner Bilder als ein subjektiver und - man darf einfügen: deshalb tragischer Künstler. Er gab, was ihm in Bibel, Historie und menschlichen Modellen zum tiefgründigen Erlebnis geworden war, als persönliche Aussage, deren Richtigkeit und Notwendigkeit in
ihm allein begründet lag. Deshalb mußten er und sein Schaffen einsam werden. Jedes seiner späten
Werke erscheint als ein Stück der menschlichen Tragödie. Leid und Zerbrochenheit, Gescheitertsein und Verzicht sind fast ausnahmslos ihr Grundtenor.“ (Stange 1954, 41 f.)
Wenige Jahre zuvor macht Marie Luise Kaschnitz in späten Selbstbildnissen Rembrandts eine
„gefestigt[e] und vertieft[e]“ „Persönlichkeit“ aus. Zu den Ursachen für diese Erhebung des
Künstlers in den Rang eines autonomen Subjekts zählt auch sie das Leiden:
„Auf den (...) Bildern erscheint die Persönlichkeit Rembrandts durch das Leiden und die äußere
Einengung erhöht, durch das Ausgestoßensein aus der patrizischen Gesellschaft gefestigt und vertieft. Das Zurückfinden zu sich selbst ist eine neue Begegnung mit dem Menschen, mit einem
Neuen nun, der weder der Bereicherung und Ehrung von außen, noch des sicheren Haltes einer
bürgerliches Existenz bedarf.“ (Kaschnitz 1948, 34)
Wiederum wenige Jahre zuvor sieht Wilhelm Pinder das Leiden als eine Grundbedingung für
die Entstehung des „Selbstbildnis engeren Sinnes“ an, die er bei Dürer und Rembrandt verortet. Die Bewußtwerdung über das individuelle Leiden wird dabei geradezu zum konstitutiven
171
„Wij zien hier Rembrandt zelf, zoals hij (...), in aandachtige waarneming verzonken, van achter zijn teekenta-
fel de wereld intuurt, terwijl hij gereed is het aldus aanschouwde toe te vertrouwen aan het papier. Zijn smartelijk gespannen gelaat vertoont de sporen van veel strijd en veel leed, maar die zwaargegroefde trekken spreken
ook van een ongebroken, ja nog gestaalde hardnekkigheid en van een vastbesloten inkeer tot dieper levensschat.“ (Veth 1906, 109).
178
Moment der Subjektivität überhaupt. Zudem wird erneut das Tragische als eigentlicher Modus des Künstlerischen bestimmt:
„Selbsterforschung kann eben nur das Ich leisten. Erst mit ihr entsteht das Selbstbildnis engeren
Sinnes. (...) Nur weil Dürer selber ringt und fragt, und dies als einziger Wissender sehen k a n n ,
weil eine e i g e n e schwarze Stunde ihm zur Form wird, nur darum kann eine solche Form des
Selbstbildnisses entstehen. Die innere Spaltung in Sehen und Gesehenwerden, aber auch in den
Leidenden und den, der dieses Leiden als das n u r i h m e i g e n e fühlt und d a r u m gestaltet,
erst diese macht das Selbstbildnis engeren Sinnes aus.“ (Pinder 1943, 12)
Die diskursive Funktion des Leidens sehe ich, mit Bezug auf diese Zitatbeispiele, in der Demonstration der Tiefe des Empfindens des Leidenden, die als Beleg für dessen ausgeprägte
Subjektivität fungiert. Die Topik des autonomen Künstlers verweist an dieser Stelle besonders
deutlich auf ihre Tradition: den „genialischen Subjektivismus“ der Romantik, wie er etwa im
Prometheusmythos zum Ausdruck kommt (vgl. Schmidt 1985, I, 254 ff.). Über die Frage nach
den gesellschaftlichen Funktionen dieses Subjektkonzepts wird zum Ende dieses Teils noch
zu reden sein. Vorerst möchte ich zwei weitere Motive darstellen, die in der Rembrandtliteratur im Kontext der Verkennungstopik auftreten: die Armut des alternden Künstlers und
seine Einsamkeit.
2.2.2.2 Die Armut als Veranschaulichung der gesellschaftlichen Marginalisierung
„Völlig verarmt, völlig vereinsamt ist Rembrandt am 4. Oktober 1669 in Amsterdam gestorben.“
(Seiffert-Wattenberg 1936, 11) 172
Bis ins vierte Viertel des 19. Jahrhundert lagen zu den letzten zehn Lebensjahren Rembrandts
nur minimale Informationen vor. Die Quellen schwiegen, die Autoren taten es ihnen gleich
und wiesen darauf hin, daß bekannte Hypothesen wie Rembrandts späte Reise nach Schweden
und sein dortiger Tod am Königshofe lediglich auf Spekulationen beruhten (Immerzeel 1843,
11).
172
Die Kraft dieser Formel liegt im tragischen Schicksal des verkannten Genies und in dem schockierenden
Kontrast zwischen einstiger Nichtachtung und heutiger Verehrung. Sie wirkt besonders, wenn sie als Einstieg in
die Lebenserzählung genutzt wird. So verfährt der hier zitierte Begleittext zu einem kleinen Ausstellungskatalog
(Seiffert-Wattenberg 1936), so verfahren aber beispielsweise auch der Rembrandt-Film von 1942, der seine
Handlung als Rückblende entfaltet, und der Rembrandt-Roman Der Überwirkliche von Hendrik van Loon
(deutsch 1933).
179
Die Archivfunde, die im Verlauf der 80er Jahren publiziert wurden, lieferten dann einige neue
Anhaltspunkte für die Erzählungen der Vita des späten Rembrandt. Der wachsende Umfang
dieser Quellen, ihre Akzeptanz und ihre Ausdeutung durch verschiedene Autoritäten sorgte
um 1900 für eine weitgehende Übereinstimmung in den Schilderungen dieser Phase von
Rembrandts Leben. An die Stelle der Witwe Catharina van Wyck, die zwischen 1866 und
1883 vorübergehend als letzte Ehefrau des Künstlers gegolten hatte,173 trat die uneheliche Beziehung zu Hendrickje Stoffels,174 das Datum seines Todes war nicht länger strittig,175 und
verschiedene Gerichtsakten gaben Einblick in die weiteren Familienverhältnisse. Der
Grundtenor dieser Darstellungen von Rembrandts Lebensende läßt sich am Beispiel von
Adolf Rosenberg (1904) nachvollziehen:
„Noch am Abende seines Lebens hatte der greise Meister die schwersten Prüfungen zu bestehen.
Kurz vor 1664 war seine Hendrickje gestorben, und im September 1668 starb Titus (...) In völliger
Vereinsamung, von seinen Landsleuten, die ihn einst aufs höchste gefeiert hatten, gänzlich vergessen, starb Rembrandt in der ersten Oktoberwoche des Jahres 1669.“ (Rosenberg 1904, XXXVI)
Neben der Einsamkeit und dem gesellschaftlichen Desinteresse ist in derartigen Schilderungen der Hinweis auf die ärmlichen Verhältnisse zu finden, die den Lebensabend des Künstlers
begleiteten. Rosenberg führt hierzu ein Dokument an, das zum erweiterten Kanon des Topos
zu zählen ist:
„Daß er in bitterster Armut starb, wird uns noch durch ein nach seinem Tode aufgenommenes Inventar bestätigt, worin ausdrücklich hervorgehoben wird, daß er nichts an Eigentum hinterlassen
hat, ‘mit Ausnahme seiner Kleider aus Wolle und Leinwand und seiner Arbeitsgeräte‘. So endete
ein Künstlerleben, das unter so günstigen Vorzeichen begonnen und lange Zeit im leuchtendsten
Sonnenglanz gestanden hatte, als erschütterndes Trauerspiel!“ (Rosenberg 1904, XXXVI)
Um 1900 etablierte sich also die noch heute geltende Version der Lebenserzählung, in der
Hendrickje Stoffels und Titus van Rhijn die wichtigsten Nebenrollen spielen, dem sterbenden
Künstler jedoch nur noch die unmündige Tochter Cornelia und Titus’ Witwe Magdalena van
Loo mit ihrer soeben geborenen Tochter Titia zur Seite stehen. Wie die Rezeptionsgeschichte
zeigt, stellt sich erst mit dieser Auffassung von Rembrandts Altersjahren auch die Formel
173
Zuerst bei Scheltema 1866, 153; widerlegt durch de Roever, vgl. Bode 1883, 546.
174
Gemäß seiner bereits beschriebenen Neigung zur ‘Privatisierung‘ der Werke Rembrandts baute Bode die Dar-
stellungen de Roevers über Hendrickje aus, indem er in den Werken Rembrandts nach ihrem Bildnis suchte. Aus
diesen drei Elementen - ihrem Namen, den Dokumente ihres Lebens und schließlich ihrem Gesicht - stabilisierte
sich Hendrickjes Rolle in den Lebensschilderungen (Bode 1883, 548 ff).
175
Es wird bereits durch Scheltema mit dem 9. Oktober 1669 angegeben und danach kaum noch angefochten
(vgl. Kolloff 1854, 469).
180
seiner Verarmung und Verkennung ein.176 Als einer der spätesten Texte verweist Knackfuß‘
auflagenreiche Künstlermonographie noch 1897 auf Catharina van Wyck als Witwe Rembrandts (4 1897, 152). Von Armut, Verkennung oder Einsamkeit ist dabei keine Rede. Als
1911 im selben Verlag eine Kurzversion aus der Hand von Hans Jantzen erscheint, hat sich
neben Hendrickje und Titus auch die Armutsformel etabliert:
„So war denn auch das einzige, was Rembrandt bei seinem Tode hinterließ - Pinsel und Palette.“
(Jantzen 1911, 32)
Die Archivfunde der 80er Jahre zogen demnach eine Revision der Vita nach sich. Anstelle
einer neutralen Wiedergabe der Quellen ist dabei jedoch deren unterschiedliche Gewichtung
zu beobachten. Viel zitiert und variiert wurde der Satz, Rembrandt habe nur einige alte Kleider, etwas Farbe und Zeichenmaterial hinterlassen. Hierauf konnte sich die Armutslegende
stützen, und sie tat das durchaus auch in Texten akademischer Kunsthistoriker bis weit ins 20.
Jahrhundert hinein.177 Andere Dokumente wurden dagegen kaum beachtet, und das, obwohl
sie von den beiden führenden Autoritäten im deutschen Raum, Carl Neumann (1902) und
Wilhelm Bode (1906) erwähnt und in ihren Konsequenzen gedeutet worden waren. Um den
selektiven Umgang mit Quellen und dessen Bedeutung für die Rembrandtlegende zu verdeutlichen, sollen die fraglichen Passagen hier skizziert werden.
Gemeinsam mit Cornelis Hofstede de Groot hatte Wilhelm Bode 1897 den ersten Band des
ambitionierten Projektes eines „beschreibenden Verzeichnisses“ aller Gemälde Rembrandts
publiziert.178 Im letzten Band, der 1905 erschien, findet sich neben einem umfangreichen
Nachtrag „wiederentdeckter“, also in jüngster Zeit Rembrandt zugeschriebener Gemälde der
vollständige Abdruck aller bisher verfügbarer Archivstücke, die Rembrandts Leben betreffen.
In seiner kurzen „Lebensgeschichte Rembrandts“, eben dort publiziert, will Bode keine umfassende Erzählung entwerfen, sondern lediglich in dieses „Urkundenwerk“ einführen (Bode
176
Vgl. dagegen Guhl (1856, 223), der aus dem Mangel an Informationen auf einen Niedergang des Künstlers
schließt.
177
So etwa bei Hanfstaengl 1947, 169; Stange 1954, 13; vgl. dagegen Weisbach 1926, 75 ff. Auch Richard Ha-
mann nimmt 1948 den Armutstopos zurück, ohne jedoch eine vollständige Relativierung der Verkennungstopik
damit zu verbinden (Hamann 1969, 128).
178
Der auf acht Bände konzipierte Werkkatalog unterscheidet sich von allen bisherigen Versuchen einer solchen
Zusammenstellung durch die „heliographischen Nachbildungen“, die, in großem Format und auf separaten Blättern präsentiert, der nüchternen Beschreibung erstmals ein vollständiges Bildarchiv zur Seite stellten. Bode betont die Exklusivität des Projektes selbst in der Einleitung zum ersten Band. Wurzbachs Rembrandt-Galerie
hatte 1886 100 Gemälde publiziert, dabei jedoch noch nicht auf Fotografien, sondern auf Nachstiche („Stiche,
Radierungen und Schwarzkunst-Blätter“) zurückgegriffen.
181
1905, o.S.). Im Detail bedeutete dies eine Auslegung der unangenehmen Dokumente - über
Rembrandts Verhalten als Schuldner, die Streitigkeiten mit Geertje Dircx und das „Konkubinat“ mit Hendrickje Stoffels - und deren Einbindung in ein positives Gesamtbild von „Rembrandt’s Leben und Charakter“ (vgl. Bode 1905, 8 f.).
In dieser Erschließung der Quellen setzt sich Bode auch gründlich mit Rembrandts komplizierten Finanzverhältnissen auseinander. Zunächst geht es dabei um den Niedergang des bürgerlichen Glanzes, der sich im repräsentativen Haus und in der reichen Kunstsammlung geäußert hatte und seit 1656 im Konkursverfahren abgewickelt wurde. Wie wir gesehen haben,
wird dieser wirtschaftliche Ruin in den geläufigen Lebenserzählungen mit der gesellschaftliche Isolation verbunden, die Armut des späten Künstlers fungiert als Zeichen und Beleg für
dessen Marginalisierung.
Auch Wilhelm Bode stellt seiner Beschreibung der finanziellen Situation am Lebensende
Rembrandts ein entsprechendes Fazit voran:
„Rembrandt’s Hinterlassenschaft bestand, wie uns die Urkunden bezeugen, nur in seinem dürftigen
Hausrath, seinem Arbeitszeug und seinen Kleidern. Danach müssen wir annehmen, dass der
Künstler in diesen letzten Jahren in völliger Armuth gelebt habe.“ (Bode 1905, 14)
Über Eigentum habe Rembrandt nicht verfügt, denn dieses hätte ja in Folge der verbliebenen
Restschuld den Gläubigern zugestanden. Allerdings sei die Vorstellung der damaligen Lebensumstände des Künstlers mit dem Begriff ‘Armut‘ nicht erschöpfend dargestellt:
„(...) aber die kleine Wohnung konnte deshalb doch noch in einer bescheidenen Behaglichkeit eingerichtet und selbst künstlerisch etwas ausgestattet sein. In der That liessen die Witwe von Titus
und der Vormund von Cornelia drei Zimmer des Sterbehauses mit ‘Gemälden, Zeichnungen, Raritäten und Antiquitäten‘ schliessen und die Thüren versiegeln. Dass Rembrandt nicht die Noth
wirklicher Armuth ausgekostet hat, geht auch daraus hervor, dass der Vormund von Titus‘ Tochter
Titia, François van Bylaert, sich erst befriedigt erklärt auf die notarielle Aussage der beiden Vormünder von Rembrandt’s Tochter Cornelia, dass der Künstler laut jenem Vertrage zwischen Rembrandt einerseits und Hendrickje und Titus andererseits, ausser seinen Malutensilien und einigem
Leinen- und Wollenzeug nichts besessen habe, sondern dass der ganze Nachlass nur den Erben von
diesen beiden angehöre und von Rembrandt nur benutzt worden sei.“ (Bode 1905, 14)
Reduziert auf ihren wesentlichen Gehalt besagen diese Erläuterungen, daß Rembrandt zwar
kein Eigentum hinterließ, aber nicht als besitzlos gelten konnte. Als rechtmäßige Eigentümer
dessen, was auch von Rembrandt zu Lebzeiten „benutzt“ wurde, waren zunächst Titus und
Hendrickje, später deren Erben, also die Witwe von Titus und Hendrickjes noch unmündige
Tochter Cornelia, anzusehen. Grundlegend für diese Eigentumsverhältnisse war der Vertrag,
den Hendrickje und Titus nach dem Konkurs Rembrandts mit diesem geschlossen hatten. Da182
durch wurde er zu einem Angestellten des von diesen beiden geleiteten Kunsthandels, erhielt
Kost und Logis und zahlte ihnen seine Schulden durch Gemälde und Radierungen ab. So
blieb Rembrandt ohne Eigentum, er hatte seine Selbständigkeit verloren, konnte aber zugleich
wieder den Unterhalt seiner Familie sichern. In den Worten Neumanns (1902):
„Der Sinn dieser Bestimmungen ist durchsichtig genug. Rembrandt bleibt in Insolvenz; er ist bei
dem Geschäft, das seine Familie betreibt, angestellt; den Forderungen der Gläubiger kann er die
Thatsache entgegensetzten, daß er nichts besitzt und nichts zahlen kann.“ (Neumann 1902, 594 f.)
Auf dieser Basis ließ sich sogar, darauf weisen Bode (1905) und Neumann (1902) hin, wieder
eine Kunstsammlung aufbauen, deren Wert die rechtmäßigen Eigentümer nach Rembrandts
Tod vor dem Auge des Gesetzes und dem Zugriff der Gläubiger durch Versiegeln der Türen
entzogen. Bode sind diese Zusammenhänge klar und er schließt daraus, „dass Rembrandt
nicht die Noth wirklicher Armuth ausgekostet hat“; Neumann hatte festgestellt:
„Drei Zimmer, deren Inhalt nicht spezifiziert wird, sind voll von Malereien, Zeichnungen, Raritäten
und Antiquitäten. Es war also wieder eine Sammlung da, von der Rembrandt auch im letzten Jahrzehnt seines Lebens den Genuß gehabt hatte. Aber von allem gehörte ihm nichts, und der Notar
konstatierte, daß nur seine Kleider, die Leibwäsche und sein Malgerät sein Eigentum gewesen
seien.“ (Neumann 1902, 595)
Wie diese Zitate zeigen, wird in den grundlegenden Texten der beiden einflußreichsten
deutschsprachigen Autoren Material zur Verfügung gestellt, das die Vorstellung von einem
im Alter völlig verarmten Rembrandt entscheidend relativiert. Eine umfassende Thematisierung dieser Beobachtung würde jedoch einen Argumentationspfeiler der Verkennungsthese
gefährden. Im Anschluß daran wäre selbst die zentrale Vorstellung der künstlerischen Autonomie Rembrandts in Frage gestellt, da sich das Vermögen des Kunsthandels von Titus und
Hendrickje ja wenigstens teilweise aus dem Verkauf jener rembrandtschen Arbeiten gespeist
haben mag, die in so reicher Zahl die Bände von Bodes Verzeichnis füllen. Außerhalb der
beiden zitierten Textpassagen nimmt die deutschsprachige Rembrandtliteratur diese Zusammenhänge tatsächlich auch kaum zur Kenntnis.179 Wurden sie dennoch erwähnt, so stand
ihnen in den markanten summarischen Textteilen am Anfang oder Ende der Bücher und
Aufsätze die Formel der Verkennung, Vereinsamung und Verarmung entgegen. Ihre Blütezeit
erlebte diese Formel übrigens erst, als die oben aufgeschlüsselten Quellen zum späten
Besitzstand des Künstlers bereits publiziert waren. Auch in den zitierten Texten Neumanns
179
Weisbach (1926) und Hamann (1948) übernehmen in ihren umfassenden Rembrandt-Monographien die For-
mel von Neumann und Bode und verknüpfen die Relativierung der Armutsthese mit einer Fortsetzung der Verkennungstopik (vgl. Anmerkung 20).
183
und Bodes bleibt sie prinzipiell unangetastet. Die beiden Autoren stellen sich in diesem Punkt
nicht gegen den Trend der Deutungen, sondern gewähren den Relativierungen der späten
Armut Rembrandts letztlich keinen Einfluß auf die Schilderungen der Einsamkeit und
Verkennung des Künstlers.
Bodes Entwurf der Künstlerpersönlichkeit lautet:
„Aus allem gewinnen wir das Bild einer echten Künstlernatur, eines Mannes, der ganz seiner Kunst
lebte, die ihn auf das Heim hinwies, die ihn abgeschlossen und mit der Zeit selbst abstossend gegen
die Aussenwelt werden liess.“ (Bode 1905, 14 f.)
Und Neumann schreibt angesichts später Selbstbildnisse:
„Bitter, aber im Vorgefühl und der Sicherheit seines Rechts sieht er uns wie ein gestürzter König
an, vertrieben und einsam, aber hoheitsvoll und doch ein König.“ (Neumann 1902, 490)
2.2.2.3 Rembrandts Einsamkeit - Endpunkt der Autonomisierung und ‘Ort der Kunst‘
Die Konzeption der Lebensgeschichte Rembrandts als Läuterungsprozeß dominiert die
deutschsprachigen Texte des Untersuchungszeitraums, sie ist keineswegs nur ein Randphänomen und etwa auf ‘populäre‘ oder ‘triviale‘ Texte zu begrenzen. In der Vorstellung von der
künstlerischen Autonomie, als deren Veranschaulichung die dramaturgische Zuspitzung von
Rembrandts Leben zur ‘Rembrandtlegende‘ gesehen werden kann, kommt dem Topos der
‘Einsamkeit‘ eine zentrale Position zu, mit dem ich nun die Beschreibung der verschiedenen
Motive der Verkennungstopik abschließen möchte.
Grundsätzlich lassen sich in der untersuchten Literatur zwei Auffassungen dieser Einsamkeit
Rembrandts ausmachen. Das erste Modell schildert den Entwicklungsgang des Künstlers als
einen Weg aus der Öffentlichkeit in die Einsamkeit, wobei besonders das Spätwerk von der
Isolation geprägt ist. Hier liegt demnach ein Prozeß der ‘Vereinsamung‘ vor. Im zweiten Fall
wird diese Vorstellung erweitert. Die gesellschaftliche Vereinsamung des späten Künstler
wird dabei lediglich als markanter Ausdruck einer grundsätzlichen Einsamkeit des künstlerischen Genies verstanden, die sich entsprechend auch in früheren Schaffensphasen zeigen läßt.
Die vorausgegangenen Kapitel haben mit ihren Beispielen zur Frontstellung des Künstlers
gegen die Gesellschaft bereits die Grenzen des privaten Bereichs angedeutet, der Rembrandt
als Wirkungsstätte zugeschrieben wird. In der Läuterungslegende, die den Künstler aus der
frühen gesellschaftlichen Höhe über die Katastrophe (Saskias Tod, Uneinigkeit mit den Auftraggebern, finanzieller Ruin) in die künstlerische Tiefe treibt, bildet die Einsamkeit den
184
Schlußpunkt des Weges. Es ist zugleich der ideale Ort des autonomen Künstlers, an dem seine
Kunst ihre Vollendung erleben kann. Einige Beispiele für die Präsenz dieses Topos:
Richard Hamann (1906):
„Rembrandt vereinsamt, zieht sich immer mehr in sich selbst und auf die Arbeit zurück. Alles Äußere verliert seinen Wert für ihn.“ (Hamann 1906, 13)
Richard Muther (1906):
„Hatten sich schon vorher seine Beziehungen zur Außenwelt gelöst, so wird jetzt seine Kunst ganz
die eines einsamen Menschen, der nur noch zum Pinsel greift, um seelisch sich auszusprechen.“
(Muther 1906, 16)
Und Eberhardt Hanfstaengl (1947):
"Eine schwächere Natur wäre dieser seelischen Belastung erlegen. Rembrandts starker Geist
wächst an diesem Widerstand. Es ist als würde er nun seiner selbst völlig sicher, er weiß nun, was
er sich zutrauen kann, in welche Höhen und Tiefen sein Weg führen wird. Diesen Weg muß er allein gehen.“ (Hanfstaengl 1947, 66)
Hanfstaengls Zitat ist etwas reicher in der Topik als die vorigen. In die Einsamkeit führt den
Künstler hier ein Weg, der nicht nur in seiner Folgerichtigkeit als vorbestimmt erscheint jener wichtige Topos, mittels dessen Kunstgeschichtsschreibung immer wieder die Geschlossenheit des Gesamtwerkes und des Entwicklungsganges von KünstlerInnen beschreibt -, sondern den dieser mit einer Geradlinigkeit geht, die seinen unbedingten Glauben an dessen
Richtigkeit und seine Antizipation von dessen Richtung vermuten läßt. Diese Konstellation
führt zu Formulierungen, die Rembrandt nicht nur passiv, sondern in einer aktiven Rolle an
der Vereinsamung mitwirken lassen, so bei Carl Voll (1906):
„Ganz am Ende seines Lebens tritt Rembrandt fast freiwillig aus aller Verbindung mit seiner Umgebung. Er schwebt wie ein abgeklärter Geist nur noch in höheren Sphären. Da schuf er jene tiefergreifenden Szenen vom ‘König Saul und David‘, und die ‘Rückkehr des verlorenen Sohnes‘, wo er
in der Gestalt des alten Vaters, der in wortloser Liebe die Arme verzeihend um den endlich wie dererlangten Sohn schlägt, das Abschiedswort an sein Volk und an die ganze Menschheit spricht, ein
Wort voll hoher Würde und der selbstlosesten Lie be. 1669 starb Rembrandt in einer Einsamkeit,
die uns nach dem, was wir heute über seine letzten Jahre wissen, imposant erscheint.“ (Voll 1906 a,
595)
Die Opposition von niedriger materialistischer Gesellschaft und höheren geistigen Sphären
bringt Rembrandt hier zum ‘Schweben‘. Aus den angeführten Bildbeispielen wird er als ein
Weiser gedeutet, der seinen Zeitgenossen symbolisch vergibt. Schließlich ist mit Nachdruck
185
der Effekt der Einsamkeitsformel benannt, sie läßt uns Rembrandt „imposant“ erscheinen, sie
erhebt ihn zu einer übermenschlichen Größe.
Diese Größe plaziert Rembrandt im überirdischen Reich der Genies, überführt ihn in den
Rang einer „Vornehmheit“, die Theodor Hetzer (1941) nochmals von ihrem gefälligen weltlichen Pendant distanziert:
„Es ist auch mit seiner Vornehmheit etwas anderes als mit der des van Dyck; sie kommt nicht aus
der Gesellschaft, hat daher nichts mit Eleganz zu tun. Sie kommt aus dem Reifwerden des Künstlers, aus der Vollendung des Menschen, aus der Souveränität des Einsamen; man kann sie daher
mit Tizians natürlicher Macht, mit Tintorettos Vergeistigung vergleichen, nicht mit van Dycks gefälligem und gewandtem Talent.“ (Hetzer 1984 [1941], 344)
Ein elementarer Skeptizismus gegenüber der Öffentlichkeit äußert sich hier. Vergeistigung
und Reifwerden ereignen sich im Peripheren, jenseits der Gesellschaft, die Einsamkeit ist
Voraussetzung und Quelle, sie ist der Ort geistiger „Souveränität“.
In dieser Konzeption einer Genialität, die über alle Belange des Alltags erhaben ist, zeigt sich
eine Vorstellung von Einsamkeit, die über die Beschreibung einer als faktisch angenommenen
Vereinsamung Rembrandts weit hinausreicht. Was sich in der Spätzeit des Holländers vollzogen haben soll, ist dabei nur die Konsequenz und das sichtbare Zeichen einer grundsätzlichen
Distanz zwischen Künstler und Gesellschaft.
Carl Neumann hat diese elementare Distanz anhand biographischer Daten bereits in der Frühzeit des Künstlerlebens ausgemacht. Die von Biographen aller Epochen überlieferte Tatsache,
daß der junge Rembrandt nur einige Monate bei seinem zweiten Lehrer Pieter Lastman in
Amsterdam verweilte, um sich dann in Leiden autodidaktisch weiterzubilden, nutzt Neumann
(1902) zu einer Schilderung der Bedeutung der Einsamkeit für die „Künstlerseele“:
„Wenn Rembrandt dennoch nach wenigen Monaten sich in sein stilles Leyden zurückzog und weder von Amsterdam noch von Haarlem, geschweige denn von Italien weiteres sehen und hören
wollte, und das in dem jugendlichen Alter von 20 bis 25 Jahren, so muß das Bedürfen einer Natur
übermächtig gesprochen haben, die nach Ruhe und Einsamkeit verlangte, und von der ganz bestimmte Probleme mit so fragenden Augen sich aufgethan hatten, daß Rembrandt nichts sehnender
verlangte, als in Stille zu sinnen, zu forschen, zu schaffen. Diese psychologische Vermutung wird
durch den Anblick und Eindruck seiner Werke, die zwischen 1627 und 1631 in Leyden entstanden
sind, vollauf bestätigt. Sie zeigen eine ihres Weges völlig klare, mit bestimmten, selbstgefundenen
Problemen sich beschäftigende, rastlose Künstlerseele.“ (Neumann 1902, 37)
Die Kunst, so möchte man paraphrasieren, rief ihn zu sich. Die Einsamkeit ist auch hier kein
Zustand, sondern ein Ort, und zwar nicht nur das „stille[s] Leyden“, sondern überhaupt ‘der
Ort der Kunst‘. Bereits der junge Rembrandt sucht ihn auf, um dort, so variiert Neumann
186
weitere geläufige Topoi dieser Geniekonzeption, der Kunst als ‘Verlangen‘ nachzugeben, sich
mit „selbstgefundenen“, also eigentümlichen Problemen zu beschäftigen und einen ihm „völlig klaren“ Weg mit Folgerichtigkeit zu beschreiten.
Wie aber bewertet Neumann den Rembrandt, der wenig später in der Weltstadt Amsterdam
gesellschaftliche Erfolge feiert?
„Was er in Leyden angefangen, hatte in Amsterdam eine Ablenkung erfahren; er war auf eine feste,
sich verbreiternde Straße gelangt, die geradewegs zu Erfolg und Glück führte. Es gibt Menschen,
denen in der Einsamkeit wohler ist. Was ist Glück und äußerer Erfolg für Naturen, die ein starkes
inneres Leben leben, dessen übermächtige, gebieterische Antriebe sich von außen nicht bestimmen
lassen? An den Selbstporträts, die gleichzeitig neben den zuvor besprochenen Porträts hergehen,
läßt sich sehen, daß Rembrandt in der Stille seine anderen Probleme weiter verfolgte.“ (Neumann
1902, 63 f.)
Nur scheinbar bewegt sich der Künstler also auf Abwegen. Neben den Orten des „äußere[n]
Erfolgs“ ist ihm auch weiterhin „in der Einsamkeit wohler“. Das „starke[s] innere[s] Leben“
seiner Natur läßt sich „von außen nicht bestimmen“. „Er war auf eine feste, sich verbreiternde
Straße“ „zu Erfolg und Glück“ gelangt, und ging doch zugleich seinen innerer Weg weiter,
verfolgte gleichzeitig „in der Stille seine anderen Probleme“. Neumann unterscheidet hier
wiederum zwischen dem vorübergehenden Phänomen eines äußeren Rembrandt und dem
dauerhaften, ganz von innen heraus schaffenden Künstler, der selbstredend der ‘Wahre‘ ist.
Ein Sprung zu Eberhardt Hanfstaengl (1939) zeigt die Haltbarkeit dieses Topos. Auch hier
wird die Einsamkeit als Ort des Künstlers verstanden, als „sein eigene[r] geistige[r] Bezirk“.
Dabei greift Hanfstaengl auf den traditionsreichen Vergleich mit Rubens zurück, der in älteren Texten, etwa bei Kugler (1837, 177) oder bei Thoré (1858, 324), zu einer politischen Polarisierung des fürstlichen Rubens mit dem bürgerlichen Rembrandt diente, und nun dem umtriebigen Weltmann einen Eremiten der Kunst gegenüberstellt:
„Rembrandt ist nie ein Mann der Öffentlichkeit gewesen, etwa wie Rubens, wir hören fast nichts
von Ehrenämtern, in fast sonderlingshafter Abgeschlossenheit lebte er in seinem Heim (...). Dieses
Tendieren zum eigenen Ich und zum engsten Kreis der Angehörigen mag den Zeitgenossen gefühlsmäßig und fast peinlich bewußt geworden sein. Bei aller Hochschätzung für sein Können, man
empfindet ihn als eigenwillig und unberechenbar, der ‘Ordnung‘ widerstrebend und immer wieder
muß man die Erfahrung machen, daß er in Erledigung eines Auftrages oder geldlicher Angelegenheiten enttäuscht. (...) Dieses Eingeschlossensein in den eigenen geistigen Bezirk bestimmt nicht
zum geringsten die Tragik und Größe von Rembrandts Künstler- und Menschendasein.“ (Hanfstaengl 1939, 7 f.)
187
Die Gegenüberstellung Rembrandts mit Rubens hat eine lange Tradition, sie ist jedoch nicht
geeignet, um die Vereinsamung des holländischen Künstlers in seiner eigenen Gesellschaft zu
illustrieren, da der Flame Rubens ja nicht der selben politischen Gesellschaft angehörte und
zudem einer älteren Generation entstammte. Der niederländische Kunsthistoriker Frederik
Schmidt-Degener, in den 20er Jahren Direktor des Rijksmuseums in Amsterdam (Boomgaard
1995, 95), hat Rembrandt deshalb mit einem anderen Antipoden konfrontiert. Ich möchte die
entsprechende Konzeption aus Schmidt-Degeners 1928 ins Deutsche übertragener Untersuchung Rembrandt und der holländische Barock
180
im Folgenden etwas ausführlicher vorstel-
len. Der Dichter Joost van den Vondel nimmt hier die Rolle eines gesellschaftlichen und stilistischen Gegenpols zu Rembrandt ein. Die Positionen des angepaßten und integrierten
Kunstlobbyisten und des risikofreudigen und deshalb marginalisierten Künstlers sind dabei
klar verteilt:
„Was Rembrandt hervorbrachte, hatte meist etwas Unerwartetes und, vor allem später, etwas Beunruhigendes. Er wagte das Abenteuer des Künstlerdaseins, die vollständige Hingabe an seine Berufung. Kräfte, die er selbst entfesselte, reißen ihn mit; mitunter lebt er in den Tag hinein, oder
schweift ins Unbekannte, bis am Ende seines Lebens neue rätselhafte Aufgaben ihre Erfüllung fordern.
Vondel äußert sich klar und gleichmäßig. Erklärungen sind nicht vonnöten. Selbst was er unter der
Maske von etwas anderem sagt, begreift Jan- und Allemann. Bei Vondel gibt es keine geheimnisvollen Schleier, wie sie vor den Bildern seines Stadtgenossen hängen. Man schätzte Rembrandt
wohl und bewunderte vorübergehend Radierungen oder frühe Gemälde, doch für seine tiefen Gedanken hatte seine Zeit keinen Sinn.“ (Schmidt-Degener 1928, 3)
Obwohl er Rembrandt erst in dessen zweiter Lebenshälfte deutlich in der Rolle eines Außenseiters der Amsterdamer Gesellschaft sieht, sucht Schmidt-Degener doch nach prinzipiellen
Ursachen für diese Situation. Ist der gebürtige Leidener vielleicht in der fremden Stadt immer
ein „abseitiger Sonderling“ (ebd., 7) geblieben?
„So wenig es auch sein möge, etwas von einer früheren Heimat, etwas vom Fremdling, vom Außenseiter, dem vor sich hin Brütenden und dem gern in sich versunkenen Leidener, blieb immer in
Rembrandt zurück.“ (Schmidt-Degener 1928, 4)
Schmidt-Degener läßt beide historischen Vergleichsfiguren im Barock wurzeln, doch während sich der ältere, Rembrandt, von den „Äußerlichkeiten“ des „Barock-Mystizismus“ habe
lösen können, sei dies Vondel nicht gelungen (ebd., 18). Der Kunsthistoriker geht davon aus,
daß die beiden sich kannten, sieht aber in ihrem jeweiligen Kunstschaffen einen Widerspruch,
180
Die niederländische Erstfassung erschien 1919 in der Zeitschrift De Gids.
188
der ein gegenseitiges Verstehen ausschließt. Da zudem die Schriftquellen nichts Gegenteiliges
besagen, kann er den Künstler und den Dichter zu ideellen Gegenspielern ausbauen. Dabei
läßt uns Schmidt-Degener über sein eigenes Qualitätsurteil nicht im Zweifel:
„Für Vondel ist das Wichtigste an einem Maler seine gesellschaftliche Bedeutung. Er blickte empor
zu den großen Barockkünstlern, in königlichem oder fürstlichem Dienst, Günstlingen, wie van
Dyck, in Sammetmäntel gehüllt und behängt mit goldenen Ehrenketten, verkappten Diplomaten,
die während des Malens Briefe diktierten, oder sich aus Seneca vorlesen ließen, Menschen von
Welt, wie Sandrart, der mit den Schöngeistern vom „Muiderkring“ umzugehen wußte.
Rembrandt und der Muiderkring sind eine undenkbare Kombination. ‘Je compte parmi les mala droits‘ hätte er mit den Worten eines modernen Dichters sagen können. Kurz und ungehobelt ist
sein Ausdruck, kargen Wortes, und manchmal mit brutaler Ironie gewürzt. Den gewandten Mann,
der auf dem Parkett von Fürstenhöfen eine gute Figur gemacht hätte, konnte Vondel nicht in ihm
finden.“ (Schmidt-Degener 1928, 22 f.)
Gesellschaftliche Integration, gewandte Umgangsformen, gute Verbindungen zu adligen
Kreisen und künstlerisches Schaffen im Dienste von Fürsten - in Schmidt-Degeners Vorstellung vom Künstlertum haben solche Elemente keinen Platz. Er sieht das wahre Künstlertum
außerhalb einer schöngeistigen Demimonde. Rembrandt, der für dieses Künstlertum steht,
kann deshalb in der Gesellschaft seiner Zeit nur ein Außenseiter sein. Statt mit den „Schöngeistern vom ‘Muiderkring‘“ bringt Schmidt-Degener ihn mit modernen Konzeptionen des
tragischen Künstlersubjekts in Verbindung.
Aus dem Fehlen eines Vondelschen Lobgedichtes auf Rembrandt schließt Schmidt-Degener
auf eine Abneigung des Dichters gegen diesen „Letzten der großen universalen Meister“
(ebd., 43). Die Behauptung, Vondel sei außerstande gewesen, die künstlerische Höhe Rembrandts zu erkennen, stilisiert der Autor zum Vorwurf, den er durch eigene scharfe Urteile
auflädt:
„(...) keiner der beiderseitigen Freunde, kein Lutma oder Coppenol, [hat] Vondel dazu bewogen,
auch nur das Vorhandensein von Rembrandts Werken in seinen Schriften anzuerkennen. Vondels
Muse zeigte viel Interesse für die unbedeutenden Rheinlandschaften eines Hermann Saftleven und
für die widerwärtigen Stilleben von Brizé; daß diese die unbedeutendsten Äußerungen der holländischen Landschaft und des holländischen Stillebens waren, schien ihn nicht zu stören.“ (SchmidtDegener 1928, 22) 181
181
Hier ist einmal mehr das Vorhandensein von Porträts der Genannten Anlaß zu der Vermutung, es handle sich
dabei um ‘Freunde‘ Rembrandts.
189
Schmidt-Degeners normatives Kunsturteil wendet sich auch direkt gegen Vondels dichterische Leistungen. Die Ausmalung des neuen Rathaussaals, zu der Rembrandt 1661 eine Darstellung der Verschwörung des Claudius Civilis beigesteuert hatte, basiert auf einem Gedicht
Vondels. Schmidt-Degener gibt es in spöttischer Verkürzung wieder („Die Großen des Landes bechern beim Mondschein zwischen heiligen Eichen.“ ebd., 32). Aus der Tatsache, daß
Rembrandts Gemälde nach kurzem Aufenthalt im Rathaus wieder abgehängt wurde, schließt
Schmidt-Degener auf die Ablehnung des Bildes durch die kulturpolitisch Verantwortlichen.
Für diese These mag einiges sprechen, Quellen lagen ihm darüber jedoch nicht vor. SchmidtDegener geht dennoch ausdrücklich von einem offenen Konflikt zwischen Rembrandt und
jenen gesellschaftlichen Kreisen aus, in denen sich Vondel so gewandt zu bewegen gewußt
habe. Wenn Rembrandt den Vorstellungen seiner Zeitgenossen nicht entsprochen haben
sollte, so entspricht er doch denen des modernen Autors um so mehr: Schmidt-Degener sieht
in dem Vorgang um den Claudius Civilis vor allem einen Beleg für die Unabhängigkeit und
Charakterstärke Rembrandts:
„Ertrug man es nicht, daß Rembrandt sich an einen eigenen Entwurf hielt? Hatte man ihn vielleicht
beauftragt, bei der Ausführung der Skizze von Flinck zu folgen?
Was auch der direkte Anlaß gewesen sein mag, der Konflikt mit den höchsten Machthabern ist offenkundig. Der Verlauf zeugt für Rembrandts Charakter. Der Claudius Civilis wird endgültig aus
dem Rathaus entfernt - Rembrandt hat also von genügendem Entgegenkommen nichts wissen wollen. Es läßt ihn kalt, daß einer seiner Gläubiger sich bereits auf die problematische Summe spitzt,
die für das Werk bezahlt werden soll. Rembrandt beharrt auf seinem Standpunkt.“ (Schmidt-Degener 1928, 33)
Statt der Integration in die Gesellschaft und der Berücksichtigung ökonomischer Argumente
erfüllt sich das Künstlertum hier im „Konflikt mit den höchsten Machthabern“. In SchmidtDegeners wertender Polarisierung künstlerischen Schaffens nach dem Code ‘öffentlich vs.
privat‘ läuft die Gegenüberstellung der gesellschaftlichen Integration Vondels und der Isolation und Innerlichkeit Rembrandts auf eine radikale Vereinsamung des Letzteren hinaus, den
der Autor schließlich als einen Depatriierten ansieht:
„Rembrandt stirbt. Und in seinem Todesjahr (1669) macht Vondel Grabgedichte auf den alten
Goldschmidt Lutma, Rembrandts Freund, auf Hendrik Halleman, Priester der Gesellschaft Jesu, auf
die kunstfertige Katharina Questiers, auf Augustin van Teylingen, einen Priester eben jener Gesellschaft und auf Jan van Amstel, einen Seekapitän. Vondel schweigt über Rembrandt. Auf den Tod
von Flinck war eine Medaille geschlagen worden, und Vondel hatte das Grabgedicht nicht vergessen. Rembrandt verschwand in einer unendlichen Stille.
190
Für das damalige Amsterdam und für Holland hatte dieser Tod nicht die geringste Bedeutung.
Rembrandt gehörte nicht mehr zu seinem Geburtslande.“ (Schmidt-Degener 1928, 42)
Es sei noch einmal verdeutlicht: Diese Konfliktstellung zu seinen Zeitgenossen, die zu Rembrandts völliger Vereinsamung führte, sieht Schmidt-Degener nicht als Fehler Rembrandts an,
sondern als Folge von dessen unbeugsamem Künstlertum. ‘Depatriierung‘ soll auch nicht
heißen, Rembrandt sei kein Holländer gewesen. Im Gegenteil: Durch patriotische und antiflämische Zwischentönen gibt Schmidt-Degener zu verstehen, daß die Zeitgenossen Rembrandts in unheilvoller Weise von „Flandern's Vorbild und Flandern's Rhetorik“ beeinflußt
gewesen seien.182 Von diesem Holland habe sich Rembrandt distanziert und er habe statt dessen seine Botschaft an die Menschheit gerichtet. So sieht Schmidt-Degener Rembrandts Einsamkeit letztlich als Folge seiner prophetischen Zukunftsschau, die den Künstler zu einem
Vertreter anti-rhetorischer und emotionaler Kunst machte, mit anderen Worten zu einem
‘Modernen‘:
„Rembrandt wandte sich nicht an Holland, auch nicht an das kommende Holland, sondern an die
Menschheit der Zukunft. Er sprach über Menschlichkeit, - mit stets größerem Nachdruck - und damit war der Menschheit von dazumal weniger gedient denn je. Er hatte darum so gut wie keine
Aussicht, verstanden zu werden. Es sollte noch lange dauern, bis Rousseau der Menschheit wieder
den Mut aufzwang, sich selber zu durchschauen! Begreifen wir Rembrandt recht, dann strebt er unbewußt danach, das Gefühl zur Grundlage von Glaube und Weltanschauung zu machen. Er verkündet, daß geistiger Gehalt das Gegengewicht verwickelter Formprobleme sein muß, und daß der
Reichtum eines Kunstwerkes am reinsten in den Bewegungen des menschlichen Gemütes zu finden
ist.“ (Schmidt-Degener 1928, 45)
Um Rembrandt zum Vorbild gegenwärtigen Künstler- und Menschentums zu machen, bedient
sich die Rhetorik der kunstgeschichtlichen Literatur einer Polarisierung des Subjekts mit seiner zeitgenössischen Gesellschaft. Die Heroisierung des Künstlers funktioniert nur vor dem
Hintergrund einer Abwertung seines Umfeldes. Armut, Leiden und Einsamkeit sind dabei die
Topoi, durch die Rembrandt zum verkannten Genie stilisiert wird und mittels derer er als
Vorkämpfer und als Märtyrer eines modernen Menschenbildes in Erscheinung tritt.
182
„Der offizielle Kunstsinn hatte einen flämischen Anstrich, und in dieser Hinsicht unterschied sich der statthal-
terische Hof nicht im mindesten von den Bürgerherren von Amsterdam. Als im Haag der Oranje-Saal gebaut
wurde, stand die holländische Malerschule in der höchsten Blüte. Doch auch da werden ausschließlich RubensEpigonen und flamisierende Holländer beschäftigt. Rathaus und Oranje-Saal hätten Glanzpunkte holländischer
Kultur werden können. Dank der Obrigkeit wurden es unfruchtbare Enklaven in der holländischen nationalen
Kunst. Flandern's Vorbild und Flandern's Rhetorik sind für Hollands Entwicklung oft unheilvoll gewesen. Kein
ungeeigneterer Lehrer für holländische Art als der Flame.“ (Schmidt-Degener 1928, 35).
191
192
2.3 Grenzziehungen: Die Eigentümlichkeit des Künstlers und der Korpus des Werks
„(...) diese Dinge, die ihm, man weiss nicht woher, kamen, und die, man weiss nicht wie, dargestellt sind, alles das ist unschätzbar. Keine andere Kunst kennt ähnliches; niemand vor Rembrandt
und niemand nach ihm hat derartiges zu sagen vermocht.“ (Eugène Fromentin, Übers. von Schellenberg 1919, 312) 183
Nach meinen bisherigen Beobachtungen der Rembrandtliteratur ließe sich die Praxis der diskursiven Genese einer Künstlerfigur wie folgt beschreiben: Der Eigenname einer empirischhistorischen Künstlerfigur wird mit einem Werkkorpus verbunden, dem ‘Gesamtwerk‘. Ausgehend von dieser Verbindung wird durch eine Anzahl von Diskursen die Vorstellung von
einem Subjekt entwickelt, deren Plausibilität mit ihrer Komplexität und deren Autorität mit
ihrer Anschließbarkeit an aktuelle Subjektproblematiken steigt. Diese Diskurse lassen einerseits Informationen zirkulieren, die aus den beiden Elementen der Verbindung gewonnen
wurden (Werkinterpretationen, biographische Daten). Neben diesen hermeneutischen Verfahren, aus denen die diskursive Künstlerfigur als Einheit von Leben und Werk hervorgeht, sind
andere Diskurse mit der Abgrenzung dieses spezifischen Autor-Werk-Komplexes von seiner
Umgebung beschäftigt. Die ersten beiden Kapitel dieses Teils meiner Arbeit befaßten sich
primär mit den Verfahren der Kopplung von Leben und Werk. Dieses dritte Kapitel soll nun
das andere Problem in den Vordergrund rücken: die Grenzziehungsprozesse, deren Funktion
ich darin sehe, Rembrandt als wirkungsvoll profilierte diskursive Künstlerfigur aus dem historischen und kunsthistorischen Hintergrund hervortreten zu lassen.
Ein charakteristisches Dilemma der Kunstgeschichtsschreibung um 1900 bildet die paradoxe
Spannung zwischen dem Paradigma einer historischen Entwicklung und der Kopplung des
Werks an ein schöpferisches Subjekt. Diese Konstellation zwingt die Autoren dazu, zugleich
die Position eines Werks in der Geschichte der Kunstgeschichte auszumachen und den Urheber des einzelnen Werks klar zu benennen. Ersteres setzt eine Verknüpfung der Werke eines
Künstlers mit anderen, früheren und gleichzeitigen, voraus, während letzteres gerade die Abgrenzung von diesen erfordert. In der Rembrandtliteratur lassen sich drei Ebenen derartiger
ambivalenter Abgrenzungskonflikte beschreiben: die Unterscheidung der Werke Rembrandts
von seinen kunsthistorischen Vorbildern, von der Kunstpraxis seiner Lehrer sowie von den
Arbeiten seiner Schüler. In der folgenden Auseinandersetzung mit dieser Problematik wird
zudem die zentrale Bedeutung des Begriffs der ‘Eigentümlichkeit‘ zu untersuchen sein.
183
„(...) ces choses inspirée on ne sait d’òu et produites on ne sait comment, tout cela est sans prix. Aucun art ne
les rappelle; personne avant Rembrandt, personne après lui ne les a dites.“ (Fromentin 1972, 242).
193
2.3.1 Lehrer und Ahnen, Schüler und Erben - Zwischen Individualität und Genealogie
In direktem Zusammenhang mit der Frage nach dem Impuls und Ursprung des künstlerischen
Schaffens steht die Frage nach den Einflüssen, denen die Kunst Rembrandts durch Vorläufer
ausgesetzt war. Bei der Beschreibung dieses topischen Bereichs ist zwischen (1) der Bedeutung seiner Lehrer und (2) dem Einfluß älterer Meister der Kunstgeschichte zu unterscheiden.
Wie sich zeigen wird, unterstützt diese Topik die Vorstellungen von der Autonomie des
Künstlers. Allerdings werden die beiden Aspekte dabei in der Regel auf verschiedene Weise
behandelt. Während den Lehrern jeder maßgebliche Einfluß auf Rembrandts ‘eigentümliche
Stilistik‘ abgesprochen wird, steht einer Nähe des Künstlers zu etablierten Größen der Malerei
nichts im Wege, zumindest solange diese nicht mehr persönlich mit ihm in Berührung gekommen sein können und er ihnen nicht ‘äußerlich‘, sondern vor allem ‘dem Geiste nach‘ als
verwandt erscheint. Analog zu dieser unterschiedlichen Behandlung von Lehrern und ‘Ahnen‘
fällt auch die Einstufung der Nachfolger aus. Der direkte Kontakt der Schüler mit dem großen
Meister erscheint als schädlich; erst über die Zeiten hinweg stellt sich eine fruchtbare Kommunikation ein, die geistige ‘Erben‘ hervorbringt.
Diese Beobachtungen sind zunächst zu belegen und in ihre diskursiven Kontexte einzubinden.
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts reduzierte sich die Zahl derer, die als Rembrandts Lehrer genannt wurden, auf zwei: Knapp drei Jahre lang (1622-1624) sei er bei Jacob van Swanenburgh in Leiden in der Lehre gewesen und daran habe sich ein halbjähriger Aufenthalt bei
Pieter Lastman in Amsterdam angeschlossen.184 Diesen Lehrern wird jedoch durchweg nur
wenig Einfluß auf die künstlerische Entwicklung ihres Schülers zugesprochen. Als dem
Unbekannteren der beiden treffen Swanenburgh die geringschätzigeren Urteile. Dieser Maler
wird in einstimmiger Weise bewertet, wobei die Einstimmigkeit sowohl chronologisch als
auch topographisch über unseren Untersuchungsrahmen hinausgreift. Es ist deshalb nicht
abwegig, an dieser Stelle einmal den englischen Autor C. J. Holmes (1911) zu Wort kommen
zu lassen:
„Wir müssen uns nicht lange mit der dreijährigen Lehrzeit Rembrandts bei Jacob van Swanenburch
aufhalten. Rembrandt war ein Junge von vierzehn Jahren, der alles zu lernen hatte, und der größere
Teil der Ausbildung, die er empfing, wird das Elementare betroffen haben. Auch war Swanenburch
kein Maler von besonderem Charakter oder Originalität, der eine tiefe Prägung in seinen Schüle rn
hinterlassen hätte. Ältere wie neuere Urteile stimmen hinsichtlich der Armut seines Talentes überein (...).“ (Holmes 1911, 25) 185
184
Diese Darstellungen gelten bis heute als zutreffend.
185
„We need hardly trouble ourselves with the three year’s apprenticeship of Rembrandt to Jacob van Swanen-
194
Pieter Lastman sprach man die größeren handwerklichen Fertigkeiten zu. Stilistisch wurden
jedoch beide Maler als ‘unselbständig‘ eingestuft. Swanenburgh wie Lastman hatten, den
Überlieferung über ihr Leben wie auch der Anschauung ihrer Werke zufolge, ihre Prägung in
Italien erhalten. Ihre Stilistik wurde zumeist als ‘Italianismus‘ diffamiert, von dem sich Rembrandts ‘Eigentümlichkeit‘ positiv abgrenzen ließ. Franz Rebers Einschätzung von Rembrandts Werdegang (1894) ist hierfür symptomatisch:
„Was bei dem ziemlich schwachen Italisten Elsheimerscher Richtung [Swanenburgh, MH] zu lernen war, eignete er sich dort in drei Jahren an, etwas mehr dann noch in etwa halbjährigem Aufenthalt bei Pieter Lastman in Amsterdam. Das meiste werden wohl die eigenen Naturstudien des Knaben gethan haben, auf welche er auch sicher das meiste Vertrauen setzte, als er, 1623 nach Leiden
zurückkehrend, seine eigene Künstlerlaufbahn begann.“ (Reber 1894, 334/335)
Die entscheidenden Impulse für Rembrandts Kunst kamen demnach aus Rembrandt selbst, es
waren Talent, Fleiß und autodidaktisches Naturstudium, die ihn prägten, und nicht seine Lehrer. Karl Storck bewertet 1903 die geringe Leistungsfähigkeit seiner Lehrer als einen Vorteil,
der zur Herausbildung der natürlichen Eigenart Rembrandts beigetragen habe:
„Die in ihm liegende Anlage war zur vollen Entfaltung gelangt, weil ihr durch keine schulmäßige
Erziehung entgegengewirkt worden war. War er doch in Leyden fast ganz auf sich angewiesen.
Sein Lehrer, der bescheidene Swanenburgh, konnte ihn allenfalls in die wichtigsten Geheimnisse
der Lichtmalerei einführen, zur Beobachtung der Menschen, zum Festhalten des Gesehenen mit
Stift und Pinsel reizte ihn die eigene Natur. Er fühlte wohl selbst, daß ihm Lehrer nicht viel würden
geben können. So blieb er denn, als er 1623 als Siebzehnjähriger zum berühmteren Pieter Lastman
in die Schule kam, nur ein halbes Jahr bei ihm in Amsterdam (...).“ (Storck 1903, 509)
Die Autonomie des Künstlers, die bewußte Besinnung auf seine Eigenständigkeit, äußert sich
in diesen Schilderungen also bereits während seiner Ausbildung. Wilhelm Valentiner (1906)
hat diese Eigenständigkeit Rembrandts dem Einfluß seiner Herkunft zugeschrieben:
„In Holland, dem freien Land der Individualisten und Republikaner, bildeten sich keine Schulen.
Darum setzte Rembrandt auch keine fort. Es gab eine Reihe großer Persönlichkeiten, um die sich
eine Schar kleiner Meister sammelten. (...) Rembrandts Kunst aber ist nicht aus einer breiten, ein-
burch. Rembrandt was a boy of fourteen who had everything to learn, and the greater part of the instruction he
received must have been rudimentary. Nor was Swanenburch a painter of so much character or originality as to
impress any deep mark upon his pupils. All opinion ancient and modern agrees as to the poverty of his talent
(...).“(Holmes 1911, 25) Ähnliche Bewertungen finden sich bereits bei Planche (1853, 245) und Nagler (1843,
4), deren Urteile jedoch noch deutlich durch die klassizistische Tradition des ungebildeten Rembrandt beeinflußt
sind und den Anteil des Naturstudiums stark machen.
195
heitlichen Strömung emporgetaucht. Sie selbst war ein breiter Strom, der Zuflüsse erhielt aus vie len winzigen Quellen, denen man noch in seinen früheren Werken nachgehen kann. Das Große war
nirgends um Rembrandt, als er begann, und wo es war, sah er es doch nicht.“ (Valentiner 1906, 35)
Obwohl er kurz zuvor auf die ästhetische Verwandtschaft mit Caravaggio und Honthorst verwiesen hatte, widerspricht Valentiner hier der Bedeutung direkter Traditionslinien und setzt
das monolithische Individuum an die Stelle der geflechtartigen Konzepte der ‘Schule‘ oder
der ‘Werkstatt‘. In der Absicht, Rembrandts Größe hervortreten zu lassen, umstellt ihn Valentiner mit einer „Schar kleiner Meister“, von denen sich der herausragende Künstler abheben kann.186 „Zuflüsse[n]“ bedurfte nur der frühe Rembrandt, doch für den „breiten Strom“
seiner Kunst waren diese „winzigen Quellen“ nicht entscheidend.
In Valentiners Zitat deutet sich zudem eine Gleichsetzung Rembrandts mit Holland an, eine
ideale Verkörperung nationaler Eigenart durch den Künstler, die zur Zeit dieses Textes, 1906,
im nationalistischen Segment des Diskurses bereits fest etabliert war. Diese Gleichsetzung
darf nicht mit der älteren Identifikation Rembrandts als eines typischen Vertreters seiner Gesellschaft, also eines integrierten Bürgers, verwechselt werden, wie sie etwa bei Théophile
Thoré zu finden war. Historische Aspekte sind aus diesem Entwurf niederländischen Wesens
weitgehend ausgeblendet, an ihrer Stelle steht ein essentialistisches Konzept des im Kern unveränderlichen ‘Nationalcharakters‘, den Rembrandt personifiziert. Der Künstler wird dabei
mit einem im Wortsinne ‘bodenständigen‘, ländlich-bäuerlichen Typus verbunden, während
die gehobene städtische Gesellschaft als zivilisatorisch überformt - als ‘französierend‘ oder
‘italisierend‘ - kritisiert wird. Dieser Dichotomie liegt die Unterscheidung zwischen ‘Authentizität‘ und ‘Künstlichkeit‘ zugrunde.
In Bezug auf Lastman sind die Formeln vom geringen Einfluß der Lehrer zu diesem Zeitpunkt
bereits einer leichten Relativierung unterworfen. Zumindest mit dem frühen Rembrandt werden Werke Lastmans verstärkt verglichen, zugleich hat auch eine kritische Auseinandersetzung mit Rembrandts Orientierung an italienischer Kunst begonnen, die allerdings auf Texte
mit Forschungscharakter oder betont wissenschaftlichem Anspruch beschränkt ist.187 Die
partielle Berührung von Rembrandt und Lastman wird darüber hinaus genutzt, um eine
genealogische Achse zu entwerfen. In symptomatische Weise tritt dieses Phänomen 1904 bei
Adolf Rosenberg hervor:
186
Valentiners Darstellung macht zugleich deutlich, warum den Schülern Rembrandts um 1900 nur qualitativ
minderwertige Werke zugeschrieben wurden, während die Arbeiten besserer Qualität in inflationärer Zahl unter
dem Namen ‘Rembrandt‘ geführt wurden.
187
In diesem Punkt spaltet sich ein nationalistischer Zweig des Diskurses erkennbar ab, der bis in die Texte der
40er Jahre weiterhin die radikale Opposition Rembrandts zu Italien betont.
196
„Pieter Lastmann war einer von den holländischen Malern, die während eines längeren Aufenthalts
in Rom vollständig dem Einfluß der italienischen Kunst erlegen waren und diese italienisierende
Richtung auch in ihrer Heimat fortsetzten. Damit wußte Rembrandt, der der italienischen Art, damals wenigstens noch, verständnislos gegenüberstand, nicht viel anzufangen. In Rom hatte Pieter
Lastmann aber den aus Frankfurt a.M. gebürtigen Adam Elsheimer kennen gelernt und sich im
Verkehr mit ihm manches angeeignet. (...) Seinen Einfluß hat man in einigen Jugendbildern Rembrandts zu erkennen geglaubt (...). Wenn sich das wirklich so verhalten hat, so hat Rembrandt je denfalls das, was er durch Lastmann von Elsheimer gelernt, so selbständig verarbeitet, daß von einer Nachahmung nicht die Rede sein kann.“ (Rosenberg 1904, XII)
Rosenberg geht sehr zurückhaltend mit den Einschätzungen der jüngeren Forschung um und
betont die „selbständig[e]“ Verarbeitung der ‘Einflüsse‘ durch Rembrandt. Statt einer Stärkung des Lehrers Lastman, also der unmittelbaren Bezugsperson, stellt er den Einfluß eines
Künstlers heraus, mit dem Rembrandt nur indirekt, durch Vermittlung Lastmans, in Verbindung getreten sein kann. Dieser Verweis auf Adam Elsheimer dürfte einmal mehr auf Wilhelm Bode zurückzuführen sein, der bereits in seinen Studien zur Geschichte der holländischen Malerei (1883) Elsheimers Einfluß auf die Kunstentwicklung in den Niederlanden
nachdrücklich betont hatte. Rosenbergs Vorsicht dokumentiert den Stellenwert der Autonomie des schöpferischen Individuums. Daneben tritt jedoch ein genealogisches Moment: Dieser Rembrandt steht nicht mehr ganz allein, obwohl seine Kunst ihm allein gehört. Auf gleicher Höhe, dabei historisch in sicherer Entfernung, werden nun weitere Figuren sichtbar.
Keine Lehrer, keine nachgeahmten Vorbilder, sondern gleich große Geister, die in anderen
Zeiten und deshalb in anderer Weise einer verwandten Wesensart Ausdruck verliehen haben.
Wir begegnen an dieser Stelle einer weiteren Problematik, deren Präsenz in kunsthistorischen
Texten des gesamten Untersuchungszeitraumes, mal zentral mal marginal, nachweisbar ist.
Sie betrifft den stilistischen Wandel, der beschrieben werden kann, wenn man die kunstgeschichtliche Entwicklung einer topographisch eingegrenzten Region oder einer ethnologisch
eingegrenzten Gruppe beobachtet. Angesichts dieses Phänomens wird die Frage aufgeworfen,
welche Gewichtung zwischen der Bedeutung eines unveränderlichen ‘Wesens‘ und den Einflüssen des historischen ‘Werdens‘ zu treffen sei. In diesem Kontext wird nun das künstlerische Individuum Rembrandt einerseits von seinen Lehrern gelöst, womit seine Eingebundenheit in konkrete historische Entwicklungsprozesse an Bedeutung verliert, zum anderen wird
im Künstler jedoch die Präsenz eines überzeitlichen und überpersönlichen ‘Wesens‘ ausgemacht, das ihn mit anderen historischen Figuren, seinen ‘Ahnen‘, in Verbindung bringt. Das
autonome Individuum wird somit wiederum an eine kollektive Kategorie gebunden, es kommt
in ihm, in einzigartiger (subjektiver) Weise, das zum Ausdruck, was die Angehörigen des
197
Kollektivs verbindet. Substanz dieser ‘Bindung‘188 ist, je nach Vokabular, die Nation, das
Volk, das Blut oder ähnliche Variationen der gleichen Idee.
Stünde die Frage des Nationalismus hier im Zentrum, wäre es geboten, Differenzierungen
einzuführen. Ich setzte mich über dieses Gebot hinweg, da es mir primär um die Gemeinsamkeit der Argumentationen geht, die ich in der dialektischen Strategie einer historischen Isolation des Künstlers und dessen gleichzeitiger überhistorischen Kollektivierung sehe. Bei der
Ausformulierung dieses elitären Kollektivs wird der Aspekt historischer Entwicklung durch
eine Genealogie der Namen ersetzt, wobei die Vorstellung von einer persönlichen Weitergabe
der Essenz des Kollektivs (nicht des je individuellen künstlerischen Vermögens) zu beobachten ist.
Ein Beispiel dafür bietet Wilhelm Bode, der 1883 über Elsheimer schreibt:
„Das germanische Gefühl für das Heimliche und für behagliche Häuslichkeit spricht sich bei ihm
zuerst wieder rein und voll aus, mag er nun Innenräume oder die freie Natur schildern. Wir finden
dasselbe bereits bei Dürer und den deutschen Kleinmeistern, die sich an Dürer anschließen; später
ist es der Grundzug der holländischen Malerei, insbesondere Rembrandt’s (...). Gewissermaßen
vermittelt und übertragen wird diese Auffassungsweise Dürer’s auf Rembrandt grade durch Elsheimer.“ (Bode 1883, 264)
Kurz zuvor hatte Bode die genealogische Kette nachgezeichnet, mittels derer er die Vermittlung und Übertragung des „germanische[n] Gefühl[s]“ zu plausibilisieren suchte. Demnach
gehe die Kunst Uffenbachs, des Lehrers Adam Elsheimers „auf die ältere deutsche Kunst,
namentlich auf Dürer“ zurück (Bode 1883, 238 f.). Derartige Genealogien, die dem historischen Wandel die Weitergabe einer geistigen Essenz entgegenzustellen trachten, stimmen in
ihrer Tendenz überein, können jedoch von Fall zu Fall mit anderen Namen und variierten Inhalten besetzt werden. So schreibt etwa Richard Hamann (1906):
„Die Kunst Dürers ist zu Lukas von Leyden hinübergeflossen und hat sich mit feinerem Helldunkel, holländischerer Stimmung erfüllt. Rembrandt hat Lukas von Leyden gekannt und benutzt. (...)
An Rembrandt führt auch (...) ein Deutscher heran, Elsheimer, und vermittelt nächtliche Effekte
seltsamer Beleuchtungen. Rembrandts Lehrer, Pieter Lastmann, mag hier die Anknüpfung gegeben
haben. Aber doch nur bei Dürer finden wir das graphische Werk eine gleich grosse und selbständige Rolle spielen wie bei Rembrandt und wir dürfen vermuten, aus ähnlichem innerem Bedürfen,
188
Der quasi-religiöse Charakter dieses Denkens mag durch die Begriffsverwandtschaft (Religio = Bindung) an-
schaulich werden.
198
angestammter Anlage heraus. Es ist derselbe Zug nach Verinnerlichung, Vertiefung, das Grüblerische, Insichgekehrte des nordischen Charakters - Faust, Melancholie.“ (Hamann 1906, 321 f.)189
Genealogische Verbindungen des Holländers mit Ahnen aus dem süddeutschen Raum sind
keineswegs auf die Texte deutschsprachiger Autoren beschränkt. In der offiziellen Rembrandt-Biographie des Amsterdamer Jubiläums-Komitees (1906) stellt Jan Veth eine ähnliche
Verbindung her, allerdings nicht zu Dürer, sondern zu einem anderen Großmeister ‘deutscher
Kunst‘:
„Es ist übrigens kurios wie, insofern man Lastman als einen Nachfolger Elsheimers gelten lassen
kann, Rembrandt damit geistig von dem stürmischsten Genie abstammt, das die deutsche Malkunst
des 16. Jahrhunderts hervorgebracht hat, von Matthias Grünewald. Dieser hatte nämlich einen
Lehrling namens Hans Grimmer, dessen Lehrling, Philipp Uffenbach, der Meister Elsheimers gewesen ist. Über Lastman hinweg reicht Elsheimer wiederum Rembrandt die Hand.“ (Veth 1906,
12)190
In Grünewald sieht Veth den einzigen Maler der früheren Kunstgeschichte, der an „Rembrandts tiefgründigen Lebensgriff“191 erinnere.
Es ist nicht verwunderlich, daß diese Rückbindung des schöpferischen Individuums an ein
topographisch oder ethnologisch bestimmtes, überzeitlich konstantes Kollektivsubjekt besonders in den Texten des nationalistischen Diskurszweiges hervortritt. So reduziert etwa Maria
Grunewald (1929) in ihrer kurzen, rassistisch argumentierenden Darstellung Der nordische
Rembrandt die Vethsche Kette auf ihre elementaren Glieder, nicht ohne der grundlegenden
Opposition gegen Italien Raum zu geben:
„Über Lastmann und Elsheimer ist er letzten Endes Enkelschüler von Matthias Grünewald. Nach
seiner künstlerischen Art könnte man ihn fast unmittelbar an diesen anschließen; doch war sein
persönlicher Lehrer anders eingestellt, stand unter italienischem Einfluß.“ (Grunewald 1929, 17)
189
Für eine ähnliche Genealogisierung Dürers mit Rembrandt siehe Wölfflin 1940 (1922), 125.
190
„Kurieus is het overigens hoe, in zooverre men Lastman als een bepaald volgeling van Elsheimer kan laten
gelden, REMBRANDT daarmee geestelijk komt af te stammen van het onstuimigste genie dat de Duitsche schilderkunst van de zestiende eeuw heeft voortgebracht, - van Matthias Grünewald. Deze namelijk had een leerling
die Hans Grimmer heette, wiens leerling weder, Philipp Uffenbach, de meester van Elsheimer was geweest. Over
Lastman heen reikt Elsheimer dan weder de hand aan REMBRANDT .“ (Veth 1906, 12).
191
„Waarheid is dat, wanneer men in de vroegere kunstgeschiedenis naar een schilder wilde omzien, die aan
REMBRANDT ’S hartgrondigen levensgreep kon herinneren, men moeielijk iemand zou vinden meer aan zijn
grootheid verwant, dan de sombere geweldenaar het was, die Grünewald heette.“ (Veth 1906, 12).
199
Kommen wir nun zu dem Bereich der Nachfolge des Künstlers, wo sich, wie bereits angedeutet, eine Entsprechung zu diesem ambivalenten Konzept einer Abgrenzung Rembrandts
von seinen Lehrern bei gleichzeitiger Bindung an Vorläufer von historischer Monumentalität
aufzeigen läßt.
Die Bewertung der Schüler ist zwar weniger abschätzig als die der Lehrer, schließlich standen
sie unter der persönlichen Obhut Rembrandts und ihre Fehlentwicklung würde zumindest
teilweise auf ihren Meister zurückwirken, dennoch wird auch hier dem Prinzip Folge geleistet, daß Größe erst in Relation zu ihrem Gegenteil zum Ausdruck kommt. Symptomatisch
erscheint etwa, wie Richard Hamann (1906) einige als schwächer eingestufte Radierungen in
Rembrandtscher Stilistik dem Schüler Jan van Vlieth zuschreibt:
„Was an Rembrandt selbst noch unfertig und roh erscheint (...) ist bei Vlieth die grobschlächtigste
Manier. Seine Physiognomien sind noch roher und gröber, seine Körper noch plumper und aufgeblasener, und es ist wohl möglich, dass manches in den frühen Radierungen besonders Anstössige
(...) auf Vliets Rechnung zu setzen ist.“ (Hamann 1906, 318)
Hier läßt sich die Bestimmung des Künstlers als eines kontinuierlichen Qualitätsniveaus beobachten, auf die ich im folgenden noch zu sprechen kommen werde.192 Der Schüler dient dabei als Abgrenzungsfigur: Sein Name kann dem minderen Material zugeschrieben werden; er
assistiert somit der Erhöhung des Meisternamens. Vom Glanz des Lehrers fällt dagegen wenig
auf die Schüler ab. Da jenem als einem autonomen Künstler die Quintessenz seines Schaffens
aus dem Inneren zukommt, kann sie auch nicht weitergegeben werden. Rembrandt hatte ‘das
Wesentliche‘ nicht von anderen lernen können, und nun bleibt dieses wiederum unlehrbar.
Eingeschlossen in die Individualität Rembrandts ist es an ihn allein gebunden, sein ‘Eigentum‘, oder, mit Hamann, sein „ganz Persönliches“:
„Es ist (...) undenkbar, daß ein Schüler anders als unverstanden etwas ganz Persönliches nachstammelnd und sich selbst aufgebend, Rembrandt hier etwas hätte absehen können.“ (Hamann
1906, 318 f.)
Die Schüler sind zum Eklektizismus verdammt, zum ‘Nachstammeln‘ einer äußerlich ähnlichen Form, die jedoch der inhaltlichen Ausfüllung durch den Geist ihres Urhebers sichtlich
entbehrt. Frederic Schmidt-Degener formuliert 1928 (zuerst 1919) das daraus resultierende
Schicksal der direkten Nachfolger:
„(...) da man nur selten bis zu seinem Geist durchdrang, lernten seine Nachfolger keinen Stil, sondern nur eine Mode. (...) Als Ganzes betrachtet, ist die Rembrandtschule ein Mißerfolg; die Berüh-
192
Vgl. Foucault 1993, 20 ff. und hier den Abschnitt zur Zuschreibungspraxis.
200
rung mit dem Genius wird für Talente, scheint es, oft zum Unglück. Obwohl der Meister Maßnahmen ergriff, um die Individualität seiner Schüler zu wahren, konnten sich doch nur wenige halten;
die meisten versengten ihr Persönchen elend an dem großen Feuer.“ (Schmidt-Degener 1928, 3 f.)
Adolf Rosenberg (1904) variiert diese Sichtweise. Zwar steht für ihn Rembrandts Einfluß
außer Frage, doch dafür findet er ein anderes Motiv, um den Meister von seinen Schülern abzugrenzen:
„Obwohl Rembrandt durch Lehre und Beispiel, durch seine Schüler wie durch seine Werke, einen
mächtigen Einfluß auf die Kunst seiner Zeit und insbesondere seines Landes ausgeübt hat, hat die ser Einfluß nicht lange angehalten, weil seine Schüler, besser auf ihren Vorteil bedacht als ihr Meister, rechtzeitig andere Wege einschlugen, als sie sahen, daß der Modegeschmack sich von Rembrandts Art abgewandt hatte. Für uns aber liegt ihre Bedeutung nur in dem, was sie von Rembrandt
empfangen haben.“ (Rosenberg 1904, XXXVI)
Die Schüler folgten demnach dem Wechsel der Moden und wandten sich von der Art ihres
Meister ab - Rosenberg stellt Distanz in der gleichen Weise her, wie dies bereits zwischen
Rembrandt und seinen Lehrern üblich war. Beide Personengruppen sind einer Orientierung an
äußeren Einflüssen erlegen, dem ‘Italianismus‘ oder dem „Modegeschmack“, wodurch das
Herausragende der autonomen Gesinnung Rembrandts wiederum verstärkt hervortritt. Wie
zur Strafe für diese opportunistische Haltung stellt Rosenberg fest, daß die Schüler Rembrandts nicht als sie selbst, sondern nur im Hinblick auf ihren Lehrer, auf die Person des genialen Meisters, unser Interesse weckten, daß wir Ihnen „Bedeutung“ allein in Bezug auf
Rembrandt zusprächen.
Was Rembrandt Entscheidendes geleistet hat, wird in der hier nachgezeichneten Perspektive
nicht nur durch die Zeitgenossen verkannt, es bleibt auch in der Kunst lange Zeit ohne Nachfolge. Als Erben des Künstlers werden schließlich nicht jene gehandelt, die in persönlicher
Verbindung mit ihm standen. Die Autoren unserer Untersuchungszeit umgeben den ‘großen
Einzelnen‘ mit einer breiten historischen Sicherheitszone, erst in gehörigem Abstand plazieren sie Nachfolger, die dann freilich auch keine bloßen Stilkopisten, sondern selbst gänzlich
‘eigentümlich‘ Schaffende sind, denen zugesprochen wird, den Geist des Meisters in sich aufgenommen zu haben. Da man erst der eigene Zeit die Erkenntnis der wahren Größe und die
Leistung einer angemessenen Würdigung Rembrandts zuspricht, erfahren historische Namen
des späten 17. bis frühen 19. Jahrhunderts kaum einmal die Ehre, mit dem Holländer auf eine
Ebene gestellt zu werden.
Im Zuge der topischen Ernennung Rembrandts zum ‘Vorläufer der Modernen‘ oder gar zum
‘ersten Modernen‘ finden sich dagegen zahlreiche Äußerungen, in denen Künstler des späte201
ren 19. Jahrhunderts als Nachfolger des Holländers bezeichnet werden. Die Verbindung über
die Jahrhunderte hinweg wird dabei zunächst auf ästhetischem Gebiet hergestellt. In Nachfolge Eugène Fromentins (1876) sieht man in Rembrandt einen Lichtmaler (luminariste), der
als Ahne der plein-air-Malerei betrachtet werden könne. Gegen den ursprünglichen Sinn Fromentins wird diese Verbindung um 1900 auch auf die Impressionisten ausgeweitet.193 Adolf
Rosenberg (1904):
„Zwei Jahrhunderte nach Rembrandts Tode ist dieser Kampf mit dem Licht und die Bezwingung
des Lichts von den Künstlern mit leidenschaftlichem Eifer wieder aufgenommen worden, und wie
weit auch ihre Wege, zu diesem Ziele zu gelangen, auseinander führen mögen, ob sie sich ‘Impressionisten‘, ‘Freilichtmaler‘, ‘Luministen‘, ‘Nebulisten‘ oder sonstwie nennen, so streben sie doch
alle demselben Sterne nach, der Rembrandt auf seiner ganzen Lebensbahn geleuchtet hat und von
dem er nicht abgewichen ist, wie hart ihn auch das Schicksal zerzaust hat.“ (Rosenberg 1904, X)
Doch damit ist die Rolle Rembrandts als Vorbild der moderner Kunst noch nicht erschöpft.
Karl Scheffler stellt im Rembrandt-Almanach (1906) fest:
„Genies, die auf Grenzscheiden der Zeit stehen und ein Äußerstes mit gesteigerter Leidenschaft anstreben, werden ihren Nachahmern fast immer verderblich. Rembrandts schwere, mit Zukunftsgedanken gesättigte Kunst mußte erst ein paar Jahrhunderte ablagern, um eine Quelle neuer Anregungen zu werden. Sie ist es geworden. Es gibt heute kaum einen bedeutenden modernen Maler, der
nicht in irgendeiner Weise auf Rembrandt hinwiese.“ (Scheffler 1906, 33)
Als Beispiele nennt der Kunstschriftsteller Scheffler einige Maler des französischen Naturalismus sowie des Impressionismus, darunter „Millet und seinen Kreis“, Fantin-Latour, Degas,
Liebermann und Fritz von Uhde (ebd.). Es besteht kein Zweifel an der Richtigkeit des hier
von Scheffler und anderen konstatierten Einflusses der Rembrandtrezeption auf moderne
Kunstrichtungen. Die Studien von Chu (1974) und Stückelberger (1996) haben die Reichweite dieser Facette der Rembrandteuphorie veranschaulicht. Der essentialistischen Beschreibung einer „mit Zukunftsgedanken gesättigte[n] Kunst“, die ihren Gehalt erst nach Jahrhunderten preisgibt, ist jedoch das Modell der Projektion einer aktuellen Perspektive entgegenzuhalten, die sich einen historischen Vorläufer entwirft, um das eigene Handeln zu legitimieren.
Wie die allgemeine Begeisterung für Rembrandt bereits vermuten läßt, bleiben die Annäherungen aktueller Künstler an Rembrandt, seien sie nun durch die Künstler selbst oder durch
deren Biographen ausgesprochen worden, nicht auf die noch recht anschauliche ästhetische
Verbindung über das Thema ‘Licht‘ beschränkt. Indem Rembrandt um 1900 zum Maß allen
Künstlertums aufsteigt, und dies zugleich in den vermeintlich unterschiedlichsten Lagern ge193
Vgl. die Ausführungen zu Fromentins künstlerischer Position im Abschnitt Nachtwache.
202
sellschaftspolitischen Denkens wie künstlerischen Schaffens, wird der Verweis auf seine Vorbildlichkeit zum Topos in den Lobpreisungen von jüngeren Künstlern und Kunstrichtungen.
In den Stammbäumen, die zur Nobilitierung neuerer Kunst angelegt werden, hat der Name
Rembrandt besonderes Gewicht. Wem Rembrandt als Sinnbild des modernen Künstlers gilt,
der schreibt auch den jüngeren Vertretern ‘wahrhaftigen Kunstschaffens‘ den Namen Rembrandt ins Stammbuch. Ein Beispiel für diese Praxis ist Julius Meier-Graefe, der die künstlerische Vorbildlichkeit Vincent Van Goghs (1925) wie schon diejenige Hans von Marées‘
(1909/1910) durch den Verweis auf Rembrandt legitimiert.194 Karl Scheffler beschrieb das
Phänomen dieser späten aber umfassenden ‘Lehrtätigkeit‘ Rembrandts im Anschluß an die
bereits zitierte Passage:
„(...) die Psychologen gehen bei ihm in die Lehre, die Romantiker lassen sich von ihm anregen, und
man kann kaum eine moderne Radierung in die Hand nehmen, sei sie von Whistler, Zorn, Liebermann, Menzel oder irgendeinem andern, ohne den Geist Rembrandts zu spüren. (...) Er gilt den
Frommen als fromm und den Aufgeklärten als modern; Christen, Pantheisten, Monisten und Spiritisten können ihn als einen der Ihren erklären, und sowohl Realisten wie Idealisten erkennen ihn als
Oberhaupt an.“ (Scheffler 1906, 33 f.)
Es ist zu fragen, ob Scheffler diese höchst widersprüchliche Anschlußfähigkeit Rembrandts
für unterschiedlichste moderne Bestrebungen ironisch kommentiert oder ihr Beliebigkeit vorwirft. Das Gegenteil ist der Fall. Scheffler sieht den Ursprung der Rembrandtbegeisterung
nicht im modernen Blick auf diesen Künstler, sondern im universellen Umfang der „geheimnisvolle[n] Erscheinung“ (Scheffler 1906, 34) des Holländers selbst, und er schließt seine
Phänomenbeschreibung mit der Feststellung:
„Er ist ein Ganzer, eine Welt, woraus es jedem zurückschallt, wie er hineinruft.“ (Scheffler 1906,
34)
Fassen wir die hier gemachten Beobachtungen zusammen. Die Vorstellungen von Rembrandts Vorläufern und jene von Rembrandts Nachfolgern verhalten sich weitgehend symmetrisch zueinander. Als Grundmuster gilt: In direkter Berührung mit seinen Zeitgenossen (hier:
seinen Lehrern oder Schülern) wurde nur wenig weitergegeben, und nichts von Bedeutung.
Das Wesentliche erscheint als unlehrbar. Dagegen bestehen über die engere Zeitgenossenschaft hinaus tiefe Verbindungen mit ‘Ahnen‘ und ‘Erben‘. In dieser Konzeption gelingt ein
Paradox: Die Autonomie des großen Künstlers bleibt erhalten - er hat nichts wesentliches ge-
194
Siehe Meier-Graefe 1909/1910, Band II, 772 und Meier-Graefe 1925, 307. Mit Verweis auf einen Text Otto
Beneschs von 1924 stellt Boomgaard fest, man habe damals in Cezanne die wahre Fortsetzung Rembrandts in
der Kunst der eigenen Zeit gesehen (Boomgaard 1995, 191).
203
lernt oder übernommen und niemand kann ihm direkt nachfolgen -, dennoch ist er eingereiht
in die Genealogie großer Meister und kann als idealer Vertreter eines in geistiger Wesensgleichheit verbundenen Kollektivs fungieren, das zugleich die Möglichkeit autonomer Subjektivität demonstriert.195
Die hier analysierten Abgrenzungsstrategien sollen nun unter einer veränderten theoretischen
Perspektive betrachtet werden, die ihren Ausgang von der auffälligen Verwendung des Begriffs ‘Eigentümlichkeit‘ nimmt.
2.3.2 Exkurs: Die juristische Konzeption des Eigentums und die künstlerische
Eigentümlichkeit
Der Literaturwissenschaftler Gerhard Plumpe hat in einer Folge von Arbeiten die Präformulierung wesentlicher Elemente des modernen Kunstdiskurses im juristischen Diskurs untersucht (Plumpe 1981, 181). Seine Ausgangsthese lautet, daß die „‘Verrechtlichung’ künstlerischer und literarischer Praxis seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts dem Selbstverständnis
von Kunst und Literatur nicht äußerlich geblieben“ sei, sondern dieses „im Gegenteil fundamental erfaßt und zu seiner - als epochale Wende begriffenen - Umstrukturierung beigetragen“ habe (Plumpe 1979, 178). Deshalb sei die Frage nach den Determinanten des epochalen
Einschnitts, der im 18. Jahrhundert eine neue literarische Praxis und ein neues künstlerisches
Selbstverständnis habe entstehen lassen, in veränderter Perspektive zu stellen (Plumpe 1981,
181).
Es stellt einen Konsens der Forschung dar, für die Zeit um 1800 von einer ‘epochalen Wende‘
zu sprechen. Dies gilt zunächst unabhängig davon, ob diese Wende auf die Episteme des Wissens, auf die Organisationsformen der Öffentlichkeit oder auf die Ausdifferenzierung autopoietischer Subsysteme der Gesellschaft bezogen wird, also unabhängig davon, ob die beobachteten Veränderungen mit dem Vokabular der theoretischen Konzepte von Foucault, Habermas oder Luhmann beschrieben werden. Methodisch nähert sich Plumpe diesem Phänomen durch die Erschließung empirischen Materials zur Begriffsgeschichte, in der Absicht,
Ähnlichkeiten zwischen juristischem Diskurs und Kunstdiskurs zu beschreiben. Eine kurze
Skizze seiner Untersuchungen soll diese Vorstellung von einer Interferenz zwischen den beiden Bereichen veranschaulichen und die anschließende Übertragung dieses Erklärungsmodells auf Beispiele der Rembrandtliteratur vorbereiten.
195
Aus dieser Konstellation erklärt sich auch die Anschlußfähigkeit für nationalistische Entwürfe, die im Künst-
lerheros den höchsten Ausdruck des Nationalcharakters erblicken.
204
Geleitet von der Frage nach der Stellung des Autors als Rechtssubjekt analysiert Plumpe zunächst den Wandel des Bedeutungsspektrums der Begriffe ‘Eigentum‘ bzw. ‘eigentümlich‘.
Als Ursache für die dabei beobachteten Veränderungen benennt er Unklarheiten im Verlagsrecht, die durch die technische Entwicklung der Buchreproduktion entstanden seien. Demnach
hat einer Zunahme an technischer Komplexität die Überarbeitung der juristischen Konzeption
des Urhebers zur Folge gehabt. Plumpe unterscheidet drei Phasen der begriffsgeschichtlichen
Entwicklung:
„- Zunächst ist ‘Eigentümlichkeit’ einfach Bezeichnung des legitimen Besitzes eines Objekts (dies
meinen die frühen Verwendungen in juristischen Kontexten bis Mitte des 18. Jahrhunderts)
- Dann ist ‘Eigentümlic hkeit’ Bezeichnung der Genesis des Eigentums durch Arbeit (‘Fleiß’) (so
die Juristen in den Nachdrucksdebatten des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts)
- Schließlich ist ‘Eigentümlichkeit’ Bezeichnung der Herkunft ‘geistigen Eigentums’ aus der Investition von Individualität (so argumentiert das Recht in den [...] Quellen seit Anfang des 19. Jahrhunderts).“ (Plumpe 1979, 183)
Die entscheidende Wendung liegt in dem hier als Punkt zwei angeführten Übergang zur naturrechtlichen Eigentumslehre, die ihre wesentliche Ausformulierung durch John Locke erfahren
hat. Locke bestimmte Eigentum „als Ergebnis individueller Aneignung eines ursprünglichen
Gemeinguts durch Bearbeitung“ (Plumpe 1988, 334). Das Eigentumsrechts an einem Gegenstand, dessen Teile als Gemeingut zu betrachten sind, erwirbt sich das Individuum demnach
durch die Investition seiner Arbeitskraft, die in diesen Gegenstand eingegangen ist. Diese
Vorstellung bildet auch die Grundlage zu den Konzepten eines literarischen Urheberrechts,
die im späten 18. Jahrhundert entwickelt wurden und sich im 19. Jahrhundert als Rechtspraxis
durchsetzten. So unterscheidet z.B. J. G. Fichte in seiner Schrift zum „Beweis der Unrechtmäßigkeit des Büchernachdrucks“ den ‘körperlichen’ Teil des einzelnen Buches, der durch
Kauf Eigentum des Käufers wird, vom geistigen Teil, den Worten und Gedanken des Textes.
Dieser ist Gemeingut, denn der Leser eignet sich ihn durch Lektüre an. Dem Schriftsteller
verbleibt als Eigentum allein die F o r m der Gedanken, denn er kann diesen „keine andere
geben als die seinige, weil er keine andere hat“, weshalb diese Form „auf immer sein ausschließliches Eigentum“ bleibt (Fichte, zit. n. Plumpe 1981, 185).
Weder das materielles Objekt des Buches, noch das geistige Material, dessen ‘Ausdruck’ es
darstellt, kann als urheberrechtlicher Gegenstand fungieren. In dieser Situation „führte der
juristische Diskurs eine neue Kategorie ein: die Formierung des geistigen ‘Gemeinguts‘ als
Inschrift des Individuellen.“ (Plumpe 1988, 335)
Diese Konzeption, die in der ‘eigentümlichen‘ Form der Gedanken das ‘Eigentum‘ ihres Autors ausmachte, entstand in Abgrenzung zu einer „normativ regulierten literarischen Praxis, in
der ‘Witz’ und ‘Kunst’ der Schriftsteller einem Tableau der Schreibweisen unterworfen [wa205
ren], die festgesetzten Zwecken und Wirkungen [korrelierten] und insofern dem Autor als
Rechtssubjekt keinen Platz [gaben]“ (Plumpe 1981, 185 f.). Für den Bereich der bildenden
Künste lassen sich mit diesem „Dispositiv der Regelpoetik“ (Plumpe 1988, 335) die klassizistischen Regeln des Kunstschönen vergleichen, die seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine neue Ordnung des künstlerischen Gestaltens vorgaben. Zur zentralen Bedeutung der
regelgerechten Kunstpraxis stellt Plumpe für den literarischen Bereich fest:
„So konnte Johann Jacob Bodmer etwa 1740 die Meinung vertreten, ‘daß ein jeder anderer Mensch
in gleichmäßigen Umständen eben dergleichen Werk [der Kunst und Wissenschaft] hätte verfertigen können’ - eine Meinung, die für die juristische Problemlösung ruinös war, da sie das ‘geistige
Werk’ als Ergebnis generalisierender Fähigkeiten verstand.“ (Plumpe 1988, 335)
Der naturrechtliche Arbeitsbegriffs Lockes hatte es dagegen ermöglicht, die Individualisierung der ‘Sache’ durch den Zugriff der ‘Person’ zu denken, und hattet damit die Grundlage
für ein elementares Segment des modernen Kunstdiskurses geliefert: die Beziehung von Autor
und Werk. Plumpe sieht hier den entscheidenden Korrelationspunkt zwischen Rechts- und
Kunstdiskurs:
„Die Beziehung ‘Autor’ - ‘Werk’ muß als Modalität einer allgemeinen Konzeption verstanden
werden, die auf der Basis einer rudimentären ‘Subjekt-Objekt-Dialektik’ Eigentum als Verbindung
von ‘Person’ und ‘Sache’ begreift.“ (Plumpe 1981, 180)
„Festzuhalten ist aus diesen juristischen Erörterungen, daß die Kategorien individualisiertes
(Schöpfer-) Subjekt und individuelles, in seiner Form distinktes Werk - als Paraphrase der Elementarrelation ‘Person’/’Sache’ - aus dem Motiv heraus entwickelt wurden, den Begriff des Eigentums
auch in Bezug auf intellektuelle und künstlerische Arbeit denken und rechtfertigen zu können. (...)
Das Wort ‘eigentümlich’ scheint die umrissene Diskursinterferenz plastisch zu indizieren.“
(Plumpe 1979, 192)
Nach der Beschreibung dieser Interferenzen zwischen der juristischen Debatte um künstlerisches Urheberrecht und dem Wandel von der Regelpoetik zur Individualästhetik im literarischen Kunstdiskurs hat Plumpe sich mit gleichem methodischen Instrumentarium einem
zweiten historischen Abschnitt zugewandt, dem „Diskurs der Photographie in der Zeit des
Realismus“.196 In dieser Untersuchung zeichnet er die Auseinandersetzung um die
Kunstfähigkeit der Fotografie im juristischen und im ästhetischen Diskurs der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts nach. Den Kern dieses Problems bildete die Frage nach der
Eigentumsfähigkeit fotografischer Bilder. In der Debatte dominierte eine binäre Positionierung von bildender Kunst und Fotografie, wobei dieser Gegenüberstellung die Co196
Plumpe 1990, Untertitel.
206
dierung schöpferisch/mechanisch, mit Paraphrasen wie Kreativität/Regelhaftigkeit oder
Einzigartigkeit/Reproduzierbarkeit, entsprach:
„Hier hatte der juristische Diskurs zwei Möglichkeiten: er konnte - wozu er im ganzen 19. Jahrhundert neigte - alle Elemente des photographischen Prozesses als ‘Gemeingut‘ ausgeben und dem
Medium jede ‘susceptibility of property‘ bestreiten; oder er konnte einen ‘individuellen Umgang‘
mit der Photographie und die Eigentumsfähigkeit ihrer Bildresultate einräumen.“ (Plumpe 1988,
337)
Die juristische Einschätzung der Fotografie orientierte sich an Begrifflichkeiten, die für den
Bereich des literarischen Urheberrechts entwickelt worden waren. Grundlage bildete somit
erneut die Naturrechtsbestimmung, derzufolge aus Gemeingut durch die Investition individueller Arbeit Eigentum wird. Die Fotografie wurde in der deutschen Rechtsprechung des 19.
Jahrhunderts weitgehend als reproduktive Apparatur bewertet, die dem Fotografen keinen
Spielraum zum Ausdruck individuellen Formwillens läßt. Als Abbild der Natur verblieb das
Ergebnis im Bereich des Gemeinguts und konnte mangels ‘Eigentümlichkeit‘ folglich nicht
den ästhetischen Status des Werks beanspruchen (1988, 337). Durch eine Darstellung des
zeitgleich sich entfaltenden ästhetischen Diskurses um den Kunstwert der Fotografie weist
Plumpe den Reflex der juristischen Kategorien nach (1990, 97ff). Als Ergebnis der Untersuchungen Plumpes kann zusammengefaßt werden:
„Der juristische Begriff der ‘eigentümlichen Werkform’ hat, als interdiskursives Konzept, die epochale Wende zu einer individualitätsorientierten Ästhetik mindestens beschleunigt und ganz sicher
sozial stabilisiert. Aus der Perspektive des Rechts liefert die Ästhetik des späten 18. Jahrhunderts
eine Antwort auf die Frage nach der Eigentümlichkeit des Kunstwerks.“ (Plumpe 1988, 341).
Unabhängig davon, welchen Stellenwert man Plumpes Beobachtung einer Interferenz zwischen juristischem und ästhetischem Diskurs im polykausalen Geflecht von politischen und
sozialen Veränderungen, von naturwissenschaftlichen Entwicklungen sowie von aufklärerischen und idealistischen Philosophiekonzepten zuweisen möchte - in jedem Fall ist seiner
Beobachtung zuzustimmen, daß sich seit dem späten 18. Jahrhundert eine „epochale Wende
zu einer individualitätsorientierten Ästhetik“ vollzieht. Im Bereich der bildenden Künste bestimmen die entsprechenden Neuorientierungen - etwa die Ablösung von akademischen Normen, die Kritik an der Einflußnahme von Auftraggebern auf das Werk oder die von Plumpe
hervorgehobene Veränderung der Eigentumsbegrifflichkeit - den ästhetischen Diskurs über
weite Strecken des 19. Jahrhunderts.
Wenn mit Rembrandt in der zweiten Jahrhunderthälfte ein Künstler zum Ideal erhoben wird,
der sich zu einer Stilisierung als autonomes Künstlersubjekt eignet, so ist das im Zusammenhang mit dieser Entwicklung zu verstehen. Die Interferenzthese Plumpes bietet zudem eine
207
neue interpretatorische Perspektive auf diese zentrale Stellung der Individualialität in der modernen Rembrandtrezeption. Tatsächlich tragen die Abgrenzungsdiskurse, die sich um eine
Formulierung der individuellen Leistungen Rembrandts bemühen, auch in den Jahrzehnten
um 1900 die Spuren der von Plumpe beschriebenen Verwandtschaft zwischen juristischen
und ästhetischen Begriffe des ‘Eigentums‘ und der ‘Eigentümlichkeit‘.
2.3.3 Zur Reichweite des Konzeptes der ‘Eigentümlichkeit‘
Die Feststellung von ‘Eigentümlichkeiten‘ ist eine Strategie der Grenzziehung, mit der ein
Bereich des ‘Eigenen‘ von einem äußerlichen Bereich unterschieden wird. Im juristischen
Diskurs wird auf diese Weise das Eigentumsrecht an einer Sache mit einer Person verbunden.
Die Identifikation von Subjekten durch die Benennung von deren Eigentümlichkeiten ist jedoch keinesfalls an ein anthropologisch begrenztes Verständnis von Individualität gebunden.
Ein Zitat von Jacob Burckhardt (1877) zeigt uns, daß auch andere Arten der Korpusbildung in
dieser Weise legitimiert werden können:
„Denn Holland wurde damals mächtig und reich wie kein anderes Land von Europa.
Außerdem aber war es ein stolzes Volk geworden, das nach glorreich bestandenen, furchtbaren Daseinskämpfen niemanden auf Erden mehr etwas nachfragte und sich in jeder Beziehung des Lebens
seine volle Eigentümlichkeit vorbehielt.“ (Burckhardt 1919 [1877], 6)
Der Eigentumsbegriff schließt in dieser nationalpolitischen Verwendung die Bedeutungen von
‘selbständig‘ und ‘autonom‘ ein. Er dient der Eingrenzung jener Menschenmenge, die mit
dem Begriff ‘Volk‘ abstrakt bezeichnet wird und für deren Konzeption die Vorstellung von
einem ‘nationalen Charakters‘ bedeutsam ist. Dieser prägt, so läßt sich Burckhardt verstehen,
die Erscheinungen des ‘nationalen Lebens‘ auf den unterschiedlichsten Ebenen:
„So war denn auch die Kunst, nachdem sie die morsch gewordenen Traditionen des 16. Jahrhunderts abgeschüttelt, eine völlig nationale. (...)
Innerhalb dieser Kunst erhob sich nun die unvergleichliche Originalgestalt Rembrandts. Er fühlte
in sich vor allem die volle Selbständigkeit eines Holländers, so intensiv wie selbst wenige seiner
Landsleute sie fühlen mochten; dabei war er aber eine Individualität, wie sie in jeder Nation auffallen und in ihrem Kreise herrschen würde (...).“ (Burckhardt 1919 [1877], 6 f.)
Die Eigentümlichkeit Rembrandts tritt hier also in Analogie zur nationalen Eigentümlichkeit
in Erscheinung. In ihm zeigt sich die „volle Selbständigkeit eines Holländers“, die nationale
Charakteristik, die er „so intensiv wie selbst wenige seiner Landsleute“ zu fühlen vermochte.
Über diese gleichsam vorbedingte Selbständigkeit hinaus, verfügte diese „unvergleichliche
208
Originalgestalt“ jedoch zusätzlich über eine außerordentliche Individualität, die sie von ihrem
Umfeld abgrenzte.
Wenn Burckhardt hier für Rembrandt eine Art ‘doppelte Eigentümlichkeit‘ feststellt, so steht
er damit auf der Schwelle zwischen zwei Positionierungen des Künstlers im Verhältnis zur
Gesellschaft. Die erste Eigentümlichkeit ist holländisch, durch sie ist Rembrandt in sein zeitgenössisches Umfeld integriert, während ihn die zweite Eigentümlichkeit als spezifische Individualität von seinem „Kreise“ abhebt. Über diese spannungsreiche Konzeption hinaus liegt
der besondere Quellenwert von Burckhardts Vortrag darin, daß hier ein scharfer Kritiker der
Rembrandtschen Bildästhetik, ein später Verfechter idealer Regeln des am Renaissancevorbild orientierten Kunstschönen, in abwertender Absicht eine Begrifflichkeit zur Anwendung
bringt, die von anderen Autoren zum gleichen Zeitpunkt bereits positiv aufgefaßt wurde. Für
Burckhardt ist es durchaus problematisch, wenn ein Kunstwerk von den ‘Eigentümlichkeiten‘
seines Urhebers dominiert wird. Der einflußreiche Kunstgelehrte hält die Kunst nicht für den
Ort, an dem es primär um den Ausdruck subjektiver Charakteristik gehen sollte. Am Eigenwillen des Künstlers dürfen die Grundregeln der Bildgestaltung keinen Schaden nehmen. Hier
sieht Burckhardt in der Kunst Rembrandts ein Mißverhältnis:
„Was er von seinen Lehrern Swanenburch, Pinas, Lastmann und andern gelernt haben mag - und
wäre es auch eine sehr verdünnte Tradition von den italienischen Naturalisten, Caravaggio und andern her gewesen - mag wenig gewesen sein, selbst wenn diese Lehrer sehr tüchtige Leute waren.
(...) Allein wir dürfen uns Rembrandt von Jugend auf als einen Autodidakten in kühnstem Sinne
vorstellen, der seinen Lehrern höchstens ein paar Handgriffe verdanken, sonst aber seine ganze
Kunst allein entdecken will. Gewisse Dinge, wie zum Beispiel die normale anatomische Bildung
der Menschengestalt, haben ihm vielleicht seine Lehrer umsonst beibringen wollen; er hat sie nie
gelernt und sein ganzes sonstiges System mit diesem Mangel in Einklang gefunden oder eher in
Einklang gebracht.“ (Burckhardt 1919 [1877], 7)
Ganz akademisch-erzieherisch ausgerichtet, macht Burckhardt eine fehlerhafte Ausbildung
des unwilligen Eleven für die Abweichungen verantwortlich, die dessen malerisches System
im Vergleich mit der zur Norm erhobenen Renaissancekunst kennzeichnen. Im direkten Anschluß an dieses Zitat liefert er dann eine Definition der Eigentümlichkeiten Rembrandts, die
den Begriff eines persönlichen Stils als kunsthistorische Paraphrase jener juristischen Formel
erkennbar macht, derzufolge die Eigentümlichkeit des Werkes als eine spezielle, an die Person des Künstlers gebundene Art der Formgebung zu verstehen ist:
„Überhaupt bildet sein Stil ein untrennbares, völlig mit seiner trotzig kräftigen und wunderlichen
Persönlichkeit identisches Ganzes.
Wodurch unterschied er sich von allen Malern, die vor ihm in der Welt gewesen?
209
Durch die Unterordnung des Gegenstandes, welcher es auch sei, unter zwei elementare Großmächte: Luft und Licht.“ (Burckhardt 1919 [1877], 7 f.)
Der Künstler wird mit seinem Werk identifiziert, genauer: mit dessen „Stil“. Zur Unterscheidung von „allen“ anderen Malern verbindet Burckhardt mit dem Namen Rembrandt das gestalterisches Prinzip der „Unterordnung des Gegenstandes“ unter „Luft und Licht“.197 Was
wir hier beobachten können, ist die „Repräsentation des Autors in der individuellen Form“
des Werkes (Plumpe 1981, 185).
Die Strategie, die Eigentümlichkeit des Werkes zu beschreiben und von dieser auf die Individualität des Künstlers zu sprechen zu kommen, läßt sich in der Rembrandtliteratur um 1900 in
vielen Varianten studieren. Wenn Anton Springer 1886 zwischen Rembrandt und Frans Hals
über die Führerschaft in der niederländischen Malerei entscheidet, wählt er zur Bestätigung
von Rembrandts Eigentümlichkeit eine Bezeichnung, die sich wie ein Verweis auf die Herkunft der fraglichen Thematik aus dem Feld der Literatur liest:
„Aber alle diese Ruhmestitel wiegen leicht gegen eine Eigenschaft, welche Rembrandt und nur
Rembrandt unter allen Holländern in so reichem Maße besitzt. Rembrandt ist Poet. Jedem Werke
drückt er das Gepräge seiner Persönlichkeit auf. Bei aller Wahrheit der Schilderungen zeigen diese
doch noch außerdem besondere Züge, welche nur auf die eigenthümliche Empfindungsweise des
Künstlers zurückgeführt werden können.“ (Springer 1886, 177)
Als ‘Poet‘ kann Rembrandt die Urheberschaft seiner Werke beanspruchen, da er die Welt
nicht nur äußerlich kopiert, sondern durch eine Leistung gestaltet, die „nur auf die eigenthümliche Empfindungsweise des Künstlers zurückgeführt werden“ kann. Die Werke gewinnen
ihre Form aus der singuläre Charakteristik des künstlerischen Subjekts. Indem Springer den
bildenden Künstler als ‘Poet‘ bezeichnet, bringt er ihn mit einer Vorstellung vom schöpferischen Individuum in Verbindung, in die sich bereits die Entwicklungen der modernen Urheberrechtsbestimmungen eingeschrieben haben. Die Gleichsetzung des bildenden Künstlers mit
dem Dichter ist als eine spezifische Form der Nobilitierung zu verstehen, insofern das Konzept des ‘dichterischen Schaffens‘ als prototypische Formel für die Produktion geistigen Eigentums gelten kann. Ein verwandtes Nobilitierungsmodell hat Martin Warnke bereits für die
„Vorgeschichte des modernen Künstlers“198 entworfen. Er beschreibt die Aufwertung der sozialen Position des zünftischen Künstler-Handwerkers zum „Hofkünstler“, die sich im 14. und
197
Es läßt sich nicht nachprüfen, ob Burckhardt zu diesem Zeitpunkt bereits Fromentins Maîtres d’autrefois
(1876) kannte, in denen Rembrandt als Lichtmaler (luminariste) bezeichnet wird.
198
Warnke 2 1996, Untertitel.
210
15. Jahrhundert vollzieht. In diesem Prozeß des gesellschaftlichen Aufstiegs, so weist Warnke
nach, kommt der Gleichsetzung der Handarbeit des Künstlers mit der geistigen Arbeit des
Dichters eine wichtige Rolle zu (Warnke 2 1996, 52 ff.).
Ging es damals um die Befreiung der künstlerischen Tätigkeit vom Schweiß der körperlichen
Arbeit, so zielt der moderne Vergleich des bildenden Künstlers mit dem Dichter auf die gesteigerte Subjektivität, mittels welcher der Poet die Sprache zu einem ‘eigentümlichen‘ Werk
formt.
Wie Burckhardt und Fromentin zur gleichen Zeit, hat auch Wilhelm Lübke (1877) das Licht
als eigentümliches künstlerisches Mittel Rembrandts dargestellt. In seiner Beschreibung der
Nachtwache bezeichnet er den Künstler dabei als ‘Poet‘ und trägt zudem eine Abwandlung
der naturrechtlichen Konzeption geistigen Eigentums vor:
„[Es] ist nicht zu verkennen, daß dieses fast dämonisch glühende Licht, das frappant Momentane
der Bewegungen, die concentrirte Gewalt der gesammten Erscheinung eine Wirkung hervorbringen, wie sie kein Anderer solchem Gegenstande zu entlocken vermochte, und zwar einfach deshalb, weil hier ein großer Poet, ein Zauberer im Reiche des Lichtes (...) die ganze Tiefe seiner Anschauung, den Reichthum seines Geistes in das schlichte Alltagsthema ergossen hat.“ (Lübke 1877,
215)
Das alltägliche Material wird durch den Einfluß der „Tiefe“ einer individuellen „Anschauung“ zu etwas umgeformt, das „kein Anderer solchem Gegenstande zu entlocken vermochte“,
mit einem Wort: zu etwas Eigentümlichen. In ähnlicher Weise verfährt Adolf Philippi (1901),
Professor für Archäologie und Kunstgeschichte in Göttingen,199 bei seiner Würdigung der
künstlerischen Leistung Rembrandts angesichts eines späten Porträts:
„Aus voller Seele hat er ein Dasein verklärt, von dem wir ohne ihn nichts wissen würden, das aber
nun verewigt weiter lebt durch die Kunst des Malerpoeten. Über die ganze Gestalt ist ein duftiger,
durchsichtiger Schatten gelegt, so daß nur der anmutige Kopf das Licht hat, auch dieses noch leicht
verschleiert und goldwarm. So etwas kann nur Rembrandt, der überhaupt unter allen, die jemals
Bildnisse gemalt haben, der mannigfaltigste ist mit dem größten Umfange, dafür aber auch oft
willkürlich und besonders, wie nun einmal die Dichter sind.“ (Philippi o.J. [1901], o.S.)
Auch bei Carl Voll (1906) kulminiert das Lob Rembrandts im Begriff des ‘Dichters‘:
199
Vgl. Langer 1983, 105.
211
„(...) so kommt Rembrandt gerade in seinen letzten Arbeiten zu einer bei aller Tiefe so außerordentlich herzlich warmen Auffassung von Mensch und Menschenschicksal, daß er nicht nur als einer der größten Maler, sondern auch als einer der herrlichsten Dichter dasteht.“ (Voll 1906a, 591)
Und noch für Richard Hamann (1948) bedeutet die Kennzeichnung des Malers als ‘Poet‘ zugleich eine Verinnerlichung und eine Nobilitierung:
„Die Bildungswelt, in die er hineinschritt, eröffnete ihm die Welt des Imaginären, des Literarischen, des Poetischen. Auch Rembrandt wurde Poet. Er malte sich das Leben, die Menschen in
immer neuen Bildern aus.“ (Hamann 1948, 16)
2.3.4 Metaphoriken der Umwandlung von allgemeinem und fremdem Gut in Eigentum
Kommen wir noch einmal auf das Zitat Anton Springers zurück, in dem es hieß, jedem Werke
drücke Rembrandt „das Gepräge seiner Persönlichkeit auf“ (Springer 1886, 177). Der Gebrauch dieser ‘Prägungs-Metaphorik‘200 veranschaulicht bildhaft die Umformung des
Gemeinguts in Eigentum durch den Willen und die spezifischen Anlagen des Künstlers.
Dadurch ist den Werken gleichsam eine individuelle ‘Prägung‘ verliehen, durch welche sie
auf Rembrandt zurückgeführt werden können. Springer grenzt so die als naturalistisch
interpretierten Anteile der Rembrandtschen Kunst von einer simplen Reproduktion des
Sichtbaren ab, eine Strategie, die wiederum im Kontext der Fotografiedebatte verortet werden
könnte. Die hier angewandte Metaphorik bildet eine typische sprachliche Einkleidung des
naturrechlichen Eigentumsprinzips.
Auch Carl Neumann sucht eine Formel zur Beschreibung der ‘schöpferischen Umgestaltung’
von Natureindrücken, als er 1918 mit dem Problem konfrontiert ist, Kategorien für die Unterscheidung von Rembrandts Handzeichnungen finden zu müssen:
„Neben den Zeichnungsblättern, die mit illustrativen oder kompositionellen Aufgaben zusammenhängen (...) steht die Menge von Zeichnungen, die Studien nach irgendwelcher Natur sind. Sie sind
in der Wiedergabe sachlich, wesentlich, schnörkellos, formdeutlich. Von ‘Wiedergabe‘ ist nur in
dem Sinne zu sprechen, wie sich ein Meister überhaupt naturaufnehmend verhält. Im Gestalten des
Gesehenen spricht sich seine Phantasie und Schöpferkraft aus.“ (Neumann 1918, 10)
200
Vgl. Plumpe 1990, 128 ff. Ein weiteres Beispiel dafür bei Carl Neumann: „Die Menschen kommen, geben
ihm Aufträge, nennen ihm ein wohlumschriebenes Thema: einerlei, er macht etwas anderes daraus, er verwandelt, er läßt den Strom seiner künstlerischen Leidenschaft darüber fließen. Und hier kommt nun der Punkt, (...)
wo die Schöpferkraft alles ansieht, was sie gemacht hat, und erkennt, ‘siehe, es war sehr gut‘, wo also das B e w u ß t s e i n der Persönlichkeit wie ein Siegel auf das Schaffen gedrückt wird.“ (Neumann 1902, 334 f.).
212
Neumann unterteilt die Menge der Zeichnungen zunächst in zwei Kategorien: Die einen sieht
er im Dienst der Gemälde und Radierungen, die anderen versteht er als Studien nach der Natur. Beim Versuch der stilistische Kennzeichnung letzterer wählt Neumann den Begriff „Wiedergabe“, um das Verhältnis der Zeichnungen zur Natur zu beschreiben. Doch erscheint ihm
dieser Begriff sogleich als erläuterungsbedürftig, denn im nächsten Satz grenzt er dessen
möglichen Gehalt im Bezug auf einen „Meister“ ein und setzt ihn in Anführungszeichen.201
Neumann spezifiziert die Art und Weise der ‘Naturaufnahme‘ eines „Meisters“ also sogleich
im Sinne der urheberrechtlichen Definition, indem er das Gemeingut des „Gesehenen“ durch
den Akt des „Gestalten[s]“ mit Hilfe der geistigen Mittel „Phantasie und Schöpferkraft“ in
den Werkstatus übertreten läßt. Dabei wird die individuelle Formung der Natur durch den
Künstler metaphorisch ausgedrückt. Nach dem „Gepräge“ (Springer) liefert nun die Sprache
selbst das Sprachbild: „Phantasie und Schöpferkraft“ sprechen sich „im Gestalten des Gesehenen“ aus. Die Zeichenkunst erscheint hier wiederum als dem dichterischen Schaffen entsprechende Form eines ins-Werk-Setzens der Natur.
Die Unterscheidung des ‘eigentümlichen’ künstlerischen Schaffens von einer bloßen Wiedergabe der Natur ist nur eine der Grenzziehungen, mittels derer die diskursive Künstlerfigur
Rembrandt definiert wird. Die Häufigkeit ihres Auftretens läßt um 1900 nach, was sich sowohl aus einer Stabilisierung der Fotografiedebatte als auch aus dem Nachlassen der Realismusdiskussion erklären ließe. Zum Ende des 19. Jahrhunderts tritt statt der Abgrenzung
künstlerischen Gestaltens von naturalistischer Nachahmung die Authentizitätsproblematik in
den Vordergrund. Zu Profilierung des einzelne Künstlersubjekt ist es dabei notwendig, plausibel gestalterische Eigentümlichkeiten zu beschreiben, die in seinen Werken hervortreten und
diese als ‘Originale‘ erkennbar machen. In diesem thematischen Feld können verschiedene
diskursive Praktiken beobachtet werden, die dazu dienen, die Vorstellungen vom schöpferischen Subjekt ‘Rembrandt‘ einzugrenzen. Im Zentrum dieser Praktiken stehen natürlich die
künstlerischen Werke, die Rembrandt zu- oder abgeschrieben werden. Das Herauspräparieren
jener Gruppe von Werken, die als authentischer Korpus des ‘Gesamtwerks‘ angesehen werden, ist ein entscheidender Schritt in diesem Prozeß einer diskursiven Subjektgenese. Er wird
durch eine Reihe von Abgrenzungsrhetoriken begleitet, die dem Beleg der Eigenständigkeit
des Werkes, und damit der Autonomie des Künstlersubjekts, dienen. Die juristische Begrifflichkeit des Eigentums ist dabei ebenso präsent wie die naturrechtliche Argumentation der
201
Dies verwundert um so weniger, als der Begriff der ‘Wiedergabe‘ - in Entsprechung zu ‘Nachbildung‘, ‘Auf-
nahme der Natur‘, ‘Kopie‘ oder ‘Reproduktion‘ - in dem zwischen künstlerischer Originalschöpfung und mechanischer ‘Wiedergabe‘ differenzierenden Diskurs um den ästhetischen Stellenwert der Fotografie zur Kennzeichnung ‘mechanischer’ Verfahrensweisen herangezogen wurde (Plumpe 1990, 34).
213
subjektiven Umgestaltung allgemein verfügbarer Materialien. Bevor ich mich zum Ende dieses Kapitels mit der Fixierung des ‘Gesamtwerks’ beschäftige, möchte ich einige Beispiele für
solche Abgrenzungsrhetoriken anführen.
Dabei geht es zunächst um die Frage, wie Rembrandts Praxis der Adaption kunsthistorischer
Vorbilder bewertet wurde. Anschließend werde ich mich dem Problem der retuschierten
Werkstattkopien widmen. Von dort aus werde ich mich dann den Verfahren zur Bestimmung
des Gesamtwerks zuwenden.
2.3.5 Über den Umgang mit den Vorbildern
Wie Anton Springer (1886) betont auch Wilhelm Valentiner (1906) den Stellenwert des Naturstudiums für die Kunst Rembrandts. Höher stuft Valentiner jedoch die Beschäftigung des
Künstlers mit Werken seiner Vorläufer ein. Um die Umwandlung vorbildlicher Kunstwerke in
Rembrandtsches Eigentum darzustellen, verwendet er eine Metaphorik, die der Springers
ähnelt:
„Das Studium der Kunst bedeutete mehr als das der Natur. Die Beschäftigung mit großen Kunstwerken aus früherer Zeit galt etwa so viel wie den Meistern der italienischen Renaissance der Umgang mit der Antike. Andere Meister zu benutzen, hielt man für richtig und gut. So nimmt es nicht
Wunder, daß Rembrandt später so häufig wie kaum einer unter den großen Künstlern ganze Teile
aus fremden Kompositionen übernimmt, freilich, wie oft hervorgehoben wurde, indem er sie mit
eigenem Geist durchtränkt.“ (Valentiner 1906, 22)
Vergleichbar der Prägungs-Begrifflichkeit bei Springer, wird auch hier Rembrandts Eigentümlichkeit mit Hilfe von Metaphern beschrieben. Die Übertragung einer Flüssigkeit (Durchtränkung) verwandelt das allgemein verfügbare Material der „fremden Kompositionen“ in
Eigentum. Interessant ist Valentiners Versuch, dieses Verfahren zu entschuldigen, die in der
Formulierung „hielt man für richtig und gut“ durchklingt. Es vermittelt den Eindruck, als bedauere der Autor hier die Tatsache, daß die kunsthistorische Methodik des Bildvergleichs,
mittels derer die Adaptionen älterer Kunst in Rembrandts Werken argumentativ belegt wurden, die Idee eines vollkommen autark produzierenden Genius demontiert hatte.
Hierzu ein kleiner Exkurs: Der klassizistischen Kritik wie auch dem akademischen Urteil
hatte Rembrandt als phantastischer Einzelgänger gegolten, der jedes Vorbild verschmäht,
außer das der Natur. Der moderne Rembrandtdiskurs verhält sich zu dieser Position äußerst
ambivalent. Er übernimmt die Gegenüberstellung Rembrandts mit dem akademischen Regelwerk des Kunstschönen und kehrt innerhalb dieser Dichotomie die Vorzeichen um. Zugleich
wird jedoch das Bemühen deutlich, Rembrandts Bildungsmängel, seinen Ruf eines ‘pictor
vulgaris‘, zu korrigieren. Diesem Wunsch kommen die Quellenstudien zur Hilfe, speziell der
214
Katalog von Rembrandts Kunstbesitz, der 1656 durch die Desolate Boedelkamer aufgenommen worden war. Er belegt den Bestand an Originalen und Reproduktionen von Werken der
Renaissancekunst im Haushalt des Künstlers. Seit 1834 wiederholt publiziert, bot er den
kunstwissenschaftlichen Untersuchungen seit den 80er Jahren Anhaltspunkte für die Frage
nach Vorbildern der Themenwahl und der Kompositionen Rembrandts. In der Fachliteratur
erfolgte dann schnell die Ablösung der Vorstellung vom ungebildeten, ganz aus sich selbst
und der Natur schöpfenden Rembrandt durch diejenige des bewußt abwägenden Kunstkenners, der das Alte schätzt, es jedoch kraft seiner künstlerischen Potenz in neue Formen zu
überführen weiß.
Im Umgang mit diesem Problem ist erneut die Spannung zwischen einer genealogischen
Konzeption der Kunstgeschichte und einer individualistischen Auffassung von der Werkentstehung auszumachen. Ohne seine Stellung im Verlauf der kunsthistorischen Entwicklung zu
verkennen, soll die subjektive Charakteristik des Künstlers betont werden; ohne die Verbindung zu älterer Kunst zu unterschlagen, muß die Eigentümlichkeit der Werke Rembrandts
verdeutlicht werden.
Heinrich Weizsäcker bezieht sich 1898 noch weniger auf konkrete künstlerische Entlehnungen als auf die konventionelle Wahl der Bildthemen, wenn er Rembrandts eigentümliche Anverwandlung von als Gemeingut verfügbarem Stoff beschreibt:
„Das erschütternde Pathos, das noch einige der Historienbilder seiner letzten Lebensjahre durchbebt (...) - es schlägt schon in den Werken jener ersten Jugend durch, alle Fesseln der Konvention
zerreißend und alten hergebrachten Stoff mit einem völlig neuen und höchst persönlichen Gefühlsinhalte füllend.“ (Weizsäcker 1898, 499)
Der Künstler ‘zerreißt‘ die konventionelle Form des „Stoff[es]“ und füllt sie mit seiner inneren Qualität, dem „persönlichen Gefühlsinhalte“. So steht nicht etwa die Bezugnahme auf das
Hergebrachte, sondern dessen Umwandlung zu etwas Neuem im Vordergrund, das durch
seine Verbindung zum schöpferischen Subjekt Eigentumscharakter gewinnt.
Als Jan Veth sich 1906 am Beispiel eines Selbstporträts mit Rembrandts Inspiration durch
Raffael und Tizian auseinandersetzt, verwendet er eine vergleichbare ‘Umschöpfungsformel‘:
„Rembrandt war zweifellos ein ‘grand profiteur‘, aber er besaß darüber hinaus innerlichen Reichtum, durch den alles was er in sich aufnahm auf harmonische Weise neu geboren wurde. Oder ist
dieses Porträt nicht, im Vergleich mit der Bedeutung der sichtbar zu Rate gezogenen Werke der
Italiener, doch vor allem angefüllt mit der, wie man sagen möchte, häuslichen Heimlichkeit, die der
215
weitumfassende Holländer zur Weltkunst am ehesten als sein eigenes Element beigesteuert hat?“
(Veth 1906 a, 87 f.)202
In Veths organischer Metaphorik verwandelt der Künstler das tradierte Material in eine eigenständige Neuschöpfung. Dabei werden einmal mehr die zwei Aspekte des „zu Rate gezogenen“ fremden ‘Eigentums‘ einerseits und „sein eigenes Element“ andererseits unterschieden.
Rembrandt nimmt ersteres ‘in sich auf‘ und füllt es mit seinem (eigenen) „innerlichen Reichtum“ an, so daß es „neu geboren“ wird.
Die vergleichende Analyse Rembrandtscher Werke mit italienischen Vorbildern war kurz
nach 1900 in kunstwissenschaftlich orientierten Texten zum Topos geworden. Mit einer losen
Sammlung von Beobachtungen dieser Art schließt sich Niels Restorff (1907) an die Reihe
solcher Arbeiten an. Bevor er sich jedoch selbst um den Nachweis einiger neuer Bezüge bemüht, schränkt er die Bedeutung der Rezeption historischer Vorläufer für das „Wesen“ des
Rembrandtschen Lebenswerks grundsätzlich ein:
„Scharfsinnige Augen haben in Rembrandts Werken eine ganze Reihe von Anklängen an Kompositionen anderer Maler entdeckt. Die folgenden Notizen weisen noch auf einige weitere Fälle hin,
in denen Rembrandt von seinen Vorgängern entlehnte.
Die Originalität des großen Holländers, dessen Genie ein durchaus ursprüngliches ist, behauptet
sich auch inmitten der Anleihen an andere. Daher sind die in Frage stehenden Entdeckungen, obschon sie zum Verständnis des Künstlers, seiner Art und Weise, sowie seiner Kunstentwicklung
beitragen mögen, in bezug auf das Wesen seines Lebenswerks lediglich Bagatellen.“ (Restorff
1907, 375)
Es war diesen Autoren offenbar wichtig, mit ihren kunsthistorischen Forschungsergebnissen
nicht die Grenzen der in sich geschlossenen Künstlerfigur Rembrandt aufzuweichen. Das
zeigt auch ein Zitat von Karl Woermann, das den Abschluß dieser Beispiele für die Abgrenzung der ‘Eigentümlichkeit‘ Rembrandts von der künstlerischen Praxis bildgestalterischer
Adaptionen bilden soll. In seinem mehrbändigen Überblickswerk zur Geschichte der Kunst
aller Zeiten und Völker (1911) veranschaulicht Woermann mit Hilfe einer weiteren Metapher
das naturrechtliche Prinzip der Umwandlung von allgemeinem oder fremdem Gut in Eigentum:
202
„Rembrandt was ongetwijfeld ‘un grand profiteur‘, maar hij bezat bovenal dien innerlijken rijkdom, die al wat
hij in zich opnam harmoniesch deed herboren [neugeboren] worden. Of is niet, vergeleken bij de blijkbaar
geraadpleegde werken van der Italianen, dit portret toch bovenal vervuld van die, men zou willen zeggen huiselijke heimelijkheid, die de wijdomvattende Hollander wel het meest als zijn eigen element in de wereldkunst
heeft aangevoerd?“ (Veth 1906a, 87 f.).
216
„Trotz seiner subjektiven Unmittelbarkeit verschmähte Rembrandt es übrigens (...) keineswegs,
einzelne Motive und Gestalten den Schätzen der Vergangenheit zu entlehnen, deren eifrigster Bewunderer und Sammler er war. Aber er unterzog alle Einzelmotive, die er ihnen entlehnte, in dem
Schmelztiegel seiner Phantasie einer so gründlichen Umgestaltung, daß sie sich von seinem eigensten Eigentum nicht unterscheiden.“ (Woermann 1911, zit. nach 2 1920, 380)
Noch einmal werden hier die festen Dinge der Welt im Individuum verflüssigt und durch dessen Potenz zur Umgestaltung in die Form „seine[s] eigensten Eigentum[s]“ überführt.
2.3.6 Die Abgrenzung von Original und Reproduktion: Rembrandt retuschiert
Schülerwerke
Ich komme nun zur diskursiven Praxis der Abgrenzung künstlerischer ‘Originalität’ gegenüber dem Feld ‘reproduktiver’ Bilder zurück. Neben der reproduktiven Wiedergabe der Natur
und der Entlehnungen bei historischen Vorbildern steht in diesem Zusammenhang die Unterscheidung der Autorschaft Rembrandts von der seiner Schüler zur Diskussion. Der damit angesprochene Bereich der Echtheits- und Zuschreibungsfragen nimmt innerhalb der Rembrandtliteratur eine zentrale Stellung ein. Die Behandlung dieser Problematik am Beispiel
Rembrandts erhielt im Laufe der Jahre eine derart prototypische Position im Kunstdiskurs,
daß sie auch darüber hinaus zu einem Synonym für das Thema Authentizität wurde.
Mit der wachsenden öffentlichen Wertschätzung Rembrandts und der steigenden Nachfrage
nach seinen Werken stellte sich für die professionellen ‘Kunstkenner’ - in der Regel Kunsthistoriker aus der Museumspraxis, die zusätzlich als Gutachter tätig waren - die Frage, wie
jene Werke aus dem Umfeld Rembrandts einzustufen seien, die als vom Meister retuschierte
Arbeiten der Schüler galten. Die Existenz solcher Werke kann in der Literatur bis zu Sandrart
(1675) zurückverfolgt werden; der Hinweis auf sie wurde in der älteren Künstlerbiographik
überliefert, so wie es noch bei Georg Kaspar Nagler (1843) zu finden ist:
„Es flossen ihm große Summen zu, denn Rembrandt war einmal Modemaler, von welchem jeder
etwas haben wollte, und um beständig eine Auswahl bieten zu können, verkaufte er alle von ihm
retouchirten Copien seiner zahlreichen Schüler für Originale. Sandrart behauptet, dass ihm diese
Manipulation jährlich an die 2500 fl. eingetragen habe, und dazu kamen noch die bedeutenden
Lehrgelder, die er forderte.“ (Nagler 1843, 4)
In der klassizistischen Tradition wurden diese Bilder also an den Topos des geizigen Künstlers mit den unseriösen Geschäftspraktiken geknüpft. Auch wenn diese Einschätzung zur
Mitte des 19. Jahrhunderts an Überzeugungskraft und diskursiver Präsenz verloren hatte, bildeten die Arbeiten selbst doch ein Problem für die neuere Rembrandtrezeption. Signaturen
217
wie „geretuckeert van Rembrandt“, die sich auf mehreren Gemälden und Radierungen fanden,
konnten als Bestätigung der überlieferten Atelierpraxis gelesen werden, so daß die Aussagen
Sandrarts und anderer nicht gänzlich ins Reich literarischer Phantasien zu verbannen waren.
Auch das Inventar von Rembrandts Hausstand aus dem Jahr 1656 verzeichnet mehrere solche
Stücke. Der Stellenwert dieser Bilder im Gesamtwerk Rembrandts war fraglich und mußte
diskutiert werden.
Wilhelm Bode nahm sich 1881 der Problematik an. Der kurze Text, den der damalige Direktor der Abteilung für Renaissanceskulpturen im hauseigenen Jahrbuch der königlich preußischen Kunstsammlungen unter dem Titel Ein Einblick in Rembrandt’s Schüler-Atelier veröffentlichte,203 dokumentiert einen argumentatorischen Drahtseilakt, in dem es Bode gelingt,
zwischen den konträren Positionen ‘künstlerischer Schöpfung’ und ‘Kopistentum’ zu vermitteln.
Wie schon der Titel anzeigt, stellt Bode nicht die Zuschreibungsfrage ins Zentrum, sondern
behandelt das Problem als Facette des Meister-Schüler-Verhältnisses. Als Einstieg wählt er
die topische Gegenüberstellung von Rembrandt und Rubens, also ein polarisierendes Deutungsmuster. Diese Entscheidung ermöglicht es, bestimmte problematische Vorstellungen
durch ihre Anlagerung an Rubens aus dem Idealbild des konträr gesetzten Rembrandt auszuschließen - auch wenn diese Vorstellungen im weiteren Textverlauf wiederum in Verbindung
mit Rembrandt in Erscheinung treten sollten:
„Wie für P.P. Rubens die Heranziehung seiner zahlreichen Schüler zur Beihilfe an seinen eigenen
Werken den hervorragendsten Zug in dem Verhältnisse zu seinen Schülern bildet, so können wir in
der Stellung Rembrandt’s zu seinen Schülern gerade das Gegentheil als charakteristisch bezeichnen: die durchaus eigenhändige Durchführung der eigenen Werke und die Beförderung möglichster
Selbständigkeit in den Schülern.“ (Bode 1881, 191)
Rubens‘ Atelierpraxis wird von der Rembrandts unter Verwendung eines Schemas unterschieden, das sich an einer dichotomischen Kontrastierung von ‘Individualismus‘ und ‘Kollektivität’ orientiert. Auf dieser Basis einer grundsätzlichen Opposition zweier Schüler-Lehrer-Verhältnisse führt Bode dann das fragliche Material ein:
„Damit ist jedoch nicht jedes Zusammenarbeiten Rembrandt’s mit seinen Schülern ausgeschlossen.
In dem (...) Inventar seiner ganzen Habe kommt eine nicht unbeträchtliche Zahl von Bildern vor,
die als ‘overgeschildert’ oder ‘geretuckeert van Rembrandt’ bezeichnet sind.“ (Bode 1881, 191)
Die zu diskutierenden Bilder stellen so bereits zu Anfang des Textes Ausnahmen dar, Beispiele dafür, daß Rembrandts Atelierpraxis „nicht jedes Zusammenarbeiten“ mit seinen
203
Zu Bodes Karriere vgl. Otto 1995.
218
Schülern ausschließt. Einige dieser Werke erklärt Bode zu Übungsstücken aus Schülerhand,
die der Meister zum Zwecke didaktischer Demonstration verbessert habe. Problematischer ist
die Einstufung der verbleibenden Arbeiten:
„Bei einigen anderen derartigen Bildern des Inventars scheinen aber Kopien der Schüler nach
Kompositionen des Meisters von diesem - vielleicht auf besondere Bestellung - übertragen worden
zu sein.“ (Bode 1881, 191)
Wie die Verwendung des im Kunstdiskurs negativ belasteten Begriffs ‘Kopie‘ signalisiert,
befinden wir uns nun im Zentrum des Themas. Auffallend ist, daß Bode der Einführung dieser
problematischen Kategorie sogleich einen Erklärungsversuch folgen läßt, der zudem einen
zweiten negativ konnotierten Begriff aufruft: Die angedeutete Praxis sei „vielleicht“ nicht auf
Rembrandt selbst, sondern auf die „besondere Bestellung“ einzelner Auftraggeber zurückzuführen. Der Anlaß zur Ausführung der Kopie käme damit von außen, der Künstler wäre von
der Verantwortung für das Entstehen derart reproduktiver Werke wenigstens zum Teil entlastet. Mit der ‘Auftragsarbeit‘ und der ‘Kopie‘ werden zwei problematische Phänomene verkoppelt; sie können so überzeugender aus dem Kernbereich der Originalität des Künstlersubjekts wie seines Werkes ausgegrenzt werden. 204
Bode kommt nun auf konkrete Beispiele zu sprechen. In der Opferung Isaaks, die sich in der
alten Pinakothek München befindet, macht er eine Atelierkopie Ferdinand Bols nach Rembrandts ‘Original‘ aus (Petersburg, Eremitage). Vermutlich auf Wunsch eines interessierten
Kunden sei diese Kopie von Rembrandt überarbeitet worden und hätte schließlich die Signatur „verandert en geretuckeert door Rembrandt 1636“ erhalten. Dieses Vorgehen Rembrandts
grenzt Bode klar vom didaktisch motivierten Korrigieren einer Schülerarbeit ab:
„Hier aber hat sich der Meister nicht damit begnügt, in einigen wenigen großen Zügen den
Hauptfiguren mehr Charakter und dadurch dem Ganzen mehr Haltung zu geben: er hat vielmehr
die Schülerarbeit vollständig und zwar prima mit fettem Pinsel übermalt. Freilich in der hastigen,
etwas handwerksmäßigen Weise, wie dies geschehen ist, unterscheidet sich die Kopie wesentlich
vom Originale und zeigt sich die geringe Freude, mit der der Künstler an eine derartige Arbeit ging.
Dass solche Wiederholungen nicht seine Gewohnheit waren, ja dass sie vielmehr gegen seine
Künstlerehre verstießen, scheint aus der ausdrücklichen Bemerkung ‘verandert’ in der oben erwähnten Inschrift (obgleich diese Veränderungen nur geringfügig sind) hervorzugehen.“ (Bode
1881, 192)
204
Vgl. den Abschnitt 2.1.1 im zweiten Teil dieser Arbeit.
219
Die Überarbeitung des Schülerwerks wird als „vollständig“ beschrieben und so aus dem Bereich der demonstrativen Korrektur eines Schülers durch den Meister ausgegrenzt. In der Art
und Weise dieser vollständigen Übermalung findet der Autor dann die Zeichen für eine bestimmte Haltung, die der Künstler diesem ‘mutmaßlichen’ Auftrag gegenüber eingenommen
habe. Ein relativierendes „freilich“ kündigt bereits an, daß Bode diese Haltung als eine distanzierte versteht. Er bemerkt eine „hastige[n], etwas handwerksmäßige[n]“ Arbeitsweise, und
läßt damit beiläufig die Dichotomie ‘Handwerker vs. Künstler‘ anklingen. Dann ist von der
„geringe[n] Freude“ die Rede, mit der der Künstler diese nicht seiner „Gewohnheit“ entsprechende Arbeit ausgeführt habe. Schließlich wird die geringfügige Veränderung gegenüber
dem Petersburger Bild als Versuch zur Wahrung der „Künstlerehre“ interpretiert, die sich
nicht mit der Anfertigung von „Wiederholungen“ vereinbaren ließe.
Die kommentierende Signatur, die das Problem der Retusche erst ausgelöst hatte, fügt sich
nun hilfreich in die Originalitätsdiskussion ein. Zum Zwecke der Demonstration sei auf die
Probleme verwiesen, die ihr Fehlen auslösen würde. Das Bild könnte nur schwerlich als eigenhändiges Werk Rembrandts betrachtet werden, denn damit hätte der Künstler, von den
geringen Abweichungen abgesehen, eine veritable Kopie des Petersburger Bildes erstellt. Die
Funktion eines solchen Bildes könnte allein in der Wiederholung oder im Verkauf gesehen
werden, zwei in der Perspektive des autonomen Schöpfersubjekts inakzeptable Alternativen,
die dem Kunsthistoriker wenig Argumentationsspielraum gegeben hätten.205 Die vorliegende
Erklärung schreibt der ‘Kopie‘ dagegen eine prinzipielle Funktion zu: Als Übungsstück eines
Schülers ist sie Bestandteil der didaktischen Atelierpraxis und somit in ihrer Existenz legitimiert. Tritt dann der seltene Fall ein, daß sie in einem zweiten Schritt in die autonomiefeindlichen Strukturen des Marktes gerät, so ist der retuschierende Meister auch hier nicht voll verantwortlich, da ihn die ökonomischen Zwänge teilweise entlasten.
Im Anschluß an die Beispiele retuschierter Gemälde verweist Wilhelm Bode noch auf eine
Anzahl übermalter Zeichnungen, bevor er seinen Text mit einer Formulierung beendet, die
das Zuschreibungsproblem und die Frage nach der Urheberschaft derartiger Arbeiten in prägnanten Worten löst:
205
Es sei die Spekulation gestattet, daß im Falle des Fehlens dieser erläuternden Signatur eines der Werke als
Schülerarbeit bezeichnet worden wäre. Wären beide mit ‘Rembrandt‘ signiert, würde vermutlich eine der Signaturen angezweifelt. Bis heute ruft das Vorhandensein zweier nahezu identischer Bilder das kunsthistorische
Ordnungsschema ‘Original vs. Kopie‘ auf den Plan. Als Beispiel sei auf die Neuzuschreibung des Den Haager
und des Nürnberger ‘Selbstbildnisses‘ im Frühjahr 1999 verwiesen (White/Buvelot 1999, 112 ff.).
220
„An der Hand dieser Zeichnungen und der oben genannten beiden Gemälde werden sich wohl mit
der Zeit eine grössere Zahl ähnlicher Werke, in denen Rembrandt Arbeiten der Schüler durch seine
meisterhaften Korrecturen gewissermassen zu seinem Eigenthum umgeschaffen hat, nachweisen
lassen.“ (Bode 1881, 192)
Diese Schlußworte Bodes eignen sich besonders zur Illustration der These Plumpes, derzufolge die Begrifflichkeit der ‘Eigentümlichkeit‘ im Kunstdiskurs als Echo des juristischen
Eigentumsbegriffs verstanden werden kann. Bode verwendet hier nicht das im Verlauf der
Begriffsgeschichte assimilierte Vokabular (so hätte er zum Beispiel schreiben können: ‘Rembrandts Korrekturen lassen die ihm eigentümliche künstlerische Art erkennen’). Von Eigentum spricht er vielmehr mit dezidiertem Verweis auf die juristische Herkunft dieser Vokabel.
Das Adverb „gewissermaßen“ verdeutlicht dabei die metaphorische Verwendung. Die ‘Eigentümlichkeit’ der Rembrandtschen Werke bleibt nicht auf die ästhetische Erscheinung der
überarbeiteten Bilder begrenzt, sie wird ins Juristisch-Materielle ausgeweitet. Durch die Korrekturen werden die Arbeiten der Schüler „gewissermassen zu seinem Eigenthum umgeschaffen“. Sie gehören nun Rembrandt. Für den Marktwert wie für den musealen Kultwert der Bilder bedeutet Bodes argumentative Lösung des Problems eine spürbare Wertsteigerung.
An diesem Beispiel kann gezeigt werden, daß die ‘kennerschaftliche‘ Kunstgeschichte, die
wissenschaftlich legitimierte Gutachten erstellt, nicht allein im Bezug auf das Kunstsystem,
sondern wesentlich im Hinblick auf ihre Leistung für das Wirtschaftssystem verstanden werden muß. Mit dem Hinweis auf diesen Zusammenhang verändert sich die Perspektive auf einen zentralen Zweig kunsthistorischer Praxis.
2.3.7 Zuschreibungspraxis: Von der Authentizität der Werke zur Autorität des
Künstlers
Die Authentizitätsthematik bildet seit Ende des 19. Jahrhunderts einen zentralen Bestandteil
der Rembrandtliteratur. Wie bei kaum einem anderen Künstler haben spektakuläre Abschreibungen und Zuschreibungen das Interesse der Öffentlichkeit auf sich gezogen, so daß die
Diskussion um Werke Rembrandts insgesamt zum Inbegriff kunstgeschichtlicher Echtheitsdebatten avanciert ist. Zu dieser Position hat sicherlich auch die Quantität der Variationen beigetragen: Der Korpus eigenhändiger Gemälde, der um 1850 auf etwa 300 geschätzt wurde,
wuchs mit Bodes Katalog von 1879-1905 auf 595, mit Hofstede de Groots Verzeichnis (1915)
sogar auf 988 Werke an. Seither setzte ein kontinuierlicher Prozeß von Abschreibungen ein,
der das Volumen über 609 (Bredius 1935), 562 (Bauch 1966), 419 (Gerson 1968) und 349
221
(Schwartz 1984) auf ca. 300 Stück reduziert hat - wobei es sich freilich nicht um die selben
300 Gemälde handelt wie 150 Jahre zuvor.206
Zuschreibungsstreitigkeiten um die Gemälde Rembrandts gewinnen erst im letzten Viertel des
19. Jahrhunderts an Bedeutung, sie sind also als Parallelphänomene zur Popularisierung des
Künstlers, zu seiner Stilisierung zum Prototyp autonomen Künstlertums und zur Etablierung
des kunstgeschichtlichen Fachdiskurses anzusehen.207 Eine wichtige Rolle spielen dabei die
wachsende Konkurrenz unter Sammlern und der steigende Marktwert der Bilder. Diese Behauptung kann durch die Beobachtung gestützt werden, daß in den vorangehenden Jahrhunderten weniger die Gemälde als die Radierungen Rembrandts Gegenstand von Echtheitsdebatten gewesen sind.208
Neue Zuschreibungsdebatten nehmen ihren Ausgang entweder von der Anzweiflung einzelner
Gemälde oder von den Versuchen der Festschreibung des Gesamtkorpus in Werkkatalogen.
Auch deshalb wird die Thematik um 1900, mit Bodes Gesamtverzeichnis, virulent und stellt
von diesem Moment an einen wesentlichen Streitpunkt der konkurrierenden Experten dar. Die
206
Zu den Zahlen vgl. Bruin 1995, 184. Die jüngste Stückzahl ist geschätzt und bezieht sich auf die bisherigen
Publikationen des Rembrandt Research Projects. Schwartz hat darauf hingewiesen, daß der Kern der Werke stets
gleich geblieben sei und damit auch diejenigen Werke, denen zentrale Bedeutung für das Verständnis der
Künstlerpersönlichkeit Rembrandts zukäme, kaum umstritten gewesen wären (Schwartz 1978). Dies trifft allerdings nur bedingt zu. Denn mit dem Mann mit dem Goldhelm (Berlin) oder dem frühen Selbstbildnis mit Barett
(Den Haag) wurden auch vormalige Hauptwerke abgeschrieben. Zudem ist die Frage der bloßen Quantität des
Gesamtwerkes nicht ohne Belang für das Bild vom Künstler gewesen, wird sie doch als Beweis für seine Tugendhaftigkeit herangezogen: „Der hervorstechendste Zug im Wesen Rembrandts war eine unverwüstliche Arbeitslust; sein ganzes Leben hindurch, in guten und in bösen Tagen, hat er mit unermüdlichem Fleiß gearbeitet.
So ist es möglich geworden, daß er mehr als fünfhundert Gemälde hinterlassen hat (...).“ (Knackfuß 14 1921, 16).
207
Der Zusammenhang zwischen den Authentizitätsdebatten und der Entwicklung einer fachwissenschaftlichen
Kompetenz läßt sich gut am Beispiel des Holbein-Streits von 1872 nachvollziehen ( dazu Dilly 1979, 161 ff.;
Beyrodt 1982, 347 ff.).
208
Vor der Erfindung moderner Reproduktionstechniken nahm die Reproduktionsgraphik in Sammlerkreisen
einen hohen Stellenwert ein, zumal sich hier aufgrund der Zahl der Originale ein breiterer und lebendigerer
Markt etablieren konnte. In den älteren Verzeichnissen der Graphiken Rembrandts, die ja selbst von Sammlern
und für den Gebrauch durch Sammler publiziert wurden, finden sich hinreichend Beispiele für diese Echtheitsdiskussion. Schon bei Gersaint (1751) gibt es eine Abteilung der „Pieces douteuses, ou faussement attribuées à
Rembrandt“. Tomas Wilson druckt in seinem descriptive catalogue of the prints of Rembrandt (1836) eine Tabelle ab, die 30 Graphiken abschreibt. Wilson führt ihre Katalognummern bei Gersaint, D’Yver, Bartsch und De
Claussin an und versieht sie mit Kommentaren wie: „Does not exist“, „By Ferdinand Bol“, „A repetition“ oder
„Not by Rembrandt“. Karl Woermann weist 1911 auf die Schwankungen zwischen den Radierungs-Katalogen
hin: „Bartsch zählt 375, Legros höchstens 113, Singer höchstens 236, Michel und Seidlitz (...) an 270 Blätter.“
(Woermann 1911, 382). Vgl. auch Nagler 1843, 9; Springer 1886, 181; Singer 1906.
222
Vorstellung von Kennerschaft in Sachen Rembrandt bleibt dabei bis heute an das Problem der
Kompetenz in Zuschreibungsfragen gebunden.209
Über weite Strecken des 19. Jahrhunderts erfüllten im Bereich der Gemälde die Signaturen
die Funktion von Authentizitätsbelegen (Boomgaard 1995, 66 f.). Eben diese Vorstellung geht
im Übergang zur Zuschreibungsdiskussion verloren. An ihre Stelle tritt eine Anzahl von Kriterien, die ich nun im Rückgriff auf Michel Foucaults theoretische Reflexionen über die Genese von Autorfiguren systematisch aufschlüsseln möchte.
Foucault hat in seinem Aufsatz Was ist ein Autor? (zuerst 1969) die Regeln der ‘Autor-Konstruktion‘ in der literaturwissenschaftlichen Praxis nachzuzeichnen versucht. Dabei beschrieb
er die über verschiedene Epochen hinweg etablierten Verfahren, mittels derer „die Form Autor“ aus den Werken herauspräpariert wurde, als Fortführung der Art und Weise, in der „die
christliche Tradition Texte beglaubigte (oder verwarf), über die sie verfügte“:
„(...) um den Autor im Werk „aufzufinden“, verwendet die moderne Kritik Schemata, die der
christlichen Exegese sehr nahe stehen, wenn diese den Wert eines Textes durch die Heiligkeit des
Autors beweisen wollte.“ (Foucault 1993, 20)
Foucault illustriert diese These, indem er die Methoden vorstellt, die der heilige Hieronymus
in De Viris illustribus zur Identifikation der Autoren unterschiedlicher Werke formuliert.
Hieronymus beschäftigt die Frage, wie man der Unsicherheit überlieferter Autornamen entgegentreten und Gewißheit über die Identität eines Autors gewinnen könne, die ja, in der christlichen Konzeption der ‘Autorität‘ (der ‘auctoritas‘)210 des ‘Autors‘, die Grundlage für die kanonische Gültigkeit der im Text getroffenen Aussagen bildet. Um die Zugehörigkeit eines
Textes zum Werk-Korpus eines Autors bestimmen zu können, führt der heilige Hieronymus
vier Kriterien an:
„Wenn unter mehreren Büchern, die man einem Autor zuschreibt, eines schlechter als die anderen
ist, so muß man es aus dem Katalog seiner Werke streichen (der Autor wird demnach als bestimmtes konstantes Wertniveau definiert), auch wenn bestimmte Texte der Meinung der anderen
Werke eines Autors widersprechen (dann wird der Autor als Feld eines begrifflichen und theoretischen Zusammenhangs definiert); auch die Werke müssen ausgeschlossen werden, die in einem
anderen Stil geschrieben sind, mit Worten und Wendungen, die man gewöhnlich nicht bei diesem
Autor findet (das ist der Autor als stilistische Einheit), schließlich müssen die Texte als falsch angesehen werden, die sich auf Ereignisse und Personen beziehen, die erst nach dem Tod des Autors
209
Vgl. hierzu die kritischen Überlegungen Bruins (1995).
210
Zur Begriffsgeschichte vgl. Werber/Stöckmann 1997, 235.
223
kommen (dann ist der Autor ein bestimmter geschichtlicher Augenblick und Schnittpunkt einer
Reihe von Ereignissen).“ (Foucault 1993, 21)
Wir können diese „vier Authentizitätskriterien des heiligen Hieronymus“ mit einigen Modifikationen auch auf unser Problem übertragen, auf die Regeln, nach denen das Gesamtwerk
eines Künstler-Autors bestimmt wird und auf die Anforderungen, denen ein einzelnes Werk
genügen muß, um diesem Werkkorpus angehören zu können. In diesem Sinne umformuliert
betreffen diese Kriterien die Einheitlichkeit (1) der Qualität (Konstantes Wertniveau), (2) der
Bedeutungen (Inhalt, Semantik), (3) der Ausführung (Stil, Syntax) und (4) des Zeitpunktes
der Werkentstehung.
Der Rahmen dieser vier Kriterien ist durchaus geeignet, die Zuschreibungspraxis zu umreißen, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine zentrale Position im Fachdiskurs
akademischer und musealer Kunstgeschichte einnimmt. Bei der Aufzählung der entsprechenden kunstgeschichtlichen Verfahrensweisen erscheint es jedoch sinnvoll, die Reihenfolge des
heiligen Hieronymus umzukehren, denn in dieser Richtung ließe sich die Staffelung der Kriterien als eine qualitative Abstufung beschreiben, die von formalen zu inhaltlichen Fragen fortschreitet. Zudem ist festzustellen, daß sich trotz prinzipieller Übereinstimmung der von
Foucault dargelegten Regeln mit der Praxis kunstgeschichtlicher Urheberbestimmung einige
Unterschiede ergeben, die im wesentlichen aus der medialen Differenz der behandelten Artefakte resultieren. Eine ausführlichere Darlegung mag auch diese Unterschiede, sie betreffen
das zweite und dritte Kriterium, veranschaulichen.
Wie also stellt sich die Anwendung dieser Authentizitätskriterien in der kunstgeschichtlichen
Debatte um die Bestimmung des Werkkorpus eines Künstlers dar?
(1) Die Datierung der fraglichen Einzelwerke bildet wohl das gröbste, grundlegende Ausschlußkriterium bei der Eingrenzung eines solchen Korpus. Sie kann mit dem vierten Kriterium des Hieronymus, der Begrenzung durch einen historischen Augenblick, gleichgesetzt
werden. Die Datierung erfolgt durch die Beachtung entsprechender Signaturen,211 durch
Werkvergleich, durch das Studium sekundärer Quellen (Aufträge, Rechnungen, Briefe etc.)
sowie durch die Erforschung einer Provenienz, die sich im Idealfall bis in die Zeit (und an den
Ort) des Künstlers zurückverfolgen lassen sollte.212 Diese Verfahren sind im Laufe des 20.
211
Bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts galten Signaturen noch als nahezu sakrosankte Belege der Au-
thentizität. Dieser Glaube macht um 1900 der Stilkritik, der Analyse des Pinselstrichs sowie der Verwendung
fotografischer Untersuchungsmethoden Platz. Boomgaard vergleicht diese Entwicklung mit gleichzeitigen Veränderungen in der kriminalistischen Täteridentifikation (Fotoporträt, Fingerabdruck; Boomgaard 1995, 121).
212
Hier werden Namen der Vorbesitzer eines Bildes, Orte seiner Aufbewahrung und Ausstellung, Kaufverträge,
Schenkungen bzw. das Auftreten der Werke im Kunsthandel, etwa in den Katalogen von Auktionen, vermerkt
224
Jahrhunderts durch naturwissenschaftliche Untersuchungen ergänzt worden, die etwa das Alter des Holzes bestimmen oder über einen Vergleich der Leinwandstruktur des fraglichen
Gemäldes mit jener eines möglichst zweifelsfrei datierten anderen Gemäldes ein entsprechendes Indiz zu gewinnen versuchen.
Ein Beispiel für die Argumentation mit diesem Kriterium bietet die Debatte um das Selbstbildnis mit Barett (RS 76), das kurz nach seinem überraschenden Auftauchen aus einer Privatsammlung im Jahr 1961 durch die Staatsgalerie Stuttgart angekauft wurde. Dieses Bild war
das erste des Rembrandt-Umfeldes, bei dem der Verdacht, es handle sich um eine spätere
Nachahmung, durch technische Untersuchungen ausgeräumt wurde. Der vierte Band des Verzeichnisses der Gemälde, erstellt vom Rembrandt Research Project (RRP), wird es, unter
Vorbehalt, als Selbstbildnis Rembrandts bewerten. 213
Kopien oder Fälschungen des 18. oder des 19. Jahrhunderts haben in der Rembrandtliteratur
wenig Schlagzeilen gemacht. Im Zentrum der Zuschreibungsdiskussion steht hier vielmehr
die Händescheidung zwischen dem Meister und seiner Werkstatt,214 die zum Beispiel auch
den Hauptgegenstand des Rembrandt Research Projects bilden. Nicht die Abgrenzung der
‘Fälschungen‘ von den ‘Originalen‘ wird hier also praktiziert, sondern die Grenzziehung innerhalb eines Feldes von ‘Originalen‘. Die dabei gewonnenen Bereiche werden dann, mittels
mehr oder weniger schlüssiger Argumentationen, mit Namen aus dem Umfeld Rembrandts,
seiner Schüler und Kollegen, identifiziert. Bereits um 1900, als der Umfang des Rembrandt
zugeschriebenen Werkkorpus sprunghaft anstieg,215 betrafen die Neuzuschreibungen übrigens
nur selten völlig unbekannte Gemälde, die gleichsam aus dem Nichts auftauchten. Die Regel
war vielmehr das vermeintliche Schülerwerk oder das Werk eines Unbekannten, das dann
unter den Augen eines international renommierten Kenners wie Bode, Bredius oder Hofstede
de Groot zum ‘Rembrandt‘ avancierte (Schwartz 1978, 103). Wir sehen also, daß in der Zuschreibungsdebatte um Rembrandt mit der ‘gesicherten Datierung‘ eines Werkes ins 17. Jahrhundert die eigentlichen Probleme erst beginnen.
(als Beispiel für diese geläufige Praxis vgl. De Vries/Tóth-Ubbens/Froentjes 1978).
213
Vgl. White/Buvelot 1999, 207. In ähnlicher Weise ist das Selbstbildnis mit Barett aus Aix-en-Provence erneut
in den Korpus der eigenhändigen Originale eingetreten. Gerson hatte es 1969 als eine spätere Nachahmung abgelehnt. Die technische Untersuchung des Holzgrundes legte jedoch eine Datierung ins 17. Jahrhundert nahe.
Dies war der erste Schritt zur Wiederzuschreibung (vgl. White/Buvelot 1999, 206).
214
Dieser Titel der letzten großen Rembrandt-Ausstellung (Amsterdam/Berlin/London 1991) zeigt seinerseits die
bleibende Orientierung der Rembrandtforschung auf die Abgrenzung des Meisters von seiner Werkstatt an. Es
ließen sich andere, nur wenig variierte Titel denken (z.B. Die Werkstatt des Meisters), in denen diese Tendenz
zur Individualisierung eines Meisters über die Eingrenzung seines Werkes zurückgenommen worden wäre.
215
Vgl. die tabellarische Übersicht bei Bruin (1995, 184), vgl. auch Schwartz 1978.
225
(2) Der nächste Schritt zur Eingrenzung der Identität eines Künstler-Autors über die Festschreibung seines Gesamtwerks ist der Versuch, ihn als eine Summe technischer Verfahrensweisen zu bestimmen. Hier läßt sich ein Vergleich mit dem dritten Kriterium des Hieronymus
herstellen, welches, bezogen auf die Untersuchung von Texten, Fragen der Syntax bzw. der
sprachlichen Stilistik betrifft. Die kunstgeschichtliche Technik-Diskussion richtet sich auf alle
materiellen Aspekte des Aufbaus eines Gemäldes beziehungsweise der Ausführung einer graphischen Arbeit. Ein Künstler wird dabei mit einer Art der Grundierung, des Schichtenaufbaus, der Vorzeichnung, der Farbmischung, des Farbauftrags etc. identifiziert, wobei diese
Kennzeichen im Laufe des jeweiligen Künstlerlebens Veränderungen unterworfen sein können. Auch in diesem Bereich konnte sich die Analytik seit der Jahrhundertwende durch technische Verfahren (z.B. Röntgen- und Infrarotuntersuchung) den Anschein einer Qualitätssteigerung geben und so den Eindruck einer Präzisierung und Objektivierung der Urteile über
Zuschreibungsfragen vermitteln.
Greifen wir als Beispiel erneut auf die Selbstbildnisse zurück, diesmal auf eine langanhaltende Debatte über ‘Original‘ und ‘Kopie‘ zweier Werke von großer Ähnlichkeit: der frühen
Bildnisse Rembrandts mit Halsberge, die sich in Den Haag und in Nürnberg befinden. Seit
Beginn des 20. Jahrhundert bestand weitgehende Übereinstimmung in der Ansicht, das Den
Haager Bildnis sei als eigenhändige Arbeit Rembrandts anzusehen, während man in dem
Nürnberger Bild eine Schülerkopie zu sehen habe. Diese Einschätzung gründete auf einem
Qualitätsurteil (s.u.). Die zuerst von Claus Grimm (1991) vorgetragene Umkehrung dieser
Zuschreibungen wurde durch die Ausrichter der Den Haager Rembrandt-Ausstellung (1999)
bestätigt. Die Argumentation stützt sich dabei ausschließlich auf das Kriterium der Identifikation des Künstlers mit einer Summe technischer ‘Eigentümlichkeiten‘, die man in den letzten
Jahrzehnten aus der Analyse als gesichert geltender Gemälde herausgefiltert hat und nunmehr
als Ausschlußkriterium für Zuschreibungen einsetzt. So hat z.B. eine Untersuchung mittels
Infrarotreflektographie (IRR) beim Den Haager Gemälde eine Vorzeichnung sichtbar gemacht, die als Indiz zur Abschreibung dieses Bildes herangezogen wird:
„Eine ähnliche vorbereitende Skizze, ausgeführt auf der Grundierung, bevor mit dem Malen begonnen wurde, ist bislang in noch keinem einzigen Werk Rembrandts angetroffen worden (...).“
(Buijsen 1999, 112)
Zur Sicherung der Zuschreibung des Nürnberger Porträts kommen dann die Beschreibungen
des Farbauftrags und des Pinselstrichs zum Zuge, die mit der Ausführung unbestrittener Bilder verglichen werden:
„Auf der Nürnberger Tafel ist das Gesicht mit zügigen und pastosen Pinselstrichen in verschiedenen Richtungen gemalt worden. Vor allem in den hellen Partien kann man gut sehen, wie der Maler
226
den Pinsel gedreht hat, als ob er Mühe hatte, die Farbe herauszubekommen. Eine vergleichbare Arbeitsweise trifft man in Rembrandts Selbstbildnissen in Amsterdam und München an.“ (Buijsen
1999, 113)
Die technische Ausführung beider Gemälde wird so, unter Angabe zahlreicher Details, in der
Absicht beschrieben, eine Unterscheidung zu treffen, eine Grenze zu ziehen zwischen jenen
Praktiken, die man dann mit dem Namen Rembrandt verbindet und solchen, die man von diesem Namen distanziert. Es ist bezeichnend, daß es in derartigen Bildanalysen in der Regel
zunächst um die Frage ‘Rembrandt/Nicht-Rembrandt‘ geht und erst in einem zweiten Schritt
mögliche Namen für eine Neuzuschreibung diskutiert werden. Diese erste Grenze ist elementar. Jedes weitere Bild aus dem Umfeld Rembrandts, das nach diesem Verfahren beurteilt
wird, bringt eine Wiederholung, Schärfung und gegebenenfalls eine kritische Überprüfung der
Abgrenzungskriterien und trägt somit nicht nur zur jeweiligen Ab- oder Zuschreibung bei,
sondern läßt die imaginäre Vorstellung von ‘Rembrandt‘ vor dem Horizont von ‘Nicht-Rembrandt‘ deutlicher hervortreten. 216
(3) Während dieses Urteilskriterium sich auf Details der materiellen Ausführung konzentriert,
richtet sich ein weiteres auf die ästhetische Erscheinung des Einzelwerkes oder seiner Teilbereiche. Es ist dabei also nicht mehr von der technischen Durchführung, sondern von den verschiedenen Wirkungs- und Bedeutungsebenen des Werkes die Rede. Hier tut sich ein breites
Feld kunsthistorischer Werkbeschreibung auf. So können unter anderem das Bildmotiv und
dessen Auffassung, die Komposition und die Farbpalette, die Lichtbehandlung, die Charakteristik der Figuren oder die Raumauffassung behandelt werden. Anders formuliert: In diesem
Schritt wird beschrieben (a) was auf den jeweiligen Einzelwerken dargestellt ist, (b) mit welchen ästhetischen Mitteln es dargestellt ist, (c) wie die Darstellung auf den Betrachter wirkt
und (d) wie der jeweilige Interpret den geistigen Gehalt, den über die formalen Beschreibung
hinausgehenden ‘Inhalt‘ dieser Darstellung bewertet. Ich setzte dieses facettenreiche Kriterium an die Stelle des zweiten Kriteriums des Hieronymus, das Foucault auf die Herstellung
eines inhaltlichen („begrifflichen und theoretischen“) Zusammenhangs zugespitzt hat. Dies
erscheint mir gerechtfertigt, da in beiden Fällen die Vorstellung vom Künstler-Autor als einer
semantischen Einheit ausschlaggebend ist.
216
Diese Darstellungen sollten nicht als Beiträge zur Zuschreibungsdiskussion mißverstanden werden. Es
interessiert hier weder die Anzweiflung in der Literatur gefällter noch die Abgabe eigener Urteile. Vielmehr geht
es ausschließlich um die Beschreibung der Kriterien, mittels derer ein Korpus der Werke eines Künstlers
bestimmt und damit auch die entscheidende Quelle zur Persönlichkeit dieses ‘Autors‘ festgeschrieben wird.
Weniger einzelne Zuschreibungen als der unverändert große Stellenwert der Urheberfrage und damit die
fortgesetzte Individualisierung ‘Rembrandts‘ bilden für mich das Kuriosum dieser Debatte.
227
Wie im vorausgegangenen Kriterium (Der Künstler als technische Einheit) wird auch in diesem Fall der Vergleich eines zu befragenden Einzelwerkes mit jenem unbestrittenen Werkkorpus durchgeführt, dessen einzelne Bestandteile als Beispiele für den ‘typischen Rembrandt‘ geltend gemacht werden. Der Grad der Verwandtschaft mit diesen kanonischen Bildern und den aus ihnen entwickelten relativen Gesetzmäßigkeiten Rembrandtscher Kunst bestimmt die Chancen einer Zu- oder Abschreibung.
Überzeugt von der kanonischen Richtigkeit seines Rembrandtbildes zeigte sich zum Beispiel
Alfred von Wurzbach, als er 1876 in der Zeitschrift für bildende Kunst den Neuzuschreibungen seines jungen Kollegen Wilhelm Bode entgegentrat. Bode hatte zwei Bildnisse, in Kassel
und Gotha beheimatet, als frühe ‘Studienköpfe Rembrandts nach sich selbst‘ bezeichnet. Mit
dreifach spitzfindigem Hinweis auf die Jugend Bodes, die fraglichen ‘Jugendwerke‘ Rembrandts und den dominierenden Farbton dieser Bilder, glaubte Wurzbach die Zuschreibung
mit dem Kommentar ablehnen zu können, hier handle es sich um die „grünen Rembrandt‘s
des Dr. Bode“ (Wurzbach 1876). Wilhelm Bode hatte seinerseits drei Argumente für seine
Zuschreibung angeführt: die Ähnlichkeit des Dargestellten mit anderen Selbstbildnissen
Rembrandts, die Signatur des Meisters und die Verwandtschaft des hier behandelten ‘Problems‘ mit den typischen Werken des älteren Rembrandt. 1870 schrieb er zu den beiden Bildnissen:
„Sie stellen offenbar den jugendlichen Künstler selbst vor, - Köpfe in kleinem Format, ausschließlich zum Zwecke des Studiums angefertigt. Roh in der Zeichnung, grell im Licht und schwarz in
den Schatten, machen sie einen wenig erfreulichen Eindruck, aber um so interessanter sind sie uns
dadurch, daß sie uns den Meister bereits lebhaft mit dem Problem einer einheitlichen Beleuchtung
beschäftigt zeigen (...).“ (Bode 1870, 175)
Bode konstatiert eine gewisse Unfertigkeit, sieht in den Bildern jedoch bereits die Affinität zu
den anerkannten Stilmerkmalen Rembrandts. Seine Bewertung, die ihre Plausibilität nicht
zuletzt durch eine stilistische Unterscheidung von Früh-, Haupt- und Spätwerk entwickelt,
setzte sich durch. Als er 1883 die Kollegenschelte zurückgab, konnte er gleichzeitig die Erweiterung des bisherigen Kanons ‘augenscheinlicher‘ Charakteristik Rembrandtscher Werke
feststellen:
„(...) auch ein Specialforscher der neuesten Zeit ist diesen Werken gegenüber so eingenommen gewesen, daß er mich persönlich zu verspotten meinte, indem er eine Anzahl solcher Werke, die ich
gelegentlich zusammengestellt hatte, als ‘die grünen Rembrandt’s des Dr. Bode‘ bezeichnete und
wider Willen damit eine zwar banale, aber äußerlich sehr in die Augen fallende Charakteristik derselben gab.“ (Bode 1883, 361)
228
(4) Spielt in diesem Kriterium die Auslegung des Artefakts durch einen Interpreten bereits
eine bedeutende Rolle, so gewinnt diese im letzten der möglichen Verfahrensschritte eine
absolute Macht. Es ist das Kriterium, das den Autor-Künstler als ein konstantes Qualitätsniveau bestimmt. Die ideale Formel dafür kann aus Alfred von Wurzbachs summarischem Urteil über Rembrandts Werk zitiert werden :
„Aber was immer Rembrandt geschaffen hat, ist ausserordentlich in seiner Art. Er hat nichts Mittelmässiges produziert, weil sein auf das Höchste ausgebildeter künstlerischer Sinn, jede ungenügende Leistung, wenn sein unvergleichliches Darstellungsvermögen wirklich eine solche hervorgebracht hätte, sofort wieder vernichtet haben würde. Ein schlechter Strich, eine unwahre Farbe, waren für ihn, was ein Misston für ein musikalisches Ohr ist, etwas unerträgliches und unmögliches.“
(Wurzbach 1886, 15)
Wie aber wird ermittelt, ob ein Einzelwerk die Ansprüche dieses Qualitätsniveaus erfüllt. Rationale Momente sind hier nicht mehr angebbar. Das Qualitätskriterium ist kein Kriterium der
Vernunft und der Analysen, sondern eines der Emotionen und der Beschwörungen. Qualität
wird nicht diskutiert, sie gilt nicht als schrittweise erschließbar, sie wird vielmehr schlagartig
und unmittelbar erlebt und dementsprechend auch in den Texten nicht mühsam hergeleitet,
sondern ‘verkündet‘. Als Inbegriff dieses Qualitätsurteils kann die sogenannte ‘Kennerschaft‘
gelten, die primär im 19. Jahrhundert den Kunstgelehrten zugesprochen wurde. Der Begriff
zeigt an, daß die Beglaubigung hier nicht länger aus dem Werk und den daran anschließbaren
Erläuterungen hervorgeht, sondern aus der Autorität des Urteilenden selbst. Je anerkannter der
Gelehrte, um so höher die Legitimität seines Urteils.
In seinen Reisebriefen aus Madrid hat Carl Justi eine treffende Beschreibung kennerschaftlicher Urteilspraxis im Hinblick auf Zuschreibungsfragen hinterlassen. Sie bezieht sich auf
Wilhelm Bode, den Justi 1881 in Madrid kennenlernte und über den er seiner Schwester
schrieb:
„Sein Ehrgeiz ist, bei jedem Bild, vor das er tritt augenblicklich, - wie das Niesen auf die Prise
folgt, - den Namen des Autors zu nennen.“ (zit. nach Otto 1995, 31) 217
Der Blick des Kenners mag hier und da durch Detailbetrachtungen gestützt und ergänzt werden, aber er zielt doch zuletzt aufs Ganze. Als Kenner gilt, wer Reichtum an Seh-Erfahrungen
217
Bei der Beobachtung von Museumsbesuchern, nicht zuletzt auch in der Selbstbeobachtung, läßt sich immer
wieder feststellen, daß ähnliche Vorgänge zu den alltäglichen Übungen im Umgang mit Kunstwerken zählen. Ob
als Spiel getarnt, als Prahlerei kultiviert oder als Beruf ausgeübt - auch dieses Zuschreibungsritual gilt zuletzt der
Individualisierung des ästhetischen Feldes und führt somit die diskursiven Praxen fort, die Gegenstand meiner
Beschreibung sind.
229
mit einem geschärften Unterscheidungsvermögens zu paaren weiß.218 Der Akt des kennerschaftlichen Urteils erfüllt sich darin, das aus diesen beiden Komponenten gebildete Raster
auf das aktuell betrachtete Bild zur Anwendung zu bringen. Die Präzision, die dabei angestrebt wird, geht aus Justis Vergleich mit dem Niesen nach der Prise hervor. Die spezifische
Qualität des Bildes, in der die Eigentümlichkeit des Urhebers hervortritt, zwingt den Kenner
unweigerlich, den Namen des Autors zu nennen.
Zuschreibung durch derart unmittelbares Qualitätsurteil geht allerdings ein hohes Risiko ein,
denn besonders die rationalistisch ausgerichteten Kriterien der Zeit und der Technik (1 und 2)
bilden wirkungsvolle Gegenspieler. Ein Beispiel dafür liefert Jeroen Boomgaard in seinem
Buch zur Geschichte der niederländischen Kunstgeschichtsschreibung (Boomgaard 1995).
Dort sind auf den Seiten 130-133 einige Gemälde abgebildet, die zum Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge der großen Zuschreibungswelle vorübergehend als ‘Rembrandts‘ galten. In den
Untertiteln entfaltet Boomgaard eine ungewohnt ironische Sprache und unterstützt so den
Eindruck, diese Bilder könnten keinesfalls von Rembrandts Hand stammen, ein Eindruck, der
seine Evidenz aus einer augenscheinlichen ‘Qualitätsdifferenz‘ zur Norm der gesicherten
Gemälden bezieht. Wie problematisch dieses Verfahren ist, zeigt sich an einem Selbstporträt,
das Boomgaard in dieses höhnische ‘Schreckenskabinett‘ eingereiht hat. Das in Aix-en-Provence beheimatete Selbstbildnis mit Barett (RS 75), seit 1969 durch Gerson abgelehnt und in
der Folgezeit zumeist abgeschrieben, wird durch die jüngsten Untersuchungen des Rembrandt
Research Projects wieder als eigenhändiges, allerdings unvollendetes Werk Rembrandt bewertet (White 1999a, 206). Wer auf das Qualitätsurteil setzt, gegen den richtet sich leicht der
dichotomische Stachel des Kunstdiskurses der nur zwei Modi kennt: die Bewunderung oder
das Gelächter.
218
Zur Bedeutung der Erfahrungen vgl. den Stellenwert eines langen und intensiven Umgangs mit dem Werk in
der hermeneutischen Methodik Diltheys und anderer (vgl. Abschnitt 2.1.4 im zweiten Teil dieser Arbeit).
230
3 Ergebnisse des zweiten Teils
3.1 Zusammenfassung
Carl Neumann hat in seiner Rembrandt-Monographie von 1902 eine programmatische Beschreibung der Vorstellung vom Subjekt und seinem Verhältnis zur Gesellschaft formuliert.
Eine Auseinandersetzung mit dieser Passage ist dazu geeignet, in die Zusammenfassung der
Beobachtungen und Ergebnisse dieses zweiten Teils einzuführen:
„Man mag die Macht äußerer Einwirkungen über Bildung und Entfaltung menschlichen Wesens,
man mag gegenüber dem Angeborenen das Gewicht des Erfahrenen und von außen Gekommenen
noch so hoch anschlagen, in den Tiefen menschlicher Natur ist ein Ort, wo diese Eindrücke wie in
einer Sackgasse sich festrennen und auf einen Felsen von Widerstand stoßen. Unbekümmert wie
hinter der Wallmauer einer uneinnehmbaren Zitadelle lebt das Persönlichste, dessen dumpfe Kraft
um so größer ist, je weniger es von ihr weiß. Hier bildet das Ich seine eigene Welt. Je reizbarer und dies ist der Fall des Genius - die Organe für die Sensationen der Außenwelt sind, um so lebhafter ist ihr Reagieren, ein anhaltendes Paktieren, was den Zugang finden kann und was nicht. (...)
In einem Dauerzustand gereizter Auseinandersetzung steht der Genius der Welt gegenüber.“
(Neumann 1902, 333)
Im Hinblick auf die Frage, wieweit Denken und Handeln des einzelnen Menschen von sozialen Faktoren beeinflußt werden, tritt Neumann hier für die Vorstellung von der prinzipiellen
Eigenständigkeit und Eigentümlichkeit des Individuums ein. Im Zentrum dieser Konzeption
steht das Bild des „menschlichen Wesens“ als einer uneinnehmbaren Festung, die durch eine
natürliche Grenze von den Einflüssen der Außenwelt abgeschlossen ist und sowohl die Form
als auch die Intensität aller Kontakte selbst kontrolliert. Neumann läßt keinen Zweifel daran,
daß die Position des Einzelnen zur Gesellschaft eine Frontstellung ist, ein „Dauerzustand
gereizter Auseinandersetzung“. In der Fortsetzung des Zitates veranschaulicht der Kunsthistoriker seine abstrakten Überlegungen am Beispiel der Autonomisierung Rembrandts:
„Den ungeheuren Kampf, den Rembrandt um seine künstlerische Selbständigkeit geführt hat, können wir nur ahnen. (...) Mitten aus dem Schaffen der Kunstgenossen, aus dem Geschmack der Zeit
und des Landes, aus dem Andrängen einer allenthalben siegreichen Weltkultur, aus der Verführung
der italienischen Kunst, (...) ringt sich ein eigentümlicher Geist empor, den nach einer eigenen
Sprache verlangt.“ (Neumann 1902, 333)
Der Prozeß der Subjektivierung Rembrandts, dessen Erfolg hier durch die Verwendung der
Eigentumsbegrifflichkeit signalisiert wird, ist als ein Grenzkonflikt dargestellt: Aus dem „ungeheuren Kampf“ gegen seine Berufskollegen, gegen den zeitgenössischen „Geschmack“,
gegen den „allenthalben siegreichen“ fremdländischen Einfluß, der neben den persönlichen
231
auch die nationalen Differenzen zu verwischen droht, geht das autonome Künstlersubjekt
Rembrandt hervor. Was er in dieser Auseinandersetzung erworben hat, ist eine künstlerische
Stilistik, die Neumann als des Künstlers Eigentum darzustellen bemüht ist:
„Wenn man ihn an die klassischen Vorbilder erinnert, sie ihm als Muster preist, die zur Normalerziehung jedes Künstlers gehören, lehnt er sie ab und erklärt, nur e i n e Lehrmeisterin anzuerkennen, die Natur. (...) Rembrandt sagt Natur, und er meint nichts anderes als sein Recht, unabhängig
von fremder oder naher Kunst eine eigene Sprache zu finden, die seine Organe allein verstehen, die
sie zur Gestaltung bringen wollen, die sie als die einzige natürliche empfinden. Eine Kunstsprache,
in Zeichnung und Komposition, in Licht und Farbe anders als eine schon dagewesene, (...) der
Ausdruck einer gänzlich idealen, persönlichen, Rembrandtischen Welt.“ (Neumann 1902, 333 f.)
Der alte Topos, demzufolge Rembrandt allein die Natur als Lehrmeisterin gelten lasse, erfährt
hier eine neuartige Auslegung. Neumann erklärt daraus die Eigentümlichkeit gleichsam zum
‘Naturrecht‘ des Künstlers. Die „eigene“ Kunstsprache wird zum sinnlich wahrnehmbaren
Ausdruck einer „gänzlich“ „persönlichen“ Welt und damit zum nach außen gewandten Beleg
für die Existenz dieser Welt, die letztlich die Innenwelt des „Ichs“ ist. In dieser Konzeption
fungiert Kunst als Beweis für Existenz, Geschlossenheit, Eigenständigkeit und potentielle
Größe des menschlichen Subjekts. Die Beherrschung der künstlerischen Techniken wird zum
Mittel, das die Entwicklung der „eigenen Sprache“ und damit die Distinktion von der
Umgebung ermöglicht. Und in dieser Fähigkeit zur Unterscheidung „von der übrigen Kunstwelt“ liegt die eigentliche Qualität des Künstlers:
„Je mächtiger und ausgebildeter von Jahr zu Jahr, je vollkommener seine Kunstsprache wird, um so
souveräner gebärden sich die ihrer Treffsicherheit froh gewordenen technischen Ausdrucksmittel.
Diese Kunst akzentuiert sich, unterscheidet sich von dem Nicht-Ich Rembrandts, von der übrigen
Kunstwelt; sie wird auch dafür anerkannt und bewundert. Rembrandts Ruhm in seiner Zeit erreic ht
seinen Gipfel. Er hat in diesen Jahren die Welt bezwungen. Es scheint eine Zauberkraft in ihm zu
sein, die über Wirkungen gebietet, welche anderen verschlossen sind. Wie er nicht müde geworden
ist, sich selbst zu staffieren, zu drapieren, in jede Verwandlung zu zwingen, so besitzt er einen
Zauberstab, der auch die Dinge außer ihm wandelt. Er ist ein Magier, dessen kräftigen Formeln alles sich fügen muß.“ (Neumann 1902, 334)
Aufgrund einer geheimnisvollen Kraft, die außerhalb rational erklärbarer Phänomene liegt
und deren Ursprung im Inneren des Individuums ausgemacht wird, vermag der Künstler die
Bedrohung durch die Außenwelt in ihr Gegenteil zu verkehren. Statt der „Macht äußerer Einwirkungen über Bildung und Entfaltung menschlichen Wesens“ zu unterliegen (ebd., 333),
gelingt es diesem „Magier“ die Welt zu bezwingen und mit seinen „kräftigen Formeln“ alles,
„auch die Dinge außer ihm“, zu wandeln. Aus seiner künstlerischen ‘Eigentümlichkeit‘ ge232
winnt er eine autonome und souveräne Stellung, unangefochten von den Vereinnahmungstendenzen der Außenwelt.
Aus Neumanns Zitaten wird noch einmal deutlich, wie grundlegend die Vorstellung von einer
Frontstellung des Einzelnen zur Gesellschaft für dieses moderne Konzept des Künstlers ist,
wie entschieden dieses Subjekt aus den Verfahren zur Abgrenzung eines Bezirks hervorgeht,
der als ihm ‘eigentümlich‘ beschrieben wird. Diese Strategien der Isolierung des Individuums
von der Gesellschaft und seiner Aufladung mit Eigentümlichkeitswerten, die zusammenfassend als Prozesse der ‘Subjektivierung‘ bezeichnet werden können, stehen meiner Ansicht
nach im Zentrum des diskursiven Feldes, dem diese Analyse galt.
In den drei Kapiteln des zweiten Teils habe ich versucht, die Konturen der diskursiven
Künstlerfigur Rembrandt in der deutschen Kunstliteratur zwischen 1890 und 1950 nachzuzeichnen und dabei detailliert einzelne Topoi herauszuarbeiten, denen wichtige Positionen bei
der Formierung der Vorstellung von Rembrandt als einem Prototyp modernen Künstlertums
zukommt.
Dabei war zu beobachten, daß die Vorstellung von jener Figur, die Gegenstand des Diskurses
ist (mit meinem Begriff: die diskursive Künstlerfigur), auf Basis einer Summe sinnlich wahrnehmbarer Objekte, dem Gesamtwerk, entwickelt wird. Autorität erhält sie durch die Identifikation mit einer historischen Figur, wobei die Dokumente dieser empirischen Existenz jedoch
nur in selektierter und interpretierter Form zur Konstruktion der diskursiven Künstlerfigur
herangezogen werden.
Des weiteren ist die zentrale Bedeutung von vier Konzepten für diese diskursive Künstlerfigur
festzuhalten: (1) die Geschlossenheit, (2) die Harmonie, (3) die Bedeutsamkeit, (4) die Eigentümlichkeit.
(1) Auf verschiedenen Ebenen sind Verfahren der Abgrenzung zu beobachten, die der Vorstellung vom Künstlersubjekt als einer nach außen geschlossenen und aus sich selbst heraus
begründeten (autonomen) Figur zuarbeiten. Als wichtige Grundlage dient dabei die Polarisierung zwischen Individuum und Gesellschaft. Unter den Argumentationen, die der Veranschaulichung dieses Sachverhalts dienen, kann jener von der Befreiung des Kunstschaffens
aus der Abhängigkeit vom Auftraggeber eine besondere Rolle zugewiesen werden.
(2) Innerhalb der Vorstellungen vom Leben und vom Charakter des Künstlers wird nur solchen Elementen Bedeutung zugesprochen, die sich harmonisch in ein sinnstiftendes Künstlerbild einbinden lassen. Brüche, Widersprüche oder offene Fragen, die sich aus Werken oder
233
Archivdokumenten ergeben, werden ausgeschlossen, nivelliert oder in ein leicht variiertes, in
sich jedoch wiederum harmonisiertes Künstlerbild eingebunden.219
(3) Alle Bemühungen um die Vorstellung vom Künstler sind von dem Ziel gekennzeichnet,
der historischen Bedeutung dieser Figur gerecht werden zu wollen. Das Vorhandensein dieser
Bedeutung und damit die außergewöhnliche ‘Größe‘ dieses Individuums erscheint dabei als
gesetzt und dient zugleich zur Legitimierung des Diskurses. All die normativen Aussagen
über ideales Künstler- und Menschentum erfolgen unter dem Vorwand der Würdigung einer
besonders bedeutsamen historischen Person. Der finanzielle Wert der Werke und die ‘Heiligkeit‘ des Künstlerlebens (Armut, Leiden, Verkennung) sind wichtige Elemente der Veranschaulichung dieser Bedeutung.
(4) Im Zentrum der verschiedenen Abgrenzungsrhetoriken, Harmonisierungsstrategien und
Bedeutungszuschreibungen steht die These von der Eigentümlichkeit des Individuums. Veranschaulicht wird sie primär durch den Prozeß der Beschreibung eines authentischen Werkkorpus, der die ‘eigentümlichen‘ Merkmale dieses singulären Subjekts trägt. Gerade die Unabgeschlossenheit dieses Prozesses ist meiner Ansicht nach ein Beleg für die These, daß die
gesellschaftliche Funktion der diskursiven Künstlerfigur in ihrem demonstrativen Charakter
zu suchen ist.
3.2 Hypothesen zur Funktion der diskursiven Künstlerfigur
Diese Untersuchung stellt sich nicht die Aufgabe, eine Erklärung für das Phänomen der diskursiven Figur des modernen, ‘autonomisierten‘ Künstlers zu liefern, sondern jene, dieses
Phänomen am Beispiel der Rembrandtrezeption detailliert zu beschreiben. Dennoch sollen an
dieser Stelle einige der möglichen Erklärungsmodelle vorgestellt werden, die im Anschluß an
verschiedene Positionen geisteswissenschaftlicher Theoriebildung der letzten Jahrzehnte im
Hinblick auf diese Problematik diskutiert werden müßten. Ich konzentriere mich dabei auf
vier Modelle, die ich als (1) die sozialgeschichtliche, (2) die kompensatorische, (3) die geschlechterhegemoniale und (4) die subjektivitätskritische Konzeption bezeichnen möchte.220
219
In einem Aufsatz zur Rezeption des deutschen Regisseurs Detlef Sierck hat Gertrud Koch derartige Strategien
als Bemühungen um eine „finalistische Figur“ bezeichnet (Koch 1988).
220
Weder in der Vollständigkeit der Modelle noch in der Komplexität ihrer Darstellung ist dieser kurze
Abschnitt darauf angelegt, abschließende Aussagen zu liefern. Es erscheint mir lediglich unerläßlich, einige
theoretische Kontexte anzudeuten, in welche die hier dargestellten Probleme eingeordnet werden könnten.
Besonders zwei Positionen bleiben an dieser Stelle unberücksichtigt. Plumpes Vorschlag, in der Eigentümlichkeits-Begrifflichkeit ein Interferenzphänomen des juristischen Diskurses und seines modernen Begriffs des Eigentums zu sehen, habe ich bereits zu Beginn des letzten Kapitels vorgestellt. Ich stimme dieser
Beobachtung zu, ohne jedoch die Erscheinung des modernen Künstlers in ihrer Gesamtheit auf diese monokausale Erklärung zurückführen zu wollen. An dieser Stelle wäre auch ein Erklärungsmodell zu ergänzen, das an die
systemtheoretische Gesellschaftstheorie Niklas Luhmanns anschließt. Interessante Ansätze für ein derartiges
Verständnis des (künstlerischen) Autors finden sich bei Werber/Stöckmann 1997.
234
(1) Ein sozialgeschichtliches Erklärungsmodell sieht die entscheidende Ursache für die Subjektfixierung des modernen Künstlerdiskurses in den veränderten ökonomischen Bedingungen, denen Kunst als berufliche Praxis im Übergang von der feudalistischen zur bürgerlichen
Gesellschaft ausgesetzt ist. Nach der weitgehenden Auflösung zünftischer und mäzenatischer
Strukturen, die zuvor soziale Sicherheit und ästhetische Vorgaben miteinander verbunden
hatten, stehen bildende Künstler demnach seit dem Ende des 18. Jahrhunderts verstärkt in
einer Wettbewerbssituation, die nach einer individuellen Profilierung verlangt. Der in formalen und inhaltlichen ‘Eigentümlichkeiten‘ erbrachte Verweis auf die eigene Originalität fungiert demnach gleichsam als „Waffe im Konkurrenzkampf“.221 Diese theoretische Perspektive
operiert mit einem eindimensionalen Kausalitätsmodell. So führt etwa Wolfgang Ruppert, der
die sozialgeschichtliche Sichtweise seiner ausführlichen Studie Der moderne Künstler (1998)
zugrunde legt, die ‘kulturelle Modernisierung‘ und die ‘Rationalisierung‘ der bürgerlichen
Gesellschaft als Ursachen für die Entwicklung eines auf Subjektivität ausgerichteten ‘Künstlerhabitus‘ an.
„Mit dem Modernisierungsschub der vom Tausch- und Geldverkehr geprägten bürgerlichen Gesellschaft radikalisierte sich auch der Individualisierungsgestus im Künstlerhabitus.“ (Ruppert 1998,
263)
In diesem Modernisierungsschub ist der Künstler zur Selbstbehauptung auf einem weitgehend
freien Kunstmarkt gezwungen. Er distanziert sich dabei von den technischen und organisatorischen Produktionsformen, die diesen Modernisierungsschub in weiten Teilen der Wirtschaft
kennzeichnen und setzt auf Individualität. Ruppert entwickelt aus diesem Modell eine affirmative Definition des ‘modernen Künstlers‘:
„[Wir] definieren den modernen Künstler als ein Individuum, das seine gesteigerte subjektive Empfindung sowie seine Wahrnehmungsfähigkeit in einer individualisierten und authentisch-originellen
ästhetischen Sprachlichkeit auszudrücken versteht. Der moderne Künstler gewinnt seine Arbeitsfähigkeit zur Herstellung von Artefakten sowohl aus einer intuitiven Phantasieproduktion als auch
aus der distanznehmenden Abgrenzung zu der Sphäre der gesellschaftlichen Reproduktion des Lebens und den rationalen Arbeitsweisen der bürgerlichen Gesellschaft.“ (Ruppert 1998, 232 f.)
Der Sozialhistoriker sieht sich in der Lage, rückblickend die Gestalt des ‘modernen Künstlers‘
und die für diese Gestalt entscheidenden gesellschaftlich-historischen Faktoren zu rekonstruieren. Dabei reproduziert Ruppert, wie in dieser emphatischen Beschreibung der Leistung des
künstlerischen Individuums deutlich wird, allerdings wesentliche Codes des Kunstdiskurses
221
Vgl. Plumpe (1990, 19), der auf die Verwendung diese Formel durch Arnold Hauser verweist.
235
der Jahrzehnte um 1900. Die „gesteigerte subjektive Empfindung“ wird hier dem Wesen der
empirischen Künstlerindividuen zugeschrieben und nicht als ein Phänomen der Diskurse, der
Vorstellungen vom subjektivierten Individuum, seiner Fähigkeiten und Eigenarten aufgefaßt.
Die künstlerische Praxis und die „rationalen Arbeitsweisen der bürgerlichen Gesellschaft“
werden nicht als parallel entwickelte Konzepte begriffen, die erst durch die Abgrenzung voneinander Gestalt annehmen können. Dafür bezieht der Wissenschaftler eindeutig Position für
das ‘autonome Subjekt‘, in dessen Verhalten er einen subversiven Akt der Befreiung von den
Zwängen der Vergesellschaftung erblickt. Zitate von AutorInnen wie Carl Neumann oder Lu
Märten werden von Ruppert nicht als zeitgenössische Bestandteile des entsprechenden
Künstlerbildes analysiert, sondern als Vordenker der sozialgeschichtlichen Analyse aufgeboten (ebd., 245 ff.). Schließlich bleibt damit auch der Code zwischen hoher und niedriger
künstlerischer (beziehungsweise ‘kunstgewerblicher‘) Produktion intakt, der ja einen Baustein
in der Topik des heroisch-autonomen, also nicht von Markt, Geld und Aufträgen zu beeinflussenden Künstlers bildet:
„Nicht wenige Maler spezialisierten sich ausschließlich auf Bildwerke mit gut verkäuflichen Bildsujets, die konventionellen Bildvorstellungen genügten. (...) Diese Form eines weitgehenden Verzichts auf die Originalität des Einzelwerkes hatte fließende Übergänge zum Kunstgewerbe. Hie r
wurden ästhetische Objekte in seriellen Arbeitsformen mit rationeller Zeitökonomie für den Markt
hergestellt.“ (Ruppert 1998, 107)
Die Bezeichnung ‘Künstler‘ spricht Ruppert nicht jedem Produzenten „ästhetische[r] Objekte“ zu. In der Tradition der bürgerlichen Kunsthistoriker der von ihm untersuchten Epoche
schließt er jene Maler, die sich einer breiten Nachfrage anpassen, von dieser Kategorie aus.
Damit platziert er sie in einem Bereich des ’Kunstgewerblichen’, den er qualitativ unterhalb
des Refugiums der ’Hochkunst’ verortet. ’Künstler’ kann demnach nur genannt werden, wer
als Maler die Demonstration seiner Subjektivität zum Programm seiner Kunstpraxis erhebt. In
ähnlicher Weise erfährt hier auch der Begriff der ‘Kunst‘ eine Nobilitierung, die dem traditionellen bürgerlichen Wertekanon des 19. Jahrhunderts entspricht. Zu seiner Profilierung und
zur Erhöhung seines Wertes werden dem Begriff ’Kunst’ abwertende Bezeichnungen für weniger ’bedeutende’ Werke zur Seite gestellt, wie „Bildwerke“ und „ästhetische Objekte“. Die
Prinzipien jener bürgerlichen Gesellschaft, die Ruppert zu beschreiben sucht, sind in seiner
Beschreibung unvermindert intakt. Dabei wird meiner Ansicht nach auch deutlich, daß die
Aufwertung des Malers zum Künstler nicht aus eigenständigen sozialen oder ästhetischen
Kategorien hervorgeht, sondern daß es diskursive Vorgaben sind, die derartige wertende Unterscheidungen erst ermöglichen.
236
Über diese konkrete Kritik an einem Beispiel jüngster Forschung hinaus möchte ich darauf
hinweisen, daß sozialhistorische Darstellungen einem Modus folgen, der, kritisch beurteilt,
eine Nähe zur Naturgeschichte aufweist. Sie nähern sich den historischen Phänomenen, hier:
der modernen Kunst und dem modernen Künstler, als gälte es, eine historische Wahrheit aus
den Dokumenten herauszupräparieren. Der Künstler wird als soziales Wesen in seinem Lebensraum nachgezeichnet, Textquellen werden wie Fährten gelesen, Fußspuren, die unbewußte Lebewesen im Boden der Geschichte hinterlassen haben. Die daraus resultierenden
Darstellungen vertreten Überzeugungen, die ich problematisch finde: Überzeugungen von der
unanzweifelbaren Richtigkeit der zugrunde gelegten Kausalität (derzufolge das gesellschaftliche Sein das Bewußtsein bestimmt), von der Möglichkeit einer Rekonstruktion historischer
Welten, von der absoluten Leistungsfähigkeit des geschichtstheoretischen Ausgangsmodells
und schließlich von der Neutralität des eigenen Standpunktes, der selbst nicht als ein historischer reflektiert wird.
(2) Das sozialgeschichtliche Modell erklärt die Rahmenbedingungen modernen Künstlertums
und beschreibt die Existenzweise des Künstlers damit als eine quasi-natürliche, weil aus ihren
historischen Voraussetzungen plausibel darstellbare. Auf dieser Basis, unabhängig davon ob
sie nun einer marxistischen Geschichtsphilosophie folgt oder nicht, ruht ein weiteres Erklärungsmodell, das die Funktion des Künstlers in der modernen Industriegesellschaft zu beschreiben sucht. Dieses Modell sieht in der konkreten Ausformung des modernen Künstlers
als eines autonomen Subjekts eine kompensatorische Gegenbewegung zur Vereinheitlichungs- und Kollektivierungstendenz dieser Gesellschaft. Als Anwendungsbeispiel kann
erneut Wolfgang Ruppert dienen, der den Grund für den ‘Kult der Individualität‘ im modernen Künstlertum wie folgt diskutiert:
„Weshalb wurde dieser ‘geheimnisvolle Boden alles künstlerischen Schaffens‘, die Individualität,
Gegenstand eines Kultes in der bürgerlichen Gesellschaft? Auszugehen ist von einer These: Der
Künstler avancierte in dem Maße zum „Priester“ der Subjektivität und der ungebändigten Phantasie
des Individuums, in dem diese, in der Folge von Rationalisierung und Versachlichung der modernen Lebenswelt, auf spezifische mediale Formen in den Künsten verwiesen wurde.“ (Ruppert 1998,
254)
Ausgehend von einem Kausalitätsschema, in dem die historische Entwicklung der Gesellschaft als Ursache und die jeweilige historische Erscheinung des Menschen als deren Folge
vorzustellen ist, wird hier im modernen Künstler eine kompensatorische Figur gesehen. Sie
entsteht als Reaktion auf die „Rationalisierung und Versachlichung der modernen Lebenswelt“ und dient als Gegenbild zum bürgerlichen Alltagsmenschen. Subjektivität erscheint
dabei als natürlicher Zustand, als dem Menschen wesenseigene Charakteristik, die in einem
237
subjektivitätsfeindlichen modernen Alltag von starken gesellschaftlichen Kräften verdrängt
werde und deshalb im Künstlertum ihren übersteigerten, exemplarischen Ausdruck finden
müsse. Daß erst diese Moderne die ideengeschichtlichen Voraussetzungen für ein derartiges
Subjektivitätskonzept hervorbrachte, daß es sich also dabei seinerseits um ein historisch bedingtes Konzept und nicht um ein Naturgesetz handelt, daß sich die Vorstellung von der
Subjektivität als einem elementaren, entwicklungs- und schutzbedürftigen ‘Eigentum‘ des
Individuums erst gemeinsam mit den modernen Kollektivierungstendenzen entwickelte, bleibt
in dieser Perspektive unberücksichtigt. Das Erklärungsmuster gewinnt seine Plausibilität wiederum aus denselben Codes, die im Analysezeitraum (also in den Jahrzehnten um 1900) den
Ausgangspunkt der Argumentationen bildeten: Einer ‘Mechanisierung‘ und ‘Rationalisierung‘ der Lebens- und Arbeitswelt wird ein organisches und irrationalistisches Menschenbild
entgegengestellt, wobei ersteres als bedrohliche Veränderung eines harmonischen Vorzustandes, letzteres aber als schützenswertes Refugium und als Ausdruck des wahren Seins verstanden wird.
Dieses Erklärungsmodell sieht im modernen Künstler als autonomem und singulärem Subjekt
eine Kompensationsfigur. Die Gründe für deren Entstehung können dabei unterschiedlich
angesetzt werden. Neben der bereits angesprochenen Reaktion auf Prozesse der
wissenschaftlichen Rationalisierung sowie der wirtschaftlichen Kollektivierung kann die
marxistische Entfremdungsthese stehen. Sie geht unter anderem von der Beobachtung der
Arbeitsteilung im industriellen Produktionsprozeß aus, die den selbständigen Charakter der
Handwerksarbeit auflöst und den einzelnen Arbeiter vom Gesamtprozeß der Werkherstellung
sowie vom Werkstück selbst als eines Produktes seiner individuellen Tätigkeit entfremdet
(hier steht erneut Mechanisierung/Zergliederung gegen Organik/Ganzheitlichkeit). Im Gegenbild, dem Künstler, ist der Schaffensprozeß ungeteilt, und die Leistung wird ausdrücklich im
Hinblick auf die im Werk erkennbare Subjektivität bewertet. Diese inhaltliche Füllung des
Kompensationsmodells stützt sich also auf den explizit vorindustriellen Charakter der Produktionsformen des bildenden Künstlers.
Auch eine weitere Argumentation, die Ästhetisierungsthese, geht von Motiven des marxistischen Denkens aus. Zusätzlich zur sozialgeschichtlichen Perspektive basiert sie auf dem geschichtsphilosophischen Schema, das die bürgerliche Gesellschaft als Durchgangsstadium
innerhalb einer determinierten historischen Entwicklung betrachtet.222 Um die herausragende
222
Auf gleicher theoretischer Basis wird noch eine weitere These entwickelt, derzufolge die elitäre Konzeption
der Kunst und des Künstlers (als Personifikation ‘geistigen Adels‘) einen Schutzversuch des Bürgers vor dem
bedrohlichen Anwachsen des Proletariats und seiner sozialen Forderungen darstellt. So schreibt etwa Helmut
Scheuer, Historiker und Biographen habe im späten 19. Jahrhundert die Angst vor der „Verpöbelung der unteren
Schichten“ (Droysen) befallen: „Die Abwehr des Proletariats erfolgt im Namen des Geistes und der Bildung.
Hier behauptet der Bürger sein Recht und setzt dabei die alten bürgerlich-demokratischen Ideale ungeniert als
Sozialbarrieren ein. ‘Geistesaristokratie‘ und ‘Adel der Seele‘ werden nicht als sozialrevolutionärer Anspruch
gegenüber dem Adel erhoben, sondern nun als Mittel der Separierung vom Proletariat eingesetzt. Die traditio-
238
Rolle der Kunst im deutschen Bürgertum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu erklären, werden hier drei historische Ereignisse und ihre Folgen als Ursachen interpretiert: die
gescheiterte bürgerliche Revolution von 1848, die 1871 erfolgte Reichsgründung als Vereinigung ‘von oben‘ sowie die hierarchische Struktur dieses ‘Deutschen Reichs‘, in der die Anhänger republikanischer Ideale wenig Befriedigung finden konnten. In mehreren Stufen, so
verläuft diese Argumentation, wurde der Drang des Bürgertums nach einer Niederschlagung
der aristokratischen Vormachtstellung und der Errichtung einer liberal-republikanischen Ordnung unterdrückt. Aus diesen Mißerfolgen resultierte eine Frustration, die zu einer Umleitung
ursprünglich politischer Impulse in den Bereich des Ästhetischen geführt habe. Die Kompensation der politischen Frustration in der Beschwörung einer ‘geistigen Welt‘ wird dabei zugleich als Mittel der Versöhnung mit der unbefriedigenden Situation beschrieben.
Auf die hier versammelten Argumentationen stützt zum Beispiel Helmut Scheuer seine Erklärung der Konjunktur der literarischen Gattung der Biographie und deren spezifischer Ausformung während des Kaiserreichs - ein Phänomen, das mit seiner Monumentalisierung des Individuums enge Verwandtschaft zu unserem Untersuchungsmaterial aufweist. Scheuer sieht
in den Biographien den Versuch der „Harmonisierung“ zwischen den ursprünglichen politischen Interessen des Bürgertums und der machtpolitischen und sozialen Lage der „realen
Welt“; er spricht vom „Tagtraum vom nicht-entfremdeten Leben und der damit verbundenen
Harmonie, den sich das Bildungsbürgertum in der Welt des schönen Scheins imaginierte“
(Scheuer 1979, 106 f.). Die „historische Figur“ der Biographien - eine Kategorie, der auch die
‘diskursive Künstlerfigur‘ Rembrandt zugezählt werden kann - wird bei Scheuer zum Vehikel
der kompensatorischen ‘Ästhetisierung des Politischen‘. Während „in der realen Welt des 19.
Jahrhunderts (...) die sozial-ökonomische Entwicklung mit Arbeitsteilung, Entfremdung und
Selbstentfremdung auch die soziale Aufsplitterung des Bürgertums voran[trieb]“ hatte Kunst
„demnach die Funktion zu übernehmen, den Schleier zu weben, den das Bildungsbürgertum
über die Realwelt legt“. „Der Überdruß an der Welt erfährt seine Kompensation durch die
Erzeugung einer Welt des schönen Scheins“ (ebd.). Dabei ziele die Imagination historischer
Figuren mit ihrem demonstrativen Charakter idealer Subjektivität auf eine „Versöhnung mit
dem aristokratisch geprägten Staat“ (ebd., 107).
Diese Interpretation fördert eine Vielzahl interessanter Zusammenhänge zutage, denen ich
auch weiterhin Relevanz zuspreche. Widersprechen möchte ich dagegen der Bewertungstendenz, die diesen Darstellungen unterlegt wird. Sie stützt sich auf eine als zwangsläufig und
folgerichtig vorausgesetzte Entwicklungslinie der Gesellschaftsformen, ein geschichtsphilonelle Behauptung der ‘Größe‘ des Künstlers und des Wis senschaftlers, mit der das Bürgertum (...) Front gegen
den Adel (...) gemacht hat, wird ihres revolutionären Gehaltes beraubt und in eine sozial-regressive Funktion
überführt.“ (Scheuer 1979, 104).
239
sophischer Standpunkt, den ich nicht teile. Die mitunter massive ideologische Vorstrukturierung des Beobachtungsrasters führt zudem, neben dem unvermeidbaren ‘blinden Fleck‘ in
Bezug auf den eigenen Betrachtungsstandpunkt, zum Ausschluß verschiedener historischer
Phänomene, die für unseren Zusammenhang nicht vernachlässigt werden sollten.
(3) Ein solches Phänomen wird vom geschlechterhegemonialen Erklärungsmodell angesprochen, wie es zum Beispiel Irit Rogoff in ihrem Aufsatz Er selbst - Konfigurationen von
Männlichkeit und Autorität in der Deutschen Moderne entwickelt.223 Ein theoretischer
Bezugspunkt ist hier Foucaults These von der Konstruktion von Autorschaft als einer mit
Autorität besetzten Diskursposition. Am Beispiel einiger Selbstbildnisse der klassischen
Moderne (Böcklin, Liebermann, Corinth) und der Avantgarde (Kirchner, Immendorff) macht
Rogoff den teils gesellschaftlich zugewiesenen, teils durch Selbstverortung eingenommenen
Standort männlichen Künstlertums aus. Ein spezifisches Kennzeichen dieses Standortes sieht
sie in der „komplexen Dialektik zwischen Marginalität und Zentralität“: Mit der
Marginalisierung des Künstlers, die aus den sozialen Bedingungen seiner Existenz hervorgeht
oder durch das Verhalten des Künstlers selbst offensiv eingefordert wird, ist der Anspruch auf
die Produktion kulturell bedeutender Artefakte (Kunstwerke) verbunden, so daß der
Außenseiter zugleich eine Kernfigur der Gesellschaft darstellt.224
Irit Rogoff führt hier den Nachweis einer „stillschweigenden Verbündung“, in der sich
„Männlichkeit und Kultur (...) gegenseitig als Autorität“ konstruieren (Rogoff 1989, 21). In
der Figur des modernen Künstlers macht Rogoff eine gesellschaftlich privilegierte und exklusiv für Männer reservierte Rolle aus.
Neben den ökonomischen Vorzügen, die männlichen Künstlern durch eine Orientierung an
dieser Rolle zufallen, sieht sie in der demonstrativen und zugleich paradoxen Marginalisierung der Künstlerfigur ein Mittel zur Erhaltung der patriarchalen Vormachtstellung. Denn
diese exemplarische Marginalisierung verdecke andere Formen sozialer Ausgrenzung, mit
denen keine vergleichbare Privilegierung verbunden sei. Der diskursiven Marginalisierung
der männlichen Künstler, die diese letztlich nicht ausschließe, sondern ihnen vielmehr eine
zentrale Stellung im „Unternehmen Kultur“ zuweise, stehe die reale Marginalisierung jener
223
Rogoffs Text ist nur eines der Beispiele neuerer Analysen zum Verhältnis von Autorschaft, Macht und
sozialer Geschlechterdifferenz. Vgl. Hoffmann-Curtius/Wenk 1997, Nochlin 1996 [1971], Pollock 1996,
Salomon 1993, Solomon-Godeau 1991.
224
Im Bezug auf den Künstlertypus des „Bohémien“ entwickeln bereits Kris und Kurz in ihrer affirmativen Beschreibung unterschiedlicher „sozialer Typen“ des bildenden Künstlers ein reizvolles Bild für diese ambivalente
‘topographische‘ Stellung: „Das akademische Schulhaupt steht neben dem revolutionären Neuerer, der Künstler
als Universalgenie oder als Edelmann neben dem Einsamen und Verkannten, und diese Vielfalt sozialer Bildung
geht in das Künstlervolk des 19. Jahrhunderts ein, dem der gefeierte Liebling von Fürst und Land ebenso zugehört wie der Bohémien mit dem Schlapphut, der in Montmartre, Schwabing oder Greenwich Village, an den
Toren der Gemeinschaft, seiner Vorstellung vom Genie nachlebt (...).“ (Kris/Kurz 1934, 16; Hervorh. M.H.).
240
Gruppen entgegen, die nicht der dominanten Norm heterosexuell-männlicher Identität entsprächen. 225 Der männliche Künstler, so ließe sich diese These zuspitzen, besetzt innerhalb
des gesellschaftlich sanktionierten Rollenspektrums das Feld der Marginalisierung. In dieser
Rolle ist der Künstlers wesentlich daran beteiligt, die Problematik tatsächlich marginalisierter
Gruppen zu verbergen und zudem, durch die Behauptung einer dialektischen Verbindung von
Marginalität und Zentralität, das Phänomen der gesellschaftlichen Marginalisierung an sich zu
verharmlosen.
„In dieser Lesart wird deutlich, daß die Moderne das Konstrukt Marginalität geschlechtsspezifisch
differenziert. Gesellschaftliche Marginalität ist für den männlichen Künstler der Avantgarde eine
heroische, kulturell privilegierte Form des Daseins, während die Marginalität des weiblichen
Künstlers oder des Modells, mit allen besonderen historischen Implikationen für Geschlecht und
Sozialität, einen Ausschluß bedeutet aus der großen Unternehmung Kultur.“ (Rogoff 1989, 37)
Mit Blick auf mein Untersuchungsmaterial ließe sich im Anschluß an Rogoff von einem Muster des ‘heroischen Konflikts‘ sprechen, in dem der Künstler einer dialektischen Spannung
ausgesetzt wird: Seiner geistigen Potenz, die im Werk ihren Ausdruck findet, kommt (aus der
Sicht seiner Selbst, aus der Sicht einer späteren Zeit oder aus der Sicht einer Gruppe von Zeitgenossen des Künstlers, die sich mit elitärem Gestus vom gesellschaftlichen Umfeld aus- und
an den Künstler anschließt) eine zentrale Position für die Kultur seiner Gegenwart und eine
richtungsweisende Bedeutung für die Zukunft zu. Allerdings vermag er diese Potenz nur verschlüsselt zum Ausdruck bringen und ist (durch sein eigenes Verhalten oder durch die Ausgrenzungsbestrebungen der Majorität seiner Zeitgenossen) auf eine Rolle als Randexistenz
verwiesen. Wie die vorangegangene Analyse gezeigt hat, ist dieses Muster von zentraler
Bedeutung für das Rembrandtbild des Untersuchungszeitraums.
(4) Die Perspektive, die Rogoffs Modell zugrunde liegt, unterscheidet sich von der eines kompensatorischen Ansatzes wesentlich durch ihre Positivität. Die Figur des Künstlers wird hier
nicht allein als Folge gesellschaftlicher Entwicklungen dargestellt, sondern ausdrücklich als
ein produktives Element verstanden, das in diese Entwicklungen integriert ist und seinerseits
225
Als machtstrategischer Hintergrund fungiert dabei die Vorstellung, daß heterosexuelle Männlichkeit (‘Männlichkeit‘ wird hier ausdrücklich als sozial konstruierte und differenzierte Kategorie verstanden, nicht etwa als
biologisch determiniert) als dominantes Identitätskonzept der bürgerlich-modernen Gesellschaft stetig darum
bemüht ist, ihre zentrale Position in der Kultur zu behaupten. Eine der wichtigsten Erfolgsstrategien dieses Identitätskonzeptes besteht darin, selbst „nicht Gegenstand des Diskurses zu werden“: „Heterosexuelle Männlichkeit
hat sich in die Vorstellung geflüchtet, daß ihre sexuelle Identität absolut sei. Ihre Dominanz und die Ideologien,
die sie tragen, indem sie andere Erfahrungen zum Schweigen bringen, die Machtstrukturen und Privilegien, die
sie verschleiert, die alltägliche aktive Unterordnung aller Formen des ‘Anderen‘ - Frauen, Schwule, sexuelle
Abweichungen und Manierismen, der offene Rassismus kolonialen Erbes - all das wird aufrechterhalten durch
die Fähigkeit, selbst außer Frage zu bleiben (...).“ (Rogoff 1989, 21).
241
eine aktive Position in den Prozessen der Verteilung und Bewahrung von Macht einnimmt.
Mit der Beschreibung dieser Funktion der Figur des autonomen Künstlersubjekts als eines
Faktors männlicher Machtbehauptung ist zudem eine Prämisse in Frage gestellt, die einem
sozialgeschichtlich-kompensatorischen Konzept zumeist unausgesprochen vorangeht: die
affirmative Haltung gegenüber der modernen Idee von Subjektivität als gleichsam natürlicher
Ausführung eines im menschlichen Individuum angelegten Programms. In seiner komplexen
Beschreibung der Machtstrukturen moderner Gesellschaften hat Michel Foucault die Funktion
des Subjektivitätskonzeptes analysiert. Foucault stellt es selbst als einen wesentlichen Inhalt
seiner Arbeit dar, „eine Geschichte der verschiedenen Verfahren zu entwerfen, durch die in
unserer Kultur Menschen zu Subjekten gemacht werden“. Einen Schwerpunkt der damit verbundenen Untersuchungen bilden die sogenannten „Selbsttechniken“, „die Art und Weise, in
der ein Mensch sich selber in ein Subjekt verwandelt“ (Foucault 1994, 243).
„Der Begriff der Technologien des Selbst rückt das Verhältnis des Individuums zu sich selbst in
den Mittelpunkt. Diese Akzentuierung impliziert jedoch keine Neuauflage der Subjektphilosophie,
sondern geht in eine andere Richtung. Sie eröffnet einen völlig neuen Raum von Geschichtlichkeit,
der die Philosophie des Subjekts durch die Geschichte der Subjektivitäten ersetzt.“ (Lemke 1997,
262)
Diese Aussage Thomas Lemkes verweist auf die elementare Umkehrung, die Foucaults Perspektive auf das moderne Konzept des Subjekts kennzeichnet. Im Gegensatz zur Vorstellung
vom selbstbewußten Subjekt als einer im menschlichen Individuum angelegten Essenz, die
seit Descartes‘ „Ich denke, also bin ich“ ihre Erfüllung gefunden habe, beschreibt Foucault
moderne Subjektivität nicht als Umsetzung einer anthropologischen Anlage, sondern als ein
historisch gebundenes Schema des Selbstverständnisses. Was der Subjektphilosophie seit
Descartes als Selbsterkenntnis, als Prozeß der Befreiung des Individuums erschien, versteht
Foucault lediglich als eine veränderte Form der Unterwerfung, in welcher sich die Einflüsse
der Macht im Individuum selbst ansiedeln und zu einer „Selbstregulierung“ in Gestalt der
Subjektivität führen.226
„Diese Form von Macht wird im unmittelbaren Alltagsleben spürbar, welches das Individuum in
Kategorien einteilt, ihm seine Individualität aufprägt, es an seine Identität fesselt, ihm ein Gesetz
der Wahrheit auferlegt, das es anerkennen muß und das andere in ihm anerkennen müssen. Es ist
eine Machtform, die aus Individuen Subjekte macht.“ (Foucault 1994, 246)
226
Peter Bürger und andere haben darauf hingewiesen, daß Foucault das Prinzip der Umkehrung sowie weitere
Aspekte seiner kritischen Subjekttheorie im Anschluß an Nietzsche formuliert (Bürger 2000, 58).
242
Einen Ausgangspunkt für diese Konzeption bildet für Foucault der Hinweis auf die Doppeldeutigkeit des Begriffs „Subjekt“:
„Das Wort Subjekt hat einen zweifachen Sinn: vermittels Kontrolle und Abhängigkeit jemandem
unterworfen sein und durch Bewußtsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet
sein. Beide Bedeutungen unterstellen eine Form von Macht, die einen unterwirft und zu jemandes
Subjekt macht.“ (Foucault 1994, 246 f.)
Die Subjektivierung als Form der Selbstregulierung hat elementaren Anteil am Funktionieren
des modernen Staates, dessen Charakteristikum Foucault darin sieht, daß er „eine zugleich
individualisierende und totalisierende Form der Macht“ darstellt (ebd., 248). „Die ‘Freiheit‘
der Subjekte und die ‘Macht‘ des Staates sind einander nicht äußerlich, sondern konstitutiv
aufeinander bezogen“ (Lemke 1997, 152). In seinen historischen Studien zur „Geschichte der
Sexualität“ macht Foucault als entscheidende Stufe der „Genealogie des modernen Subjekts“
die Entwicklung der Pastoralmacht aus. Diese spezifische Form der Regierung von Individuen, die im Übergang von der antiken zur christlichen Gesellschaft erstmals in Erscheinung
tritt, ist nach Foucault auch im modernen, säkularisierten Staat weiterhin wirksam.227 Im Gegensatz zu früheren Regierungskonzeptionen, ist das christliche Pastorat nicht auf die Lenkung eines Gemeinwesens ausgerichtet, sondern auf die Lenkung von Menschen. Dies kommt
in der Hirtenmetapher zum Ausdruck. „Die Macht des Hirten wird nicht über ein Gebiet oder
eine Stadt, sondern über eine Herde (...) ausgeübt“ (Lemke 1997, 154). Die Aufgabe des
christlichen Hirten-Gottes ist dabei die Errettung der Herde. Dazu ist jedoch eine „dauernde,
individualisierte und zielgerichtete Hut notwendig, eine umfassende Aufsicht über die Gesamtheit der Herde und über jedes einzelne Schaf“ (ebd.). Die Steuerung durch das christliche
Pastorat löst sich dabei vom „konkreten Handeln der Individuen, um in deren Vorfeld auf ihre
Gedanken, Willen, Wünsche, Begierden etc. Einfluß zu nehmen, sie zu korrigieren und zu
steuern“ (ebd., 155):
„Die Besonderheit dieser Macht ist es, dass sie nicht nur die Individuen zwingt, in einer bestimmten Weise zu handeln, sondern ihnen darüber hinaus Wahrheitsakte abverlangt, d.h. sie dazu bringt,
sich zu (er-)kennen, zu entdecken und die Beziehungen zu sich selbst zu strukturieren. Diese
Zwangsbeziehung zu sich selbst in Begriffen der Wahrheit ist das fundamentale Charakteristikum
der Pastoralmacht und definiert eine Regierungstechnologie, die Subjekte mittels der Wahrheit
‘führt‘.“ (Lemke 1997, 294)
227
„Foucaults Regierungsanalyse liegt die Annahme zugrunde, dass die pastoralen Führungstechniken Subjektivierungsformen ausarbeiten, auf denen der moderne Staat und die kapitalistische Gesellschaft historisch aufbauten“ (Lemke 1997, 157).
243
Vermittelt durch die Herrschaftspraxis des Pastorats werden so die Instanzen der Kontrolle
und der Steuerung der Individuen in diese selbst hinein verlagert. Selbstbefragung und Selbsterkenntnis werden damit nicht mehr als Wege zur Befreiung des Subjekts aus der Repression
durch eine ihm äußerliche Macht verstanden, sondern als dezentralisierte Operationen dieser
Macht, durch deren Ausübung sich die Individuen selbst regulieren.
Subjektivität wird „nicht als eine abstrakt-natürliche Konstante, sondern als eine konkrethistorische Konstruktion aufgefasst“ (ebd., 266). Das Subjekt ist damit als eine „historische
Form und das Produkt einer spezifischen Organisation von Subjektivität“ verstanden (ebd.,
267).
„[Die] Historisierung der Subjektivierungsprozesse erlaubt es Foucault, mit jeder Vorstellung einer
souveränen und konstitutiven Subjektivität zu brechen, indem er nicht ein Subjekt-Wesen unterstellt, sondern Subjektivität im Sinne einer Subjekt-Werdung betrachtet. (...) Das Subjekt ist weder
die einzige Form menschlicher Existenz noch die Quelle jeglicher Erfahrung: es gibt ‘keine universelle Form des Subjekts, die man überall wieder finden könnte‘, weil das Subjekt eine Form und
keine Substanz ist.“ (Lemke 1997, 266; Binnenzitat Foucault 1984, 137)
Foucault demonstriert die Konsequenzen dieser theoretischen Position am Beispiel einer Revision der Geschichte der Sexualität. In diesem thematischen Bereich ist eine Repressionshypothese sehr verbreitet, die in den Diskursen um die Sexualität, wie sie in der bürgerlichen
Gesellschaft seit dem viktorianischen Zeitalter zirkulieren, Strategien der Unterdrückung einer natürlichen Sexualität am Werk sieht. Die Befreiung der Sexualität aus diesen Zwängen
wird demnach zu einer politischen Aufgabe, die als Akt der Befreiung des Subjekts aus ihm
äußerlichen Reglementierungen und somit als Schritt des Subjekts auf dem Weg zu sich selbst
zu verstehen wäre. Foucault beschreibt dagegen die Historizität der Vorstellung von einer
natürlichen Sexualität und stellt diese als Element jenes breiten Diskurses um die Sexualität
dar, gegen den sich die Repressionshypothese richtet. Er versteht die Identifikation moderner
Individuen über ihre Sexualität nicht als Verfahren der Ablösung von den Einflüssen der
Macht, sondern sieht darin vielmehr eine komplexe Variante der Ausübung von Pastoralmacht. Indem sich das Subjekt selbst befragt, indem es sich selbst zu erkennen versucht, indem es selbst ein Wissen über seine Sexualität konzipiert, bindet es sich an neue Regeln und
reguliert sich so selbst.
An diese Überlegungen läßt sich die Frage nach der Funktion der diskursiven Künstlerfigur in
der Moderne anschließen. Ausgehend von der These, daß mit dieser Figur ein Modell zur
Veranschaulichung der Vorstellungen von moderner Subjektivität entwickelt wird, erscheint
mir ein Punkt als besonders interessant:
244
Die Literatur zur modernen Künstlerfigur kreist um das Problem der Stellung des Individuums zur Gesellschaft, speziell der Abgrenzung von seiner Umgebung. Zentral ist dabei die
Vorstellung, im praktizierten Künstlertum finde die singuläre Subjektivität des Individuums
ihren Ausdruck. Ähnlich dem Prozeß der Befreiung einer ‘ursprünglichen Sexualität‘ wird
auch dieser Vorgang als eine Ablegung äußerlicher Zwänge verstanden. Ähnlich wie dort
wird auch hier das zu Erreichende als Erfüllung eines Determinismus verstanden. Das Subjekt, hier als eine vorgängige Urgestalt, die ihrer Entdeckung unter den äußeren Formen
gesellschaftlichen Scheins harrt, wird durch die künstlerische Praxis bloßgelegt. Der vermeintliche Akt der Befreiung stellt sich als Zwang zur Subjektivierung dar.
Im Anschluß an Foucault ließe sich die diskursive Figur des modernen Künstlers somit als ein
Demonstrationsobjekt verstehen, das modernen Individuen ein Verständnis für die Prozesse
der Subjektivierung vermittelt und ihnen so Orientierungspunkte zur Konzeption einer Identität bereitstellt, die ihnen ein erfolgreiches und regelgerechtes Agieren in der bürgerlichen
Gesellschaft ermöglicht.
3.3 Autonomes Kunstschaffen und Hermeneutik als Arbeit am Subjekt
Die Entwicklung der modernen Hermeneutik und die Entstehung des ästhetischen Diskurses
im 19. Jahrhundert können in einen direkten Zusammenhang gebracht werden. Für die literaturgeschichtlichen Phänomene, die sich weitgehend analog zu unserem Material verhalten, hat
Christa Karpenstein-Eßbach dies beschrieben. In beiden Fällen, Literatur wie bildender Kunst,
ist um 1800 ein historischer Wandel der Prämissen der Produktion und Rezeption auszumachen. So tritt in der literarischen Praxis „die Rhetorik, deren Regeln zum Auffinden und Darstellen von Wahrheit gelehrt und gelernt werden konnten, hinter der Individualisierung des
Schreibens zurück. Die Verbindung von Gedanken und Ideen ist keine Sache mehr der Einhaltung poetischer oder rhetorischer Regeln, sie wird vielmehr zu einer je persönlichen Angelegenheit, die die Unterscheidung zwischen dem eigenen und dem fremden Gedanken ermöglicht“ (Karpenstein-Eßbach 1985, 171).228 Die Aufgabe der Kunst verändert sich. An die
Stelle der Repräsentation einer Weltordnung, deren Gültigkeit und Bedeutsamkeit durch eine
göttliche Instanz gewährleistet wird, tritt der Ausdruck der künstlerischen Subjektivität.229
Aus dem allgemein verfügbaren Material der Natur (bzw. der Sprache) gestaltet der
228
In der Kunstgeschichte ist der Übergang zu einer Individualisierung der Kunstproduktion mehrfach am Beispiel des Künstlers Asmus Jacob Carstens geschildert worden (vgl. Busch 1982, 13 ff.; Bätschmann 1997, 58 ff.;
vgl. auch Busch 1993).
229
Michel Foucault hat diese Phase der Ablösung der klassischen Repräsentation in Die Ordnung der Dinge ausführlich beschrieben (Foucault 1974). Leider hat sich die kunstgeschichtliche Rezeption dieses Buches bisher auf
die Lektüre seiner Einleitung, einer elaborierten Beschreibung von Velasquez' Die Hoffräulein, konzentriert und
weniger auf die Konsequenzen der von Foucault beschriebenen historischen Veränderungen der Episteme des
Wissens auf die modernen Konzepte der Kunstgeschichtsschreibung.
245
künstlerisch-literarische Urheber nun ein Werk, dessen Eigentumsrechte er beanspruchen
kann und das zugleich einen Beleg für seine Autonomie als schöpferisches Subjekt liefert. Mit
der Unterscheidung zwischen ‘eigenem‘ und ‘fremdem‘ Gedankengut tritt dabei auch das
Problem des ‘Originals‘ auf den Plan. Und eine weitere Praxis wird angesichts des
individuellen Ausdrucks in der Kunst zur Notwendigkeit: die hermeneutische Interpretation.
Wo sich die Subjektivität des schöpferischen Individuums in einer jeweils eigenen Sprache
ausdrückt, reicht es nicht länger aus, überindividuelle Regeln der Poetik und Rhetorik zu
kennen, um zu ‘verstehen‘.
Künstlerischer Praxis bieten sich auf dieser veränderten Basis zwei Möglichkeiten: Entweder
will sich das Subjekt in seiner inneren Sphäre verbergen, oder es unternimmt den Versuch,
diese innere Sphäre durch die Gestaltung einer textuellen Oberfläche zu artikulieren, was jedoch niemals in adäquater Weise, sondern bestenfalls in verschlüsselter Form gelingen kann
(Gumbrecht 1997, 422). Beide Fälle verlangen nach der Interpretation, deren Bemühen es ist,
die Wahrheit über die innere Sphäre des Künstlers aus den Ergebnissen dieser Strategien des
Verbergens oder des Enthüllens herauszufiltern.
„Mit der Möglichkeit, daß nicht verstanden werden kann, beginnt nun das Bemühen um das Verstehen.“ (Karpenstein-Eßbach 1985, 172)
Für unser Problem der Gestalt und Funktion autonomer Künstlersubjekte der Moderne sind
diese Zusammenhänge elementar. Denn als diskursive Figur tritt der moderne Autor (Urheber/Künstler) erst in der methodischen Praxis der Interpretation in Erscheinung, „erst dort,
wo eine individuelle Gedankenverbindung eines Autors als geheime Wahrheit des Textes unterstellt wird, um in der verstehenden Rekonstruktion und der kommentierenden Interpretation
aufgedeckt zu werden“, erst dort erhält das Werk seinen Herrn (ebd.).
In dieser Darstellung der historischen Entstehungszusammenhänge von autonomem Kunstschaffen, Hermeneutik und modernem Urheberrecht wird nochmals deutlich, daß die Vorstellung vom Autor als sekundäres Phänomen aus der Beschreibung und Deutung des Werks
hervorgeht. Das diskursive Erscheinen des Autors führt über das Verständnis von Artefakten
als ‘Werken‘, das heißt als Entäußerungen, die einem Individuum eigentümlich angehören,
die auf dessen Existenz und authentische Charakteristik verweisen und die in einem kongenialen Deutungsprozeß verstanden werden können.
Die Verbindungen innerhalb dieses Feldes, das die Basis für das Auftreten der diskursiven
Figur des modernen Künstlersubjekts (u.a. in der Gestalt Rembrandts) bildet, können nun,
soweit erkennbar, noch einmal nachgezeichnet werden. In der Neuformulierung des ästhetischen Diskurses im Kontext der Romantik (um 1800) kommt der Vorstellung von einer ‘eigentümlichen‘ Gestalt künstlerischer Werke und der darin zum Ausdruck gebrachten Subjek246
tivität ihrer Urheber eine zentrale Position zu.230 Zur gleichen Zeit kann die Entwicklung einer
juristischen Formel der Eigentümlichkeit geistiger und bildkünstlerischer Güter auf Basis des
Naturrechtsprinzips beobachtet werden. Dabei wird der Eigentumsanspruch des ‘Autors‘
durch die Vorstellung legitimiert, daß dieser das ‘Werk‘ mit Hilfe seiner Subjektivität, einer
ihm allein zugehörigen inneren Strukturiertheit, in eine unnachahmliche und deshalb auch
juristisch ‘eigentümliche‘ Form brächte.
Um dieses Konzepts von Eigentümlichkeit entfaltet sich, zum Teil sicher zu dessen Plausibilisierung, ein Diskurs des ‘Verstehens‘ der fraglichen Artefakte. Eine Funktion dieses Diskurses kann in einer fortwährenden Thematisierung von Grenzziehungen gesehen werden: Die
Grenze zwischen dem Individuum und seiner Umwelt entspricht dabei einem konstitutiven
Code der bürgerlichen Gesellschaft, ‘öffentlich vs. privat‘, die Grenzziehung zwischen den
einzelnen Individuen stabilisiert die Vorstellung von der Subjektivität jedes einzelnen Bürgers. Künstler und Autoren, die Subjekte des ästhetischen Diskurses, werden im Zuge hermeneutischer Praxis als diskursive Figuren aus einem nach bestimmten Kriterien selektierten
Korpus von Artefakten herauspräpariert. Ihre Legitimität beziehen diese diskursiven Figuren
aus ihrer Identifikation mit historisch-empirischen Personen; ihre Autorität erhalten sie aus
der ihrerseits in einem diskursiven Prozeß entwickelten Bedeutung des fraglichen Werkkorpus. Letztlich ‘ist‘ dieses Gesamtwerk der diskursive Künstler, wird es doch als sinnlich erfahrbarer und sinnvoll deutbarer Ausdruck von dessen spezifischer Subjektivität verstanden.
Das Werk ist materieller Beleg seiner Existenz. Dank der Produktivität der Hermeneutik des
Subjekts, unter anderem in der kunstwissenschaftlichen Literatur, werden Kunstwerke zu
Objekten, die im Rahmen ritualisierter Betrachtungsprozesse den Individuen der bürgerlichen
Gesellschaft die Vorstellung von ihrer jeweils eigenen Existenz als autonome Subjekte bestätigen helfen.
230
Im Hinblick auf die Ursachen dieses Phänomens konkurrieren verschiedene Modelle. So wird der Impuls zu
den Entwicklungen u.a. in den sozialen Veränderungen in Folge der sich konstituierenden bürgerlichen Industriegesellschaft, in der juristischen Notwendigkeiten neuer Regelungen zwischen Autor und Verleger (bzw.
Bildkünstler, Fotografen und Reproduktionsdrucker) oder in der Notwendigkeit einer Ausdifferenzierung der
Gesellschaft in mehrere autopoietische Systeme zwecks der Bewältigung einer stetig wachsenden Komplexität
gesehen. Für die Beschreibung meines Phänomenzusammenhangs erscheint eine einseitige Lösung dieser Kausalitätsfrage als verzichtbar, weshalb ich der Pragmatik halber von einem polykausalen Hintergrund sprechen
möchte.
247
248
Dritter Teil
Rezeptionsgeschichtliche Fallstudien
249
250
Als ein Ergebnis der bisherigen Untersuchung kann festgehalten werden, daß die Vorstellung
von der Künstlerfigur ihren Ausgang bei den Werken nimmt, die diesem Künstler zugeschrieben werden. Vergleicht man die einzelnen Bestandteile des Gesamtwerks hinsichtlich ihrer
diskursiven Relevanz, so sind allerdings starke Unterschiede auszumachen. Analog zur Veränderung des Künstlerbildes rücken in verschiedenen Phasen der Rezeptionsgeschichte auch
andere Werke in den Blickpunkt, oder es verändern sich die Gesichtspunkte, unter denen
diese Werke betrachtet werden. Um die Frage nach der Künstlerfigur zu vertiefen, erscheint
es deshalb als sinnvoll, sich mit der Rezeption jener Werke zu befassen, denen in einer bestimmten Zeit eine zentrale Bedeutung für das Verständnis des Künstlers zugesprochen
wurde.
Die abschließenden beiden Kapiteln dieser Untersuchung konzentrieren sich deshalb auf die
Nachtwache und auf Rembrandts Selbstbildnisse, ein einzelnes Gemälde und eine Gruppe
bildnerischer Arbeiten, die in der zweiten Phase der modernen Rembrandtrezeption als
Schlüsselwerke verstanden wurden. 1 Es ist zu fragen, wann diese Werke in diese Position
aufrückten und welche Ursachen dafür ausgemacht werden können. Dabei wird sich noch
einmal die methodische Perspektive der Untersuchung verändern. Die Aufmerksamkeit soll in
gleicher Weise Fragen der Topik, Fragen der Chronologie und Fragen der Unterscheidung
von Diskursebenen gelten. Entsprechend können auch drei Ziele dieses dritten Teils ausgemacht werden. Zunächst ist es mir wichtig, wesentliche Beobachtungen des zweiten Teils
noch einmal aus einer anderen Richtung darzustellen und gleichsam zu bündeln. Dann soll die
Entwicklungskomponente, die bisher vor allem im ersten Teil und in der ‘Passage‘ (Zweiter
Teil, Abschnitt 1.4) zur Geltung kam, wieder aufgegriffen und dadurch im Verhältnis zur synchronen Perspektive des vorangegangenen Teils aufgewertet werden. Schließlich möchte ich
weitere Belege für die enge Verflechtung von solchen Texten präsentieren, die in einer
konventionellen Methodik durch strenge Diskursgrenzen voneinander getrennt und so von
einer vergleichenden Analyse ausgeschlossen würden.
Die Auswahl der beiden Themen für diese Fallstudien hat sich im Verlauf der Materialsichtung gleichsam ohne mein Zutun eingestellt. Die folgenden Seiten werden zeigen, daß die
1
Aufgrund der quantitativen Präsenz, die sie in der modernen Rembrandtrezeption einnehmen, wären auch die
religiösen Historien (Hundertguldenblatt, Ecce Homo, Opfer Manoahs, Christus in Emmaus, Der barmherzige
Samariter etc.) als Werkgruppe für eine Fallstudie in Frage gekommen. Es gibt verschiedene Gründe, warum auf
eine Beschäftigung mit dieser Werkgruppe hier verzichtet wird. Zunächst läßt sich an dieser Thematik kaum eine
markante Differenz zwischen moderner und vormoderner Rezeption aufzeigen. Es wäre hier also eher auf Kontinuitäten hinzuweisen gewesen, die mit der Konstanz eines religiösen Zweiges der Rembrandtrezeption verbunden sind. Daneben steht mit der Vielzahl der Einzelwerke, deren literarisches Echo hier diskutiert werden müßte,
ein pragmatisches Problem. Ausschlaggebend ist jedoch die Beobachtung, daß den religiösen Historien keine
hinreichende Funktion für die Vorstellung vom ‘modernen Rembrandt‘ zukommt, der mein besonderes Interesse
gilt.
251
moderne Vorstellung von Rembrandt als einem Vorläufer autonomen Künstlertums in der
Auseinandersetzung mit der Nachtwache und den Selbstbildnissen beispielhaft beobachtet
werden kann. Die Reihenfolge der Fallstudien folgt der Chronologie, in der diese Werke ihre
zentrale Stellung erreichten: Die relevanten Veränderungen in der Beurteilung der Nachtwache sind zwischen 1875 und 1890 zu beobachten, während sich die Umwertung der Selbstbildnisse erst nach 1890 vollzieht. Mittels der ausgewählten Beispiele werden somit zugleich
zwei Teilabschnitte der modernen Rembrandtrezeption beschrieben.
1 Die Ablehnung der Nachtwache als Ursprungsmythos der künstlerischen Autonomie
1.1 Rezeptionsgeschichtlicher Stellenwert der Nachtwache
Die Bekanntheit des Bildes, sein Ruf als Hauptwerk Rembrandts, kann schon zu Beginn der
modernen Rezeption vorausgesetzt werden. Das vorliegende Material gestattet die Verallgemeinerung, daß, sofern sich ältere Autoren überhaupt zu einzelnen Gemälden äußerten,2 die
Nachtwache eine zentrale Stellung einnahm und daß dieses Bild in der Regel als höchster
Ausdruck von Rembrandts Kunst oder zumindest als radikalste Umsetzung seiner ästhetischen Ideale dargestellt wurde.
Als Beispiel sei aus C. J. Nieuwenhuys‘ Review of the lives and works of some of the most
eminent painters (London 1834) zitiert, ein Buch, das trotz seines universalistischen Titels auf
niederländische Maler spezialisiert ist und als erste englischsprachige Publikation die Quellen
zum Bankrott Rembrandts veröffentlichte. Dort heißt es über die Nachtwache:
„Aber die berühmteste aller Arbeiten Rembrandts ist sein großes Bild, beendet 1642, bekannt unter
dem Namen La garde de Nuit oder La Bourgeoisie Armée d’Amsterdam.“ (Nieuwenhuys 1834, 8) 3
Auch Gustave Planche, dessen Urteile des Jahres 1853 in vielen Teilen noch von klassizistischen Überlieferungen und akademischen Kriterien ausgehen, läßt über die Wertschätzung
des Bildes keinen Zweifel:
„Die Nachtwache, aufbewahrt im Museum von Amsterdam, ist nach einstimmigem Urteil aller
Künstler, nach dem Urteil selbst jener, die weit davon entfernt sind, die Lehrmeinungen Rem-
2
Das malerische Werk bildet erst im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das unangefochtene Zentrum der Publikationen. Zuvor ist der Bezug auf die Radierungen häufig, was sich durch deren originale Greifbarkeit an mehreren Orten und durch das Interesse der Sammler erklärt, die als wesentliche Adressaten der
Werkkataloge Gersaints und Anderer zu betrachten sind.
3
„But the most renowned of all Rembrandt’s works is his grand picture, finished in 1642, known by the name of
La Garde de Nuit, or La Bourgeoisie Armée d’Amsterdam.“ (Nieuwenhuys 1834, 8).
252
brandts zu teilen, ein Wunder der Durchführung. Vielleic ht ist die Magie der Farbe niemals weiter
vorangetrieben worden.“ (Planche 1853, 264)4
In seiner mit zwei Stichen äußerst spärlich bebilderten Rembrandt-Monographie stellt Carel
Vosmaers fest, dieses Bild sei so berühmt, daß es uns allen vor Augen stünde (Vosmaer 1868,
151). Wenn also in späteren Texten Wertungen wie „Wunderwerk“ (Seeck 1898, 55), „fiebrigste[r], (...) phänomenalste[r] aller Malerträume“ (Veth 1906, 95)5 oder „gewaltigste Äußerung von Rembrandts großartiger Malkunst“ (Israels 1910, 128) an das Bild gerichtet werden,
haben wir es hier einmal nicht mit umgekehrten Vorzeichen zu tun - obwohl natürlich die
ältere Literatur die Berühmtheit und spektakuläre Wirkung des Bildes nicht mit dessen bedingungsloser Vorbildlichkeit gleichsetzte.
Im Zuge der Neubewertung der niederländischen Malerei durch die französischen Autoren der
Jahrhundertmitte werden zwar unterschiedlichste Bildgattungen berücksichtigt, der Schwerpunkt der Betrachtungen liegt jedoch auf Gruppendarstellungen, auf großformatigen, mehrfigurigen Gemälden.6 Als Schlüsselgattung zum Verständnis der holländischen Malerei werden
die Gruppenporträts nachdrücklich bei Théophile Thoré (1858/1860) dargestellt, eine Einschätzung, die wir auch in den deutschsprachigen Texten der Jahrhundertwende wiederfinden
(Lichtwark 1885, Riegl 1902).
Ein Vergleich der einflußreichen Autoren Thoré und Fromentin ist in diesem Zusammenhang
besonders interessant. Thoré sucht im Gruppenbildnis den selbstbewußten Bürger in Aktion
für das öffentliche Wohl (Thoré 1858, 322f.), Fromentin befragt sie dagegen als Hauptwerke
im klassischen Sinne, Werke, die zum Vergleich mit Rubens‘ Antwerpener Kreuzabnahme
herangezogen werden können (1876).7 Was bei Fromentin deutlich wird, gilt durchaus auch
für Thoré: Der Blick dieser Betrachter ist noch von einer Schulung geprägt, gegen die sie teilweise gezielt anschreiben, nämlich von der akademischen Hierarchie der Bildgattungen, die
dem Historienbild den höchsten Rang einräumt. Gruppenbilder wie Rembrandts Anatomie des
Dr. Tulp, die Nachtwache oder die Staalmeesters ähneln in Hinsicht auf ihr monumentales
Format, die mehrfigurige Motivik und die Lebensgröße der Figuren der formalen Charakte4
„La Ronde de nuit, placée au musée d’Amsterdam, est, de l’aveu de tous les artistes, de l’aveu même de ceux
qui sont loin de partager les doctrines de Rembrandt, un prodige d’exécution. Jamais peut-être la magie de la
couleur n’a été pousée plus loin.“ (Planche 1853, 264).
5
„Het is het zwaar op ons aandruischende van een ontzachlijke verschijning, versmeltend in de tonen-rijkdom
van een alle schakeeringen ontledende waarneming, verheerlijkt in de dichterlijke nevelen van den koortsachtigsten, den fenomenaalsten aller schildersdroomen.“ (Veth 1906, 95).
6
Damit soll nicht bestritten werden, daß auch Porträts, Stilleben, Landschaften und religiöse Historien das Interesse von Künstlern und Kunstkritikern weckten (vgl. Chu 1974).
7
Diese These läßt sich bereits in der Gesamtanlage seines Buches Les maîtres d’autrefois belegen, die Rubens
und Rembrandt als Leitfiguren zweier künstlerischer Schulen auffaßt und, im Gegensatz zu Thoré, keine Bewertung mit Bezug auf politische Implikationen vornimmt. In der Betrachtung beider Künstler nehmen die mo numentalen Gemälde zentrale Positionen ein. Den Historienbildern von Rubens werden somit Nachtwache und
Staalmeesters als Hauptwerke der holländischen Schule gegenübergestellt.
253
ristik des Historienbildes, sei es nun christlicher, mythologischer oder historischer Thematik.8
Ich schlage deshalb vor, das zentrale Interesse an der Nachtwache zumindest partiell als Folge
der traditionellen Nobilitierung des Historienbildes anzusehen.9 Es ließe sich dabei von einer
‘historischen Blickprägung‘ sprechen. Diese Einschätzung wird durch die Beobachtung gestützt, daß die untersuchten Autoren auch die weniger monumentale Anatomie des Dr. Tulp
und schließlich die Staalmeesters mit besonderer Aufmerksamkeit bedenken. Die drei genannten Bildnisse dienen den modernen Künstlerbiographen in der Regel als Markierungen,
als Kulminationspunkte, an denen sich die Werkeinteilung nach dem trinitären Ordnungsmuster von Früh-, Haupt- und Spätwerk exemplifizieren läßt.10
Als topisches Element der Auseinandersetzung mit den Gruppenbildnissen kann auch deren
Einstufung als ‘typisch holländische‘ Bildgattung gelten. Als solche können sie in akademischer Perspektive als Gegenpol zu den klassischen Gattungen der Renaissancekunst fungieren, aus republikanischer Sicht können sie Nationalstolz und Selbstbewußtsein der Bürger
Hollands verkörpern oder später, etwa bei Lichtwark (1885) oder Riegl (1902), dem nordischen, holländischen oder germanischen Nationalcharakter im Gegensatz zum südlich-italienisch-romanischen Ausdruck verleihen.
Auch in diesen Argumentationen bleibt der monumentale Charakter der Bilder entscheidend,
der sie dem akademischen Konzept des Historienbildes naherückt. Diese Verknüpfung wird
im Diskurs selbst reflektiert.11 So schreibt Wilhelm Lübke (1877) zu den Staalmeesters:
„Nur ein ruhiges Beisammensein würdiger Männer zu geschäftlicher Berathung; aber eine Großartigkeit der Charakteristik, ein schlichter Ernst des Ausdrucks, daß man auf die wichtigsten Staatsverhandlungen schließen möchte (...).
Vor solchen Werken erkennt man, daß dies die eigentlichen Historienbilder der holländischen
Kunst sind.“ (Lübke 1877, 222)
Am repräsentativen Bild vom Zusammensein „würdiger Männer“ ist hier die Suche des an
akademischen Maßstäben geschulten Kunstkenners nach würdigen ‘Hauptwerken‘ erfolgreich. Lübke verwendet den Begriff „Historienbilder“ als eine Art Ehrentitel, er ehrt damit die
hervorragende Bedeutung der Gruppenbildnisse und kennzeichnet sie als ‘Werke der wichtig8
Zu Begriff und Geschichte des Historienbildes vgl. Gaehtgens 1996.
Diese These soll zwei geläufige Erklärungsmodelle ergänzen. Ein wirkungspsychologisches Modell würde die
hohe Wertschätzung eines Bildes aus dessen emotionalisierender Potenz erklären, aus seiner Wirkung auf die
Betrachtenden. Das die Nachtwache eine derartigen ‘Effekt‘ auf ihr Publikum haben kann, machen zahlreiche
Beschreibungen des Bildes deutlich. Im Anschluß daran ist als zweites Erklärungsmodell die auratisierende
Aufladung zu bedenken, die ein solches Bild durch seine fortgesetzte Stilisierung zum historischen Meisterwerk
und nicht zuletzt durch seine popularisierende Reproduktion erfährt.
10
Die Irritationen zwischen einem Verständnis als Historienbild und als Gruppenporträt wird bei Haverkamp Begemann (1982) durch das Konzept des Rollenporträts aufgehoben.
11
Zur Diskussion um die Kategorisierung holländischer Schützenstücke als Gruppenporträts oder als Historienbilder vgl. auch Imdahl 1966.
9
254
sten Gattung‘. Demselben Gemälde hat auch Anton Springer (1886) die Stellung eines Historienbildes zugesprochen. Als fiktiven Titel der Staalmeesters schlägt er vor:
„Freunde des Großpensionärs de Witt, Vertreter der oligarchischen Generalstaaten suchen den Aufruhr der im Volke mächtigen Partei des Statthalters zu bändigen.“ (Springer 1886, 190)
Wäre uns dieser Titel überliefert, so würde laut Springer niemand daran Anstoß nehmen, weil
das Bild durchaus in der Lage sei, eine derart dramatische und politisch bedeutende Situation
zu repräsentieren, ebenso wie die Sitzung der Tuchmachergilde, die es tatsächlich zeige.12
Nicht weniger als die Staalmeesters rief auch die Nachtwache den Rangvergleich mit dem Historienbild auf den Plan. Wilhelm Bode beschreibt 1883 die Wirkung des Schützenbildes unter Verweis auf „(...) die märchenhafte Beleuchtung und die belebte Situation, welche den
Beschauer so bestricken, daß er die Darstellung eines weltgeschichtlichen Ereignisses vor sich
zu sehen glaubt (...)“ (Bode 1883, 473). 17 Jahre später führt er nochmals aus, welches Gestaltungsmittel für die Wirkung der Nachtwache von entscheidender Bedeutung ist:
„(...) Rembrandt’s ganz eigenthümliches Licht, s e i n Helldunkel. Gerade dadurch hat der Künstler den nüchternen Vorgang des Alltagslebens zu einer lebendigen Scene von dramatischer Kraft
umgestaltet, welche diesen Schützenauszug wie eine Episode aus der grossen Zeit Hollands, wie
einen Ausmarsch zum Kampf gegen die Spanier erscheinen lässt. Sollen wir den Künstler darüber
schulmeistern?“ (Bode 1900, 19)
Mit der rhetorischen Frage am Schluß dieses Zitats spielt Bode auf Kritikpunkte an, die klassizistische Autoren weniger an der Nachtwache selbst, als an Rembrandts Gestaltungsmitteln
entwickelt haben.13 Neben einer ‘Phantastik‘ der Darstellung, die in Kostüm und Lichtführung
ausgemacht wurde, zählte die Mißachtung der Gattungsgrenzen zu den Kritikpunkten. Darauf
weist 1902 auch Carl Neumann hin, wenn er die „Einzelvorbehalte“ verschiedener Autoren
zur Nachtwache anführt. Diese hätten unter anderem kritisiert, „daß ein alltäglicher und trivialer Vorgang wie der Auszug einer Schützenkompagnie übertreibend in einen Allarmaufbruch verwandelt worden ist, der an irgend einen Hannibal ante portas denken läßt“ (Neumann 1902, 331).
12
Wie sehr die Integration der Betrachtenden ins Bild im Falle Staalmeesters die Phantasie der Rezensenten
angeregt hat, wurde zuletzt durch Daniela Hammer-Tugendhat (1998, 167 f.) bemerkt . Weitere Literatur ebd.
13
Als Beispiel für diese klassizistische Kritik wird häufig auf Samuel van Hoogstraten (1678) verwiesen, der die
Gestaltungsmittel Rembrandts mit Bezug auf das Schützenbild kritisch diskutiert, dem Bild aber dennoch den
höchsten Rang unter den Gruppenbildnissen einräumt. Vosmaer verwendet diese Passage als Beleg für das Unverständnis der Zeitgenossen (1868, 149 f.), Bode schließt sich dieser Behandlung der Quelle an (1900, 17). Bei
Michel gilt van Hoogstraten als Ursprung verfälschender Aussagen zu Rembrandts Leben. Hoogstratens Passage
zur Nachtwache erwies sich allerdings als ambivalent deutbar. Mit Verhaeren (1912, 86) und, im Anschluß an
diesen, Hausenstein (1926, 191) bedienen sich zwei vehemente Vertreter der Ablehnungslegende dieses Textes
als einer Quelle für die frühe Hochachtung des Bildes.
255
Neben der fortgesetzten Präsenz der Gattungsirritation, der Neigung dazu, den Eindruck von
der Bedeutsamkeit dieser Porträtstücke durch deren Verbindung mit historischen Themen zu
legitimieren, sind diese Zitate auch im Hinblick auf Phänomene der modernen Kunst interessant. Die Überschreitung etablierter Gattungsgrenzen wurde im 19. Jahrhundert zu einem wesentlichen Aspekt der Kunstentwicklung. In diesem Prozeß spielen unterschiedliche Formen
der Profanisierung des Historienbildes eine wichtige Rolle,14 zu deren Entwicklung auch die
Rezeption holländischer Malerei beitrug (Chu 1974). Wenn Neumann, Bode und andere hier
die Gestaltung der Staalmeesters oder der Nachtwache als Auffassung eines Gruppenporträts
im Sinne des Historienbildes beschreiben, stehen sie demnach in einer breiten Tradition der
modernen Rezeption dieser holländischen Bildgattung.
Fassen wir an dieser Stelle die Potentiale zusammen, die der Nachtwache eine zentrale Position in der modernen Rembrandtrezeption sichern. Erstens ist sie schon ein berühmtes Bild,
als man dazu kommt, Rembrandt als eine Leitfigur der künstlerischen und gesellschaftlichen
Moderne wahrzunehmen.15 Zweitens bringt sie den Bürger in der Rolle des gesellschaftlich
verantwortlichen Individuums als Bildmotiv eines repräsentativen Gemäldetypus zur Geltung.
Besonders für die republikanisch gesinnten Autoren der Jahrhundertmitte wird sie damit zum
Beispiel einer Bildgattung, die sich der feudalistischen Repräsentationskunst auch in puncto
Monumentalität entgegenstellen läßt, was nicht zuletzt im Verständnis dieser Gattung als der
„eigentlichen Historienbilder der holländischen Kunst“ formuliert wird. Damit verwandt ist,
drittens, ihre Stellung als ‘typisch holländisch‘, mit der sich sowohl republikanische als auch
nationalistische Argumentationen verknüpfen lassen.
Neben diesen drei Aspekten entfaltet der Diskurs um die Nachtwache gegen Ende des 19.
Jahrhunderts ein weiteres Potential, indem dieses Werk innerhalb der Ablehnungslegende
zum Schicksalswerk stilisiert wird und ihm so die Stellung eines Initiationsereignisses im
Prozeß der Autonomisierung des Menschen und des Künstlers Rembrandt beigemessen wird.
Diese Perspektive auf die Nachtwache kann als symptomatisches Phänomen für den Zeitraum
der Untersuchung gelten und soll deshalb in diesem Abschnitt Gegenstand einer chronologischen Fallstudie werden.
Dabei wird auch zu beobachten sein, daß die Stellung der Nachtwache in der Rembrandtrezeption, speziell die Einschätzung ihrer Bedeutung für den Ruf Rembrandts bei seinen Zeitgenossen, nicht nur als inhaltlicher Schwerpunkt des Diskurses interessant ist. Es lassen sich
an diesem Beispiel auch die Grenzlinien des diskursiven Feldes der Untersuchung thematisie-
14
Beispiele wie Goyas Erschießung der Aufständischen, Delacroix‘ Die Freiheit führt das Volk an, Courbets
Begräbnis von Ornans oder Manets Hinrichtung Kaisers Maximilians sind in dieser Hinsicht ausführlich diskutiert worden. Für einen Überblick siehe Busch 1993.
15
Diese Berühmtheit, auch das sei nicht unterschlagen, beruht zweifellos auf ihrer künstlerischen ‘Qualität‘, die
in der emotionalisierenden Bildwirkung einen Ausdruck findet.
256
ren. Dies gilt zunächst hinsichtlich der chronologischen Abgrenzung dieses Themas, die mit
meiner Eingrenzung des engeren Feldes der Untersuchung übereinstimmt: Von einer dezidierten ‘Ablehnung‘ der Nachtwache ist erst im Verlauf der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts die
Rede, die Auswirkungen dieser Legende sind noch zur Mitte des 20. Jahrhunderts nachweisbar. Zudem bietet sich dieses Beispiel aufgrund seiner dramaturgischen Bedeutung in den
Rembrandtbiographien an, um die Binnenstruktur des diskursiven Feldes zu thematisieren.
Dazu soll zuerst die Entwicklung der Ablehnungslegende in jenen Texten verfolgt werden, die
sich selbst als fachspezifisch verstehen. Im Anschluß daran werden Beispiele einer im engeren Sinne literarischen Auseinandersetzung mit diesem Thema diskutiert. Vorausgeschickt sei
jedoch ein Exkurs zum Topos der Problematisierung des Bildtitels.
1.2 Exkurs: Die ‘sogenannte Nachtwache‘
„Il est assez connu qu’il ne s’agit ici ni de ronde ni de nuit.“ (Vosmaer 1877, 219)16
Wie die Bildästhetik Rembrandts im akademischen und im romantischen Verständnis als
„Phantastik“ galt (vgl. Boomgaard 1995, 27), so haftete der Nachtwache vor der Neubewertung des Künstlers und seiner Werke der Ruf des Mysteriösen an. Welche Art von Fragen das
Bild aufwarf, wie grundsätzlich seine Gestaltung noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts den
Erwartungen zu widersprechen vermochte, die Sehgewohnheiten irritierte und damit die Dekodierung des Dargestellten erschwerte, zeigt ein Zitat aus Gustave Planches Aufsatz in der
Revue des deux mondes (1853):
„Dies ist übrigens ein Werk der Phantasie, wenn es jemals eines gab, denn der Titel unter dem das
Gemälde bekannt ist, ist weit davon entfernt klar auszudrücken, was das Auge hier entdeckt. Man
sagt es sei eine Nachtwache; doch wie erklärt sich dann der Trommler, der der Truppe vorangeht?
Was bedeutet das junge Mädchen, dessen verstörter Blick um Hilfe zu flehen scheint? Was bedeutet die am Hut des Anführers angebrachte Feder, wie am Tag einer Parade? Welche Rolle spielt der
Bürgermeister in der Szene? In welcher Welt sind wir? Ist dies eine Erinnerung, ist es ein Traum,
den der Maler darstellen wollte?“ (Planche 1853, 264) 17
16
„Es ist hinreichend bekannt, daß es sich hier weder um eine ‘Wache‘ noch um ‘Nacht‘ handelt.“ (Vosmaer
1877, 219).
17
„C’est d’ailleurs une œuvre de fantaisie s’il en fut jamais, car le titre sous lequel ce tableau est connu est loin
d’exprimer nettement ce que l‘œil y découvre. On dit que c’est une ronde de nuit; mais alors comment expliquer
le tambour qui précède la troupe? Que signifie cette jeune fille dont le regard effaré semble implorer secours?
Que signifie la plume attachée au chapeau du chef de ronde comme en un jour de parade? Quel rôle joue dans la
scène le bourgmestre? Dans quel monde sommes-nous? Est-ce un souvenir, est-ce un rêve que le peintre a voulu
représenter? Je laisse à de plus habiles le soin de décider cette question.“ (Planche 1853, 264).
257
Als Gegenbeispiel zu Planche kann wiederum Eduard Kolloff (1854) angeführt werden, der
sich des Porträtcharakters der Nachtwache bewußt ist. Er spricht weder von Phantastik, noch
sieht er in dem Bild eine verwirrende Feder oder einen Bürgermeister; dafür zitiert er mit
Verweis auf das Wappenschild die Namen der Abgebildeten (Kolloff 1854, 452).18 Übereinstimmung herrscht zwischen beiden Autoren in ihrer Auseinandersetzung mit dem Titel:
„Man sieht, wie unrichtig die Benennung ist, unter welcher dieses Meisterstück in der ganzen Welt
bekannt ist. Es stellt keine Nachtwache vor, sondern eine Abtheilung von einer Compagnie Bürgermiliz (...).“ (Kolloff 1854, 452)19
Diese Beispiele zeigen, daß die Reflexion des irreführenden Charakters der Bildbezeichnung
bereits Tradition hat, als Carel Vosmaer 1868 einen ernsthaften Versuch unternimmt, die falsche Bezeichnung aus der Welt zu schaffen. Der Autor der ersten umfassenden RembrandtMonographie bringt diesen Fehler mit der Verkennung von Künstler und Werk im 18. Jahrhundert in Verbindung:20
„Der derzeitige Name, äußert unzutreffend, kommt ihm von französischen Autoren des 18. Jahrhunderts zu, die ihm den Namen Guet [Hinterhalt, M.H.] oder Patrouille de nuit [Nachtpatrouille,
M.H.] geben; auch Reynolds nennt es the Nightwatch. Und schließlich begannen die Holländer,
diesen Titel blindlings akzeptierend, ebenfalls von der Nachtwacht zu sprechen.“ (Vosmaer 1868,
148)21
Vosmaer hat den Ehrgeiz, diesen Gewohnheitstitel zu korrigieren, ist sich jedoch des Umfangs einer solchen Aufgabe bewußt:
„Es ist an der Zeit, diese fehlerhafte Bezeichnung zu ändern, die erst seit 80 Jahren besteht. Legen
wir also einen besseren Titel fest, und in einem halben Jahrhundert wird der andere abgesetzt sein.“
(Vosmaer 1868, 219) 22
Vosmaer schlägt als korrekteren Titel „Der Auszug der Kompagnie des Frans Banning Cock“
vor, und tatsächlich wird die offizielle Beschilderung des Bildes 50 Jahre nach Vosmaer in
18
Eine Reise Kolloffs nach Amsterdam ist nicht überliefert. Die fragliche Textpassage läßt eine Paraphrasierung
Scheltemas (1866, 31 zuerst 1852) annehmen.
19
In ähnlicher Weise spricht Wilhelm Lübke (1877) von der „wunderlichen, völlig unpassenden Benennung,
welche an diesem Werke haftet“ und erklärt: „In Wahrheit handelt es sich keineswegs um eine Nachtwache,
sondern um den einfachen Auszug einer Schützengesellschaft“ (Lübke 1877, 214).
20
Auf gleiche Art argumentiert z.B. Bode (1900, 98).
21
„Le nom actuel, fort impropre, lui vient des auteurs français du 18e siècle, qui lui donnent le nom de Guet, de
Patrouille de nuit; Reynolds aussi le nomme the Nightwatch. Et alors les Hollandais, acceptant aveuglement ce
titre, se mirent eux aussi à parler du Nachtwacht.“ (Vosmaer 1868, 148).
22
„Il est temps de changer cette fausse dénomination, qui n’existe que depuis quatre-vingts ans. Fixons un meilleur titre, et dans un demi-siècle l’autre sera destitué.“ (Vosmaer 1868, 219).
258
der Regel so oder ähnlich lauten.23 Insgesamt genommen hatte diese korrigierte Bezeichnung
gegenüber dem international tradierten Titel Nachtwache jedoch keine Chance. Louis Viardot,
ein Zeitgenosse Vosmaers, der sich im Rahmen einer kursorischen Beschreibung der Wunder
der Malerei (Les merveilles de la peinture) mit dem Bild beschäftigt, schätzt dieses Problem
realistischer ein. Viardot verweist ebenfalls darauf, daß der Titel fehlerhaft sei. Dann stellt er
jedoch fest, es sei besser, ihm „diesen üblichen Namen zu lassen“ (Viardot 3 1877, 192).24 Die
literarische Nachwelt wird sich dieser Haltung in breiter Strömung anschließen. Von wenigen
Ausnahmen abgesehen zählt zum Topos nicht allein der Hinweis auf den fehlerhaften Titel,
sondern dessen gleichzeitige Weiterverwendung. Diese Praxis bleibt im Diskurs selbst nicht
unbemerkt, die Auseinandersetzung mit ihr ist vielmehr als Teil der geläufigen Widerlegungsformeln anzusehen, so etwa bei Adolf Rosenberg (1904):
„Als man im achtzehnten Jahrhundert die ursprüngliche Bestimmung und Bedeutung des Bildes
ebenso vergessen, wie man das Verständnis für Rembrandts Helldunkel verloren hatte, erhielt es
den Namen die Nachtwache, und diesen Namen hat es behalten, obwohl inzwischen längst wieder
die Geschichte des Bildes aufgeklärt worden ist.“ (Rosenberg 1904, XXVI)
In ähnlicher Weise äußert sich Carl Voll zu dieser Frage, als er 1906 in seinem Jubiläumsartikel für die populäre Zeitschrift Gartenlaube auf eines der „größten Meisterwerke der gesamten Malerei“25 zu sprechen kommt:
„Dieses Riesenwerk stellt trotz des nun einmal nicht mehr aus der Welt zu schaffenden Titels einen
Zug von Schützen dar, die im goldenen, reichen Licht der späten Sonne in geschlossener Kolonne
(...) auf die Straße treten.“ (Voll 1906a, 594)
Der Verweis auf den unkorrekten Titel geschieht nicht, wie bei Vosmaer, in der Absicht, diesen Titel durch einen zutreffenden zu ersetzen. Die Autoren willigen vielmehr in den Umstand ein, daß dieses Bild „unter der irrthümlichen Benennung Die Nachtwache“ (Bode 1900,
98) bekannt sei. Dieses Phänomen läßt sich mit Hilfe der Unterscheidung zwischen einem
Bildtitel und einem Eigennamen genauer beschreiben, denn als letzterer wird die Bezeichnung
Nachtwache im Verlauf der Rezeption behandelt. Im Gegensatz zu einem Bildtitel kann der
Eigenname aber inhaltlich falsche Implikationen transportieren, ohne deshalb selbst ‘falsch‘
zu sein, bedarf doch ein Name keiner Legitimierung nach dem Muster richtig/falsch. Nicht die
Abwehr eines Titels, sondern die Einwilligung in einen Namen unter Verweis auf dessen in23
Als derzeit international gültig kann die vom Rembrandt Research Project gewählte Bezeichnung gelten: „The
‘Nightwatch‘, or Officers and men of the company of Captain Frans Banning Cocq and Lieutenant Willem van
Ruytenburgh“ (Bruyn u.a. 1989, 430).
24
„On le nomme la Garde ou la Ronde de nuit. Et ce nom est défectueux, car c’est une ronde faite en plein jour.
(...) La Ronde de nuit (il faut bien lui laisser ce nom consacré)“ (Viardot 3 1877, 192).
25
Voll 1906a, 594.
259
haltliche Unrichtigkeit wird hier also zum Topos. Als gebräuchlichste Formel ist dabei von
der ‘sogenannten Nachtwache‘ die Rede.26
Heinrich Wölfflin hat 1909 in seiner Variation des Topos den Versuch unternommen, die
Etablierung der Fehlbezeichnung zu erklären:
„Der Name Nachtwache ist bekanntlich falsch. Es ist nur der Auszug eines Schützenvereins dargestellt, nicht ein nächtlicher Alarm, aber das Stück hat einen so gewaltigen Zug und die Bewegungsillusion ist so groß, daß der Beschauer immer wieder zu einem möglichst bedeutungsvollen
Namen zu greifen versucht ist.“ (Wölfflin 1946 [1909], 134)
Sein Verweis auf den „Beschauer“ scheint das breite Publikum für die Kontinuität der Bezeichnung verantwortlich zu machen. Die Einwilligung der zitierten Autoren läßt andere Ursachen vermuten. Eine Hypothese dazu kann aus Wilhelm Hausensteins gezielter Beibehaltung des Namen abgeleitet werden:
„Lassen wir nur auch den Namen ‘Nachtwache‘, der falsch ist: es ist gut, wenn ein irrender, beirrender Titel die inneren Verschiebungen bezeichnet, mit denen das Bild aus den Gleisen geschoben
wird.“ (Hausenstein 1926, 188)
Wie wir noch sehen werden, bricht für Hausenstein mit der Nachtwache der offene Konflikt
zwischen Künstler und Gesellschaft aus. Durch seine gestalterischen Innovationen schiebt
Rembrandt die Gattung des Gruppenporträts in diesem Bild „aus den Gleisen“. Hausenstein
willigt demnach bewußt in den irritierenden Titel ein, da dieser die Spannungen zum Ausdruck bringe, die mit dem Bild verbunden seien und deren letzte Ursache im Autonomiestreben des Künstlers liege. Ohne Hausensteins Interpretation konkret auf andere Autoren zu
übertragen, kann doch in der implizierten Zwiespältigkeit des Titels die besondere Qualität
gesehen werden, die dessen Beibehaltung zugrunde liegt. In der Formel von der ‘sogenannten
Nachtwache‘ wird das Dementi zum Bestandteil des Titels, und damit nisten sich der geheimnisvolle Charakter des Bildes und dessen herausragende Bedeutung bereits in dessen Bezeichnung ein. Das Spiel mit dem fehlerhaften Titel kann als eine mythisierende Miniatur
verstanden werden, als ein Auftakt, der auf die Sonderstellung des Bildes einstimmt.
Wie das Beispiel Hausensteins zugleich gezeigt hat, kann die Diskussion um den Titel nicht
vom zentralen Problem der Ablehnungslegende getrennt werden, zu der ich nun übergehen
möchte.
26
Beispiele dafür sind Kugler 1847, 427; Bode 1870, 243; Neumann 1922, 240; Kaschnitz 1948, 31.
260
1.3 Zur Entstehung der Ablehnungslegende: Vosmaer, Fromentin, Michel
Erst seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts beschäftigen sich Autoren mit der Frage, wie
die Zeitgenossen Rembrandts auf die Nachtwache reagiert haben. Dabei tritt erstmals die
Vermutung auf, das Bild sei seinerzeit ungünstig aufgenommen worden.27 In der deutschsprachigen Rezeption begegnen wir bei drei anerkannten und einflußreichen Kunsthistorikern, die
sich zwischen 1877 und 1883 unabhängig voneinander dazu äußerten, einer auffällig ähnlichen Behandlung dieses Themas. Es steht dabei allerdings weder im Mittelpunkt der Darstellungen, noch wird es ausführlich diskutiert. Als Beispiel zitiere ich Wilhelm Lübkes Reisebericht zu Rembrandt, der im Oktober 1877 in der „deutschen Monatsschrift“ Nord und Süd
veröffentlicht wurde:
„Eine höhere Verklärung des rein Stofflichen der Farbe läßt sich nicht denken. - Wohl aber kann
man sich vorstellen, daß den wackeren Bürgerschützen Hollands es weit weniger auf solche künstlerische Eigenschaften ankam, als auf möglichst klare und möglichst gleichbedeutsame Darstellung
jedes einzelnen Bürgerwehrmannes. Diese Tendenz fand in solchen Bildern, wie dem berühmten
Schützenmahl van der Helsts von 1648, das der Nachtwache Rembrandts in demselben Raume gegenüberhängt, eine ganz unvergleichliche Erfüllung. Kein Wunder, daß beinahe zwanzig Jahre vergingen, ehe Rembrandt mit einer ähnlichen Aufgabe betraut wurde.“ (Lübke 1877, 215 f.)
Jacob Burckhardt verwendete in seinem Rembrandtvortrag vom November 1877 eine ähnliche Formulierung,28 und auch Wilhelm Bode hat 1883 erklärt, es sei „begreiflich, daß die
Schützen Amsterdam’s sich nicht noch ein zweites Mal mit einem ähnlichen Auftrage an den
Meister wandten“.29
Aus dem Fehlen weiterer Aufträge dieser Art schließen die Autoren auf eine Unzufriedenheit
der Besteller der Nachtwache. Die Ursache dafür sehen sie in einem Konflikt zwischen dem
Wunsch der Auftraggeber nach gleichwertiger individueller Repräsentation und dem Interesse
Rembrandts an der Gesamterscheinung des Bildes.30
27
Die aktuelle Forschung geht davon aus, daß das Bild in seiner Zeit sehr geschätzt wurde. Vgl. Bruyn u.a. 1989,
449; Boomgaard 1995, 220.
28
„Es hatte aber seine Gründe, daß Rembrandt hierauf keine Schützengilde mehr zu malen bekam; von den
gegen 30 Mitgliedern, welche dafür bezahlt hatten auf dem Bilde verewigt zu werden, sind nur wenige bis zur
Kenntlichkeit durchgeführt, weit die meisten aber nur so weit, als es der Ge samtlichteffekt zuließ.“ (Burckhardt
1919 [1877], 19).
29
„(...) die märchenhafte Beleuchtung und die belebte Situation, welche den Beschauer so bestricken, daß er die
Darstellung eines weltgeschichtlichen Ereignisses vor sich zu sehen glaubt, machen sich theilweise auf Kosten
der Individualität des Einzelnen geltend, welche den gleichen Porträtstücken eines Hals oder van der Helst das
Haupterfordernis war. Es ist daher begreiflich, daß die Schützen Amsterdam’s sich nicht noch ein zweites Mal
mit einem ähnlichen Auftrage an den Meister wandten“ (Bode 1883, 473).
30
Jacob Burckhardt nutzt diese Gelegenheit, um die Nichteignung der gestalterischen Mittel Rembrandts für die
Ausführung einer Mehrfigurendarstellung zu konstatieren: „Es ist gut, daß Rembrandt einmal in seinem Leben
eine Aufgabe von 30 lebensgroßen bewegten Figuren bekam und dabei endgültig bewies, wie sich exklusive
Lichtmalerei zu einer solchen Aufgabe verhält.“ (Burckhardt 1919 [1877], 19 f.). Für das folgende ist interessant, daß Burckhardts Kritik hier mit der Position Fromentins übereinstimmt (Fromentin 1972, 207 ff.). Ob
261
Eine Erklärung für die Ähnlichkeit der Behandlung des Problems durch Lübke, Burckhardt
und Bode liefert ein Blick in die französischsprachige Literatur. In Carel Vosmaers Rembrandt-Monographie (1868) sind die fraglichen Passagen weitgehend vorweggenommen:31
„Er wird bezahlt, um Porträts zu machen, und ein jeder wünscht für das seine einen gleichwertigen
Anteil an Licht. So gingen die anderen Maler vor (...). Und Rembrandt, statt es ebenso zu machen,
opfert sie dem Spiel des Helldunkel und macht ein Bild anstelle einer Leinwand mit 20 Porträts. So
machte er es auch mit seiner Anatomie des Dr. Tulp. Und darin liegt zweifellos auch der Grund,
weshalb er für diese Art von Gemälden nicht sehr gefragt war.“ (Vosmaer 1868, 150) 32
Vosmaer schließt von einer postulierten Seltenheit an Gruppenaufträgen auf ein Mißfallen der
Nachtwache, dessen Ursache er in einem Widerspruch zwischen deren Gestaltung und den
Ansprüchen der Auftraggeber sieht:
„Ich habe dort 29 Personen gezählt, von denen einige nichts zeigen als den Kopf, den Helm oder
die Augen. Jene waren sicherlich unzufrieden.“ (Vosmaer 1868, 152) 33
In den Überlegungen Vosmaers und der zitierten deutschsprachigen Autoren zur zeitgenössischen Rezeption der Nachtwache sind einige Mosaiksteine der kommenden Ablehnungslegende zu finden. Die Grundlage bildet der Widerspruch zwischen Künstler und Öffentlichkeit,
der hier am Beispiel eines Konfliktes zwischen Rembrandt und seinen Auftraggebern veranschaulicht wird.34 In der kausalen Verknüpfung von der unbefriedigenden Nachtwache und
den ausbleibenden Folgeaufträgen für Gruppenbilder ist dabei zugleich die Basis für eine Narration gelegt. Weiter geht die Legendarisierung in dieser frühen Phase jedoch noch bei keinem der Autoren. Lübke, der das Gemälde begeistert beschreibt, sieht zwar im Jahr 1642 „ei-
Burckhardt Fromentins Maîtres d’autrefois bereits 1877 kannte ist allerdings nicht direkt nachweisbar. Dies ist
erst für den späten Text Erinnerungen an Rubens (1898) möglich (vgl. Noll 1997, 461).
31
Bode bespricht Vosmaers Buch in seinem Vorwort (1883), bei Lübke werden keine Literaturverweise ausgeführt, zu Burckhardt siehe die vorige Anmerkung.
32
„Il est payé pour faire des portraits et chacun désire pour le sien une égale portion de lumière. C’est ainsi que
procédaient les autres peintres (...) Et Rembrandt, au lieu de faire ainsi, les sacrifie au jeu du clair-obscur et fait
un tableau au lieu d’une pièce à vingt portrait. Voilà ce qu’il avait fait aussi avec sa leçon d’anatomie. Voilà
encore assurément la raison de ce qu‘il ne fut pas très recherché pour ces sortes de toiles.“ (Vosmaer 1868, 150).
33
"J’y ai compté vingt-neuf personnages, dont quelques -uns ne montrent que la tête, le casque ou les yeux.
Ceux-là certes ont été mécontents.“ (Vosmaer 1868, 152). Die Zahl der Porträtierten wird hier von einigen Autoren noch mit der Zahl der Abgebildeten gleichgesetzt, dagegen sah bereits Kolloff (1854, 452) in dem Bild lediglich „meistens Porträts“ abgebildet. Auch nachdem in Folge der Quellenfunde der 80er Jahre als erwiesen
gelten konnte, daß nur gut die Hälfte der Dargestellten als bezahlte Porträts einzustufen seien, also die einzelnen
Augen und Hüte auch keinen Grund zur Unzufriedenheit hatten, behielt das Argument von der ‘Kritik der Porträtierten‘ seine Position und Wirkung in der Ablehnungslegende.
34
Vosmaer spricht diese Konfliktstellung mehrfach direkt aus: „Rembrandt eut toujours tort aux yeux de ses
contemporains.“ (Vosmaer 1868, 150); „Rembrandt a partagé à cet ègard le sort de presque tous les génies. Il a
été aimé, admiré et suivi par ceux que l’amitié ou le talent avait rendus clairvoyants. Mais il a eu beaucoup de
détracteurs, et certes peu de ses contemporains ont entrevu la place élevée à laquelle il pouvait prétendre.“ (ebd.,
322).
262
nen scharfen Einschnitt im äußern wie im innern Leben des Meisters“ (Lübke 1877, 216),
führt aber allein Saskias Tod als Grund dafür an. Bode (1883) verwendet auf die Nachtwache
kaum mehr Raum als auf andere Bilder. Den Rückgang der Anzahl von Porträtaufträgen, den
er für die 40er Jahre ausmacht, bringt er nicht mit dem Schützenbild und dessen öffentlicher
Aufnahme in Verbindung.
1.3.1 Fromentins zwiespältiges Urteil über die Nachtwache
Einen weiteren Schritt in Richtung der Ablehnungslegende finden wir dagegen bei Eugène
Fromentin, dessen kritische Auseinandersetzung mit dem Bild jedoch auch jenseits dieses
Punktes von Bedeutung für die nachfolgende Literatur ist. Sie soll deshalb etwas ausgeführt
werden. Die Begegnung mit der Nachtwache wird in Fromentins kunstliterarischem Reisebericht Les Maîtres d’autrefois (1876) über mehrere Seiten hinweg vorbereitet und dabei bereits
als problematisch angekündigt. Einen Grund dafür sieht Fromentin in der Fallhöhe des Bildes,
welches ihm aus zahlreichen vollmundigen Lobreden bekannt gewesen sei:
„Ich brauche nicht zu verhehlen: dieses Werk, das berühmteste, das Holland besitzt, eins der berühmtesten der ganzen Welt, bedeutet die Sorge meiner Reise. Es lockt mich unwiderstehlich und
flösst mir doch starke Zweifel ein. Ich kenne kein Bild, über das man mehr diskutiert, mehr nachgedacht und natürlich auch mehr Unsinn geredet hat.“ (Fromentin, zit. nach der Übersetzung von
Schellenberg 2 1919, 258)35
Sei es durch ihren Ruhm, sei es durch ihre „bizarrerie“, die Nachtwache habe jedermann, zumindest unter den Kunstschriftstellern, die Klarheit der Vernunft getrübt („troublé le clair bon
sens“, Fromentin 1972 [1876], 201). Fromentin erblickt in dem Bild einen radikalen Versuch
Rembrandts, das Thema der Gruppendarstellung mit seiner Auffassung des Helldunkels zu
verknüpfen, ein großartiger Versuch, der jedoch gescheitert sei. Mit Formeln, die an akademische Regeln erinnern, kritisiert Fromentin die Proportionen des Bildes, die Haltung und Kleidung der Figuren und ihre Physiognomien. Zugleich würdigt er jedoch mit einer ausführlichen, technisch und ästhetisch gleichermaßen detaillierten Beschreibung die Leistung des
Koloristen Rembrandt, der in diesem Werk der Malerei Neuland erobert habe. Die elementare
Bedeutung des Helldunkels, die sich in dem Bild offenbare, führt Fromentin schließlich zur
Einführung einer neuen Kategorie. Rembrandt sei nicht mehr Kolorist, sondern „Luminarist“
zu nennen:
35
„Je n’ai point à le cacher, cette œuvre, la plus fameuse qu’il y ait en Hollande, une des plus célèbres qu’il y ait
au monde, est le souci de mon voyage. Elle m’inspire un grand attrait et de grands doutes. Je ne connais pas de
tableau sur lequel on ait plus discuté, plus raisonné et naturellement plus déraisonné.“ (Fromentin 1972 [1876],
201).
263
„Ein ‘Luminarist‘ wäre, wenn ich mich nicht täusche, ein Mann, der das Licht ausserhalb der allgemein befolgten Gesetze begreift, der ihm einen aussergewöhnlichen Sinn beilegt und ihm grosse
Opfer bringt.“ (Fromentin, Übers. Schellenberg 2 1919, 293)36
Es sei Rembrandts Eigenart, sich des Lichtes zu bedienen, um auszusagen, was niemand außer ihm auszusagen vermöge. Deshalb sei er mit dem Begriff „Luminarist“ zugleich definiert
und an diesem auch zu messen, denn nun könne man die Qualität seiner Bilder danach bewerten, ob die luminaristische Umsetzung gelungen sei und ob sie darüber hinaus dem jeweiligen Sujet angemessen sei. Einmal benannt, spitzt Fromentin Rembrandts gesamtes Werk auf
diesen Aspekt zu:
„Rembrandts ganze Entwicklung kreist also um dieses rastlos verfolgte Ziel: nur mit Hilfe des
Lichtes zu malen und zu zeichnen.“ (Fromentin, Übers. Schellenberg 2 1919, 293)37
Aus dieser Perspektive erscheinen Fromentin auch die Schwächen der Nachtwache erklärlich,
sei doch ihr kühnes Hauptziel:
„(...) einen wahren Vorgang mit einem unwahren Lichte zu erhellen, das heisst: einem tatsächlichen Ereignis den idealen Charakter einer Vision zu verleihen.“ (Fromentin, Übers. Schellenberg,
294)38
Der bewunderungswürdigen Radikalität dieser künstlerischen Zielsetzung, im Kern die Synthese von Realismus und Idealismus, stehe das Scheitern gegenüber, das Fromentin nicht in
den von ihm aufgezählten kompositorischen Mängeln (Perspektive, Proportionen etc.) ausmacht, sondern in der Unangemessenheit eines solchen Versuches angesichts eines Sujets das
Repräsentation verlange. Die Grundstruktur dieser Darstellung greift auf bereits bestehende
Einschätzungen zurück - gemeint ist die Vermischung von Bewunderung des phantastischen
Effektes der Nachtwache und Irritation ob ihrer Funktion als Porträtstück in der älteren Literatur, zuerst wohl bei Samuel van Hoogstraaten (1678, vgl. Vosmaer 1868, 220). In dieser zwiespältigen Charakterisierung liegt die entscheidende Potenz, die die Nachtwache auch in der
folgenden Rezeptionsphase zum Schlüsselwerk werden läßt. Denn an dieser Aufspaltung zwischen dem Triumph ‘rein künstlerischer‘ Qualität und dem Scheitern des Bildes als Auftragswerk konnte in idealer Weise der Ursprungsmythos von der Autonomisierung Rembrandts
verankert werden.
36
„Un luminariste serai, si je ne me trompe, un homme qui concevrait la lumière, en dehors des lois suivies, y
attacherait un sens extraordinaire, et lui ferait de grands sacrifices.“ (Fromentin 1972 [1876], 228).
37
„Toute la carrière de Rembrandt toure donc autour de cette objectif obsédant: ne peindre qu’avec l’aide de la
lumière, ne dessiner que par la lumière.“ (Fromentin 1972 [1876], 228).
38
„(...) éclairer une scène vraie par une lumière qui ne le fût pas, c’est-à-dire donner à un fait le caractère idéal
d’une vision.“ (Fromentin 1972 [1876], 229).
264
1.3.2 Exkurs: Fromentins Kritik an Rembrandt und am Impressionismus
Bevor wir weiter der Bedeutung nachspüren, die Fromentin der Nachtwache innerhalb der
Darstellung Rembrandts als autonomem Künstler zuschreibt, verspricht eine andere Kontextualisierung Aufschluß über Position und Absichten dieses Autors. In der Art, wie der Kunstliterat und erfolgreiche Maler die Würdigung der koloristischen Qualität Rembrandts mit einer von akademischen Maßstäben inspirierten Kritik kombiniert, ist nämlich zu erkennen, daß
Fromentin hier die Gelegenheit sieht, seine skeptische Haltung gegenüber den Impressionisten
an einem historischen Beispiel aufzugreifen.39 Dieses Verständnis bestätigt Fromentin selber,
wenn er sich, mitten in seiner Abhandlung über die Werke der ‘Meister von Einst‘, direkt mit
dem Einfluß der Niederländer auf die zeitgenössische französische Kunst beschäftigt: Im
zweiten Teil seines Buches wechselt er den Schauplatz und berichtet für die Dauer eines Kapitels aus der Pariser Kunstszene seiner Gegenwart (Teil II, Kap. IX). Dabei stellt Fromentin
zunächst fest, daß es in seinem Jahrhundert zwei Phasen der erfreulichen Erneuerung der
Landschaftsmalerei gegeben habe: zunächst die romantische, zu Beginn des Jahrhunderts, und
dann die naturalistische, in der er zwei Maler, Corot und Rousseau, hervorhebt. Während ersterer jedoch nicht als Nachfolger der Holländer gelten könne, führe letzterer mit Entschiedenheit und bewunderungswürdigen Resultaten den Ansatz der niederländischen Malerei fort,
ja er gehe dank seiner erstaunlichen Vielfalt noch weit über sie hinaus. Nach einer kurzen,
dem Gebot der rhetorischen Tradition folgend sehr zurückhaltenden Anmerkung über die modischen Erfolge des Orientalismus, in dem Fromentin selbst wesentliche Akzente setzte (vgl.
Thompson/Wright 1987), attackiert er elegant und ohne Namen zu nennen jenen Malstil, der
erst kurz vor Erscheinen seines Buches mit der Bezeichnung ‘Impressionismus‘ versehen
worden war:
„Das ‘plein air‘, das zerstreute Licht, das ‘wahre Sonnenlicht‘ haben heute in der Malerei (...) eine
Wichtigkeit, die man ihnen niemals zugestanden hatte, und die sie, offen gesagt, gar nicht verdie nen.“ (Fromentin, Übers. unter Verwendung von Schellenberg 2 1919, 232)40
Im Anschluß daran schreibt er der mechanischen Reproduktionsfähigkeit der Fotografie einen
wesentlichen Anteil an dieser unangemessenen Entwicklung zu. Die Malerei habe sich durch
39
Sein Urteil, Rembrandt respektiere nicht die festgelegte Aufgabe der Bildgattung, ließe sich etwa mit der Kritik an Manets modernem Historienbild der Hinrichtung Kaiser Maximilians vergleichen. Wie Carl Neumann
bereits 1902 festgestellt hat, wird Fromentin, sowohl als Maler als auch als Kunstkritiker, „gegen seinen Instinkt
zu den Klassikern“ zurückgetrieben, da ihm „das Auswachsen der zeitgenössischen Kunst Angst macht“ (Neumann 1902, 15). Als Maler sei Fromentin „bei den Schilderungen arabischen Lebens, die das Gros seiner Bilder
ausmachen, in der Art, die Farben zu gruppieren, immer Feinschmecker und Kenner geblieben“ (ebd., 16). Zur
Kritik der Impressionisten bei Fromentin vgl. die Anmerkungen von Moisy, in: Fromentin 1972, 432; vgl. auch
Ritter 1998, 20.
40
„Le plein air, la lumière diffuse, le vrai soleil, prennent aujourd’hui, dans la peinture (...) une importance
qu’on ne leur avait jamais reconnu, et que, disons-le frachement, ils ne méritent point d’avoir.“ (Fromentin 1972
[1876], 181).
265
die Orientierung an einem technischen Sehen selbst der Kunstfertigkeiten beraubt, sie richte
eine unpersönlichen Blick auf die Dinge („une manière impersonelle de voir des choses et de
les traiter“, Fromentin 1972 [1876], 182), sie habe der absoluten und wörtlichen Wahrheit die
Vorherrschaft über die Phantasie eingeräumt und sei auf den bloßen optischen Effekt aus:
„Wenn man sich ein wenig über die Neuigkeiten (...) auf dem laufenden hält, so bemerkt man, dass
die jüngste Malerei das Ziel verfolgt, die Augen in Erstaunen zu setzen durch merkwürdige, wörtlich richtige, in ihrer Wahrheit leicht wiederzuerkennende Bilder, die alle Künstelei verschmähen,
und dass sie uns genau die Empfindungen dessen geben will, was wir auf der Strasse sehen können.“ (Fromentin, Übers. Schellenberg 2 1919, 233)41
Fromentin sieht in der heutigen Tendenz zum flüchtigen Wandel der Stile und damit zur
Oberflächlichkeit zwar einerseits eine Erweiterung der Möglichkeiten, hauptsächlich jedoch
eine übergroße Verausgabung. So prognostiziert er schließlich eine Rückkehr von der Natur
zur Malerei:
„Unsere Schule weiss vieles, sie erschöpft sich durch ihr Umherschwärmen; ihre grundlegenden
Studien sind bedeutend; sie ist sogar so reich, dass sie sich aussschließlich darin gefällt und verliert
(...).
Alles hat seine Zeit, und an dem Tage, wo Maler und Leute von Geschmack sich überzeugen lassen
werden, dass die besten Skizzen der Welt nicht soviel wert sind, wie ein gutes Bild, wird die öffentliche Meinung noch einmal den Weg zu sich selbst zurückgefunden haben, - das sicherste Mittel, um Fortschritte zu machen.“ (Fromentin, Übers. unter Verwendung von Schellenberg 2 1919,
236)42
Vor dem Hintergrund dieser kritischen Haltung Fromentins zum Impressionismus liest sich
seine ambivalente Beurteilung der Nachtwache, die Würdigung der technischen Bewältigung
des Helldunkels bei gleichzeitiger Kritik an der Mißachtung der Bildaufgabe, in einem anderen Licht. Der ‘luminaristische‘ Rembrandt dieses Schützenbildes ist hinsichtlich seiner
Bildlösungen nicht der vorbildliche Maler, den Fromentin der Gegenwart anempfehlen
möchte. Er wird den Rembrandt der harmonischeren Staalmeesters bevorzugen, für bewegte
Figurendarstellungen wird er auf Rubens und für Landschaften auf Ruisdael verweisen (vgl.
Ritter 1998). Die zeitgenössische Perspektive, die hier durchscheint, ließe sich von hier aus
41
„La peinture la plus récente a pour but de frapper les yeux par des images saillantes, textuelle, aisément reconnaissable en leur vérité, dénuées d’artifices, et de nous donner exactement les sensations de ce que nous pouvons
voir dans la rue.“ (Fromentin 1972 [1876], 182).
42
„Notre école sait beaucoup, elle s’épuise à vagabonder; son fonds d’études est considérable; il est même si
riche qu’elle s’y complaît, s’y oublie (...). Il y a temps pour tout, et le jour où peintres et gens de goût se persuaderont que les meilleures études du monde ne valent pas un bon tableau, l’esprit public aura fait encore une fois
un retour sur lui-même, ce qui est le plus sûr moyen de faire un progrès.“ (Fromentin 1972 [1876], 184).
266
auch in der Ablehnungslegende ausmachen. So mag man etwa an einen Salonskandal im Paris
der 70er Jahre denken, wenn Fromentin die Reaktion des holländischen Publikums auf die
öffentliche Präsentation der Nachtwache schildert:
„Man weiss, wie man über die Wirkung zu denken hat, welche die ‘Nachtwache‘ bei ihrem Erscheinen im Jahre 1642 hervorrief. Dieser denkwürdige Versuch wurde weder verstanden noch gebilligt. Er hat viel Lärm um Rembrandts Ruhm verursacht, erhöhte ihn in den Augen seiner getreuen Bewunderer, setzte ihn in den Augen derer herab, die ihm nur mit einiger Anstrengung gefolgt waren und auf diesen entscheidenden Schritt gewartet hatten. Es brachte ihn in den Ruf eines
fremdartigen Malers, eines minder ausgemachten Meisters. Es erregte die Gemüter und teilte die
Leute von Geschmack in zwei Lager je nach der Hitze ihres Blutes oder der Kühle ihrer Vernunft.
Kurz, man betrachtete es als ein durchaus neues, aber missliches Wagnis, das ihm Beifall und auch
viel Missbilligung eintrug, und das im Grunde niemanden überzeugte.“ (Fromentin, zit. nach der
Übersetzung von Schellenberg 2 1919, 276)43
Fromentin erweitert die bisherige Darstellung Vosmaers deutlich. Statt einer latenten Unzufriedenheit, die sich erst mittelfristig im Ausbleiben von Folgeaufträgen offenbart, führt das
Bild hier direkt zu einem ‘éclat‘. Es verursacht Lärm, es erhitzt und spaltet die Gemüter, aber
es ‘erleuchtet‘ auch - der Effekt des Bildes ist klärend. Was bereits seit längerem im Verborgenen schwellte, der Konflikt des Künstlers mit der Mehrzahl seiner Zeitgenossen, tritt nun
offen hervor.
1.3.3 Emile Michel baut Fromentins Schilderung zur Ablehnungslegende aus
Woher Fromentin plötzlich „weiß“, welche Reaktion „die Nachtwache bei ihrem Erscheinen“
hervorrief, ist eine offene Frage (vgl. Boomgaard 1995, 220). Weder das damalige noch das
heutige Quellenmaterial, keine Gerichtsakte aber auch keine klassizistische Anekdote läßt
sich als Anregung für diese Behauptung ausmachen. Außer Frage steht dagegen die Fruchtbarkeit des damit entworfenen Konzeptes, das darin besteht, die Nachtwache, also das berühmteste Bild Rembrandts, zum Schlüsselbild seiner menschlichen und künstlerischen Entwicklung und zum Symbol der in Rembrandt personifizierten Idee vom Künstler zu stilisieren. In dieser Weise wurde die Ablehnungslegende im folgenden zum zentralen Bestandteil
43
„On sait à quoi s’en tenir sur l’effet que produisit la Ronde de nuit, lorsqu’elle parut en 1642. Cette tentative
mémorable ne fut ni compromise ni goûtée. Elle ajouta du bruit à la gloire de Rembrandt, le grandit aux yeux de
ses admirateur fidèles, le compromit aux yeux de ceux qui ne l’avaient suivi qu’avec quelque effort et
l’attendaient à ce pas décisif. Elle fit de lui un peintre plus étrange, un maître moins sûr. Elle passionna, divisa
les gens de goût suivant la chaleur de leur sang ou la roideur de leur raison. Bref, on la considéra comme une
aventure absolument nouvelle, mais scabreuse, qui le fit applaudir, pas mal blâmer, et qui au fond ne rassura
personne.“ (Fromentin 1972 [1876], 215).
267
der Verkennungsdramaturgie, deren mythisches Muster der „Verkennung als Anerkennung“
(Boomgaard) Fromentin selbst jedoch noch nicht vollständig ausformuliert hat. Wo dieser
Schritt vollzogen wird, hat zuerst Jan Emmens herausgestellt:
„[Bei Michel] finden wir den vollständigen Verkennungsmythos, rund um die Nachtwache gruppiert und motiviert durch einen Verweis auf den phantastischen Einschla g dieses Gemäldes, wodurch es für die Zeitgenossen als Porträtgruppe mißglückt gewesen sei, aber für das 19. Jahrhundert
das verkannte Meisterwerk par excellence vergegenwärtigte.“ (Emmens 1968, 21) 44
Der französische Autor Émile Michel ist in mehreren Publikationen, zuerst 1886,45 als Rembrandtkenner hervorgetreten und verkörpert um die Jahrhundertwende als Autor wie in Zuschreibungsfragen neben dem Deutschen Bode und den Niederländern Bredius und Hofstede
de Groot die französische Autorität in Sachen Rembrandt.46 Seine inhaltlich wie materiell
umfangreiche Monographie über den Künstler hat der 20 Jahre älteren Monographie von
Vosmaer nicht nur die Einarbeitung der neuesten Archivfunde voraus, sie setzt auch durch
eine komplexe Einbindung Rembrandts in die politischen und kulturgeschichtlichen Bedingungen seiner Zeit einen neuen Maßstab.47
Wenn wir bei Michel vom ‘vollständigen Verkennungsmythos‘ sprechen können, so hängt
das entscheidend mit dem Bestreben dieses Autors um historische Kontextualisierung und um
ein geschlossenes Bild der Person, der Kunst und der Zeit Rembrandts zusammen. Die einzelnen Daten, die in den Archivquellen aufgefunden und aus den Rembrandt zugeschriebenen
44
„[Bij Michel] vinden wij de miskenningsmythe compleet, gegroepeerd rondom de Nachtwacht en gemotiveerd
met een verwijzing naar de fantastische inslag van dit schilderij, waardoor het voor de tijdgenoten een mislukking als portretgroep zou zijn geweest, maar voor de 19de eeuwers het miskende meesterwerk par excellence
vertegenwoordigde.“ (Emmens 1968, 21).
45
In der Reihe Les artistes celebres (Paris: Librairie de l'art) erschien 1886 die erste umfassende Publikation
Michels zu Rembrandt (126 Seiten). Als Hauptwerk kann jedoch die Monographie gelten, die 1893 publiziert
wurde und aus einem (reich bebilderten) Textband sowie einem eigenen Bildband besteht.
46
Vgl. Boomgaard 1995, 107.
47
Zudem kann sie, dank der jüngsten Entwicklung fotografischer Reproduktionstechnik, erstmalig mit einer
umfassenden Bebilderung aufwarten. Den Text band illustrieren über 300 Abbildungen, vorwiegend Radierungen
und Zeichnungen, zusätzlich vermittelt ein Bildband einen Eindruck des malerischen Werkes. Stolz und euphorisch begrüßt Émile Michel im Vorwort die Fortschritte der Heliogravure, durch die „ohne Hilfe jeder anderen
Vermittlungsinstanz als der Sonne“ Rembrandt selbst der Illustrator dieses Bandes sei: „Nur das Licht allein
haben wir darum gebeten, die Werke des Malers des Lichts zu übertragen.“ („Par une rare fortune, sans le secours d’aucun autre intermédiaire que le soleil, Rembrandt est l’illustrateur de ce volume où je me propose de
raconter sa vie et d’apprécier son talent. C’est à la lumière seule que nous avons demandé de traduire les œuvres
du peintre de la lumière.“ Michel 1893, X f.). Damit hatte Vosmaers Buch die längste Zeit den Rang der umfassendsten Informationsquelle über den holländischen Künstler bekleidet. Über die Bekanntheit und den Einfluß
der Michelschen Monographie in Fachkreisen kann auch die Tatsache nicht hinwegtäuschen, daß Carl Neumann,
der als erster deutschsprachiger Autor dem Maßstab Michels nachzufolgen versuchte, in seiner Literaturdiskussion die fraglos vorbildliche Schrift seines französischen Kollegen nur ganz beiläufig erwähnt (Neumann 1902,
12; vgl. Boomgaard 1995, 107).
268
Werken abgelesen werden, überführt Michel dabei durch Kausalverknüpfungen, Interpretationen und Psychologisierungen in eine homogene Erzählung.
Am Beispiel der Legende von der Ablehnung der Nachtwache läßt sich die praktische Auswirkung dieser Narrativierung illustrieren. Denn wo bei Vosmaer ausschließlich der engere
Kreis der betroffenen Zeitgenossen Unzufriedenheit mit dem Bild signalisiert und sich bei
Fromentin die künstlerische Wertschätzung Rembrandts auch im weiteren Publikum in zwei
Lager spaltet, da bindet Michel dieses Ereignis mit letzter Konsequenz in einen linearen Entwurf des Lebenslaufes ein. Es ist die Kopplung zweier Ereignisse, des Todes Saskias und der
Ablehnung der Nachtwache, an der dieses narrative Verfahren besonders augenfällig wird.
Émile Michel stellt eine wirkungsvolle Verknüpfung jener ‘Schicksalsschläge‘ her, die Rembrandt dieser Darstellung zufolge in den beiden vom Diskurs unterschiedenen Sektoren des
Öffentlichen wie des Privaten im Frühjahr 1642 zu erleiden hatte. Nachdem er sich in Kapitel
13 mit dem Auftrag und der ästhetischen Umsetzung der Nachtwache beschäftigt hatte, beginnt er das folgende Kapitel zunächst mit der Erzählung über Saskias Krankheit, ihren Tod
und ihr Testament, bevor er unter dem Seitentitel „L‘Effet produit par la Ronde de nuit“ zur
Nachtwache zurückkehrt.
„Um auf die grausamste Weise empfunden zu werden, war die Trauer über den Verlust einer zärtlich geliebten Gattin nicht das einzige, das Rembrandt nun zu ertragen hatte. Er konnte sich keine
Illusionen darüber machen: die öffentliche Gunst begann, sich von ihm abzuwenden. Nachdem er
ganz und gar in Mode gekommen war und die herausragende Position unter allen Amsterdamer
Künstlern eingenommen hatte, sah er sich nun ein wenig zurückgestellt. Sein launisches Verhalten
gegenüber der gehobenen Gesellschaft, deren bestallter Künstler er innerhalb kurzer Zeit geworden
war, hatte viele Leute abgeschreckt. Die Nachtwache fügte seinem Ruf einen fatalen Schlag zu und
verstärkte seine Isolation zusätzlich.“ (Michel 1893, 296) 48
Der privaten Katastrophe schließt sich also direkt die berufliche an; nach dem Verlust der
engsten Vertrauten wird die Isolation durch die Reaktion der Öffentlichkeit auf die Nachtwache zusätzlich verstärkt. Dieses Kernelement der Dramatisierung wird unten wieder aufzugreifen sein. Folgen wir aber zunächst Michels Argumentation, die jetzt die Tendenz zeigt,
die Begründungen für die Ablehnung des Bildes, wie sie bei Vosmaer, Bode oder Burckhardt
angedeutet wurden, umfassend darzulegen und die Reichweite des Ereignisses zu vergrößern:
48
„Pour être la plus cruellement ressentie, la tristesse que lui causait la perte d’une épouse tendrement aimée
n’était pas la seule que Rembrandt dût éprouver alors. Il ne pouvait se le dissimuler, la faveur publique commençait à se détourner de lui. Après avoir été tout à fait à la mode et le plus en vue de tous les artistes
d’Amsterdam, il se voyait maintenant un peu délaissé. Ses procédés fantasques vis -à-vis de la haute société, dont
il était en peu de temps devenu le peintre attitré, avaient rebuté bien des gens. La Ronde de nuit allait porter un
coup fatal à sa réputation et accroître encore son isolement.“ (Michel 1893, 296).
269
„Man kann sich ihre verheerende Wirkung leicht erklären. (...) für die Holländer jener Zeit, nüchterne Menschen von besonnenem Geist, Freunde der Klarheit in allen Dingen, war diese Auffassung des Lichtes gut geeignet, um sie zu irritieren. (...) Rembrandts Werk erschien ihnen als Ketzerei, fast schon als eine Taktlosigkeit, die sich gegen sie richtete. In die Achtung gegenüber den
Traditionen vertrauend, hatten sie bezahlt, um in ihrer Erscheinung gut sichtbar abgebildet zu werden, und nun schändete der Maler, an den sie sich gewandt hatten, offen die ungeschriebenen Vertragsbedingungen, die alle seine Vorgänger akzeptiert hatten.“ (Michel 1893, 296) 49
Michel baut die Vorstellung vom geringen Kunstverstand der Auftraggeber aus, deren
Wunsch allein in der repräsentativen Wiedergabe ihrer Porträts bestanden habe. Indem er
Rembrandts ästhetische Umsetzung als Bruch eines ungeschriebenen Vertrages deutet, läßt er
die vermeintliche Reaktion der Besteller als nachvollziehbar erscheinen. Und indem er die
Argumente der Gegenseite ausschmückt, sich sogar entschuldigend für diese einsetzt, erhöht
er die Plausibilität seiner Behauptung:
„Die zwei Anführer, gut pla tziert und hervorgehoben, konnten sich wirklich nicht beschweren (...).
Doch abgesehen von vier oder fünf Mitgliedern der Korporation empfand sich der Rest der Truppe
als schlecht verteilt; und wenn man den Standpunkt jener rechtschaffenden Leute einnimmt, hatten
sie sicher allen Grund, die Verfahrensweise des Malers ihnen gegenüber als wenig korrekt zu erachten. Die Gesichter in Schatten getaucht, hier und da von einem Lichtschein erleuchtet; andere
kaum sichtbar, wieder andere in düsterer Weise ausgeführt und deshalb auch von mehr als zweifelhafter Erscheinung; das war ganz sicher nicht was sie von ihm erwartet hatten.“ (Michel 1893, 296
f.)50
Im Stile einer Verteidigungsrede läßt uns Michel den „Standpunkt jener rechtschaffenden“
Gildemitglieder einnehmen und bringt uns so deren vermeintliche Wahrnehmung des Bildes
nahe. Die Reaktion auf die enttäuschten Erwartungen wird verständlich, und der hypothetische Charakter der Ablehnung verfestigt sich zur Gewißheit („assurément“). Im nächsten
Schritt tritt der Autor wieder auf die Seite des Künstlers - er etabliert auf diese Weise rheto-
49
„On s’explique facilement l’effet désastreux qu’elle avait produit. (...) pour les Hollandais de ce temps, gens
positifs et de sens rassis, ami de la clarté en toutes choses, cette façon de comprendre la lumière était bien faite
pour les déconcerter. (...) L’œuvre de Rembrandt leur semblait une hérésie, presque une indélicatesse vis -à-vis
d’eux-mêmes. Confiants dans des traditions respectées, ils avaient payé pour être représentés dans leur ressemblance et posés bien en vue; et voici que le peintre auquel ils s’étaient adressés violait ouvertement les tremes du
contrat tacite qu’avaient accepté tous ses prédécesseurs.“ (Michel 1893, 296).
50
„Les deux chefs, mis en belle place et tout à fait en évidence, ne pouvaient, il est vrai, se plaindre (...). Mais,
sauf quatre ou cinq membres de la corporation, le reste de la troupe se trouvait assez mal partagé; et en se mettant au point de vue de ces braves gens, il est certains qu’ils avaient lieu d’estimer peu correct le procédé du
peintre à leur égard. Des visages noyés dans l’ombre, éclairés çà et là par quelque accroc de lumière; d’autres à
peine visibles, d’autres enfin d’une exécution très sommaire et par consèquent d’une ressemblance plus que
douteuse, ce n’était pas là assurément ce qu’ils avaient attendu de lui.“ (Michel 1893, 296 f.).
270
risch eine Grenzlinie zwischen dem Maler und der Öffentlichkeit, die wir im Akt der Lektüre
nachvollziehen - und läßt nun die ‘gegensätzliche‘ Intention Rembrandts deutlich werden:
„Ohne sich die Bedingungen des Genres bewußt zu machen, so wie sie ihnen als festgelegt erschienen, hatte er sich recht wenig um ihre Gestalten gekümmert, vielmehr ausschließlich um die ästhetischen Notwendigkeiten seiner Komposition. Vor allem anderen hatte er ein Bild machen wollen.
Nach seiner Stimmung zu schließen konnte man glauben, daß ihre Reklamationen ihn kaum beunruhigten und daß seine Art, diese entgegenzunehmen, sie endgültig gegen ihn verstimmte.“ (Michel
1893, 297)51
Isoliert man diese Passage, wird der normative Charakter deutlich. Der Künstler, so ließe sich
paraphrasieren, ist nicht der Kunstvorstellung der Auftraggeber Rechenschaft schuldig, sondern vor allem seiner Kunst. In ihr allein liegt die Motivation des Künstlers, ihren Regeln folgen seine Entscheidungen: „Vor allem anderen hatte er ein Bild machen wollen“.52 Es ist das
Autonomiepostulat, das hier, mitten im Verlauf der Argumentation Michels, als ‘Normaussage‘ formuliert wird, als Beschreibung eines historischen Phänomens, die zugleich als allgemeine Vorschrift für künstlerisches Handeln gelesen werden kann. Rembrandt scheint daraus
bereits hinreichend Selbstgewißheit bezogen zu haben, um den Irritationen seiner Auftraggeber mißachtend entgegenzutreten und sie so „endgültig gegen ihn“ aufzubringen - was seiner
‘Befreiung‘ als Künstler gleichkommt.
Michel bindet im Anschluß noch ein weiteres Versatzstück in diese Narration ein. Die Wappenkartusche mit der Namensliste der Porträtierten, die im oberen Bildteil der Nachtwache am
Torbogen zu sehen ist und die man zur Zeit Michels bereits als nachträgliche Hinzufügung
ansah, sei demnach infolge der Unzufriedenheit der Auftraggeber angebracht worden:53
„Da sie ihn nicht zu einer Änderung seines Werkes bewegen konnten, verschafften sie sich die einzige Befriedigung, die ihnen zur Verfügung stand. In Ermangelung ihrer Ähnlichkeit wollten sie
zum mindesten ihre Namen erhalten wissen, indem sie diese nachträglich in ein Wappenschild im
oberen Teil der Leinwand eintragen ließen.“ (Michel 1893, 297) 54
51
„Sans tenir compte des conditions du genre, telles qu’elles leur semblaient établies, il s’était préoccupé fort
peut de leur personne et uniquement des nécessités esthétiques de sa composition. Avant tout, il avait voulu faire
un tableau. De l’humeur dont il était, on peut croire qu’il ne s’inquiéta guère de leurs réclamations et que la
façon dont il les accueillit acheva de les indisposer contre lui.“ (Michel 1893, 297).
52
Hier sei an zwei Zitate aus dem Abschnitt zur Unterscheidung zwischen Auftrag und Autonomie erinnert:
„Nicht die Bestellung lockte ihn, sondern das Bild“ (Gurlitt 1902, 435); „Er verlangte ja nie nach Geld (...). Er
wollte nur die Kunst.“ (Storck 1903, 510).
53
Fromentin hatte diese Kartusche noch Rembrandts ursprünglicher Ausführung zugeschrieben, desgleichen
seine Zeitgenossen (z.B. Springer 1886,191). Die aktuelle Fachwissenschaft spricht von einer Hinzufügung
„probably added shortly afterwards“ (Bruyn u.a. 1989, 432).
54
„Ne pouvant obtenir qu’il modifiât son œuvre, ils se donnèrent la seule satisfaction qui fùt à leur portée. A
défaut de leur ressemblance, ils voulurent du moins conserver de leurs noms, en les faisant inscrire après coup
sur un écusson peint vers le haut de la toile.“ (Michel 1893, 297).
271
So macht sich Michel ein Element des Bildes zunutze, um seiner Deutung des Urteils der
Auftraggeber Nachdruck zu verleihen. In einer Anspielung auf die Theorie, die Nachtwache
sei bei einem Umzug am linken und am oberen Bildrand beschnitten worden, da sie nicht
durch die Tür gegangen sei,55 stellt er zudem eine Verbindung zwischen den zeitgenössischen
und den postumen ‘Verkennern‘ des Künstlers her:
„Es hat sogar den Anschein, als würden die geringe Sorgfalt, mit der man das Bild im folgenden
behandelte, und die Verstümmelungen, welche man ihm zufügte, die Beständigkeit jener Vorwürfe
bestätigen, denen Rembrandt durch seine Zeitgenossen ausgesetzt war.“ (Michel 1893, 298) 56
Und noch ein weiteres Element kann zur der Ablehnungslegende gezählt werden: die Anrufung der Nachwelt, die erst Rembrandts wahre Bedeutung erkennen sollte. Michel führt in
diesem Zusammenhang auch das bekannte Argument fehlender Folgeaufträge an und verknüpft es mit einer Unterscheidung zwischen autonomen Künstlern und folgsamen Ausführern von Auftragsarbeiten:
„Allein die Nachwelt sollte den Meister gegen die leidenschaftlichen Kritiken rächen, denen er
ausgesetzt worden war; doch versteht man, daß die Schützen nach einer derart empfindlichen Verletzung ihres Selbstwertgefühls nicht mehr daran dachten, sich an ihn zu wenden. Sie wußten, daß
sie unter den anderen Malern und selbst unter seinen Schülern folgsamere Künstler finden konnten,
die mehr darauf eingestellt waren, sich ihren Wünschen zu fügen.“ (Michel 1893, 298) 57
Der Argumentationsverlauf ist an seinem Endpunkt angekommen. Die Ursachen sind benannt, die Wirkungen dargelegt. Michel wird sie noch einmal in Form einer Schlußfolgerung
resümieren und dabei den Schritt verdeutlichen, der ihn von Vosmaer oder Fromentin trennt.
Er hat die Ablehnung der Nachtwache nicht nur als Tatsache dargestellt, sondern an zentraler
Stelle in ein umfassendes Konzept der Verkennung Rembrandts durch dessen Zeitgenossen
eingebunden. Die Vorgänge um das Schützenstück erscheinen bei Michel als entscheidender
Wendepunkt der Lebensgeschichte, und das Bild selbst wird somit zum Symbol jenes janus55
Dieser Vorgang gilt heute als gesichert (Bruyn u.a. 1989, 430). Während des Untersuchungszeitraums wurde
er kontrovers diskutiert. Überliefert ist er durch den Restaurator Van Dijk (1758), Vosmaer bestreitet dessen
Aussage jedoch mit Verweis auf die Geschlossenheit der Komposition (1868, 148). Anderen Autoren gilt die
Verstümmlung als Tatsache (Hofstede de Groot 1899, o.S., zu Nr. 12), die jedoch ein Artikel von Jan Veth
(1902) erneut verunsicherte, so daß sich auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowohl Gegner (Philippi
o.J. [1901], o.S.) als auch Befürworter der Verstümmelungsthese finden (Schmidt-Degener 1928, 33; Hausenstein 1926, 189). Die beiden Letztgenannten verknüpfen, wie schon Michel, die Verstümmelung des Bildes mit
der Verkennung des Künstlers.
56
„Il semble même que le peu de soin que l’on prit ensuite du tableau et les mutilations dont il fut l’objet attestent la persistance de ces griefs que les contemporains de Rembrandt avaient nourris contre lui.“ (Michel
1893, 298).
57
„La postérité seule devait venger le maître des critiques passionnées auxquelles il avait été en butte; mais on
comprend qu’après un mécompte aussi sensible à leur amour-propre, les gardes civique ne songèrent plus à
s’adresser à lui. Ils savaient que parmi les autres peintres et parmi ses disciples eux-mêmes ils pouvaient trouver
des artistes plus dociles, plus disposés à se conformer à leurs désirs.“ (Michel 1893, 298).
272
köpfigen Prozesses, dessen eine Seite ‘Verkennung‘ und dessen andere ‘Autonomie‘ heißt.
Diese Autonomie des Künstlers findet ihre Konsequenz in seiner Isolation, seinem späten
Rückzug aus der Öffentlichkeit in die Kunst, die nun nicht länger als Handwerk zum Gelderwerb dient, sondern der höheren Aufgabe eines Mittels zum Ausdruck der unaussprechlichen
Geheimnisse der Seele geweiht ist:
„Deshalb sind von jenem Moment an die Bestellungen immer weniger zahlreich geworden. Weit
davon entfernt, sich zu mildern, wandelte sich das etwas unbeherrschte Gemüt Rembrandts zur
Misanthropie. Er hatte zweifellos noch einige zuverlässige Freunde, Zeugen seines Schmerzes, die
mitzufühlen wußten und ihn mit ihrer Zuneigung umgaben. Aber die Arbeit war, wie immer, seine
beste Zuflucht. Ein für alle Male seinem Leiden ausgeliefert, erhob er sie zur Aufgabe seines einsamen Lebens. Er liebte es nicht, sich in vergeblichen Worten zu ergehen, und allein in seiner
Kunst konnte er eine schweigsame, aber vielsagende Entäußerung jener Gedanken finden, die seine
Seele anfüllten.“ (Michel 1893, 298) 58
Hatte sich im Umfeld Vosmaers und Fromentins lediglich bei einigen Autoren die Vermutung
über die Unzufriedenheit einzelner Gildemitglieder etabliert, so wird diese bei Michel zu einer
komplexen Narration ausgebaut, zur Ablehnungslegende der Nachtwache. Damit erhält das
Bild eine Schlüsselstellung in der Erzählung von der Verkennung Rembrandts durch seine
Zeitgenossen, was es zugleich zu einem heroischen Dokument der künstlerischen Autonomie
erhebt, zu Rembrandts ‘Unabhängigkeitserklärung‘.
1.4 Die Ablehnungslegende in der deutschsprachigen Literatur
Wenn ich oben implizit behauptet habe, die Kurzformeln zur zeitgenössischen Kritik der
Nachtwache bei Lübke, Burckhardt und Bode könnten als Paraphrasen über Vosmaer gelesen
werden, so stellt sich nun natürlich die Frage, wie sich die weitere Behandlung dieses Themas
in der deutschsprachigen Literatur zu den Erweiterungen dieser Formeln und ihrer Verfestigung zu einer Ablehnungslegende verhält, die wir bei Fromentin und Michel beobachten
konnten.
Zunächst einmal ist dabei festzustellen, daß die Bezugnahme auf die Nachtwache in den 80er
Jahren selbst bei kurzen Texten selbstverständlich geworden ist.59 Äußerungen zu deren
58
„Aussi à partir de ce moment, les commandes étaient devenues de moins en moins nombreuses. Loin de
s’adoucir, l’humeur un peu farouche de Rembrandt tournait à la misanthropie. Sans doute, il avait encore quelques amis sûrs qui, témoins de sa douleur, savaient y compatir et l’entouraient de leur affection. Mais le travail
était, comme toujours, son meilleur refuge. Ècrasé un moment et tout entier à son chagrin, il lui avait bientôt
demandé l’occupation de sa vie solitaire. Il n’aimait pas à se répandre en vaines paroles, et dans son art seul il
pouvait trouver une traduction silencieuse, mais éloquente, des pensées qui remplissaient son àme.“ (Michel
1893, 298).
59
Auch die Omnipräsenz ihrer Reproduktionen belegt ihre fortgesetzte Einstufung als Schlüsselwerk.
273
skeptischer Aufnahme durch die Zeitgenossen werden im selben Zeitraum zum Topos, jedoch
variieren sie hinsichtlich des Umfangs, und ihr inhaltliches Spektrum reicht vom Mißfallen
der Abgebildeten über die allgemeine Ablehnung bis hin zur Stilisierung des Bildes zum Anlaß einer umfassenden Verkennung Rembrandts. So bewertet etwa Cornelius Gurlitt in seiner
Geschichte der Kunst (1902) die „Schaarwache“ als eigenwilligstes Bild des Künstlers, als
„das Bild, in dem er am entschiedensten sich selbst Genüge thut“ (Gurlitt 1902, 435). Mit
Selbstverständlichkeit sieht Gurlitt in dem Gemälde eine Vernachlässigung der Porträtaufgabe
zugunsten der „Darstellung eines Vorganges“ (ebd.) und interpretiert diese Bildlösung als
eine souveräne Entscheidung des Künstlers, der sich damit den Auftraggebern und den ‘ungeschriebenen Vertragsbedingungen‘ (Michel) widersetzt habe:
„Man hat seiner Zeit das Bild nicht mit Zustimmung aufgenommen. Jedes Mitglied der Gruppe
hatte seinen Beitrag zu zahlen und die im Hintergrund stehenden murrten gegen diese Anordnung.
Es dauerte lang, ehe Rembrandt den dritten ähnlichen Auftrag erhielt: Man konnte ihm nicht verzeihen, daß ihm die Menschen ein Stück des Bildes und nicht um ihrer selbst willen von höchster
Bedeutung waren, daß in seinem Schaustück nicht jedem eine gute Rolle, sondern lediglich ein
großer malerischer Gesamteindruck geschaffen war.“ (Gurlitt 1902, 435)
Diesem Motiv der Unterordnung des einzelnen „Bürgerschützen“ (ebd.) unter den „malerische[n] Gesamteindruck“, das Gurlitt hier 1902 zur Ursache der Unzufriedenheit mit der
Nachtwache erklärt, gilt auch in einer der disziplingeschichtlich bedeutsamsten Arbeiten jenes
Jahres ein zentrales Interesse. Ihr Autor ist Alois Riegl, Professor für Kunstgeschichte in
Wien; ihre Zielsetzung ist die erste systematische Untersuchung zu Entwicklungsgeschichte
und Gestaltungsmerkmalen des holländischen Gruppenporträts. Im Zentrum dieser Arbeit
stehen detaillierte Bildbetrachtungen, die besonders nach den Kommunikationsstrukturen der
abgebildeten Personen untereinander fragen sowie nach deren Verhältnis zum Betrachter,
wobei diese Strukturen als Unterordnung oder Überordnung („Subordination“ oder „Koordination“) beschrieben werden. In seiner methodischen Konsequenz, in den Ansätzen zu einer
gesellschaftspolitischen Begründung dieser weitgehend auf das bürgerliche Holland beschränkten Bildgattung sowie in der intersubjektiven Perspektive seiner Entwicklungsgeschichte unterscheidet sich Riegls Auseinandersetzung mit der Kunst des 17. Jahrhunderts
grundsätzlich von den biographisch orientierten Autoren, die das Bild der Rembrandtrezeption dominieren. Anatomie, Nachtwache und Staalmeesters sind hier zwar ebenfalls an die
Person ihres künstlerischen Urhebers gebunden, stehen aber darüber hinaus als wichtige Versuche der Lösung eines bestimmten Bildproblems in einem systematischen Vergleich mit
Werken von de Keyser, Hals oder van der Helst, wobei auf polarisierende Wertungen, etwa
zwischen ‘Modemalern‘ und ‘künstlerischen Genies‘, verzichtet wird. Biographische Verweise spielen in diesem Argumentationszusammenhang keine Rolle. Deshalb ist es um so
274
auffälliger, wenn am Rande der Untersuchung doch einige beiläufige Bemerkungen zur Person Rembrandts und seinem Schicksal gemacht werden. So bildet Rembrandt auch bei Riegl
das Beispiel eines Künstlers, dem besonders an der Autonomie seiner gestalterischen Aufgaben und deren Lösung gelegen ist. In der Nachtwache sieht er das Bestreben zur „Subordination“ der einzelnen Porträts unter eine Gesamtordnung, wodurch notwendigerweise ein unterschiedlicher Grad an Aufmerksamkeit auf die Einzelbildnisse entfalle. Auch de Keyser habe
schon einmal versucht, die „Subordination“ der „Koordination“ vorzuziehen, doch seine „Erfahrungen mit den Amsterdamern“ hätten dazu geführt, daß er „alle Köpfe wieder gleichwertig zur Geltung kommen ließ“ (Riegl 1931 [1902], 195):
„Aber Rembrandt kannte diese Rücksicht nicht und verfolgte sein künstlerisches Ziel über eine Linie hinaus, über die ihm seine Zeitgenossen zu einem großen Teil nicht mehr zu folgen vermochten.
(...) Eine Auffassung, die anderthalb Dutzend Köpfe geflissentlich zurückdrängte und nivellierte,
um bloß zwei Köpfe in voller Porträtlebendigkeit heraustreten zu lassen, bedeutet nahezu eine Vernichtung der Koordination und somit des Gruppenporträts überhaupt. Konnte von einem solchen
überhaupt noch die Rede sein, dann war es eben ein Doppelporträt von Kapitän und Leutnant vor
einem mit Figuren belebten Hintergrunde. Und dies war es auch, was die Mehrzahl der Porträtierten und mit ihnen zahlreiche Unbeteiligte aus dem Amsterdamer Publikum an dem Bilde sofort
auszustellen hatten.“ (Riegl 1931 [1902], 195)
An die als extreme Lösung empfundene Gestaltung der Nachtwache wird also auch in diesem
so formanalytisch orientierten Text ein Verweis auf den Konflikt des ‘autonomen Künstlers‘
mit der Gesellschaft angeschlossen. Rembrandt habe sich, so lautet der Topos im Vokabular
Riegls, mit seinen Absichten „dem durchschnittlichen Kunstwollen seiner Landsleute so sehr
entfremdet, daß sie ihm darin nicht mehr zu folgen vermochten“ (ebd., 198). Wie vor ihm bereits Michel (1893, 297), äußert Riegl Verständnis dafür, daß die Zeitgenossen speziell mit
der Nachtwache Probleme gehabt hätten:
„Man ist selbst heute ziemlich einig darüber, daß die Raisonnierenden dabei in gutem Rechte waren, und macht ihnen bloß zum Vorwurfe, daß sie über die Verstimmung wegen Vernachlässigung
der eigenen werten Person den Kunstwert des Bildes an und für sich ganz vergessen konnten.“
(Riegl 1931 [1902], 195 f.)
Die Publikumsreaktion im Amsterdam des Jahres 1642 erscheint hier nicht als fraglich. Wenn
aus einer scheinbar neutralen Perspektive Verständnis für ein historisches Unverständnis gegenüber der Nachtwache geäußert wird, so ist die Faktizität dieses Unverständnisses vielmehr
vorausgesetzt. Auch in Riegls Entwicklungsgeschichte der Bildgattung, auch in seine Kategorien der Subordination und der Koordination mit ihrer Problematisierung von Gleichrangig275
keit oder Hierarchie der Abgebildeten im Gruppenporträt wie in der Gesellschaft paßt die Idee
der Unzufriedenheit mit Rembrandts einzigem Schützenstück hinein. In seinen Bildbeschreibungen und Bewertungen widerspricht der Wiener Kunsthistoriker mehrfach vehement seinem Heidelberger Kollegen Carl Neumann, der eben erst seine Rembrandt-Monographie vorgelegt hatte.60 Es liegt jedoch offenbar nicht in Riegls Interesse, sich auch mit der Haltung
Neumanns zur Ablehnungsthese auseinanderzusetzen. Denn Neumann hatte seinerseits den
Darstellungen Vosmaers und Michels zur Ablehnung der Nachtwache widersprochen. Dabei
scheint er den Topos zunächst in der mittlerweile gewohnten Weise zu behandeln:
„(...) wir wollen es gleich hier aussprechen, daß die Bestellung des Schützenbildes eine Art von
künstlerischem Mißverständnis war, indem eben das, was die Auftraggeber wünschten, eine Anzahl
Bildnisse, den Maler nicht interessierte, und er also die Aufgabe in der Richtung seiner augenblicklichen Interessen umgestaltete und in seine eigenthümliche Ausdrucksweise übersetzte.“
(Neumann 1902, 224)
Dennoch sei es falsch, aus diesen unterschiedlichen Interessen auf eine Ablehnung der Nachtwache zu schließen, als deren Folge Rembrandt bereits in den 40er Jahren zum gesellschaftlichen Außenseiter geworden sei:
„Alles dies in Betracht gezogen, würde man doch sehr irren, wenn man sich Rembrandts Stellung
erschüttert vorstellte. Hierüber laufen die größten Irrtümer um, und sie haften um so fester, als eine
gewisse Selbstgefälligkeit der Nachwelt sich viel darauf zu gut thut, ein zu früh in die Welt gekommenes Genie zu entdecken und ihm auf den Thron zu helfen, wobei es geläufig ist, die Zeitgenossen des Genius ob ihres geringen Verständnisses anzuklagen, ja eben diese Verkennung und
Anfeindung zu einem der Merkmale zu machen, an denen als an indirekten Beweisen der Genius
mit seinen Begleiterscheinungen zu kennen sei.“ (Neumann 1902, 404 f.)
Mit dieser Kritik bezieht sich Neumann konkret auf die Ablehnungslegende und spart dabei
auch nicht mit persönlichen Schuldzuweisungen:
„Es ist fast eine stehende Wendung der Rembrandtbiographie geworden, den Mißerfolg der
Nachtwache als den Stoß zu bezeichnen, der Rembrandts Ruf erschüttert habe; die Eigenmächtigkeit seiner malerischen Behandlung, die Rücksichtslosigkeit gegen die Besteller, die in diesem Bild
eigentlich betrogen worden seien, habe allgemeine Unzufriedenheit erregt, und der damit erfolgte
Bann, der auf Rembrandt seitdem lastete, habe ihn zum Menschenfeind gemacht und in seinen
Sonderlingsneigungen bestärkt. (In die ser Art weit ausgesponnen bei Michel p. 296 ff.)“ (Neumann
1902, 405)
60
Riegl 1931, z.B. 188 (Fußnote 1) oder 194 (Fußnote 2).
276
Zur Entkräftung der „stehende[n] Wendung“ verweist Neumann, den Regeln der wissenschaftlichen Beweisführung folgend, auf den Mangel an verläßlichen Quellen:
„Für solche und ähnliche Behauptungen fehlt indessen jeder ausdrückliche Anhaltspunkt in zuverlässigen Berichten. Im Gegenteil beweisen die Zeugnisse, die des Bildes überhaupt gedenken, daß
es als Kunstwerk großes Staunen erregte und seinen großen Eindruck zu machen fortfuhr. (...) Daß
Rembrandt weiter keine Schützenstücke gemalt hat, beweist nicht, daß ihm keine bestellt worden
seien; denn vielleicht wies er solche Aufgaben ab und wollte sich ihren ausdrücklichen Bedingungen nicht fügen.“ (Neumann 1902, 405)
Neumann entkräftet einen wichtigen Beleg der Ablehnungsthese, die geringe Zahl an Aufträgen für Gruppenporträts, durch eine kontrapunktische Deutung. Interessant ist dabei, daß sich
beide Modelle, die das Fehlen an Aufträgen deuten, auf die Grundlage einer abwehrenden
Haltung Rembrandts gegen Auftragsarbeiten stützen, also mit dessen Einschätzung als autonomem Künstler operieren. Und tatsächlich beschränkt sich Neumanns Widerspruch auf die
Erhebung der Nachtwache zum Schlüsselwerk im Konflikt zwischen Künstler und Gesellschaft. Die übergeordnete Vorstellung von Verkennung und Vereinsamung Rembrandts ist
davon nicht betroffen, sie wird lediglich auf das Spätwerk verschoben:61
„Der Rückgang seines Ansehens fällt wohl erst in die allerletzten Jahre seines Lebens.“ (Neumann
1902, 408 f.)
Neumann richtet seine Kritik direkt an Émile Michel. Doch der Kreis der Autoren, die er damit unausgesprochen trifft, ist größer; die Ablehnungslegende hatte sich zu diesem Zeitpunkt
bereits als Topos etabliert. Franz von Reber, Mitarbeiter der Alten Pinakothek in München,
stellt die Ereignisse von 1642 in das Zentrum der Rembrandtpassage seines Handbuchs zur
Geschichte der Malerei (1894):
„Allein das Jahr 1642 zertrümmerte sein ganzes Glück. Zunächst durch den Tod seiner Saskia.
Dann aber durch den äusseren Misserfolg eines Werkes, das jetzt mit Recht als der Stolz der ganzen holländischen Kunst gilt, damals aber die Besteller mit Unzufriedenheit erfüllte, und vom Publikum mit allgemeinem Kopfschütteln aufgenommen wurde. Es war die sog. ‘Nachtwache’ (...).
Damals war der äussere Erfolg der, dass die Bestellungen ausblieben. Nur mehr selten zu einem
61
In vergleichbarer Weise, wenn auch weniger ausführlich, relativiert von allen untersuchten Texten der Jahre
1893-1926 nur Wilhelm Valentiner die Ablehnung der Nachtwache. Auch er hält zugleich an der Isolation Rembrandts in den letzten Jahren fest: „(...) die Wunderwerke aus Rembrandts Mannesalter sind zu allen Zeiten - das
halbe Jahrhundert nach des Künstlers Tod, als sein Name nichts galt, vielleicht ausgenommen - gepriesen worden. Auch schon zur Zeit, als sie entstanden. Die Annahme, daß der Umschwung der Stimmung des Publikums
durch die Nachtwache erfolgt sei, ist wahrscheinlich unrichtig. Der Ruhm des Künstlers blieb bis zum Ende der
vierziger Jahre und darüber hinaus bestehen.“ (1906, 110).
277
Bildnis aufgefordert, radierte der Künstler in der stillen Einsamkeit seines Hauses und ersetzte den
Mangel an Aufträgen durch unablässige Studien nach sich selbst.“ (Reber 1894, 338 f.)
Wenn Reber das Ausbleiben von Aufträgen als „Erfolg“ bezeichnet, mag er das ironisch meinen. Doch es ist erhellend, ihn wörtlich zu verstehen. Da die Marginalisierung durch die Zeitgenossen als Merkmal des modernen Künstlertums fungiert, ist Rembrandt mit dem Erreichen
seiner künstlerischen Autonomie durch die ‘Befreiung‘ von den Aufträgen tatsächlich ein
„Erfolg“ gelungen.
Erst in der rezeptionsgeschichtlichen Phase, die in der Verkennung in diesem Sinne einen
„Erfolg“ Rembrandts sah, erst in den 90er Jahren, wurde auch die Nachtwache als Vehikel
dieser Entwicklung beschrieben. Die aufsehenerregende Rembrandt-Ausstellung von 1898 bot
dafür einen besonderen Anlaß. Einerseits mögen hier zahlreiche Ausstellungstouristen erstmals dem Schützenbild begegnet sein. Andererseits waren gerade die Kenner in höchstem
Maße entzückt, das Werk wiederzusehen. Denn die Nachtwache hatte inzwischen zum wiederholten Male ihren Standort gewechselt.62 Nachdem sie lange Zeit im altehrwürdigen Trippenhuis, einem museal genutzten Amsterdamer Bürgerhaus, aufbewahrt worden war, folgte
1885 der Umzug in das neu errichtete Rijksmuseum. Aufgrund der ungünstigen Lichtverhältnisse löste die dortige Präsentation eine Welle der Kritik aus. So sprach etwa Hofstede de
Groot davon, das Bild sei „vom Schicksal verurtheilt, fortan in dem besser beabsichtigten als
ausgeführten Rembrandtsaale des neuen Reichsmuseums ein trübtrauriges Dasein zu führen“
(Hofstede de Groot 1899, o.S.). In den Räumen der Rembrandt-Ausstellung im Stedelijk Museum fand man dagegen „wieder ein lebendiges, strahlendes Bild“ vor (Bredius 1898, 7). Und
so wird auch in Rezensionen dieser Ausstellung, etwa bei Otto Seeck, über die Nachtwache
und ihre historische Rezeption diskutiert:
„Hier aber mußte es sich der Eine gefallen lassen, daß er im Dämmer des Halbdunkels beinahe verschwand, der Andere mußte gar einen Arm oder eine Schulter vor sich dulden, die ihm das halbe
Gesicht verdeckte. Denen das passierte, waren ohne Zweifel häßliche Burschen, mit deren langweiligen Zügen Rembrandt sein Bild nicht verunstalten mochte; aber ob sie selbst diesen Grund
gelten ließen, dürfte zum Mindesten zweifelhaft sein. Der Maler (...) mochte hoffen, daß die Großartigkeit des vollendeten Werkes auch die Gegner versöhnen werde. Es war eine idealistische Täuschung. Fast zwanzig Jahre lang hat Keiner mehr ein Doelenstück bestellt (...).“ (Seeck 1898, 54) 63
Die anschließende Aktualisierung verdeutlicht nochmals das dramatische Potential der Legende von der Ablehnung gerade dieses Werkes:
62
63
Vgl. Boomgaard (1995), wie Anmerkung 25.
In ähnlicher Weise äußert sich Heinrich Weizsäcker (1898, 508).
278
„Wenn man auf der Ausstellung die Menge der Besucher in staunendem Schweigen oder ehrfurchtsvollem Flüstern dem strahlenden Glanze der Nachtwache gegenüber sieht, empfindet man
tiefe Wehmut bei dem Gedanken, daß eben dieses Wunderwerk es sein mußte, das den Beginn des
Niederganges für seinen Schöpfer bezeichnete. Freilich nur in seinen äußeren Verhältnissen; in seiner Kunst steigt er desto höher, je weniger er sich um das Publicum bekümmert.“ (Seeck 1898, 55)
Zu den Fachkollegen, die Carl Neumann mit seinen kritischen Hinweisen auf die Irrtümer
über den angeblichen Mißerfolg der Nachtwache trifft, ist schließlich auch Wilhelm Bode zu
zählen. Er hält die Ablehnung der Nachtwache in seinem Text für den achtbändigen Werkkatalog (1900) für wahrscheinlich:
„[Das Schützenbild] war von allen Darstellungen ähnlicher Art, wie sie in Holland seit mehr als einem Jahrhundert in grosser Zahl entstanden, so vollständig verschieden, dass seine Beurtheilung
bei den Zeitgenossen begreiflicher Weise eine sehr verschiedenartige, beim grossen Publikum wohl
vorwiegend eine abfällige gewesen sein wird. Doch das ist ja, gerade wie heute, nur ein Beweis,
dass es über dem Niveau des Philisters steht, dass die Biedermänner, die darin dargestellt sind,
durch die geniale Kunst des Meisters in eine besondere Welt, in die künstlerische Welt Rembrandt’s gehoben wurden, die dem Publikum im Allgemeinen unzugänglich war.“ (Bode 1900, 17)
Auch Bode plausibilisiert die Ablehnungsthese durch den allgemeinen Verweis auf die Differenz zwischen der „geniale[n] Kunst des Meisters“ und dem „Niveau des Philisters“, des ‘Biedermanns‘, respektive des „Publikum[s] im Allgemeinen“. Er folgt damit zugleich einer Vorstellung, die die Kunst über den Alltag erhebt und den Künstler von den Banalitäten und
Zwängen, aber auch von den Sicherungen des Bürgertums entbindet. Dabei beschreibt der
Berliner Museumsdirektor indirekt selbst die symbolische Position, die der Ablehnung des
Werks zur Veranschaulichung der ‘typischen‘ Spannung zwischen Künstler und Öffentlichkeit zukommt, und betont zudem die Aktualität dieses Konzeptes: In der Ablehnung durch die
Zeitgenossen beweist sich die überzeitliche Relevanz des Künstlers, der Konflikt mit der
(bürgerlich-modernen) Gesellschaft ist eine Funktion der Kunst. Bode verweist die Ereignisse
des Jahres 1642 auf ihr Prinzip, und in dessen fortdauernder Wirksamkeit kann auch der
Grund dafür gesehen werden, daß Neumanns Relativierungsversuch bis auf wenige Ausnahmen ohne Echo blieb, während die Ablehnungslegende in Texten unterschiedlicher Gattungen
bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zum topischen Bestand zählte.
Statt einer Auseinandersetzung mit Carl Neumanns Analyse dieses Zusammenhangs brachten
die folgenden Publikationen lediglich weitere Beispiele für das Prinzip, „Verkennung und
Anfeindung zu einem der Merkmale zu machen, an denen als an indirekten Beweisen der Ge-
279
nius mit seinen Begleiterscheinungen zu kennen sei“ (Neumann). Der Kunstschriftsteller
Adolf Rosenberg schreibt 1904: 64
„Dieses Gemälde, das wir heute als eine der höchsten Offenbarungen des malerischen Genies verehren, ist von den Zeitgenossen seines Schöpfers, insbesondere aber von den Bestellern, bei weitem
nicht in gleichem Maße gewürdigt worden. Es erregte im Gegenteil unter den zunächst Beteiligten
eine so allgemeine Unzufriedenheit, daß Rembrandts ganze Malerei in Mißkredit kam und die
Gunst des Amsterdamer Publikums sich ebenso schnell von ihm abwandte, wie sie ihm zehn Jahre
früher zugeflogen war.“ (Rosenberg 1904, XXVII)
Die Legende von der Ablehnung der Nachtwache bietet sich als Schlüsselelement für die Tragödie von Aufstieg und Fall des genialen Künstlers Rembrandt van Rijn an, da sie die Gesamterzählung en miniature nachzeichnet. In ihr tritt die Unvereinbarkeit zwischen Künstler
und Umwelt unmißverständlich in Erscheinung, in ihr kann sich die Autonomisierung anschaulich vollziehen. Kein anderes Gemälde als dieses, sein monumentalstes, durch den
Nachruhm zum Hauptwerk erklärt, eignet sich besser für die Rolle des dramatischen Wendepunktes, dessen die Narration bedarf, zumal in diesem ‘Höhepunkt‘ seines Schaffens auch der
Höhepunkt seines Kontaktes zur Öffentlichkeit gesehen werden kann, wie die Zahl der darin
umgesetzten Porträts dokumentiert.
Das ‘verkannte Meisterwerk‘ Nachtwache fungiert als Symbol für den verkannten Künstler.
Es tut dies um so besser, als die biographischen Daten Rembrandts es ermöglichen, die
Schicksalsschläge in Leben und Werk an diesem Punkt zu überblenden.
1.5 Die Nachtwachenlegende: Beispiele der populären Rezeption
„Die Nachtwache war nur der Vorwand, der Anlaß. Die wirkliche Ursache war Rembrandts Genie.“ (Emile Verhaeren 1912, 12)
Der deutsche Spielfilm Rembrandt, 1942 unter der Regie von Hans Steinhoff entstanden, entfaltet seine Handlung rund um die Nachtwache. Er beginnt mit der Auftragsvergabe, endet mit
einer letzten Betrachtung des Bildes durch den altersgeschwächten Künstler und siedelt den
entscheidenden Wendepunkt der Handlung ins Tragische in dem Moment der Ablehnung der
Nachtwache durch Auftraggeber und Publikum an. Dieses Ereignis ist in einer Parallelmontage mit dem Sterben Saskias verknüpft; eingebettet in Szenen aus dem Sterbezimmer, wo
64
Vgl. den Artikel von Peter H. Feist in: Betthausen/Feist/Fork 1998, 329.
280
Rembrandt bei Saskias wacht, wird die öffentliche Präsentation des Schützenbildes zum Leben erweckt.
Zunächst zeigt eine Totale in starker Aufsicht den Saal, in welchem das Bild aufgestellt ist.
Als das Publikum in den Raum hineinströmt, folgt die Kamera dem Weg der Menge, die mit
wildem Stimmengewirr vor das Bild tritt und auch dort - unruhig suchend - in Bewegung
bleibt. In halbtotalen Einstellungen auf die Besuchermenge erkennen wir Mitglieder der
Gilde, die uns aus dem bisherigen Handlungsverlauf des Films bereits bekannt sind. Fragende
Bemerkungen wie „Da, nein da!“, „Bin ich das?“ oder „Ja wo bin ich denn?“ sind zu hören.
Nach einer bildfüllenden Ansicht der Nachtwache wird uns das Gemälde in Details gezeigt,
die immer wieder durch Einstellungen auf Gildemitglieder unterbrochen und durch deren
skeptische Äußerungen kommentiert werden.
„‘Dieser unbedeutende junge Mensch soll ich sein? Na, ich muß mich doch sehr wundern.‘(...)
‘Von mir sind ja nur zwei Augen zu sehen.‘
‘Sei froh. Von mir sieht man nur eins!‘ (...)
‘Und diese dicken Beine. Unglaublich! Man sagt, ich habe die schönsten Beine in Amsterdam.‘“
(Sequenz 3, Szene 16, Einstellung 11-22)
Frans Banning Cocq ruft die Menge zur Ruhe, erklärt er fände das Bild sehr schön und verläßt
darauf gemessenen Schrittes den Saal. Durch seine Körperhaltung bei diesem Abgang, die mit
seiner Pose im Gemälde übereinstimmt, wird die Zufriedenheit des Gildehauptmanns indirekt
erklärt.65 Wie allen anderen, geht es auch ihm demnach um die Darstellung seiner Person, also
nicht um das Bildganze, sondern um einen Teil. Die ablehnende Haltung der restlichen Porträtierten wird mit der Nichtachtung ihrer narzißtischen Interessen begründet.
Mit dem Abgang Banning Cocqs beginnt die letzte Phase dieser öffentlichen Bildpräsentation.
In ein kurzes Schweigen mischt sich unterdrücktes Lachen, dann bricht die Menge in schallendes Gelächter aus, das sich über mehrere Einstellungen mit teils slapstickhaftem Inhalt
hinzieht. Eine Figur namens „Ulricus Vischer“, die uns als Maler und Konkurrent Rembrandts
vorgestellt wurde, schüttelt sich vor Lachen. Allein die Schüler Rembrandts, die der Szene
beiwohnen, bleiben von der allgemeinen Heiterkeit unbeeinflußt. Während die Bildmontage
uns wieder an Saskias Sterbebett führt, wird das Gelächter im Off langsam ausgeblendet.
Diese Verknüpfung von beruflichem und privatem Schicksal wird noch weitergeführt. Wenn
Rembrandt einige Szenen später sein Gemälde in einer enthusiastischen Rede an die Mitglieder der Schützengilde verteidigt, wird er jäh unterbrochen. Seine Haushälterin stürmt in den
Gildesaal: „Herr Rembrandt, sie müssen sofort nach Hause kommen! (...) Ihre Frau, sie fie-
65
In Szene 20 wird seine Zufriedenheit entsprechend gedeutet, wenn der Leutnant der Gilde gegenüber Banning
Cocq behauptet: „Du bist ja auch der einzige, der auf dem sogenannten Gemälde zu erkennen ist“.
281
bert, ich glaube, sie stirbt!“. Mit dem lautem Ruf „Saskia! Saskia!“ eilt der Maler nach Hause,
wo das Leben seiner Frau in einer dramatischen Nachtszene endet.66
Hendrik van Loon hat seinen Roman Der Überwirkliche. Zeitbild um Rembrandt van Rijn
(1933)67 als fiktiven Lebensrückblick eines Arztes angelegt, den die Krankheit Saskias in das
Haus des Malers führt. Auch hier sind Nachtwache und Tod miteinander verknüpft. Das achte
Kapitel heißt „Rembrandt malt ein gewaltiges Bild, von dem er Ruhm erhofft“, der Titel des
neunten lautet „Das Bild macht Rembrandt zum Gespött in Amsterdam“. Drei Seiten später
wird Saskia elender und stirbt. Die Worte, mit denen van Loon die Bedeutung der Nachtwache für den Ruf des Künstlers beschreibt, unterscheiden sich wenig von denen, die sich bei
Rosenberg oder Muther finden:
„Von diesem Augenblick an war das Urteil über Rembrandt gesprochen. (...) Er hatte sich erkühnt,
tüchtiger als seine Mitbürger sein zu wollen. Auf solches Unterfangen paßte nur eine Antwort:
Vernichtung und Vergessenheit.“ (van Loon 1933, 66)
In fünf Kapiteln entfaltet Emil Ludwig seine prosaische Schilderung von Rembrandts Schicksal (1923).68 Die Erzählung beginnt mit dem „Sohn der Mühle“69 in Leiden. Sie führt über
„Eroberungen“ in Amsterdam zum erfolgreichen Künstler als „Herr des Lebens“, dessen Karriere einen doppelten Schlag erleidet. So bleibt nur „Der heimliche König“, schließlich, am
Ende des Weges, „Der Bettler“. Diese Fünfteilung folgt der Ordnung der Akte des klassischen
Dramas, und wie dort plaziert auch Ludwig am Ende des dritten Aktes einen dramaturgischen
Höhepunkt. Saskia, eine der „Eroberungen“, die Rembrandt zum „Herrn des Lebens“ machten, liegt im Sterben:
„Da fällt in diese letzten Monate ihres Lebens ein großer Auftrag in das Malerhaus, der es beunruhigt, mit Ehre und Erwartung und vielen Menschen füllt. Der Hauptmann einer Schützenabteilung
von Amsterdam ist zu Rembrandt gekommen, um ihm ein Schützenstück zu übertragen, ein Gildenbild, wie jene Anatomie gewesen, nur weit größer und an Ruhm und Geld verheißender als je nes.“ (Ludwig 1923, 59)
Rembrandt nimmt den Auftrag an, weil er Geld braucht. Aber er will die Aufgabe nicht bloß
als Geschäft betrachten, er sucht nach einer Bildlösung, die seinen künstlerischen Ansprüchen
genügt:
66
Sequenz 3, Szene 20 und 21.
Im Original niederländisch (1932), deutsche Übersetzung 1933.
68
Zur Stellung Ludwigs als Autor historischer Biographien vgl. Scheuer 1979, 151 ff.
69
Die folgenden Zitate übernehmen die Titel der fünf Kapitel Ludwigs.
67
282
„So geht er umher und denkt, wie dies zu machen, damit es ihn, nicht die Besteller fesselt, die er
verachten mag. Wieder ein Trinktisch und einer, der den Humpen hebt? Oder einer trifft ins
Schwarze und die andern rufen Bravo? Banal! Warum, zum Teufel! ist man berühmt, wenn man‘s
nicht auf die eigene Weise machen und lösen dürfte! Tage vergehen, er rührt keinen Pinsel, er
schließt die Augen, wartet, lauscht.
Mit einem Male lösen sich aus einem dunklen, grottenhaften Raume Gestalten ab, bunte, bewegte.
Jetzt kommen sie näher, es scheint, sie tragen Waffen. Eilen sie nicht vorbei? Wieviele sind es?
16?“ (Ludwig 1923, 59 f.)
Inspiriert von seinem inneren Bild, macht er sich an die Umsetzung des äußeren, ohne dabei
die Pflichten des Auftrages zu bedenken:
„Dramatisches Nocturno, bunter Spuk, zwecklos, kühn, hinrauschend wie Kriegsmusik, aus der ein
paar Flöten steigen.
(...) an zwei Stellen fällt das Magierlicht von nirgendwo, geheimnisvoller, als er‘s je gewagt hat,
auf Menschen, die es nicht verdienen.“ (Ludwig 1923, 60 f.)
Der Parallelmontage des Spielfilms greift Emil Ludwig mit literarischen Mitteln voraus:
„Rembrandt fiebert, wie er malt und träumt. Im Nebenraum fiebert und träumt Saskia dem Tode
entgegen. - Wird sie genesen? denkt er, wenn er abends zu ihr tritt. Wer kommt früher am Ziele an,
ich oder der Tod? (...)
Schließlich wird es fertig, das Riesenbild, da ist es. Der Maler steht erschöpft, bleich, leidend wie
seine Frau. Sprechen kann er kaum, und was sie sagen, ist ihm einerlei. Was sagen die Bestelle r?“
(Ludwig 1923, 62)
Die Besteller sind verstört, fragen nach Ähnlichkeit, korrekten Uniformen und würdevoller
Darstellung. Und ihr Unverständnis zieht Kreise:
„Halb Amsterdam läuft vor dem Bilde zusammen, man staunt, man spottet, (...) die Bürger fühlen
sich angeführt, und dies mit Recht. Der Geisterseher hatte 16 Bürger in rätselhafter Grotte mit seinem Licht und seiner Nacht vermählt. In jenes Mittelreich zwischen Demut und Wildheit, wie er’s
in seiner Seele rasen fühlte, in dieses Zwischenreich von Glanz und Nacht hatte der Künstler 16
Schützen der Handels- und Hafenstadt Amsterdam gerückt und ihnen zugemutet, Phantome zu
sein, obwohl ein jeder 100 Gulden zahlte.
Dagegen mußte sich die Stadt erheben. Man nahm das Bild und hängte es bald an irgendeine halb
vergessene Wand. Dorthin verbannte man zugleich den Ruf des Künstlers, der einst ein Liebling
(...) der Stadt gewesen war. Rembrandt merkt es nicht, denn Saskia stirbt.“ (Ludwig 1923, 62 f.)
283
Wilhelm Hausensteins Rembrandtbuch von 1926 ist vom Autor selbst als Essay gekennzeichnet, der sich an historischen Tatsachen orientiert, ohne jedoch am kunstwissenschaftlichen
Diskurs mitwirken zu wollen.70 Hausensteins Reanimation des Künstlerlebens basiert auf einer vollkommenen Durchdringung von Leben und Werk,71 seine Verknüpfung der Ablehnung
der Nachtwache mit Saskias Tod markiert einen extremen Punkt derartiger Darstellungen. Die
sterbende Saskia ist hier nicht nur im Nebenzimmer oder in Rembrandts Gedanken präsent, in
der viel diskutierten Gestalt des lichtumfluteten Mädchens in der linken Bildhälfte sieht Hausenstein Saskia selbst ins Bild treten:
„Sie steht und geht im Bilde selbst, geht durch es hin. Denn nichts anderes ist das kleine weibliche
Wesen zwischen den Schützen, das weißgoldene Mädchen, das weißgoldene, bläulichgoldene
Frauenkind mit dem mysteriösen Hahn am Gurt, als eine Metamorphose der Saskia selbst in einen
liliputanischen Dämon.“ (Hausenstein 1926, 228) 72
Wie haben wir uns diese dämonische Erscheinung zu erklären? Hausenstein beschreibt die
Entstehung der Lichtgestalt, einem beliebten Gegenstand kunsthistorischer Spekulation und
ikonographischer Deutung, als Folge einer Vision, die den Maler heimgesucht habe. In Gedanken bei der Sterbenden weilend, wird er zu dieser Bildlösung mehr verführt als inspiriert:
„Saskia steht auf vom Bett, auf dem sie schon krank liegt, zwinkert ihn an mit diesem friesisch
grünen, seegrünen Auge (...); ihr Fleisch ist weißer, bläulicher, vielleicht vom nahen Tode, vielleicht weil sie rätselhaften Wesens noch mehr ist als sonst. O nein, er solle gewiß nicht einfach
‘Gesellschaft‘ malen; dies sei zu wenig; dies müsse auch sie sagen, Saskia. Dies sagend wird sie
ganz klein, noch zierlicher als sonst, und siehe da: verschwindet vor seinen Augen im Dunkel, um
von hinten in das dunkelnde Bild zu treten und plötzlich, unversehens mit phosphoreszierender
Weiße darin einherzugehen, niemandem sichtbar als ihm, dem Maler, ein Gespenst... Da ist Hexenwerk im Spiele - da wird gezaubert. Er läßt es bebend geschehen; er nimmt es zitternd hin; er
70
„(...) ich habe der ‘Kritik‘ nichts hinzugefügt; ich habe empfunden und habe versucht, Empfindungen aufzurühren; hier ist nichts als ein Buch der Gefühle; ich werde mich damit abfinden, wenn die im buchstäblichen
Sinne erdrückende Mehrheit der offiziellen Kunsthistoriker, die für eine von ihr betriebene Hilfsdisziplin den
tönenden und in sich unsinnigen Namen der ‘Kunstwissenschaft‘ in Anspruch nimmt, an diesem Buch ironisch
vorübergeht; ich zöge es bei weitem vor, mich in gelehrten Einzelheiten geirrt zu haben (...), als von Berufenen
etwa das Urteil hören zu müssen, dies Buch sei ohne Wärme des Herzens, ohne Ernst der Gedanken, ohne jegliche Kunst verfaßt.“ (Hausenstein 1926, 550). Mit diesem Anspruch distanziert sich Hausenstein vom Fachdis kurs. Er tut dies aber ausdrücklich und kann deswegen auch nicht in einer Gattungskategorie mit den Texten von
Ludwig, van Loon und Steinhoff zusammengefaßt werden, die keiner derartigen Abgrenzung bedürfen und sich,
ohne feindselige Distanzierung von der „Kunstwissenschaft“, im Bereich fiktionaler Texte positionieren.
71
Vgl. den Exkurs zur Hermeneutik in dieser Arbeit (Zweiter Teil, Abschnitt 2.1.4).
72
Einziger Vorläufer dieses Deutungsmodells ist A. v. Wurzbach: „Rembrandts bedeutendstes Werk, der Auszug der Compagnie des Capitäns Franz Banning Cock, welches in dem Todesjahr der Saskia 1642 vollendet
wurde, zeigt ebenfalls ihr Porträt in der einen Mädchenfigur, welche wie ein leuchtender Schatten mitten durch
die ausziehenden Schützen schlüpft.“ (Wurzbach 1886, 11).
284
folgt dem Vorgang mit ängstlicher Begeisterung. Ganz offenbar: Saskia stirbt; tritt sie ins Bild, so
bezahlt sie diesen Übergang mit ihrem Leben.“ (Hausenstein 1926, 229)
Saskia wechselt aus dem Leben ins Bild. Hausenstein beschreibt sie dabei nicht als die treue
Ehegattin und Gefährtin des Künstlers, sondern als gefährliches Mysterium, eine Sirene, eine
Lorelei, die den unschuldigen Mann ins Verderben führt:
„(...) so tut sie, gleichsam scheidend, noch ein arges Letztes: sie zerstört ihm das Bild; sie macht,
daß es weder das eine ist noch das andere, weder ein gesellschaftliches Bildnis noch ein Spuk der
rembrandtischen Phantasie (...).“(Hausenstein 1926, 229)
Dieses Zerstörungswerk hat die Ablehnung des Bildes zur Folge. Hausenstein zählt geläufige
Kritikpunkte auf, die man aber hingenommen hätte, wäre nicht dieses Moment noch hinzugekommen:
„Was will vollends das kleine Frauenzimmer, das wie ein böser kleiner Geist des Aberglaubens im
hellsten, phosphoreszierend-weißen Irrlicht durch das Bild läuft? Sie fragen den Maler. Er weiß es
selbst nicht. Nur seine Hand weiß es - doch die kann nicht sprechen; sie kann nicht sagen, was
wahr wäre: dies ist die Seele der Saskia - die in ihr gefährliches Alterego rein verwandelte Saskia;
Saskia - unliebsam der Welt, aus der sie kommt, unliebsam dem Rembrandt, den sie der Welt zutrieb und den sie nunmehr von ihr wird geschieden haben, nämlich durch ihren gespenstischen
Auftritt (...).“ (Hausenstein 1926, 190) 73
So wird Saskia bei Hausenstein zur bösartigen Verführerin, die Rembrandt zunächst gegen
dessen Willen der Gesellschaft zutreibt, um ihn dann durch ihr postumes Erscheinen in der
Nachtwache von eben dieser Gesellschaft zu entfremden. Das Leben des Künstlers tritt in sein
Werk, das Schicksal des Menschen wird identisch mit dem des Künstlers, weshalb es zugleich
plausibel erscheint, im Werk den Menschen Rembrandt zu entdecken.
Fassen wir diese Beobachtungen zur Rezeptionsgeschichte der Nachtwache noch einmal zusammen. Die Vorstellung von Rembrandt wird seit dem Ende des 19. Jahrhundert wesentlich
durch die Topik des verkannten Künstlergenies geprägt. Die Legende von der Ablehnung der
Nachtwache ist eines der Schlüsselelemente, an denen sich dieses Konzept entfaltet. Die dezidiert nicht-wissenschaftlichen Beispiele von Steinhoff, van Loon, Ludwig und Hausenstein
verdeutlichen die dramaturgische Qualität, der sie diese zentrale Stellung verdankt. Diese
73
Diese Verwandlung der Frau in ein bildhaftes „gefährliches Alterego“ läßt an Honoré de Balzacs Erzählung Le
chef-d’œuvre inconnu denken, auf welche Hausenstein hier möglicherweise anspielt. Die Verknüpfung von Tod,
Libido und Malerei wäre, als verbreiteter Topos in der Literatur des 19. Jahrhunderts, eine weiterführende Untersuchung wert. Als zweites bedeutendes Beispiel sei auf The picture of Dorian Gray von Oscar Wilde hingewiesen.
285
Texte sind jedoch von Autoren vorgeprägt, die ihre Arbeit als nicht-fiktional begreifen. Die
Entschlossenheit Rembrandts, die Nachtwache nach eigenem Ermessen zu gestalten, die Unzufriedenheit der Auftraggeber, das Unverständnis der Zeitgenossen, der Rückgang der Aufträge und Einnahmen, die Verknüpfung dieses Dilemmas mit dem privaten Unglück, die Vereinsamung des Künstlers, den wir heute als größten aller Maler feiern - diese und andere
Topoi haben fachwissenschaftliche Autoren in ihren Publikationen vorgezeichnet, bevor Literaten ohne institutionelle Bindung an Universitäten oder Museen sie aufgriffen, ausschmückten und in anderen Textformen wiederholten.
Der direkte Vergleich ihrer Zitate läßt weniger die Differenzen als die Übereinstimmungen
hervortreten. Der Unterschied zwischen einem Quellendokument, ob Bild oder Schriftstück,
und seiner in einen Erzählzusammenhang eingebundenen Ausdeutung ist ein qualitativer. Im
Vergleich dazu ist die Differenz zwischen den Texten von Neumann oder Bode und denen
von van Loon oder Ludwig lediglich quantitativ. Die konzeptionelle Verwandtschaft zwischen diesen beiden Textgattungen, die nach institutionalistisch orientierten Kategorien als
‘wissenschaftlich’ und ‘literarisch‘ unterschieden werden müßten, wird zunächst dort offensichtlich, wo eine streng am historisch verifizierbaren Faktum orientierte Forschung kritischen
Widerspruch erheben muß. Bedeutender erscheint jedoch die Verwandtschaft im Grundprinzip der Narrativierung, das dem Interesse am Zusammenhang - am Entwurf einer linearen
Gesamtgestalt von Mensch, Lebenslauf und Lebenswerk - nachfolgt. Gerade in diesem
Wunsch nach Geschlossenheit erweist sich die hermeneutische Methodik der Kunstgeschichtsschreibung nicht als Gegenentwurf, sondern als verwandte Gattung zur historischen
Erzählliteratur, die lediglich andere Legitimierungsformeln nutzt, um ihre Vision von ‘lebendiger Geschichte‘ zu rechtfertigen.
Die Legende von der Ablehnung der Nachtwache beweist ihren Stellenwert als Symbol für
die Gesamterzählung vom verkannten Künstler und ihre Potenz als Dreh- und Angelpunkt der
dramaturgisch aufbereiten Lebensgeschichte Rembrandts in unterschiedlich deklarierten
Texten fortlaufend bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Der Tod Saskias bleibt dabei als verstärkenden Faktor des ‘Lebens‘ mit der Mißbilligung der Gesellschaft für das ‘Werk‘ verknüpft:
„Der entscheidende Zusammenstoß mit der Umwelt, den die Nachtwache auslösen sollte, wird uns
vielleicht noch aussagekräftiger Erscheinen, wenn wir uns sagen, daß er im Todesjahre Saskias geschah.“ (Wilhelm Pinder 1943, 70)
Der Wille zur künstlerischen Autonomie bleibt die Ursache für diesen Konflikt:
286
„Bei der Nachtwache aber schieden sich die Wege von Rembrandts Künstlertum, das mehr und
mehr nur dem eigenen Gesetze folgte, und vom Recht des Auftraggebers, der für sein gutes Geld
einen Anspruch auf Erfüllung der von der Konvention vorgezeichneten ‘Pflichten‘ eines Malers
geltend machte.“ (Eberhardt Hanfstaengl 1947, 61)
Und die Isolation des Künstlers als eines ‘Außenseiters der Gesellschaft‘ bleibt die Konsequenz:
„Das Jahr 1642 ist das Jahr der Entstehung der sogenannten ‘Nachtwache‘, dieser selbstherrlich
willkürlichen Gestaltung einer herkömmlichen Aufgabe, mit der Rembrandt das einengende und
zugleich schützende Gehäuse seiner Zeit für immer verließ.“ (Marie Luise Kaschnitz 1948, 31)
2 Rembrandts Selbstbildnisse
2.1 Zum Stellenwert der Selbstbildnisse in der Geschichte der Rembrandtrezeption
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts stand die Wertschätzung der Selbstbildnisse Rembrandts
im Schatten der monumentalen Gruppenporträts sowie der religiösen Historienbilder, denen
stets große Aufmerksamkeit zukam. Das Vorhandensein einer vergleichsweise großen Zahl
von Selbstbildnissen war allerdings auch in früheren Rezeptionsphasen durchaus bekannt.
Doch noch in der ersten modernen Rezeptionsphase wurde dieser Bilderkorpus nur beiläufig
erwähnt. Als Beispiel sei Alfred Dumesnil zitiert, der Rembrandt 1850 zur Idealfigur des
‘Neuen Glaubens in der Kunst‘ gemacht hatte. Sein Text behandelt den Niederländer als signifikanten Stellvertreter des Künstlertums, in dem sich wiederum das Wesen des Menschen
in besonderer Weise offenbare. Die Selbstbildnisse Rembrandts spielen dabei keine hervorgehobene Rolle. Als der Autor dem Künstler einmal ‘von Angesicht zu Angesicht‘ entgegentritt,
reflektiert er nicht über das Individuum Rembrandt, sondern über das Wesen des Künstlertums und den Ursprung künstlerischen Schaffens:
"Ich fragte mich vor dem Portrait Rembrandts: Was für ein Mensch also ist der Künstler? Woher
nimmt er sein Werk? Liegt es nicht, wie ich es bisher gedacht hatte, im Besten seiner selbst? Vermittelt er hier nicht seinen wahren Ausdruck, treulicher als in seinem Privatleben?
Wenn ich Rembrandt sehe, so voller Ernst, mit einer so einfachen und ruhigen Kraft, so sehr Herr
seiner Gedanken in dem Augenblick, in dem er sie umsetzt, dann kann ich nicht daran zweifeln,
daß der Künstler der Mensch par excellence sei. Wie hätte er dem Christus in Emmaus jenen erhabenen Ausdruck der Aufrichtigkeit und der Menschlichkeit geben können, wenn er nicht eine voll-
287
kommene Übereinstimmung zwischen sich selbst und seiner Schöpfung empfunden hätte?" (Dumesnil 1850, 22)74
Wie viele seiner schreibenden Zeitgenossen, nimmt Dumesnil in Rembrandt zunächst den Repräsentanten der niederländischen Kunst des 17. Jahrhunderts wahr, den Stellvertreter eines
emanzipierten Bürgertums. In dem Ernst, der Kraft und dem Selbstbewußtsein dieser Gestalt
sieht er darüber hinaus den ‘Menschen an sich‘ versinnbildlicht - „l’homme par excellence“.
Indem Dumesnil in dem anschließenden Satz übergangslos zur Darstellung Christi im Emmausbild wechselt, läßt er die christologische Komponente in der Genese der modernen
Künstlerfigur sichtbar werden. Durch das im Selbstbildnis entdeckte exemplarische Menschentum Rembrandts gelangt der Autor zum christlichen ‘Menschen an sich‘ (vgl. auch Dumesnils Interesse an Rembrandts Ecce homo), zu Christus als unhintergehbarem Schutzpatron
einer moralisch-religiös eingebundenen Individualität. Dumesnil rückt das Künstlerselbstbildnis in die Nähe der Christusidee, ohne den Künstler dabei vollständig an die Stelle des religiösen Idols zu setzen. Zuletzt bildet nicht das Selbstporträt Rembrandts, sondern dessen Bildnis
Christi die Repräsentation des selbstbewußten Menschen par excellence, die höchste Versinnbildlichung der menschlichen Individualität. Dieses Individualismuskonzept stellt die prinzipielle Gleichheit der Menschen in den Mittelpunkt und unterscheidet sich damit von vielen
der späteren Texte, in denen es um die Distinktion und hierarchische Unterscheidung des einen vom anderen geht. Folgerichtig sieht Dumesnil die Selbstbildnisse nicht als Dokumente
der Isolation und Selbstsuche des Künstlers, sondern als Übungen, die der Schulung von
Rembrandts Fähigkeiten zur Erfassung der Individualität anderer im Porträt dienten:
„In den Porträts beurteilt man besonders die Verständigkeit des Geistes, die Auffassungsgabe eines
Künstlers. Darin liegt der Ursprung und das Ziel der Zeichenkunst.
Rembrandt gelangte in seinen Werken zu der präzisen seelischen Aufzeichnung, zu diesem so tief
menschlichen Ausdruck nur durch das geduldige Studium des menschlichen Antlitz‘. Er befragte es
ohne Unterlaß, um die kleinsten Regungen festzuhalten, die flüchtigsten Reflexe zu erfassen in denen sich die unendliche Vielfalt der Nuancen des Charakters verbirgt. Er spürte, daß, wie ein bewohnter Ort den Abdruck des Menschen birgt, das Gesicht, das fortwährend die Regungen durchziehen, von den Spuren des Geistes geprägt ist. Er malte und zeichnete sich deshalb so häufig
74
„Je me demandais en face du portrait de Rembrandt: Quel homme est-ce donc que l’artiste? Où prend-il son
oeuvre? N’est-ce point, comme je l’ai cru jusqu’ici, dans le meilleur de lui-même? N’y donne-t-il pas sa vraie
expression, plus fidèle que dans sa vie privée? Quand je vois Rembrandt si sérieux, d’une force si simple et si
calme, si maître de sa pensée au moment où il va la réaliser, je ne puis douter que l’artiste ne soit l’homme par
excellence. Comment aurait-il donné au Christ d’Emmaüs cette expression sublime de sincérité et d’humanité,
s’il n’avait senti une parfaite identité entre lui-même et sa création?“ (Dumesnil 1850, 22).
288
selbst, um sich besser dasjenige bewußt zu machen, was er in der Gestalt der anderen Menschen
sah.“ (Dumesnil 1850, 57 f.)75
Nicht aus Selbstsucht oder zur Selbstsuche widmete sich Rembrandt dem Selbstporträt, sondern zur tieferen Einsicht in das Antlitz eines Jeden, der ihm Porträt saß. Für Dumesnil ist das
Selbststudium Rembrandts ein Mittel zum Zweck. Der Autor fragt nicht nach dem besonderen
Menschen, sondern nach dem Besonderen des Menschen. Aus dem individuellen Charakter
des Einzelnen, sei es Rembrandt oder ein heute Namenloser, spricht für Dumesnil vor allem
die allgemeine Charakteristik des Menschen in der Vielfalt ihrer Nuancierungen. Angesichts
dieses zentralen Interesses, kommt er nahezu zwangsläufig auf die Porträts zu sprechen und
greift dabei auf den Topos vom Gesicht als Spiegel der Seele zurück.
Um den Unterschied zu späteren Positionen hervorzuheben, sei wiederholt: Individualität besteht bei Dumesnil (wie auch bei Thoré, Coquerel u.a.) nicht in einer Abkehr vom ‘Anderen‘,
sie ist nicht gleichbedeutend mit Separierung und Isolation, sie ist nicht trennendes, sondern
verbindendes Element der Menschen. Entsprechend gilt die Selbstbetrachtung des Künstlers
hier nicht ausschließlich oder vorzugsweise der Erkenntnis des Eigenen, sondern der Schulung einer Erkenntnis des ‘Anderen‘. Das in der großen Zahl der Selbstporträts dokumentierte
Interesse am Selbst ist nicht Selbstzweck, sondern Etappenziel auf dem Weg zum Menschen
an sich.
Dumesnil stellt die Menschlichkeit der Kunst Rembrandts ins Zentrum, er betrachtet primär
die Familiendarstellungen sowie religiöse und humanistisch interpretierbare Themen. Nur von
dort aus fällt sein Blick vorübergehend auf die Selbstbildnisse.76
Insgesamt läßt sich sagen, daß die Individualismuskonzeption in den französischen Texten der
Jahrhundertmitte, der es weniger um das isolierte, sich selbst befragende Subjekt, als um das
gleichberechtigte Subjekt unter anderen seiner Art ging, zu einer zentralen Positionierung der
Gruppenbildnisse führte. Die Fülle der Selbstporträts Rembrandts ist bekannt, doch werden
diese, wie auch die sonstigen Einzelporträts, als Peripherie zu diesem Zentrum angeordnet.
Im deutschen Sprachraum findet sich etwa in Franz Kuglers einflußreichem kunsthistorischen
Überblickswerk (1837; 2 1847) lediglich der Hinweis auf zwei der Selbstbildnisse, die jedoch
75
„C’est dans les portraits qu’on juge surtout de l’étendue d’esprit, de la réceptivité d’un artiste. C’est là le
commencement et la fin des arts du dessin. Rembrandt n’est arrivé dans ses oeuvres à cette spécification morale,
à cette expression si profondément humaine que par l’étude patiente de la figure de l’homme. Il l’interrogeait
sans cesse pour fixer les moindres souffles, saisir les reflets si mobiles où se dépose la diversité infinie des nuances du caractère. Il sentait que comme un lieue habité garde l’empreinte de l’homme, le visage où afflue constamment le souffle, s’empreint des traces de l’esprit. Il ne s’est peint et dessiné si souvant lui-même, que pour
se rendre mieux compte de ce qu’il voyait sur la figure des autres hommes (...).“ (Dumesnil 1850, 57 f.).
76
Auch Viardot (3 1877) verweist auf die „longue série de portraits autographes où Rembrandt s’est peint chaque
année de sa vie“ (190).
289
in keiner Weise diskutiert werden. Bei einer Bewertung dieser Tatsache ist allerdings der geringe Umfang zu bedenken, den einzelne Künstler in diesem Buch insgesamt einnehmen.
Rembrandt sind bei Kugler zehn Seiten gewidmet. Im Vergleich zu den späteren Biographien
mag dies wenig erscheinen. Kuglers Projekt war jedoch ein Handbuch der Geschichte der
Malerei seit Constantin dem Grossen, und in diesem Rahmen zählt Rembrandt bereits zu den
ausführlich behandelten Meistern.77 In dem 1862 von Gustav Friedrich Waagen vorgelegten
Handbuch der Geschichte der Malerei, der Gattung wie dem Einfluß nach mit Kuglers Werk
vergleichbar, nahm die Darstellung Rembrandts 15 Seiten ein. Ähnlich wie seine französischen Kollegen, spricht Waagen die Selbstbildnisse beiläufig als Spezialität Rembrandts an.
Zwischen die Feststellung der hohen Qualität von Rembrandts Porträtkunst und die Beschreibung einiger Beispiele fügt er kurz ein:
„Kein anderer Künstler hat so häufig sein eignes Bildnis gemalt (...).“ (Waagen 1862, 100)
Kommentiert oder kontextualisiert wird dieser Umstand nicht. Statt dessen folgt eine Beschreibung:
„Ein Bildniss im Louvre (…) vom Jahr 1633, welches ihn in seinen jungen Jahren frisch und le bensmuthig darstellt, ist sehr geistreich in dem lichten Ton dieser frühen Zeit gemalt, in einem anderen (…) vom Jahr 1669, welches mit der ausserordentlichen Sicherheit und Breite dieser späteren
Epoche gemalt ist, sieht man dagegen den von schweren Lebensschicksalen gebeugten Künstler
mit grauen Haaren und tief gefurchter Stirn.“ (Waagen 1862, 101)
Dann geht der Autor, nach der Erwähnung zweier Beispiele aus deutschen Galerien, zu den
Auftragsporträts über. Schon Waagen liest die Selbstbildnisse also als Quellen zum Verständnis des privaten Entwicklungsgangs des Künstlers, der zwischen „volle[m] Lebensgenuss“
(ebd., 101) und „schweren Lebensschicksalen“ schwankt. Doch bilden solche Aussagen nicht
das Zentrum seines Textes.
Ähnliches kann noch für Wilhelm Lübkes Aufsatz aus dem Jahre 1877 geltend gemacht werden. Dieser Kunsthistoriker widmete sich in zwei Lieferungen der Monatsschrift Nord und
Süd den beiden Hauptfiguren der holländischen und der flämischen Schule.78 Die große Zahl
der Selbstbildnisse wird auch hier zunächst beiläufig erwähnt:
„(er hat sich nicht weniger als vierunddreißig Mal in Radirungen und wie oft in Oelbildern dargestellt!)“ (Lübke 1877, 226).
77
In Parenthese sei auf das Phänomen der quantitativen Ausweitung des Diskurses über Kunst und Künstler in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verwiesen.
78
Nicht nur in dieser Gegenüberstellung von Rembrandt und Rubens, auch in der Form des Reiseberichts weist
Lübkes Text Parallelen zu Fromentins Maîtres d’autrefois von 1876 auf.
290
Daneben stehen Ansätze zu einer psychologischen Deutung der Selbstporträts. So stellt Lübke
angesichts früher Bildnisse fest:
„Man sieht an all diesen Bildern, welche Freude der Künstler daran fand, sich und die geliebte Frau
stets von Neuem darzustellen (...).“ (Lübke 1877, 210)
Intensiver wird diese Interpretationstendenz beim Spätwerk:
„Immer düstrer, so scheint’s, und einsamer werden die letzten Tage des Meisters. Wenn man seine
Selbstporträts aus dieser Zeit (...) mit denen seiner früheren Jahre vergleicht, welche tiefe Furchen
von Gram und Mühsal, welche düstere Schatten, welch trotziger, fast wilder Ausdruck spricht hier
von den gewaltigen Veränderungen, welche die eiserne Faust des Schicksals auf diese Züge gedrückt.“ (Lübke 1877, 218)
In den Formulierungen geht Lübke nicht wesentlich über die Wortwahl seines Vorläufers G.
F. Waagen hinaus, der einen „von schweren Lebensschicksalen gebeugten Künstler mit
grauen Haaren und tief gefurchter Stirn“ gesehen hatte. Insgesamt führt Lübke die Verknüpfung von Leben und Werk zwar weiter, als dies in dem 15 Jahre älteren Text Waagens der
Fall ist, doch zu wirklich zentraler Stellung gelangen die Selbstbildnisse auch hier noch nicht.
Das Deutungspotential dieser Bilder, aus dem sich die breite Rezeption um die Jahrhundertwende speisen sollte, wird bei Lübke bereits sichtbar. Die Ausdeutung von Rembrandts Lebensschicksals, die sich der Selbstbildnisse als Quellen des ‘inneren Erlebens‘ bedient, steht
jedoch noch bevor.
1877, im Jahr des Erscheinens von Lübkes Aufsatz, hielt Jacob Burckhardt seinen Rembrandt-Vortrag. Dort behandelt Burckhardt die Quantität der Selbstbildnisse wiederum mit
großer Selbstverständlichkeit:
„Freilich hatte Rembrandt zunächst sich selber zum Porträtieren vorrätig, und von jenem frühesten
Porträt im Haager Museum bis zu den spätesten der National Galery und der Pinakothek, wo in die
verquollenen Züge des Sechzigers noch eine so merkwürdige Macht hineingezaubert ist, gibt es in
allen möglichen wirklichen und phantastischen Trachten eine Reihe von über dreißig sichern Bildnissen dieser Art, welche noch aus den Radierungen um weitere zehn zu vermehren sein möchte.“
(Burckhardt 1919 [1877], 15)
Burckhardts Erwähnung der Selbstbildnisse liefert eine Erklärung für deren ungewöhnlich
hohe Zahl: Rembrandt habe „zunächst sich selber zum Porträtieren vorrätig“ gehabt. Diesen
‘Verfügbarkeitstopos‘ schließt der Autor an seine kritischen Äußerungen über Rembrandts
Mangel an klassischer Schulung an; direkt vor der bereits zitierten Passage hatte Burckhardt
291
die Frage nach dem Rückgang des Interesses der Auftraggeber an Rembrandt in den 1650er
Jahren wie folgt behandelt:
„Fast scheint es, als hätte mit der Zeit niemand mehr Lust gehabt, als bloßes Substrat eines Lichtexperimentes dem eigenwilligen Maler zu sitzen, während in nächster Nähe die größten Porträtmeister lebten, welche die Individualität eines Sterblichen unsterblich zu machen wußten.“ (Burckhardt 1919 [1877], 15)
Bei Burckhardt reagiert Rembrandt mit seinen vielen Selbstbildnissen auf den Rückzug der
Besteller, er malt sie als eine Art ‘Ersatzporträts‘. Indem er die Entstehung dieser Bilder einer
von Rembrandt selbst zu verantwortenden Notsituation zuschreibt, gelingt es Burckhardt, das
Phänomen der Selbstbildnisse Rembrandts ganz im Rahmen seines vom Ideal der Renaissance geprägten Kunstverständnisses zu erklären. Rembrandts dominantes Interesse galt demnach eben nicht der Individualität des Porträtierten, sondern den Licht- und Schattenexperimenten, denen der Kopf als „bloßes Substrat“ diente. Hier sind es gerade die malenden Zeitgenossen Rembrandts, die das Ideal der Porträtkunst zu erfüllen wußten, das auch für Burckhardt darin besteht, „die Individualität eines Sterblichen unsterblich zu machen“. Wie bereits
in anderen Beispielen deutlich wurde, so lassen sich auch in diesem Punkt die Wertkategorien
des Akademismus zuletzt bei Burckhardt nachweisen. Um 1900 stünde eine derartige Position
endgültig in diametralem Gegensatz zum Strom der Deutungen. Und erneut ist hier auch die
Umkehrung der Vorzeichen aufzuzeigen, die für den Übergang von der kritischen zur euphorischen Rembrandtrezeption so signifikant ist. Der substitutive Hang zum Selbstbildnis, den
Burckhardt konstatiert, wird auch in späteren Texten anderer Autoren topisch bleiben, ebenso
der Rückgang der Aufträge, mit dem entscheidenden Unterschied, daß darin nun ein Vorzug
Rembrandts gesehen wird, daß daraus Rembrandts Desinteresse an der Welt und am Auftragserfolg abgeleitet wird.
Mit Burckhardts These vom Mangel an Modellen, in dessen Folge Rembrandt auf sich selbst
zum Porträtieren zurückgegriffen habe, sind wir im Bereich der Topoi angekommen, die in
dieser Phase der beginnenden Problematisierung der Selbstbildnisse Verwendung fanden. Die
Substitutionsthese Burckhardts basiert auf dem ‘Verfügbarkeitstopos‘, der zum Inventar der
modernen Auseinandersetzung mit Rembrandts Selbstporträts zählt. So stellt Émile Michel
(1893) diese Bildgattung neben die Bildnisse nach Familienmitgliedern, die Rembrandt ebenfalls in Ermangelung anderer Modelle mit Begeisterung porträtiert habe (32). Auch E. Durand-Grévilles Artikel in der Grande Encyclopédie (o. J., ca. 1890) nimmt diese Formel auf:
292
„Sein Bildnis (1660) ist eine der schönsten unter seinen zahllosen Effigien, die er nach sich selbst
malte, um seine Hand zu üben, wenn ihm andere Modelle fehlten.“ (Durand-Grévilles o. J., 379) 79
Als sich etwas später die Vorstellung von Verkennung und Einsamkeit des alternden Rembrandt etabliert, wird das Motiv der Verfügbarkeit auch auf die späten Selbstporträts übertragen. Und hier tritt der Rückzug der Auftraggeber, für den Burckhardt Verständnis signalisiert
hatte, mit umgekehrten Vorzeichen erneut in Kraft:
„Die ‘heilige Not‘ des Künstlertums, die diesen Mann zu malen zwang, obwohl er weder Aufträge
für Bilder, noch Abnehmer für seine freien Schöpfungen hatte und ihm sogar ein Raum mit geeignetem Licht fehlte, verwies ihn wieder auf sich selbst als auf das billigste und willfährigste Modell.“ (Storck 1920, 11)
In der Rückkehr des alternden Rembrandt zum einsamen Selbstbildnis als künstlerischer
Gattung seiner Jugend, bindet Karl Storck den Lebensweg Rembrandts in die mythische Erzählformel vom sich schließenden Kreis ein.
Fassen wir an diesem Punkt kurz zusammen. Die Selbstbildnisse Rembrandts sind den Autoren des 19. Jahrhunderts hinreichend bekannt. Die Erwähnung ihrer großen Zahl ist üblich,
während Überlegungen über die Ursachen dieses Phänomens selten angestellt werden. Hinsichtlich ihrer Bedeutung im Gesamtwerk wird diese Bildgattung als zweitrangig behandelt,
die primäre Aufmerksamkeit gilt Gruppenbildern und biblischen Themen. Ein Interesse an der
psychologischen Ausdeutung dieser Bildnisse ist lediglich in Ansätzen anzutreffen.
Zum Ende des 19. Jahrhunderts setzte ein Prozeß ein, der die Gattung des Selbstbildnisses
von der Peripherie in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit Rembrandt überführte.
Dieser Prozeß soll nun nachgezeichnet werden. Dabei ist vor allem zu fragen, welche Inhalte
mit den Selbstbildnissen verbunden wurden und welches Interesse an ihrer Fokussierung daraus erkennbar wird.
2.2 Vom Studienkopf zur Selbsterkenntnis
Einer der ersten Autoren, die sich ausführlicher mit Rembrandts Selbstbildnissen auseinandersetzen, ist einmal mehr Wilhelm Bode. In seinem voluminösen Aufsatz von 1883 erweitert er
durch Titelvergaben und Zuschreibungen den Umfang der Selbstbildnisse und äußert sich
auch zu deren Entstehungszusammenhang. Das folgende Zitat findet sich im Rahmen der
Diskussion von vier Jugendbildnissen:
79
„Son portrait (1660) (...) est un des plus beaux parmi les innombrables effigies qu’il peignait d’après lui-même
pour s’entretenir la main, quand d’autres modèles lui manquaient.“ (Durand-Grévilles o. J., 379).
293
„Es sind und wollen nicht eigentlich Bildnisse sein. Hier, wie so vielfach in seiner ganzen künstlerischen Laufbahn, hat Rembrandt den eigenen Kopf als das bequemste und billigste Modell benutzt, um irgend ein Problem der Beleuchtung, eine Stellung, einen besonderen Ausdruck daran zu
studiren. Sind uns doch allein an Gemälden nahezu fünfzig Selbstbildnisse des Meisters noch erhalten, von denen weitaus die größte Zahl seiner Jugend oder seinem Alter angehören - den Perioden seines Lebens, in denen er Muße hatte, für sich und nach sich zu studieren.“ (Bode 1883, 376)
Die drei interpretativen Aussagen dieser Passage sind uns in Ansätzen bereits bei Jacob
Burckhardt und anderen Autoren begegnet, daß nämlich (1) Rembrandt sich selbst als billigstes und stets verfügbares Modell verwendet habe, um (2) ein technisches oder physiognomisches Problem zu studieren, und daß er dies (3) bevorzugt in Jugend und Alter getan habe, als
er dazu die Muße hatte.
Bodes Interesse lag 1883 weniger in der Interpretation, als in der Festlegung von Zuschreibungen, Titeln und Datierungen. Wie er in der Einleitung seines Buches anmerkte, sei dieses
grundlegende Feld in der Rembrandtforschung noch unzureichend gefestigt (ebd., VII). Diesem Desiderat entsprechend, folgt sein Text Rembrandt’s künstlerischer Entwicklungsgang in
seinen Gemälden dem Muster des Catalogue raisonné und beschränkt sich neben den Bildbeschreibungen auf wenige Erläuterungen und Ausführungen zum Privatleben des Künstlers.
Die Selbstbildnisse klassifiziert Bode hauptsächlich als Studienköpfe, in denen eine freie Behandlung zugestanden werden müsse:
„Der Künstler suchte (...) durch die Anordnung: durch malerische Kostüme, schlagende Beleuchtung und ausgebildetes Helldunkel seinen Formen einen höheren Reiz zu verleihen. Zuweilen nahm
er es auch mit der Aehnlichkeit nicht besonders streng; dienten ihm doch diese Bildnisse in erster
Reihe als Studien.“ (Bode 1883, 410)
Mit dieser Betonung des Studiencharakters wendet Bode die bei Burckhardt noch negativ
polemisierend eingesetzte Idee vom Selbstbildnis aus Mangel an Porträtaufträgen und Modellen ins Positive.80 Die nachfolgende Literatur wird diese Interpretation aufgreifen und ausbauen. Die Zahl der in Frage kommenden Gemälde beziffert Bode mit „nahezu fünfzig“.
Sechs Jahre früher hatte Burckhardt noch „von über dreißig sichern Bildnissen dieser Art“
(Burckhardt 1877, 16) gesprochen und Lübke eine größere, aber ungenaue Zahl angegeben
(Lübke 1877, 226). Diese Schwankungen und Unsicherheiten zeugen davon, daß Bodes Klage
über das Fehlen eines allgemein anerkannten Werkverzeichnisses nicht unbegründet war. In
der ansteigenden Zahl der Zuschreibungen deutet sich zugleich jedoch das wachsende Inter-
80
Zwar standen der Baseler Professor und der Berliner Museumsdirektor auf dem Gebiet der Renaissancekunst
in engem Austausch, hinsichtlich der Bewertung niederländischer Kunst wichen ihre Interessen und Positionen
jedoch klar voneinander ab (vgl. Sigrid Otto 1995, 29).
294
esse an Rembrandt an. Bei Bode wird dieser Prozeß, der im folgenden Jahrzehnt noch an Dynamik zunehmen sollte, zuerst sichtbar.
Gerade mit diesem Interesse an Neuzuschreibungen, Zuschreibungssicherungen und Titelfindungen ist es zu erklären, daß Wilhelm Bode in bisher ungekannter Ausführlichkeit auch
Echtheitsprobleme diskutiert. So finden wir bei ihm eine frühe Auseinandersetzung um die
Frage des Ursprungs der äußerst ähnlichen Bildnisse aus Nürnberg und Den Haag, 81 die er
beide, unter Verwendung des bemerkenswerten Begriffs „Originalwiederholung“, Rembrandt
zuschreibt:
„Das Bild im Haag steht künstlerisch entschieden höher und muß daher, obgleich es keinerlei Bezeichnung trägt und fast ganz mit dem ebengenannten Bilde im Germanischen Museum übereinstimmt, als Originalwiederholung des Meisters betrachtet werden.“ (Bode 1883, 378) 82
In der anwachsenden Rembrandtliteratur der Folgezeit bleibt der Verweis auf die zahlreichen
Selbstbildnisse selbstverständlich, die inhaltliche Auseinandersetzung geht jedoch schon bald
über die hier zitierten frühen Aussagen Bodes hinaus. Wir können die Anfänge dieser erweiterten Interpretation wiederum bei Bode beobachten. In einem Aufsatz über Das Bildniss von
Rembrandt’s Bruder Adriaen Harmensz van Rijn im Mauritshuis schrieb er 1891 in der niederländischen Fachzeitschrift Oud Holland:
„(...) kein anderer Meister ist so subjectiv wie Rembrandt, keiner hat so sehr seine Erlebnisse und
seine Stimmungen in seinen Werken zum Ausdruck gebracht als grade er. Daher die zahlreichen
Selbstbildnisse und die ebenso grosse Zahl von Bildnissen, in denen man meist von Alters her
Verwandte und Bekannte des Künstlers vermuthet hat.“ (Bode 1891, 2)
Natürlich hatte Bode sich schon 1883 sehr um die Selbstbildnisse bemüht, aber er hatte sie
ganz unpathetisch als „Studienköpfe“ bezeichnet. Die Erklärung ihrer Entstehung aus einem
Interesse Rembrandts an der Auseinandersetzung mit „seine[n] Erlebnisse[n]“ und „Stimmungen“ ist für Bode hier - 1891 - ebenso neu wie die Hervorhebung der Subjektivität des Künstlers. In der Rembrandtliteratur sind diese Deutungen jedoch nicht ganz neu. Sie finden sich
bereits ein Jahr zuvor in Julius Langbehns Rembrandt als Erzieher. Wilhelm Bode zählte zu
den zahlreichen Rezensenten des 1890 publizierten Buches. Er sah darin eine zwar überspitzt
argumentierende, aber anregende und häufig zutreffende Streitschrift (Bode 1890). In seiner
81
Vgl. die Neuzuschreibungen im Vorfeld der Ausstellung Rembrandt Zelf, London/Den Haag 1999 (Buvelot/White 1999, 112 ff.).
82
Mangels eigener Abbildungen ist Bode genötigt, auf die Bekanntheit dieser Bilder durch einen „mangelhaften
Holzschnitt“, bzw. durch die „Braun’sche Photographie“ zu verweisen (Bode 1883, 378). Damit bezieht sich
Bode offenbar auf eine Abbildung, die Alfred von Wurzbach 1876 im Rahmen jenes Artikels publizierte, in dem
er Bodes Neuzuschreibungen spöttisch als „die grünen Rembrandt’s des Dr. Bode“ anzweifelte (Wurzbach
1876). Somit verbirgt sich in dieser abfälligen Bemerkung Bodes ein zweiter Seitenhieb gegen Wurzbach (vgl.
den Abschnitt zur Zuschreibungspraxis im zweiten Teil, 2.3.7).
295
Besprechung von Rembrandt als Erzieher führte Bode mehrere umfangreiche Zitate an. Darunter findet sich auch der folgende Abschnitt:
„Kein Maler hat so zahlreiche Selbstgebilde hinterlassen wie Rembrandt; keineswegs aus Selbstgefälligkeit, vielmehr voller Unparteilichkeit, Sachlichkeit und Unscheinbarkeit. Er predigt ‘Erkenne
Dich selbst’, er giebt sich selbst direkt, wie jeder Künstler in jedem seiner Werke sich selbst indirekt giebt.“ (Langbehn zit. nach Bode 1890, 307)
Wenn Bode ein Jahr nach seiner Rezension von Rembrandt als Erzieher erstmals das Interesse des Künstlers an Selbsterkenntnis als Entstehungsursache der Selbstbildnisse angibt,
könnte ihm Langbehns also als Anregung gedient haben. Dies wird noch wahrscheinlicher,
wenn wir uns die starke Individualismus-Emphase ins Gedächtnis rufen, die einen zentralen
Aspekt von Langbehns Buch ausmacht:
„Wenn die Deutschen das vorzugsweise individuelle Volk sind, so kann auf künstlerischem Gebiet
ihnen auch nur der individuellste ihrer Künstler als geistiger Wegführer dienen; denn ein solcher
wird sie am ehesten auf sich selbst zurückweisen. Unter allen deutschen Künstlern aber ist der individuellste - Rembrandt.“ (Langbehn 50 1922 [1890], 55)
Erst nach seiner Rezension des umstrittenen Langbehn-Buches hat auch Wilhelm Bode von
der ‘Subjektivität‘ als Charakteristikum Rembrandts gesprochen. Bodes ältere Deutung der
Selbstbildnisse als Studienköpfe wird von nun an um die psychologische Komponente der
individuellen Selbstbefragung, des ‘Erkenne Dich selbst’ ergänzt. Die damit installierte Verbindung hat sich im Kontext der hermeneutisch orientierten Kunstgeschichtsschreibung um
1900 als äußerst erfolgreich und dauerhaft erwiesen. Der Beschreibung ihrer topischen Charakteristik werde ich mich im übernächsten Abschnitt widmen.
2.3 Exkurs: Rembrandts Eitelkeit, Rembrandts Häßlichkeit
Zuvor soll jedoch ein Topos thematisiert werden, der im Kontext der Selbstporträts durch
seine Häufigkeit wie durch seine Kontinuität auffällt, der Topos der Zurückweisung von Eitelkeit als möglicher Motivation der Selbstbildnisse. Bleiben wir hier zunächst bei Langbehn,
der schrieb:
„Kein Maler hat so zahlreiche Selbstgebilde hinterlassen wie Rembrandt; keineswegs aus Selbstgefälligkeit, vielmehr voller Unparteilichkeit, Sachlichkeit und Unscheinbarkeit.“ (Langbehn 1890
zit. nach Bode 1890, 307)
Der ‘Rembrandtdeutsche‘ streut die Abwehr der „Selbstgefälligkeit“ beiläufig in seine
sprunghafte Aussagenfolge ein und liefert weder eine Herleitung dieser Problematik noch eine
296
Begründung für seine diesbezügliche Position. Mit etwas nachhaltigerer Aufmerksamkeit
widmet sich Cornelius Gurlitt, Professor für Kunstgeschichte an der Technischen Universität
Berlin, dieser Frage. Im zweiten Band seiner Geschichte der Kunst (1902) vergleicht er die
Stellung der Selbstbildnisse im Gesamtwerk Rembrandts mit der bei Dürer und stellt fest:
„Es ist also nicht Eitelkeit, die die beiden Künstler mit sich selbst beschäftigen ließ, sie immer wie der vor den Spiegel zwang, sondern Selbstbetrachtung. Nicht um sich ihrer selbst zu freuen, sondern um sich selbst zu ergründen, sahen sie sich so tief und fest ins Auge. Es mußte ihnen doch klar
sein, daß das Selbstbildnis die mindest einträglichste Arbeit darstelle.“ (Gurlitt 1902, 433)
Zugunsten der besonderen Ernsthaftigkeit der Bildgattung, werden hier gleich zwei denkbare
Motivationen, die ökonomische und die narzißtische, als ‘profan‘ abgelehnt. Ähnlich diskreditierend weist auch Wilhelm Valentiner (1906) die Eitelkeitsthese ab:
„Es gibt deren [der Selbstbildnisse, M. H.] so viele - gegen hundert - wie bei keinem anderen
Künstler der Kunstgeschichte, sodaß Laien versucht sind, Rembrandt für eitel zu halten, und
freundlichere Beurteiler zu der Erklärung griffen, Rembrandt habe sich selbst als billigstes Modell
benutzt. Die Bequemlichkeit beim Abmalen des eigenen Kopfes kann mitsprechen; auch mag ihm
wohl jene Würde im Auftreten, die man seinem Volke, jenes Selbstbewußtsein, das man großen
Künstlern nachsagt, zu eigen gewesen sein, sodaß er, im Bewußtsein mehr zu sein als ein gewöhnlicher Mensch, auch mehr Interesse an der eigenen Erscheinung zu nehmen berechtigt war. Aber
der wahre Grund wird tiefer liegen.“ (Valentiner 1906, 43 f.)
Nachdem er die Mutmaßung vom ‘eitlen Rembrandt‘ den Laien in den Mund gelegt und mit
dem Verfügbarkeitstopos noch eine zweite geläufige Erklärung der Selbstbildnisse zurückgewiesen hat, führt Valentiner über eine relativierende Formulierung die Eitelkeit im Gewande
des ‘berechtigten Selbstbewußtseins eines außergewöhnlichen Menschen‘ wieder ein, doch
nur, um von hieraus die Existenz eines ‘tieferen Grundes‘ anzudeuten.
Die offenbar unangenehme Vorstellung, Rembrandt könne sich tatsächlich aus Narzißmus so
häufig selbst dargestellt haben, hat Karl Storck (1920) mit einem anderen Argument abgewiesen:
„Es war sicher niemals Eitelkeit, was Rembrandt zu seinen zahlreichen Selbstbildnissen veranlaßt
hat. Denn er hatte auch als Jüngling keinen Anlaß, auf seine äußere Erscheinung stolz zu sein; als
alter Mann vollends hatte er nur von Zusammenbruch zu künden.“ (Storck 1920, 6)
Eitelkeit wird hier als das lasterhaft übersteigerte Vergnügen an der Schönheit der eigenen
Erscheinung verstanden; sie wird jedoch nur demjenigen zugestanden, der dazu im Hinblick
auf ein ‘objektives‘ Schönheitsideal auch Anlaß habe. Rembrandt aber sei häßlich gewesen
297
und wäre somit, im Umkehrschluß, vom Vorwurf des Narzißmus freizusprechen. Bereits 1903
hatte Storck einer Eitelkeit Rembrandts mit rhetorischem Eifer widersprochen:
„Auch als Zwanzigjähriger war er nicht schön; und er war immer ehrlich gegen sich. Die breite
Nase und die kleinen Augen verschönerte er nicht, er verschönerte nicht einmal die unreine Hautfarbe. Nur eines verschönerte er: das Kostüm. Aber war das wohl Eitelkeit, wenn er sich im glänzenden Offizierskleid darstellte, wohl gar mit einer Sturmhaube, oder in prunkend reichem Gewand? Sicherlich nicht. Dann hätte sich die Eitelkeit doch auch auf die Darstellung des eigenen
Körpers selbst erstreckt. Hier war es eitel Freude an der Pracht der Farbe, am Spielen des Lichts in
den Metallteilen.“ (Storck 1903, 509)
Adolf Rosenberg sieht sich in der Einleitung zum Rembrandt-Band der Klassiker der Kunst
(1904) ebenfalls zu einer Beschreibung von Rembrandts Äußerem veranlaßt, die sich ästhetischer Werturteile bedient. Dabei gesteht er dem Künstler einen begrenzten Persönlichkeitskult
zu:
„Selbstbildnisse nehmen überhaupt einen breiten Raum in Rembrandts Schaffen ein. Wir können
den Wechsel in seiner äußeren Erscheinung fast von Jahr zu Jahr verfolgen. Wenn in der Blüte seiner männlichen Kraft vielleicht auch die Eitelkeit, die Freude an phantastischem, malerischen Aufputz ihn zu diesem etwas ausgiebigen Kultus seiner Persönlichkeit getrieben haben mögen, so fällt
dieses Motiv sowohl bei dem jungen wie bei dem alternden Künstler fort. Der junge Rembrandt
war nichts weniger als schön oder auch nur interessant. Auf dieses gewöhnliche Gesicht mit der
ziemlich knolligen Nase und den wulstigen Lippen konnte sein Besitzer jedenfalls nicht eitel sein.
Aber es war ihm das nächste und bequemste Modell, um daran seine Studien zu machen (...).“ (Rosenberg 1904, XII f.)
Um Eitelkeit als möglichen Ursprung künstlerischen Schaffens abzuwehren, greifen diese
Autoren mit der ‘Häßlichkeit Rembrandts‘ auf einen älteren Topos zurück. Einige Beispiele
für dessen Vorgeschichte führt Carl Neumann 1902 an:
„Das Gesicht Rembrandts nannte schon Baldinucci ‘faccia brutta e plebea‘. Bartsch spricht von
‘physionomie commune, air grossier et malpropre‘. Jacob Burckhardt hat vom Selbstporträt des
Palastes Pitti (das den dreißiger Jahren zugehört) geurteilt, es sei ein ‘gemeines‘ Gesicht [Fußnote:
„In der ersten Ausgabe des Cicerone S. 1021. Komischer Weise ist ihm dieses Urteil in den späteren, von anderer Hand besorgten Ausgaben des Cicerone konfisziert worden, als läge darin etwas
Despektierliches.“ M.H.] und Charles Blanc tröstet, dieses Gesicht sei schön, wie Rembrandts
Werke schön seien, durch den Ausdruck. Die Nase ist in der That von einer Vulgarität, wie sie dem
Schönheitssinn der Alten als Zeichen befangensten ‘Barbarentums‘ erschienen wäre. Der junge
Rembrandt bringt sie nicht ohne Witz zur Geltung, besonders wenn er sich den kecken, herausfor-
298
dernden und draufgängerischen Ausdruck giebt. Die Stirn ist breit und leicht gewölbt, die Augen
klein und lebhaft, der Mund sehr bestimmt, das Kinn sinnlich, aber nicht sehr energisch vorgebaut.“ (Neumann 1902, II, 486)
Bevor er selbst eine Beschreibung der Erscheinung Rembrandts liefert, stellt Neumann einige
ältere Positionen aus dem topischen Feld der ‘Häßlichkeit Rembrandts‘ vor, die von Baldinucci (1686) bis Blanc (1859) reichen. Besondere Aufmerksamkeit sei dem Hinweis auf
Burckhardts Cicerone gewidmet. Dessen genaue Formulierung lautete, Rembrandt gäbe in
dem Bildnis des Palazzo Pitti „sein eigenes gemeines Gesicht“ wieder (zuerst 1855). Dem
damaligen Verständnis des Ausdrucks ‘gemein‘ entsprächen heute wohl die Begriffe ‘gewöhnlich‘, ‘alltäglich‘ oder ‘unbedeutend‘; es wird damit also primär der Mangel an idealer
Schönheit, beziehungsweise die Neigung zum Realismus kritisch zum Ausdruck gebracht.
Die Delikatesse, mit der Neumann in der hier mitgelieferten Fußnote auf die spätere ‘Konfiszierung‘ des vermeintlich ‘despektierlichen‘ Ausdrucks ‘gemein‘ in Burckhardts Cicerone
verweist, erklärt sich, wenn man der fraglichen Passage in den verschiedenen Auflagen dieser
erfolgreichen „Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens“ nachgeht. Im Übergang von
der dritten zur vierten Auflage enthüllt sich dabei eine Pointe. Erst in dieser letztgenannten
Umarbeitung des Buches fällt das abwertende Adjektiv nämlich ersatzlos fort.83 Der Autor,
der im Auftrag Burckhardts die Überarbeitung für diese 1879 erschienene Auflage unternahm,
war jedoch kein anderer als Wilhelm Bode. Für Kenner dieses Zusammenhangs birgt Neumanns Kommentar also eine ironische Spitze in Richtung des selbstbewußten Berliner Museumsdirektors. Zugleich illustriert die von Bode vorgenommene ‘Entschärfung‘ eines Burckhardtschen Urtextes treffend den unterschiedlichen Stellenwert, der Rembrandt im Urteil dieser beiden Autoren zukam. Zwei Jahre zuvor hatte Jacob Burckhardt in seinem RembrandtVortrag seine Charakterisierung der Gesichtszüge des Künstlers noch einmal dargelegt:
„Ein frühes, höchst fleißig ausgeführtes Bild in Kassel stellt den Künstler sogar im Helm und braunen Mantel auf komisch abenteuerliche Weise vor, aller übrigen maskierten Selbstporträts mit Toquen, Brustharnisch und anderm nicht zu gedenken. Seine originellen und höchst derb-kräftigen
Züge waren (...) durchaus nicht sonderlich soldatisch.“ (Burckhardt 1877, 12 f.)
Diese Beschreibung weitet Burckhardt direkt im Anschluß auch auf die Gattin des Künstlers
aus, um daran seine Einschätzung der Zusammenhänge von menschlicher Physiognomie, gesellschaftlichem Rang und angemessener Kleidung darzulegen:
83
3. Auflage 1874, bearbeitet von A. von Zahn, Band II, 1134; 4. Auflage 1879 bearbeitet von W. Bode, II.
Theil, 780.
299
„Auch seine Saskia lernen wir vielleicht nur in dem höchst liebenswürdigen Dresdner Porträt mit
der Nelke so gekleidet kennen, wie sie wirklich einherging; schon das andere (...) Dresdner Porträt
(...) zeigt uns eine maskierte Saskia, und so vollends das berühmte Kasseler Porträtbild, wo sie mit
einem höchst geschmacklos gewählten Putz vom Anfang des 16. Jahrhunderts beladen ist. Nun
hatte aber Saskia von Hause aus nur eine bürgerlich angenehme Physiognomie; von ihr wie von
mehrern andern Persönlichkeiten, welche Rembrandt malte, kann man nur sagen: Mit je mehr
Schmuck er sie behing, desto fataler wirkt der Kontrast zwischen Kostüm und Zügen. Wie anders
Rubens, wenn er seine Helena Fourment fürstlich kostümiert! Hier sitzt Schmuck und Prachtgewand, als wäre sie darin aufgewachsen.“ (Burckhardt 1877, 12/13)
Physiognomie erscheint hier als standesbedingt. Eine Bürgersfrau kann in adligem Schmuck
nur grotesk wirken, der fürstlichen Dame fügt er sich dagegen als organisches, angemessenes
Element an, „als wäre sie darin aufgewachsen“. Derartige Verknüpfungen von Physiognomie,
gesellschaftlichem Stand und Idealschönheit verloren im Verlauf des 19. Jahrhunderts an Bedeutung. Dagegen entwickelte sich nun jedoch die psychologisierende Lesart des Gesichts,
die in der Rembrandtliteratur zu einem Grundpfeiler der hermeneutischen Argumentationen
wurde.
Wenn ‘Rembrandts Häßlichkeit‘ als Topos an Präsenz einbüßte, so gilt dies jedoch nicht für
die damit verbundene Ablehnung von Eitelkeit als Antriebskraft der Selbstbildnisse. Um die
Kontinuität dieses Topos zu belegen, seien noch einmal zwei Beispiele angeführt, die mehr
als ein Jahrhundert trennt. Zunächst Heinrich Weizsäcker, der 1898 in seiner Besprechung der
epochalen Amsterdamer Rembrandt-Ausstellung schrieb:
„Wollte man in aller Kürze eine Darstellung von Rembrandts künstlerischer Entwicklung geben,
man könnte sie an der Hand der Bildnisse geben, die er auf allen Altersstufen, zu seinem privaten
Studium jedenfalls mehr als aus Selbstgefälligkeit, von seiner eigenen Person gemalt hat.“ (Weizsäcker 1898, 512)
Für das abschließende Zitat zeichnet der „Netherlands Board of Tourism“ verantwortlich. Es
wurde ebenfalls im Kontext einer Rembrandt-Ausstellung publiziert - der Präsentation der
Selbstbildnisse von 1999:
„Often, he chose to paint himself for lack of funds to get models. It was not vanity that made him
depict himself.“84
84
URL: www.visitrembrandt.com. Die Internetseite wurde anläßlich der Ausstellung Rembrandt Zelf (Den Haag
1999) eingerichtet. Copyright: Netherlands Board of Tourism.
300
Das Auftreten dieses Topos möchte ich mit Hilfe eines zweiteiligen Modells erklären. So läßt
sich darin (1) eine Reaktion auf die Anekdotentradition erkennen, die Rembrandt als einen
Exzentriker darstellte, der seine eigenwilligen Entscheidungen gegebenenfalls auch mit dem
nötigen Selbstbewußtsein gegen Widerspruch durchzusetzen vermochte.85 Dieses Vorgehen
ist jedoch (2) nur deshalb notwendig, weil diese tradierte Charakterisierung aus der zeitgenössischen Sicht als eine negative verstanden wurde. Während die klassizistische Biographik in
dem Künstler und seinen Eigenheiten einen Typus beschrieb, der weniger über oder unter
anderen als neben diesen stand, galt es nun, in ihm ein Idealbild zu formulieren; nach der
Gleichung ‘Großer Künstler = Großer Mensch‘ galt es, die Vollkommenheit, die man dem
Maler Rembrandt im metaphysisch aufgeladenen Reich der ‘Kunst‘ zuschrieb, auch in der
moralischen Integrität des Privatmenschen Rembrandt zu spiegeln. Die Künstlerkonzeption
dieser Zeit verlangte eine Übereinstimmung von Leben und Werk. Wie an anderer Stelle bereits dargestellt, entstanden dadurch Probleme, die aktenkundig gewordenen Laster des Menschen und die aus direkter Anschauung der Werke erfahrene Tugendhaftigkeit des Meisters in
einer Person zusammenzuführen. Die wie selbstverständlich mitgeführte Formel, daß Eitelkeit
nicht der Antrieb zur Erstellung der Selbstbildnisse gewesen sei, ist somit im wesentlichen
aus der moralischen Einstufung von Eitelkeit, Selbstverliebtheit oder Narzißmus als ‘lasterhaft‘ und deren Unvereinbarkeit mit dem bürgerlich-modernen Künstlerbild der Jahrzehnte
um 1900 zu erklären.
Aus dieser Perspektive verwundert es nicht, daß sich die vielleicht einzige positive Äußerung
zu Rembrandts Eitelkeit in der nach-akademischen Rezeptionsphase bei einem Autor findet,
der den niederländischen Künstler zum Helden eines anti-bürgerlichen Anarchismus stilisiert:
bei Emil Verhaeren (1912 [1905], 38). Der primäre Antrieb zur Anfertigung der Selbstbildnisse liegt nach Verhaeren in der Selbstliebe Rembrandts, die jedoch nicht als moralisches
Defizit, sondern als ein wesentlicher und notwendiger Charakterzug des Genies anzusehen
sei. Hierin drücke sich die Überlegenheit und die vorbildliche Individualität aus, mit der es
der bürgerlichen Gesellschaft entgegenzutreten gälte. Diese Ausnahme von der Regel ist also
einem revolutionären Gestus geschuldet, der auch Rembrandts Vorbildfunktion konträr zu den
geläufigen Positionen ausfüllt.
85
Daß Rembrandts Selbstbewußtsein dabei eine Tendenz zur Überheblichkeit eingeschrieben wurde, zeigt unter
anderem die Anekdote, in der Rembrandt das skurrile Sammelsurium an ‘alten Waffen und allerlei Gerät‘ als
‘seine Antiken‘ bezeichnet. Eitelkeit wurde dem Maler außerdem im Anschluß an die phantastischen und prachtvollen Kostümierungen nachgesagt, in denen er sich selbst und, was in früheren Perioden noch stärker rezipiert
wurde, seine Frau Saskia abzubilden pflegte. Mit dem Hinweis ‘Es war nicht Eitelkeit‘ wandelte die jüngere
Rezeption also eine bereits etablierte Topik ab.
301
2.4 Authentische Quellen: Die Selbstporträts als ‘Selbstbiographie‘
„Es ist, als hätte er seine eigne Persönlichkeit gesucht, die ihm selbst ein Rätsel war.“
(Muther 1906, 12)
Erst nach der Jahrhundertwende rücken die Selbstbildnisse nachweislich ins Zentrum der
Rembrandtrezeption, wo sie von nun an gleichwertig neben den Gruppenbildnissen und den
religiösen Themen rangieren, ja diesen beiden Gattungen teilweise noch übergeordnet werden. In der deutschsprachigen Rezeption läßt sich die erste akademisch legitimierte Rembrandt-Monographie Carl Neumanns (1902) als ein Markstein auf diesem Weg ausmachen.
Der Umfang, den diese Bilder im Buch des Heidelberger Professors einnehmen, ist nur gering, doch kennzeichnet Neumann ihren Stellenwert für die aktuelle Beschäftigung mit Rembrandt in einer programmatischen Weise:
„Die Selbstbildnisse Rembrandts sind durch ihre Zahl einzig in der gesamten Malerei. Aneinandergereiht bilden sie eine Art Selbstbiographie, die man mit den merkwürdigsten Erscheinungen dieser
Gattung, wie sie in der Litteratur von Augustin bis zu Rousseau und Goethe begegnen, vergleichen
könnte. Bei der rein künstlerischen Gesinnung, in der Rembrandt sich selbst malte, haben sie den
Wert unbefangenster Zeugnisse; indem sie zeitlich getrennt und vereinzelt nebeneinander stehen,
werden sie als Dokumente jenen litterarischen Werken teilweise überlegen (...).“ (Neumann 1902,
485 f.)
Die Selbstporträts werden hier nicht nach ihrer gattungsgeschichtlichen Position, ihrer technischen Durchführung oder ihrer Ikonographie befragt. Sie werden vielmehr als ‘Dokumente‘
verstanden, das heißt als eine eigene Kategorie von Quellen, deren Aussagepotentiale über die
spröden amtlichen Fakten hinaus eine einzigartige Annäherung an die menschliche Seite
Rembrandts, seinen Charakter, sein Wesen ermöglichen. Neumann vergleicht die Bilder dieser Gattung mit autobiographischen Texten der Literaturgeschichte, spricht ihnen Authentizität („den Wert unbefangenster Zeugnisse“) zu und bezeichnet sie als „eine Art Selbstbiographie“. Kennzeichnend für die zeitgenössische Perspektive auf die Selbstporträts, wird dieser
Ausdruck im folgenden zu einem Schlüsselbegriff.
In den amtlichen Dokumenten, die nach intensiven Archivrecherchen zu Beginn des Jahrhunderts mit ihrer Vielzahl zum Teil unerfreulicher Details vorlagen, konnten wesentliche Kommunikationsinhalte der an Rembrandt interessierten Autoren keine Anknüpfungspunkte finden. Während diese Form der Annäherung an den Künstler über seine Spuren als öffentliche
Person eher unbefriedigend verlief, eigneten sich die Selbstbildnisse als hochwertiger ‘Ersatz‘
für fehlende Schriftquellen zum privaten Rembrandt. Stellvertretend für das Dilemma von
akademischen wie nicht-akademischen Enthusiasten läßt sich Karl Pfisters Unzufriedenheit
mit der literarischen Quellenlage lesen:
302
„(...) was kann man an seelischer Erregung diesen Berichten der Tatsächlichkeiten entnehmen? Das
Wichtigste fehlt fast ganz: Äußerungen des Mannes selbst (...) und Belege, wie die Geschehnisse
des Lebens auf ihn wirkten. In diese Lücke treten die Selbstbildnisse ein.“ (Pfister 1919, 23)
An dieser Stelle soll auch der zweite Teil eines Zitates von Wilhelm Valentiner (1906) nachgereicht werden. Valentiner hatte den „Laien“ die Mutmaßungen über Rembrandts Eitelkeit
unterstellt und dieser unangemessenen Sichtweise das berechtigte Selbstbewußtseins des
Künstlers entgegengehalten (Valentiner 1906, 43). Doch damit, so Valentiner, sei das Wesentliche noch nicht gesagt:
„(...) der wahre Grund wird tiefer liegen. Die Selbstbildnisse beweisen, wie die Studienköpfe, des
Künstlers außergewöhnliche Neigung, das menschliche Antlitz mit allem Reichtum seiner Bildung
und aller Mannigfaltigkeit des Ausdruckes an einer und derselben Form zu ergründen. Und zum
anderen sind es vielfach nicht mehr als flüchtige Gedanken über Erfahrungen und über Stimmungen, gleichsam Notizen aus einer Selbstbiographie, wie sie der lyrische Dichter in jedem Gedicht
mit gleicher Offenheit gibt, ohne daß jemand Anstoß nehme. Sie spiegeln bald Leid, bald Freude
und sind reine Erinnerungen an Stunden einsamer Selbstbetrachtung.“ (Valentiner 1906, 44)
Als authentische Selbstaussagen des Künstlers werden diese Bilder den literarischen Quellen
der Autobiographie, des Tagebuchs oder der privaten Briefe gleichgesetzt oder, wie bei Neumann, sogar teilweise übergeordnet. Dieses Verständnis bezieht seine Legitimation aus der
zumeist a priori postulierten Produktionsformel des ‘Erkenne Dich Selbst‘, den „Stunden einsamer Selbstbetrachtung“, wie sie auch in Wilhelm Hausensteins Beschreibung des Malaktes
charakterisiert werden:
„Die Augen (...) beobachten mit der Sachlichkeit eines gewissen trüben Mißtrauens - beobachten
im Spiegel zumal sich selbst: wer seid ihr - wem gehört ihr - was für einer ist der, dem ihr gehört wie ging und geht es ihm in dieser Welt und wie wird es ihm gehen?“ (Hausenstein 1926, 16)
Da der Ursprung dieser Bilder in Rembrandts Bedürfnis nach Selbsterforschung gesehen
wird, da der Künstler gleichsam seine Persönlichkeit in sie hineingelegt hat, kann diese in
einer Rezeption, die sich als Umkehrung des Produktionsprozesses versteht, ebendort aufgefunden werden. Mit den Worten Karl Schefflers:
„In den Selbstbildnissen besitzen wir eine fast vollständige Biographie des Künstlers; die innere
Art dieses großen Menschen läßt sich aus ihrer Gesamtheit ablesen.“ (Scheffler 1906, 30)
303
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominiert dieses Interesse an der „innere[n] Art dieses großen Menschen“ die Beschäftigung mit Rembrandts Selbstbildnissen.86 Die Selbstbildnisse werden nun zum alleinigen Gegenstand von Aufsätzen und von Monographien. Über
ihren Anschlußwert für Aussagen zur Person Rembrandts hinaus werden sie für die Beschreibung des Schöpferischen, der Individualität und verwandter abstrakter anthropologischer Kategorien nutzbar gemacht. Ein besonders weitreichendes Beispiel dafür ist Georg Simmels
lebensphilosophisch orientiertes Buch von 1916. Aber auch Hausenstein (1926) und Pinder
(1943) führen ihre Leser von den Selbstbildnissen Rembrandts aus in quasi-philosophische
oder weltanschauliche Regionen. Gerade bei Pinder steht, vierzig Jahre nach Neumann, der
Begriff ‘Selbstbiographie‘ zentral, wie bereits der Eröffnungssatz seines Buches zeigt:
„Die Selbstbildnisse Rembrandts - mit diesen Worten ist etwas genannt, das auf der ganzen Welt
nur ein einziges Mal sich ereignet hat. Es bedeutet nicht nur Krönung und höchsten Fall einer Bildgattung, sondern auch noch etwas, wovon es überhaupt nur diesen einen Fall gibt: die vollständige
Selbstbiographie in sichtbar gestalteter Form, die einzige der Menschheit.“ (Pinder 1943, 3)
In den deutschsprachigen Monographien der 20er Jahre erscheint diese Position als konsensfähig. Wilhelm Hausenstein (1926) steigt mit dem Titel „Selbstbildnis“ in sein RembrandtBuch ein, und auch Werner Weisbach (1926) verwendet auf diese Gattung ein eigenes Kapitel
namens „Selbstporträts als Selbstzeugnisse“.
2.5 Die Selbstbildnisse als Dokumente der Persönlichkeitsentwicklung
Was liegt näher, als diese ‘gemalte Selbstbiographie‘ zum Sprechen zu bringen? In der Tat
wird die Nacherzählung eines vom privaten Geschehen geprägten ‘seelischen Lebensweges‘
zu einem der häufigsten Deutungsansätze, die sich in jenen Jahren im Hinblick auf die Selbstporträts ausbilden. Der geläufigste Zuschnitt dieser Narration soll nun unter Rückgriff auf
unterschiedlichste Quellentexte skizziert werden. Er orientiert sich an dem kunsthistorischen
Ordnungsmodell der drei Werkphasen (Früh-, Haupt- und Spätwerk). Dabei wird der junge
Rembrandt als neugieriger, weltoffener ‘Stürmer und Dränger‘ vorgestellt, dessen Aufmerksamkeit für alles Sichtbare und dessen Freude am Experiment, aber auch dessen Unreife aus
den Selbstbildnissen dieser Zeit spricht.
Ferdinand Avenarius erweckt im Kunstwart (1906) den neugierigen Jüngling zum Leben:
„Aber der junge Rembrandt mochte nicht weg. Er fand reichlich genug rundum zu sehen an den
Lumpen der Bettler und an den Prachtstücken aus Indien, an den Helmen und Halsbergen bei den
Schützen und an den Röcken und Mützen der Juden, an den durchsonnten Stuben und Kirchen, an
86
Für Beispiele zum Fortleben dieser Perspektive vgl. auch van de Wetering 1999.
304
den Menschen mit ihren Gesichtern, an seinem eigenen, das er wie ein Schauspieler vor dem Spie gel so und so verzog, begierig, wie nun der Ausdruck sich wandle und mit Stift und Pinsel sich
fangen lasse.“ (Avenarius 1906, 330)
Theodor Hetzer hat den Entwicklungsgedanken im Visier, wenn er (1941) die ‘Unreife‘ des
Dresdner ‘Doppelbildnis mit Saskia auf den Knien‘ von 1635 als Etappe eines weiterführenden Weges darstellt:
„Ein an und für sich monumentaler und bedeutender Gedanke aus der Welt der großen Komposition, die Pyramide, wird im Atelierübermut ins Lustige gewandt (...). Man denkt an Franz Hals und
an die vielen holländischen Darstellung[en] der Trinker, der Soldaten mit ihren Mädchen. Daß
diese ganze Welt uns bei Rembrandt nicht recht überzeugt, daß er darin nicht zu Hause ist und daß
es schon damals auch ganz andere Bezirke für ihn gab, dieses freilich müssen wir wohl beachten;
und auch die vielen kostümlichen Verwandlungen des jungen Rembrandt sind Vorstufen des späteren reinen und hohen Künstlertums; nur aus dem Suchen der frühen Zeit wurde die seelische Größe
der späteren möglich.“ (Hetzer 1984 [1941], 323) 87
Auch bei Richard Hamann (1906) wird deutlich, daß der junge Rembrandt zu Höherem berufen ist. Die frühen Selbstporträts werden als Experimente gekennzeichnet, denen eine Spannung innewohnt, die zu lösen erst die Zeit mit sich bringen wird:
„In jungen Jahren stellte sich Rembrandt vor den Spiegel, um zu sehen, wie man lacht. Man spürt,
wie krampfhaft er das Gesicht verziehen muss, um es doch nur bis zum unnatürlichen Grinsen zu
bringen. Er stellt sich zornig, aber erscheint erst recht gutmütig dabei und wird komisch. Und auch
das Erschrecken mit weit aufgerissenen Augen glaubt man ihm nicht. Wir verstehen: die Energie
dieses wuchtigen Körpers vermag das äusserste zu leisten im Ertragen und Übersichergehenlassen,
die aggressiven Tugenden, das Aussichherausgehen liegt ihm nicht. Leben heisst bei ihm Nerv und
Gehirn, die Muskeln bleiben unbeteiligt.“ (Hamann 1906, 18 ff.)
Und auch Marie Luise Kaschnitz (1948) sieht in dem Jüngling nicht allein die verspielte Neugierde des Heranwachsenden, sondern bereits die Anlagen zu verantwortungsvollem Handeln.
In ihrem Text, der 1948 im Weihnachtsheft der Zeitschrift Das Kunstwerk erschien, geschieht
dies, sicher nicht zufällig, sondern im doppelten Sinne zeittypisch, in tröstender Absicht. Mit
einem „geheime[n] Bruderschaftsgefühl“ reiht sich Rembrandt „in die Schar der Besitzlosen
und Heimatlosen“ ein:
„[Wir sehen] den Neugierigen der Ausdrucksstudien, der am eigenen, zu immer neuen Fratzen verzerrten Gesicht darstellen wollte, was Furcht und Schrecken ist, tierisches Lauern und irres Ge-
87
Vgl. Hanfstaengl 1939, 8.
305
lächter, jede Hingegebenheit an die dunkeln Triebkräfte der menschlichen Natur. Neben solcher erkenntnishungrigen Seelenverkleidung stand die Vortäuschung eines anderen Schicksals, die Darstellung im Bettlergewand, die Einreihung in die Schar der Besitzlosen und Heimatlosen, zu denen
Rembrandt gewiß mehr ein geheimes Bruderschaftsgefühl als ein soziales Mitleid zog.“ (Kaschnitz
1948, 25)
Der junge Rembrandt, so stellt es sich in diesen Zitaten dar, ist vielgestaltig. In seiner Wildheit, Neugierde und Experimentierfreude klingen zugleich, noch unbewußt, bereits Versprechungen auf Späteres durch. In der zweiten Phase seiner Persönlichkeitsentwicklung werden
diese Versprechungen jedoch zunächst nur technisch eingelöst. Die Bildnisse des Rembrandt
der mittleren Jahre werden zumeist in zwei Abschnitte unterteilt, ohne jedoch das umfassende
Dreier-Schema zu sprengen. In seiner Zeit als selbstbewußter Bürger Amsterdams spricht aus
den Selbstporträts zunächst der Stolz des erfolgreichen Malers und des glücklichen Ehemannes. In diesen Bildnissen erkennen die InterpretInnen einen Hang zur Äußerlichkeit, bei aller
handwerklichen Brillanz entferne sich Rembrandt von sich selbst. Die Versuchung des Erfolges zeige ihre Wirkung. Theodor Hetzer (1926) charakterisiert dies mit knappen Worten:
„Es kommt der Weg in die Welt, eine kurze Zeit äußeren Erfolges, ein lärmendes, derbes, renommistisches Glück.“ (Hetzer 1984 [1926], 314)
Es ist diese Phase, für die Adolf Rosenberg (1904) eine begrenzte Selbstgefälligkeit des
Künstlers zuläßt:
„Wenn in der Blüte seiner männlichen Kraft vielleicht auch die Eitelkeit, die Freude an phantastischem, malerischen Aufputz ihn zu diesem etwas ausgiebigen Kultus seiner Persönlichkeit getrie ben haben mögen, so fällt dieses Motiv sowohl bei dem jungen wie bei dem alternden Künstler
fort.“ (Rosenberg 1904, XII)
Und für Eberhard Hanfstaengl (1939) ist das Dresdner Doppelbildnis mit Saskia, das er im
Gegensatz zu Hetzer zur zweiten Phase zählt, der Ausdruck dieses oberflächlichen Erfolgs:
„(...) das Doppelbildnis in Dresden, aus übermütiger Laune entstanden und von einer fast derben
Enthülltheit, kennzeichnet diese Zeit der Lebensfreude, der ein Unterton von barockem Lärm und
Bombast beigemischt ist. Rembrandt fühlt sich als Edelmann in seinem Metier, er kleidet sich gesucht und betont vornehm, auf Saskia häuft er den Schmuck einer Fürstin, ein goldener Glanz liegt
auf allen Erscheinungen. Die eigenen Bildnisse zeigen Würde und Selbstbewußtsein, und Rembrandt weiß in seinem Gesicht alle Züge zu bannen oder zu mildern, die seine Herkunft verraten
könnten. Haltung und Tracht verstärken noch die Tendenz nach Repräsentation und Ansehen.“
(Hanfstaengl 1939, 8)
306
Die Werke dieser Phase bereiten zahlreichen Interpreten ernsthafte Probleme. Der Grund dafür ist in der beabsichtigten Idealisierung Rembrandts zum ‘Maler der Seele‘ zu suchen, die
den Niederländer innerhalb der dichotomischen Unterscheidung von ‘Oberfläche und Tiefe‘
entschieden dem letzteren dieser Pole zuordnet. Ein harmonisches Verhältnis des Künstlers
zur zeitgenössischen Gesellschaft gilt in dieser Sichtweise jedoch als Beleg für dessen Oberflächlichkeit, was sich bei Hanfstaengl anschaulich in der Formel vom „goldene[n] Glanz (...)
auf allen Erscheinungen“ ausdrückt - insofern wir Glanz als Oberflächenphänomen auffassen
können.88 In den Selbstbildnissen der „kurze[n] Zeit äußeren Erfolges“ wird eine Neigung
Rembrandts zu materiellen Genüssen gesehen. Dies wirft einerseits ein Problem auf, da Rembrandt von derartigen Strömungen nicht ernsthaft berührt sein darf, liefert jedoch andererseits
die Möglichkeit, die ständige Gefährdung des Genies durch die Welt aufzuzeigen. Gerade
durch diese - vorübergehende - Verflachung gewinnt die Authentizität des späten Rembrandt
zusätzlich an Intensität. Einer menschlichen Schwäche folgend, gibt sich Rembrandt demnach
der Versuchung der glänzenden Welt gesellschaftlichen Scheins hin. Erst im Scheitern dieses
oberflächlichen Genusses gelangt er zur Erkenntnis des wahren (außergesellschaftlichen, innerlichen) Seins.
Trotz dieser dramaturgischen Zweckmäßigkeit bleibt eine angemessene Einordnung dieser
Phase in die lineare Erzählung von Rembrandts ‘Entwicklungsgang‘ problematisch. Besonders deutlich wird das bei Wilhelm Pinder. Dieser Autor kann die fraglichen Bilder nicht
flüchtig übergehen, da die Selbstbildnisse sein einziger Gegenstand und ihre chronologische
Besprechung seine Methode sind. Zudem tritt bei Pinder erschwerend eine fast paradoxe Mischung aus wissenschaftlichem Ethos und Heroisierungsinteresse hinzu. So schwankt seine
Darstellung der Erfolgsphase zwischen Kritik, Verständnis und harmonisierenden Erklärungsversuchen. Rembrandts Gesichtsausdruck mildere sich in diesen ersten Amsterdamer
Jahren:
„Jetzt beginnt er sich wohlzufühlen, das ist ein ganz neuer Ton in seiner Selbstbiographie. (...) er
wird nüchterner, glücklicher und zugleich mehr dem Außen des öffentlichen Lebens zugewandt.“
(Pinder 1943, 33)
Mehrfach verwendet Pinder in diesem Abschnitt seines Textes den Begriff ‘Kunstmaler‘, den
er in Anführungszeichen setzt, um ‘diesen‘ Rembrandt als einen populären Maler zu kennzeichnen und ihn von dem späteren ‘Künstler‘ begrifflich zu unterscheiden. An die vorsichtige Abwertung dieser Phase wird sogleich eine Rechtfertigungsformel angeschlossen:
„Rembrandt ist - in der nicht unbedenklichen Sprache des Alltags ausgedrückt - eine Zeitlang weniger ‘interessant’. Weniger Stürme und weniger Perlen der Seele; aber ohne die Pause wäre die
88
Vgl. Gumbrecht 1997, 102 ff.
307
Kraft für mächtigere Stürme und kostbarere Perlen nicht mehr dagewesen. Das Genie kann nicht
davon leben, ‘genialisch’ zu sein.“ (Pinder 1943, 35)
Indem Pinder in Parenthese die Begriffswahl seiner Kritik der Alltagssprache zuschreibt, kann
er den geringeren Reiz ‘dieses‘ Rembrandt ausdrücken, ohne selbst seine wissenschaftliche
Distanz aufzugeben. Denn der Kunsthistoriker Pinder kennt natürlich keinen ‘weniger interessanten‘ Rembrandt. Alle Phasen dieses Künstlers, alle seine Zeiten gehören in ein Gesamtbild,
das an sich ‘interessant’ ist. Aus der Perspektive des Laien, die Pinder hier kurz simuliert,
mag also ‘dieser Rembrandt weniger interessant’ erscheinen. Indem er das Werturteil aus einer veränderten Sprecherposition heraus fällt, umgeht er die wissenschaftliche Pflicht, es als
ein ernsthaftes Problem behandeln zu müssen. Problematisch wird dank dieser rhetorischen
Wendung nicht, daß dieser Rembrandt weniger interessant ist, sondern sofort, daß ein Alltagsverständnis es so auszudrücken geneigt sein mag. Der Wissende kann statt dessen auf die
‘Notwendigkeit’ verweisen, also den Topos der ‘folgerichtigen Entwicklung des Künstlers‘
ins Spiel bringen, was in unserem Fall in Form der Notwendigkeit der „Pause“ geschieht.
Nach der Turbulenz der Jugendjahre erholt sich der Künstler also:
„(...) so beruhigt bei aller Bewegung, so e i n v e r s t a n d e n m i t d e r W e l t sehen wir Rembrandt kaum jemals wieder, so sahen wir ihn auch früher kaum.“ (Pinder 1943, 46)
Selbstbildnisse sind in dieser Zeit der Selbstzufriedenheit ein gefährlicher Gegenstand:
„Wo er damals von sich ausging, da konnte er leicht verflachen.“ (Pinder 1943, 53)
Wo ihm diese Oberflächlichkeit zu weit geht, fährt Pinder gar das Geschütz des Echtheitszweifels auf, nicht ohne die fragwürdige wissenschaftliche Relevanz seiner Aussage zu reflektieren:
„Eine Enttäuschung bietet das oval gerahmte Bild im Glasgower Museum. Sollen wir diesen süßlichen flachen Rembrandt wirklich glauben? Eine Verwerfung auch als Werk des Künstlers darf hier
nicht gewagt, es darf höchstens gehofft werden, daß sie mit guten Gründen einmal geschieht.“
(Pinder 1943, 59)89
In Pinders Begründung seines Zweifels läßt sich nochmals die Ambivalenz seiner Position
und die Schwierigkeit erkennen, die ihm die Vorstellung eines gesellschaftlich gut situierten
Künstlergenies namens Rembrandt bereitet. Nur als flüchtige Phase eines wesenhaft gänzlich
anders Disponierten kann er sie dulden:
89
Daß der deutsche Kunsthistoriker Pinder, Mitglied der NSDAP, mit diesem Echtheitszweifel 1943 ein Objekt
diskreditiert, das als kulturelles Besitztum Großbritanniens angesehen werden kann, sei hier nur am Rande erwähnt.
308
„Was aber entscheidend fehlt, das ist die Rembrandtische I n t e n s i t ä t . Sie ist wichtiger als Ähnlichkeit des Dargestellten, selbst des Stiles. (...) Nur eines muß doch noch gesagt werden: w e n n
wir schon wirklich das Glasgower Bild als echte Urkunde Rembrandtischer Selbstdarstellung hinnehmen müßten, so käme allerdings die Mitte und die zweite Hälfte der 1630er Jahre als einzige
Zeit in Betracht. Es war diejenige, die Äußerlichkeit und Selbstverflachung als einzige erlaubte. Es
ist natürlich die Selbstverflachung eines t i e f e n Menschen. Nur der Tiefe kann vorübergehend
verflachen, nur an ihm ist ‘Verflachung’ überhaupt wahrzunehmen. Für geborene Flachköpfe liegt
kein Grund zur Überhebung vor.“ (Pinder 1943, 60)
Der Übergang zum zweiten Abschnitt der mittleren Lebensphase Rembrandts wird im allgemeinen als ein Schock dargestellt. Im Jahr 1642 brächen mit der ‘Ablehnung der Nachtwache‘
und mit Saskias Tod zwei Katastrophen auf ihn ein, zudem verschärften sich die finanziellen
Probleme. Dieser Schock bringe schon bald die Rückkehr zu sich selbst, die zugleich eine
Abkehr vom Äußerlichen sei. Die Frontstellung zur Gesellschaft, deren Höhepunkt sich im
aktenkundigen Konkurs offenbare, zeichne sein Gesicht mit Spuren des Leidens. Rembrandt
sei jedoch nicht ‚gebrochen‘ - im Gegenteil.
Die Zeitschrift Hochland (1906) erläutert zu einem auf 1654 datierten Selbstbildnis:
„Das Jahr, aus dem das Bildnis stammt, ist für den Menschen Rembrandt zwar ein Unglücksjahr.
Im Juli desselben wurde er wegen seiner ‘Gewissensehe’ mit Hendrickje Stoffels viel angefeindet.
Gleichzeitig machten sich die ersten Vorboten seines finanziellen Ruins bemerkbar, (...) so daß
1656 die Katastrophe über ihn hereinbrach. Es ist gewiß, daß die Gesichtszüge aus jener schweren
Zeit düstere und herbe Falten aufweisen; aber es ist ebenso gewiß, daß aus den Augen des Mannes
eine große seelische Ruhe, ja sogar etwas wie sieghafte Heiterkeit spricht, welche äußeren Schicksalsschlägen keine Gewalt einräumt über die innere Welt.“ (o. A. [verm. Karl Voll], Hochland, 3.
Jg, 10. Heft, Juli 1906, 511 f.)
Eine verwandte Mischung erkennt Jan Veth 1906 in der Radierung Selbstbildnis am Fenster,
zeichnend (RS 62) von 1648:
„Sein schmerzlich gespanntes Gesicht zeigt die Spuren von viel Streit und viel Leid, aber die
schwer durchfurchten Züge sprechen auch von einer ungebrochenen, ja noch gestählten Hartnäckigkeit und von einer fest entschlossenen Einkehr zu tieferem Lebensschatz.“ (Veth 1906, 109) 90
90
„Zijn smartelijk gespannen gelaat vertoont de sporen van veel strijd en veel leed, maar die zwaargegroefde
trekken spreken ook van een ongebroken, ja nog gestaalde hardnekkigheid en van een vastbesloten inkeer tot
dieper levens-schat.“ (Veth 1906, 109).
309
Und zum gleichen Bildbeispiel zieht Carl Neumann (1902) noch einmal den Vergleich mit
dem bürgerlich-erfolgreichen Rembrandt der ersten Amsterdamer Jahre:
„(...) dieser Rembrandt ist auch schöner und vorteilhafter als der Geputzte mit seinem frisierten
Bärtchen und seinen Toiletteschmeicheleien; die hundemäßig breite Nase fällt vor der geistigen
Energie kaum mehr auf, die sich in der Unerbittlichkeit durchdringender Forschung und Diagnose
ausspricht. Die ganze Umgebung, Tisch und Wand, alles scheint den Atem anzuhalten; es giebt
keine Reize und Witze des undulierenden Tonspiels; nichts als vollkommende Ruhe und erwartende Stille.“ (Neumann 1902, 487)
Diese ‘Erwartung‘ findet schließlich ihre Erfüllung im Bild des alten Rembrandt, der die Welt
überwunden habe. Er zeige sich ruhiger als der junge und stärker als der mittlere Rembrandt.
In seinen Bildnissen wird die Souveränität eines Mannes ausgemacht, der durch Freud und
Leid, durch die Prüfungen des Lebens, zu einer erhabenen inneren Größe emporgewachsen
sei. Die späten Selbstporträts geraten in dieser Erzählung zur Apotheose des Künstlers wie
des Menschen. Richard Hamann stellt 1906 über die Auswirkungen der erlittenen Katastrophen auf den Künstler fest:
„Diese Schicksale prägen sich im Äusseren Rembrandts immer mehr aus. Er verwahrlost immer
mehr. Wie er sie innerlich durchlebte, können wir nur ahnen. Eine unendliche Vertiefung - die Erziehung durch das Leiden - kündet sich in jedem Werke dieser Zeit an.“ (Hamann 1906, 17)
Dann beschreibt Hamann das Florentiner Selbstbildnis (datiert auf 1669):
„Der Mund ist fest verschlossen, in den Winkeln herabhängend. Die Augen liegen tief in erschlaffter Umgebung, scheinen leicht getrübt. Ein Gran von Bitterkeit drückt sich in Mund und
Augen aus, eines Ungebeugten, aber ohne heftige Anklage und auch nicht mit der Miene eines erzürnten Siegers - wie jemand, der sich und seine Kunst aus Schiffbrüchen gerettet hat.“ (Hamann
1906, 17 f.)
Heinrich Wölfflin äußert sich 1909, nachdem er die herausragende Stellung der Selbstbildnisse als Quellen zur persönlichen wie künstlerischen Entwicklung Rembrandts gewürdigt
hat, zu den späten Beispielen:
“Und wenn auch später gelegentlich ein düstrer Ton nicht ausbleibt (...) so ist der Charakter der
Altersporträts im allgemeinen doch ein sieghafter: der Mann, der sich von der Welt frei gemacht
hat. Und das einfache weiße Tuch, das er sich jetzt statt der alten Maskenkostüme um den Kopf zu
schlingen pflegt, wirkt wie eine Gloriole.“ (Wölfflin 1949 [1909], 131)
310
Auch Marie Luise Kaschnitz (1948) schließt sich dieser Vorstellung an. Die Passion des genialen Künstlers, seine Außenseiterposition, der sich schließende Kreis und die Apotheose
sind die Muster, die Kaschnitz angesichts der späten Selbstporträts verwendet:
„Auf den (...) Bildern erscheint die Persönlichkeit Rembrandts durch das Leiden und die äußere
Einengung erhöht, durch das Ausgestoßensein aus der patrizischen Gesellschaft gefestigt und vertieft. Das Zurückfinden zu sich selbst ist eine neue Begegnung mit dem Menschen, mit einem
Neuen nun, der weder der Bereicherung und Ehrung von außen, noch des sicheren Haltes einer
bürgerliches Existenz bedarf.“ (Kaschnitz 19048, 34)
Und Karl Voll schließt seinen Jubiläumsartikel von 1906 mit den Worten:
„Er hat sich als alter Mann ganz von aller Gesellschaft der Menschen zurückgezogen, und doch
sind es seine letzten Werke, die einen solch unerschöpflichen Fond von grundguter Liebe enthalten.
Das darf uns entgegengesetzt der landläufigen Ansicht ein Trost sein. Arm mag Rembrandt geworden sein, aber unglücklich wurde er nicht, und wie seine letzten Selbstbildnisse zeigen, durfte er
sich bis zum Schluß als stolzer Mann fühlen. So steht er wahrhaft groß da, als Sieger auch noch im
Untergang.“ (Voll 1906, 449)
Am Ende dieser patchworkartigen Schilderung muß nochmals der Stellenwert des ‘Ganzen‘
betont werden. Die Apotheose Rembrandts, die in den späten Selbstbildnissen aufgefunden
wird, bildet für die hier zitierten AutorInnen zwar den Höhepunkt seines Schaffens, sie erlangt
jedoch ihrer Bedeutung zuletzt durch die Gesamtheit der Entwicklung, die „Kontinuität des
Lebens“ (Simmel), die „Metamorphose“ (Hausenstein), die „Wandlung“ (Pinder). Als Beispiel für diese Einschätzung sei Karl Scheffler (1906) zitiert, der die Entwicklung Rembrandts, wie sie aus den Selbstbildnissen ablesbar sei, zusammenfaßt - einen wechselvollen
Weg, der durch Nacht zum Licht führt:
„(...) wir sehen den Bonvivant, den Bohème und den Patrizier, den Verbitterten und den Ueberwinder; die Jugend wird vor unsern Augen zur Mannheit und diese zum Alter, und wie die reiche
Laufbahn sich ihrem Ende zuneigt, verwandelt sich alle begehrliche Leidenschaft in eine Weisheit,
der nichts Menschliches fremd ist; eine unendliche Hoheit leuchtet von der Stirn des Greises, aus
den Augen strahlt ein Wissen um die letzten Dinge, eine Vertieftheit, wie sie Bismarcks Kopf in
den letzten Jahren zeigte, als in diesem gewaltigen Charakter alle Willenskraft zur Betrachtung geworden war, und auf die Trümmer eines zerstörten Glücks sieht ein goethisches Adelshaupt mit
löwenhafter Majestät hinab.“ (Scheffler 1906, 31)
Wie diese exemplarische Auswahl gezeigt hat, nehmen die Selbstbildnisse eine wichtige Position in den Narrationen ein, die Leben und Charakter Rembrandts im wesentlichen aus ‘seinem‘ Werk generieren. Wie keine andere Werkgruppe lassen sie den Rückbezug einer künst311
lerischen Entwicklungslinie auf die persönliche Geschichte zu. Im Blick auf die Selbstporträts
können die Erzählperspektiven auf Kunst und Leben in idealer Weise überblendet werden, da
diese Werke nicht nur Transparenz für eine Vision vom Künstler bieten, sondern diese Vision
- in Gestalt seiner persönlichen Erscheinung im Bild - direkt mit der Betrachtung des Bildes
als eines Dokumentes künstlerischer Praxis verschmelzen kann.
2.6 Metaphorische ‘Zuschreibungen‘ an Rembrandt
In den folgenden beiden Abschnitten soll demonstriert werden, wie mittels metaphorisch angereicherter Bildbeschreibungen bestimmte, den Bereich ästhetischer und biographischer Fragen übersteigende Deutungs- oder Bedeutungsebenen Evidenz gewinnen können. Die Metapher wird hier als rhetorische Trope verstanden, deren Funktion zunächst in der Ersetzung
von etwas bereits Gesagtem liegt. Diese Ersetzung kann die Aufgabe der bloßen sprachlichen
Variation erfüllen oder in poetischer Absicht ausgeführt werden, sie wird jedoch in jedem Fall
den bisherigen Aussagerahmen um ein oder mehrere semantische Aspekte erweitern. Die beiden folgenden Beispiele der ‘topographischen Metaphorik‘ und der ‘Herrschaftsmetaphorik‘
nutzen diese Möglichkeit, um über die Betrachtung der Selbstbildnisse Rembrandts hinaus
dessen Kunst wie dessen Person in den Bereich zuvor nicht thematisierter Bedeutungszusammenhänge zu rücken.
2.6.1 Das Gesicht als Landschaft
Zunächst behandle ich also einige Beispiele für die hier summarisch als ‘topographische Metaphorik‘ bezeichneten Sprachbilder. Unter diesen Begriff fasse ich Bildbeschreibungen, die
Rembrandts Gesicht mit einer Landschaft vergleichen bzw. die physiognomischen und ästhetischen Merkmale des gemalten Antlitzes als topographische oder meteorologische Phänomene schildern. Diese literarische Strategie mag zunächst ungewöhnlich klingen, doch ist ihr
Gebrauch in den nach 1900 entstandenen Texte, die sich ausführlicher mit Selbstporträts
Rembrandts befassen, keineswegs selten. Ihr Ausgangspunkt läßt sich im Topos vom ‘Gesicht
als Spiegel der Seele‘ sowie im Sprachbild der ‘Seelenlandschaft‘ verorten. 91 Wie die Präsenz
des Seelenbegriffs bereits andeutet, zielt diese Metaphorik zuletzt auf eine metaphysische
Kategorie. Wir haben es dabei erneut mit der Dichotomie von Oberfläche und Tiefe zu tun,
wobei diese beiden Pole als Bereiche der Bedeutung (Tiefe) und ihres Ausdrucks (Oberfläche) verstanden werden. Der Topos vom ‘Gesicht als Spiegel der Seele‘ begreift das Antlitz
91
Vgl. auch die umgekehrte Wendung, Landschaften als ‘Gesichter‘ einer Region zu beschreiben, z.B. in der
Reiseliteratur.
312
als Ort der Expression eines an sich in den unsichtbaren Tiefen des menschlichen Innenlebens
verborgenen Gehalts.92
Doch kommen wir zu den Beispielen. In Karl Schefflers Auseinandersetzung mit Rembrandts
Selbstporträts (1906) werden die vier Begriffsfelder Landschaft, Wetter, Gesicht und Seele
miteinander verschränkt und den Ebenen von Oberfläche und Tiefe zugeordnet:
„Wie die Landschaft in Stimmungsbildern das Wetter widerspiegelt, so das Gesicht das Wetter der
Seele.“ (Scheffler 1906, 30)
Die emotionale Disposition des Menschen, metaphorisch gesprochen „das Wetter der Seele“,
bildet sich demnach in der ‘Landschaft‘ des Gesichtes ab. Karl Scheffler verknüpft diese Beschreibung mit Phänomenen der zeitgenössischen Kunst, indem er seinen Vergleich auf die
Ästhetik des Impressionismus ausdehnt:
„(...) wie der Impressionist viele flüchtige Stimmungen derselben Landschaft festhält und doch verschiedene Bilder dadurch gewinnt, so hat der große Malerpsychologe die beweglichen Stimmungen
der Gesichter festgehalten.“ (Scheffler 1906, 30)
Der Titel des „große[n] Malerpsychologe[n]“, der Rembrandt hier verliehen wird, bringt wiederum, wie schon der Begriff ‘Seele‘, den psychologischen Verständniskontext ins Spiel.
Sprachlich finden wir bei Scheffler eine Gleichzeitigkeit von Vergleich und Metapher. Das
Gesicht ist bei ihm „wie“ eine Landschaft (Vergleich), und es spiegelt „das Wetter der Seele“
(Metapher). Während der Vergleich eine Ersetzung unter Erhalt der Grenze zwischen beiden
Komponenten lediglich vorschlägt und damit den Akt der Substitution bewußt hält, löst sich
in der metaphorischen Ersetzungspraxis diese Grenzziehung auf. Beide Optionen finden wir
in Wilhelm Fraengers (1920) Beschreibung des Kasseler Selbstbildnis‘ (RS 5b) wieder, und
auch hier bewegt sich der Text vom Vergleich zur Metapher:
„Über dem breiten, in Dreiviertelprofil gefaßten Kopf, ereignet sich - wie das atmosphärische
Schauspiel aufeinanderprallender Wolken - ein harter Zusammenstoß von Hell und Dunkel. Von
links her buchtet sich eine aufziehende Helligkeit weit hinein in die weichenden Massen dichter
Schattentiefen.
In lebhafter Dramatik gliedert Rembrandt den Prozeß der Schatteneroberung durch die Lichtmacht
in verschiedene Etappen, womit er dem Betrachter den Eindruck einer allmählichen, fortschreitenden Bewegung aufdrängt:
Während sich über Lippen und Kinn hinweg schon die zunehmende Auflockerung und Zersetzung
92
Hier ist auf die romantische Tradition der Auffassung des Landschaftsbildes als ‘Seelenlandschaft‘ ihres
Schöpfers hinzuweisen, für die es auch in der Rembrandtliteratur Beispiele gibt.
313
des Dunkels vollzieht, lagern quer über der rechten Wange die beiderseits noch unerschütterten
Fronten der Hell- und Dunkelmassen einander als gleichstarke Mächte gegenüber. Doch der Aufdrang des Lichts gewinnt auch hier schon die Oberhand, indem es über dem aufgehellten Vorsprung der Nase den in der rechten Augenhöhle tiefeingenisteten Schatten abriegelt.“ (Fraenger
1920, 39)
Rembrandt wird uns hier einerseits als aktiv agierender Maler vorgestellt („gliedert Rembrandt“), die vom Autor dargelegten Wirkungen des Bildes auf den Betrachter werden direkt
als intentionale Handlungen des Künstlers geschildert. Andererseits bildet das Antlitz Rembrandts eine Erscheinung, deren konkrete ästhetische Umsetzung mittels meteorologischer
Metaphern beschrieben wird. Die zugrundeliegende Idee des Gesichts als Landschaft der
Seele wird dabei von der ästhetischen Kategorie des ‘Helldunkel‘ entscheidend gestützt. Die
Wirkung der Lichtsetzung wird assoziativ mit Wettersituationen verglichen. Von hier aus
öffnen sich mindestens vier thematische Felder. Es ließe sich (1) über die Dramatik dieser
Ästhetik reden, über eine Spannung, die Ereignisse ankündigt oder die Anwesenheit einer
dynamischen Potenz vermittelt;93 diese Dramatik könnte (2) als Konflikt oder Kräftemessen
zweier konkurrierender Elemente beschrieben werden („Schatteneroberung durch die Lichtmacht“), was durch die Nähe metaphorischer und militärischer Begrifflichkeiten gefördert
wird; es ließe sich (3) die Kategorie des Naturereignisses oder Naturschauspiels ausbauen,
indem z.B. Rembrandts Lebenslauf als Vollzug einer schicksalhaften Disposition geschildert
würde, und es könnte schließlich (4) der Eindruck von Bewegung thematisiert werden, den zu
erwecken dem statischen Bild durch die Wetter-Metaphorik zugeschrieben wird. Neben diesen Potentialen unterstützt die Beschreibung mittels topographischer Metaphorik prinzipiell
zwei Tendenzen: die der ‘Naturalisierung‘ und die der ‘Monumentalisierung‘ des Bildgegenstandes.
Wilhelm Hausenstein hat sein Rembrandt-Buch (1926) selbst von der Perspektive der Kunstwissenschaft distanziert und als subjektive Annäherung an Rembrandt dargestellt:
„(...) ich habe empfunden und habe versucht, Empfindungen aufzurühren; hier ist nichts als ein
Buch der Gefühle.“ (Hausenstein 1926, 550)
So verwundert es nicht, daß bei Hausenstein von Anfang an die Metapher zum Einsatz
kommt, ohne durch einen Vergleich als Vorstufe eingeführt zu werden:
93
So z.B. bei Richard Schaukal, der in seinem als „Vision“ angekündigten Gedicht „Rembrandt der Künstler“
den Namen Rembrandts durch die Periphrase „Du, dem auf breiter Stirne Wolken kauern“ ersetzt (RembrandtAlmanach 1906/1907, 61).
314
„Er [Rembrandt, M.H.] fängt an, sich vorzustellen - und schon ist er ganz und gar er selbst: viel
eher häßlich als schön, doch schön wie das Bedeutende, Überzeugende, Gefährdete; gefährliche
Gewitter stehen ihm auf der Stirn, über dem halben Gesicht, und auf der anderen Hälfte scheint die
Sonne. Schon ist er die Einheit in der Zweiheit oder die Zwiefältigkeit in der Einheit (...).“ (Hausenstein 1926, 13)
Offensiv treibt Hausenstein seine zentrale These vom ‘doppelten Rembrandt‘ voran. Ihre Evidenz entwickelt er aus der Bildbeschreibung, in deren Zentrum eine metaphorisch dramatisierte, fruchtbare Spannung von Hell und Dunkel steht:
„Das Kasseler Selbstbildnis (...) meldet auf solche Weise schon das durchaus Doppelte seines Wesens an. Zwei Drittel des Gesichts liegen im gewitterigen Schatten. Starkes Licht schlägt nur an die
rechte Backe, an den Hals unter ihr, ans rechte Ohrläppchen; ein Tropfen Licht fällt, etwas rechts
von der Mitte, an den breiten Gipfel der Nase; einiges dünne Licht bleibt im Gekraus der Haare
hängen (...). Auf der anderen Seite dieses Antlitzes ist Dämmerung, Nacht, Wetter.“ (Hausenstein
1926, 13)
Hausenstein überträgt die zwischen hellen und dunklen Bereichen polarisierte Ausleuchtung
des Gesichts auf einen zwischen zwei extremen Polen aufgespannten Charakter, sein Rembrandt ist gewissermaßen das ‘personifizierte Helldunkel‘. Dies darf jedoch nicht als Spaltung
mißverstanden werden. Wesentlich ist nicht die Zweiheit, sondern die „Einheit in der Zweiheit“; es ist die synthetische Kraft der ‘Ganzheit‘, die Hausenstein aus dem dramatischen
Antlitz herausliest:
„So muß, wenn dies wahrhaftig möglich ist, der Kopf des Rembrandt eine Welt sein? Denn nur
eine planetarische Kugel kann halb in der Nacht und halb im Tag verweilen. Und also ist es. Die
linke Wange hat Abend, die rechte Morgen; dieser Kopf ist der Erdball, und bloß die Vorgebirge
werden vom Licht berührt, wenn ihre Wurzeln noch im Schatten verweilen.
Der ganze Rembrandt hat begonnen.“ (Hausenstein 1926, 13)
Von der topographischen greift Hausenstein in eine kosmologische Metaphorik aus, die Rembrandts Kopf nicht nur mit Gebirgszügen, sondern mit einem ganzen Planeten, mit der Erde
gleichsetzt. Spätestens hier sollte deutlich geworden sein, warum weiter oben nicht nur von
der ‘Naturalisierung‘, sondern auch von einer ‘Monumentalisierung‘ Rembrandts gesprochen
wurde.
Ein letztes Beispiel soll diesen Ausblick auf Rembrandt als ‘Naturschauspiel‘ vervollständigen. Es findet sich in der Beschreibung desselben Kasseler Bildnisses durch Wilhelm Pinder
(1943), der zunächst dem Vorwurf der Eitelkeit entgegentritt, um dann die geographische
Lage der Landschaft des Rembrandtschen Gesichts zu bestimmen:
315
„Licht und Schatten werden nicht so verteilt, daß das Körperliche günstig herausmodelliert, geschweige denn der Eindruck dieses Menschen ‘günstig’ sein soll. (...) wie die Wolkenschatten über
die niederdeutsche Tiefebene jagen, mit landschaftlichem Ausdruck also, überfallen die dunklen
Lagen das Antlitz.“ (Pinder 1943, 18)
Zuvor hatte Pinder das fragliche Selbstbildnis als ein „Bekenntnis“ über Rembrandts „und
aller germanischen Kunst Verhältnis zur Welt“ bezeichnet (ebd., 18). Hausensteins kosmologischer Ausweitung tritt hier die nationalistische Re-Territorialisierung der Physiognomie
Rembrandts entgegen. Auch dies, die konkrete regionale Verortung, läßt sich an eine Landschaftsmetapher anschließen.
Hinsichtlich der synthetisierenden Potenz eines ambivalenten Rembrandt sind sich die beiden
Autoren allerdings einig. War es bei Hausenstein „das durchaus Doppelte seines Wesens“, so
spricht Pinder von einer „dialektische[n] Selbstergänzung“, die er allerdings weniger im einzelnen Selbstporträt als in der Folge mehrerer Bildnisse umgesetzt sieht. In diesem Sinne erläutert der Berliner Professor für Kunstgeschichte (1935-1945) das in Aix-en-Provence aufbewahrte, unvollendet gebliebene Selbstporträt als ‘Richtigstellung‘ eines früheren Bildes:
„Eine Trotz-Stimmung muß ihn gepackt haben, vielleicht sogar eine grimmige Erinnerung an das
Feuer der längst vergangenen Jugend, ein Einspruch gegen die milde Selbstbescheidung des Londoner Bildnisses, ein Einspruch womöglich gar gegen dieses eine Bild und sein Bekenntnis zur eigenen Alterung, damit also abermals eine dialektische Selbstergänzung und Selbstberichtigung.
Was dabei erscheint, ist natürlich erst recht ‘der Alte’! Die Augen liegen wie Raubtiere in ihren
Höhlen, gleich zerklüfteten Bergen ist die Stirne aufgerissen, der Mund droht wie eine Felsspalte,
und alles ist bewegt und dann doch aus quirlender Wogung wie durch jähen Zauberspruch erstarrt.
Es ist der Zustand nach dem Ausbruch eines Vulkans.“ (Pinder 1943, 103)
Durch eine Beschreibung, die Rembrandts Selbstporträt mit einer bedrohlichen, von Urgewalten geformten Landschaft vergleicht, legitimiert der Autor seine Animation des Künstlers,
die auf offensiv ausgerichtete, aggressive Emotionalität konzentriert ist. Da ‘packt‘ Rembrandt „eine Trotz-Stimmung“, ‘Grimm‘ und ‘Feuer‘ erheben ‘Einspruch‘ gegen ‘Milde‘, ein
‘Vulkan‘ bricht aus. Diese Charakterstudie findet in den Selbstporträts Tugenden wie Entschlossenheit, Tatkraft, Standhaftigkeit und immer wieder die Bereitschaft, der vom Schicksal
auferlegten Prüfung ohne Zagen ins Auge zu sehen. Hier zeigt sich „ein ganz großer Einzelner“ (ebd., 9), der durch das Leiden die Reinheit gewinnt, um Übermenschliches zu schaffen,
um Leistungen von ewigem Wert zu erbringen:
„Er empfängt einen schweren Schlag, der ihn tief erschüttert und vorzeitig altert, aber eben der
Schlag ruft kraftvolle Gegenwehr hervor. Das letzte Gold in den tiefsten Gründen erschließt erst
der Blitz.“ (Pinder 1943, 14)
316
Die Naturgewalten, die Wilhelm Pinder angesichts der Selbstbildnisse wie auch zur Beschreibung des Lebensschicksals entfesselt, konfrontieren den Betrachter mit einem erhabenen
Schauspiel, dessen Größe man nur ehrfürchtig staunend zur Kenntnis nehmen kann. Im Verfahren der Naturalisierung läßt sich dabei der Versuch erkennen, diese Imagination übermenschlicher Größe als ein Faktum der Realität plausibel zu machen.
Naturalisierung stützt sich auf ein ontologisches Konzept, das die Natur als eine dem Menschen historisch vorgängige und ihn seinem Wesen nach bestimmende Kategorie versteht.
Darin liegt ein Prinzip der Normierung, in dem alle Modelle des historischen Werdens, der
Entwicklungsfähigkeit und Veränderbarkeit einer als unveränderlich gesetzten Rahmenbedingung unterworfen werden. Spätestens bei Bezugnahme auf gesellschaftspolitische Fragen
wird die konservative Haltung dieses Prinzips deutlich, das dazu geeignet ist, bestehende
Machtverhältnisse zwischen Individuen, sozialen Klassen, ethnischen Gruppen, zwischen den
Geschlechtern, oder, mit Blick auf Pinders Publikationsjahr, zwischen als Individuen begriffenen ‘Völkern‘ als ‘natürlich‘ zu legitimieren. Doch auch in einem weiteren identitätspolitischen Bereich wirkt sich dieses Muster aus. Indem es die Vorstellung von der vorbestimmten
Größe eines zumeist als männlich imaginierten Individuums, von dessen körperlicher Geschlossenheit und seiner gleichsam ‘angeborenen‘ Vormachtstellung über andere veranschaulicht. Im Falle Pinders liegt eine Konkretisierung solcher Überlegungen im Hinblick auf die
systemstabilisierende Wirkung der an Rembrandt demonstrierten natürlichen Souveränität als
‘Führerprinzip‘ ebenso nahe wie die Lektüre der heroischen Charakterschilderungen als maskierte Handlungsanweisungen für den ‘totalen Krieg‘.
Diesseits einer solchen historischen Engführung am Beispiel Pinders ist die Beschreibung der
Selbstbildnisse mittels topographischer Metaphorik zusammenfassend zunächst als eine literarische Form der Überhöhung des Künstlers zu charakterisieren. In diese Aussagebereiche geraten vor allem jene Texte, die über den Künstler hinaus ins Metaphysische ausgreifen wollen.
Die übermenschliche Größe des Genies offenbart sich ihnen nicht in technischen, rational
faßbaren Werten seiner Werke, sondern in deren irrationalen Potentialen, von denen auf die
seelische Tiefe ihres Urhebers geschlossen werden kann. Angesichts der Selbstbildnisse
Rembrandts ist es möglich, die Intensität beider Ebenen, Werk und Künstler, in einem einzigen Beschreibungsakt zu erschließen. Die sprachliche Vermittlung des Bildes, der in den
fraglichen Fällen zumeist dessen Aufladung mit Bedeutung entspricht, kann in dieser Gattung
direkt mit der Charakterisierung seines Schöpfers zusammenfallen. In diesem Akt, der aus
kritischer Perspektive als die Verwechslung des real sichtbaren Abbildes mit einem historisch
imaginierten Urbild zu bezeichnen ist, erfährt die Verschmelzung von Leben und Werk ihre
höchste mögliche Steigerung. Dabei wird aus einer ästhetisch orientierten Bildbeschreibung
317
über die polisemische Abkürzung der Metaphorik die Darstellung von Merkmalen der Persönlichkeit Rembrandts. Die pathetische Wirkung der hier untersuchten Metaphern des erhabenen Naturschauspiels erklärt sich aus dessen Zugehörigkeit zum Kanon anthropologischer
Grunderfahrungen, zur Kategorie höherer Gewalten, sowie, was für die Genie-Typik besondere Bedeutung besitzt, aus ihrer Nähe zum Konzept einer göttlichen Schöpfung.94 Es ist
diese Mischung, vor deren Hintergrund auch der Erfolg des ‘Erhabenen‘ als einer ästhetischen
Strategie in der modernen Kunst betrachtet werden muß.
2.6.2 Löwe, Sieger, König
Das zweite Beispiel metaphorischer Aufladung betrifft die Verwendung von Beinamen,
Antonomasien (Namens-Umschreibungen) oder Titeln. Den Einstieg dazu liefert ein oben
bereits zitierter Abschnitt bei Karl Scheffler (1906), in dem die Erscheinung des Künstlers an
dessen Lebensende wie folgt charakterisiert wurde:
„(...) eine unendliche Hoheit leuchtet von der Stirn des Greises, aus den Augen strahlt ein Wissen
um die letzten Dinge, eine Vertieftheit, wie sie Bismarcks Kopf in den letzten Jahren zeigte, als in
diesem gewaltigen Charakter alle Willenskraft zur Betrachtung geworden war, und auf die Trümmer eines zerstörten Glücks sieht ein goethisches Adelshaupt mit löwenhafter Majestät hinab.“
(Scheffler 1906, 31)
Das zu beschreibende metaphorische Feld wird von Scheffler in erstaunlicher Breite genutzt.95
Die Nobilitierung Rembrandts erfolgt zum einen durch politische Herrschaftsmetaphorik
(Hoheit, Adel, Majestät), zum anderen durch den Genievergleich (Goethe). Diese beiden Bereiche werden in der Person Bismarcks überblendet und erfahren hier zugleich eine politische
Aktualisierung.96 Neben diesem primär substantivischen Metapherngebrauch stehen metaphorisch eingesetzte Verben („leuchtet“ von der Stirn, „strahlt“ aus den Augen) sowie die zur
Steigerung verwendeten Adjektive unendlich, gewaltig und löwenhaft.
94
Aus rhetorischer Perspektive liegt hier die (metaphorische) Ersetzung von etwas Unbewegtem (Bild) durch
etwas Bewegtes (Natur, Wetter) vor, der schon Aristoteles eine besondere Wirksamkeit zuspricht (Göttert 1991,
48).
95
Wenn auch gerade dieses Zitat zur Differenzierung rhetorischer Tropen (Metonymie, Synekdoche, Hyperbel)
reizt, soll aus Gründen der Übersichtlichkeit mit dem gebräuchlichen Oberbegriff ‘Metapher‘ operiert und dessen Unschärfe in Kauf genommen werden.
96
In einem Artikel zum Ankauf des Mannes mit dem Goldhelm durch Wilhelm Bode hat Martin Warnke versucht, Rembrandtkult und Bismarckkult zusammenzubringen, ein guter Ansatz, der jedoch einer komplexeren
Herleitung bedürfte (Warnke 1985a).
318
Letzteres konfrontiert uns mit der Metapher des „Löwen“, die gerade angesichts der Selbstporträts verschiedentlich zur Anwendung kommt. Jan Veth (1906) fühlt sich durch das
Selbstbildnis mit den zwei Kreisen (RS 83) an die afrikanische Großkatze erinnert:
„Die große Pyramiden-Form, die die schwere Gestalt umschließt (...), verleiht der Erscheinung etwas von einem alten Löwen, in seine Mähne gehüllt.“ (Veth 1906, 69) 97
Wilhelm Pinder verwendet die Metapher, als es darum geht, die ‘verdächtige Leichtlebigkeit‘
des Dresdner Doppelbildnis mit Saskia auf den Knien (RS 43) zu relativieren. Er stellt diesem
Gemälde die Radierung Rembrandt mit Saskia (RS 46) gegenüber, zu der er schreibt:
„Der wirkliche Löwe, den der Künstler in dem Dresdener Bilde wie in einer Sektlaune - aber man
mißverstehe nicht: nicht flüchtig beim Malen, sondern in harter, gesunder, großartiger Malarbeit -,
doch gleichsam fortbanalisiert hatte, der Löwe Rembrandt blickt uns hier an. Für uns nachträgliche
Betrachter könnte es fast aussehen, als grolle er dem Spiele, dem er sich gleichzeitig hingeben
konnte. Es ist die R a d i e r u n g , der damals das Tiefste anvertraut wird. (...) Die Pranke des Löwen, das ist der Arm mit der Hand, die den Griffel hält. Im Dresdener Doppelbilde war der schnell
verrauschende Jubel, jetzt ist die Dauerkraft der Arbeit festgehalten.“ (Pinder 1943, 62)
Die metaphorische Funktion der bedeutungsverschiebenden Ersetzung wird hier geradezu mit
didaktischem Nachdruck vorgeführt („Die Pranke des Löwen, das ist der Arm...“). Den
„wirkliche[n] Löwen“ sieht Pinder dort, wo er auch Kraft und Tiefe sieht; aus dem Vergleich
der Doppelbildnisse entwickelt er deren qualitative Unterscheidung im Hinblick auf die Aussagekraft als Quellen über den ‘wahren Rembrandt‘:
„(...) wenn man das Doppelbildnis der Radierung mit dem gemalten in Dresden vergleicht, so weiß
man: in der Radierung ist der Eigentliche! Hier ist sein Gewissen.“ (Pinder 1943, 63)
Im Kontext einer physiognomisch inspirierten Deutung taucht der Löwen-Vergleich bei Eberhard Hanfstaengl (1947) auf. Er spricht von „(...) diesem eher bäuerischen als durchgeistigten
Antlitz mit seiner breiten Stirn, den etwas engstehenden, scharfblickenden Augen, der dicken
Nase und diesem sinnlichen Mund, das ein wilder Haarschopf wie eine Löwenmähne umgab
(... )“ (Hanfstaengl 1947, 24). Diese Bildbeschreibung macht die weitere Rede über das Gesicht Rembrandts für bestimmte Inhalte zugänglich. Die Begriffswahl führt über eine bloße
formale Kennzeichnung der Gesichtszüge hinaus. Ganz im Sinne der physiognomischen Tradition werden Rembrandt Eigenschaften ‘ins Antlitz geschrieben‘: die niedrige Herkunft und
der Arbeitseifer („bäuerischen“), Ernsthaftigkeit, Beobachtungsgabe und Hartnäckigkeit
97
„De groote piramide-vorm die de zware gestalte omsluit (...) geeft aan de verschijning iets als van een ouden
leeuw, in zijn manen gehuld.“ (Veth 1906, 69).
319
(„scharfblickenden Augen“), Leidenschaft („sinnlichen Mund“), Kraft, Mut und Energie
(„wilder Haarschopf“, „Löwenmähne“). Mit der Metapher des Löwen geht Hanfstaengl über
die Deutung der Gesichtszüge als ‘Topographie des Charakters‘ hinaus, sie öffnet ein Feld
voller Konnotationen. Die wichtigsten davon sind mit der Position des Löwen in der traditionellen Herrschaftsikonographie und in der Christussymbolik verbunden. Sie können auch auf
andere Weise, auch durch andere Metaphern ins Spiel gebracht werden.
Eine davon findet sich in Heinrich Wölfflins (1909) Persönlichkeitsdeutung der letzten
Selbstporträts:
“Und wenn auch später gelegentlich ein düstrer Ton nicht ausbleibt (...), so ist der Charakter der
Altersporträts im allgemeinen doch ein sieghafter: der Mann, der sich von der Welt frei gemacht
hat. Und das einfache weiße Tuch, das er sich jetzt statt der alten Maskenkostüme um den Kopf zu
schlingen pflegt, wirkt wie eine Gloriole.“ (Wölfflin 1946 [1909], 131)
Die Beschreibung Rembrandts als ‘Sieger‘, der der Welt entsagt habe, besonders aber die
Lektüre des weißen Kopftuchs als Gloriole, rückt den Künstler in den Kreis christlicher Heiliger und läßt damit die Gestalt Christi selbst in ihm aufscheinen - ohne daß Wölfflin die Potenz dieses Vergleichs direkt ausspricht.
Das zu den Tugenden des späten Rembrandt auch die Bescheidenheit zählte, betont Carl
Neumann (1902) am Schluß seines Kapitels zu den Selbstbildnissen:
„(...) sein immer noch wachsendes Können verführt ihn nicht mehr; er steht auf beherrschender
Höhe. Einsam freilich und ohne Siegermiene. Es ist nicht so, daß eine Sinfonia eroica in diesen
späten Selbstbildnissen erklänge; die das glauben, täuschen sich. Nichts von Triumphgefühl und
Siegerpose. Bitter, aber im Vorgefühl und der Sicherheit seines Rechts sieht er uns wie ein gestürzter König an, vertrieben und einsam, aber hoheitsvoll und doch ein König.“ (Neumann 1902,
490)
Nicht den geistigen Herrscher Christus, sondern einen metaphorischen Vertreter weltlicher
Herrschaft zitiert Neumann herbei. Doch ist es nur die Erscheinung Rembrandts, die königlich
sei, seine faktische weltliche Macht hat er mit der Rolle eines Verstoßenen eingetauscht. Auch
Neumanns König ist also ohne irdisches Reich und gleicht sich damit dem geistiger Herrscher
Christus erneut an. In der Metapher des Königs wird hier die metaphysische Kraft zum Ausdruck gebracht, die Rembrandt, nach Neumanns Verständnis, im späten Selbstbildnis ausstrahlt. Ähnliche metaphorische Weihen verleiht auch Wilhelm Hausenstein (1926):
„Schreibet den Namen eines Kaisers unter dieses Bild, und man wird euch den Namen glauben.
Mehr. Nicht der Name eines Kaisers genügt, die neue Weihe zu bezeichnen, die über dieser gemalten Büste liegt. Die breite, schwere, ruhig atmende Würde dieses Bildes, im Leben des Rem-
320
brandt auf diese Weise nicht erhört, am wenigsten in jenen Tagen, da er mit Saskia um die Gesellschaft buhlt, macht einen schon aus der Mode gekommenen Maler, welcher nun gar der Geliebte
einer Dienstmagd geworden ist, zu einem olympischen Zeus. Jupiter Uranus - hier ist sein Name.“
(Hausenstein 1926, 34)
Vergleichbar mit der Titulierung durch Neumann wird auch hier ein bereits verliehener, weltlicher Herrschaftstitel in ‘entmaterialisierender‘ Absicht korrigiert. Rembrandts Aufstieg zur
Verkörperung des „olympischen Zeus“ erfolgt dabei erneut um den Preis seines gesellschaftlichen Abstieges, seiner Verkennung durch die Zeitgenossen. Nicht ganz so hoch führt der
Weg bei Jan Veth (1906):
„So war der wesentliche, der olympisch geläuterte Rembrandt, als er sich sein Glück, sein Spielzeug, seine Ehre, seien Ruhm hatte abnehmen lassen, als er durch Mißgeschicke gehärtet, durch
Enttäuschung noch heldenhafter geworden war, als er alles gesehen, alles gekannt, von allem getrunken hatte, und des Genießens satt sich erst recht als ein Gott fühlen konnte, er, der weise Dionysos!“ (Veth 1906, 170) 98
Am abschließenden Beispiel soll nun ein Aspekt betont werden, den auch die letzten Autoren
mitführten, die ‘hoheitsvolle‘ Ruhe des gealterten Künstlers, die sich in den Selbstbildnissen
zeige. Sie nimmt in den Schlußworten von Wilhelm Pinder (1943) eine zentrale Stellung ein:
„Eine geheimnisvolle Schönheit machte das Antlitz zum Sinnbilde des Alls und zum Sinnbilde des
eigenen Lebens am späten Abend. Wir fühlen in ihm die wogende Breite des Erntefeldes vor dem
Schnitt. Zugleich war es sicherlich zur höchsten Ähnlichkeit erhoben. So muß Rembrandt wirklich
in seiner letzten Zeit ausgesehen haben, voller Würde und Weisheit, voller Kraft und Güte, und zugleich ein leiblich schwer gealterter Mensch - ein großer Greis, der Abschied nimmt in ruhiger
Gewißheit. Nichts Verhauchendes ist in diesem Schlußakkorde, es ist ein ruhiger, langgezogener,
klarer Ausklang von strömender Breite; nicht Todesfeier, sondern Lebenssumme, nicht Requiem,
sondern: Ecce homo! Im Letzten ruht das Ganze.“ (Pinder 1943, 110)
Eine Metapher muß sich eng genug an das bisher Gesagte anlehnen, um als dessen Ersetzung
erscheinen zu können. Um verständlich zu erscheinen, muß sie außerdem einem hinreichend
bekannten Begriffsfeld entstammen. Sind diese Aspekte gewährleistet, bietet die Metapher
dem Autor die Möglichkeit, die Reichweite der bisherigen Inhalte ohne einen sprunghaften
Themenwechsel zu überschreiten. In unserem Beispiel wird mit Hilfe metaphorischen Voka98
„Zoo was de wezenlijke, de Olympiesch gelouterde Rembrandt, toen hij zich zijn geluk, zijn speelgoed, zijn
eer, zijn roem had laten afnemen, toen hij door onspoed gehard, door ontgoocheling nog heldhaftiger geworden
was, toen hij alles gezien, alles gekend, van alles gedronken had, en genietens-zat zich eerst recht kon voelen als
een god, hij de wijze Dionysos!“ (Veth 1906, 170).
321
bulars die Bedeutungsebene von ‘Herrschaft‘ für den Text erschlossen. Dank seiner Verwendung kann dieser Text, der sich eben noch mit malerischer Technik, Fragen einer Künstlerbiographie oder Farbwirkungen beschäftigt hat, nun über Hierarchien reden, hegemoniale
Ordnungen beschreiben oder Herrschaftskonzepte legitimieren. Hier findet sich eine Nahtstelle, von der aus unterschiedliche Kommunikationsinhalte angesteuert werden können. Die
Metapher des ‘Löwen‘ erleichtert den Übergang in einen politischen Aussagebereich. Nicht
nur die Person Rembrandts erfährt hier mithin eine Apotheose, auch der Diskurs wird in ein
anderes, in der Regel höher eingestuftes Segment überführt. Dank dieser Erweiterung des
Aussagenspektrums kann der Redner sich selbst, seinen Gegenstand und die von ihm vertretene Institution oder Disziplin nobilitieren. Der Kunstdiskurs, ob er sich nun im speziellen
Fall selbst als literarisch, erzieherisch oder fachwissenschaftlich versteht, wird mittels einer
derartigen Formel zusätzlich legitimiert. Doch ist darin lediglich eine Nebenwirkung jener
zentralen Leistung des metaphorischen Sprachgebrauchs zu sehen, die darin besteht, die
Übermittlung politischer Aussagen im Gewand des Kunstdiskurses zu erleichtern.99
2.7 Die Selbstbildnisse als Anreiz zur Psychologisierung
Angesichts der Darlegung der hermeneutischen Primärperspektive auf Rembrandts Selbstbildnisse ist zu betonen, daß ich am Beispiel dieser Gattung lediglich eine Deutungsstrategie
beschrieben habe, die auch im Umgang mit anderen Bildgattungen praktiziert wurde. Mit
Werner Weisbach gesprochen handelt es sich um den Versuch, „das Werk und den Menschen
als eine Einheit zu begreifen (...): das Werk aus dem Menschen und den Menschen aus dem
Werke zu deuten“ (1926, 2 f.).100 Dieses Interesse findet im Selbstporträt seine exemplarische
Gattung, da hier nicht nur ein eigenhändiges Dokument der Zielperson, sondern dessen vermeintliche äußere Erscheinung zur Deutung bereitsteht. Der besondere Reiz liegt in der ‘doppelten Authentizität‘ des eigenhändig aufgeführten visuellen Abbildes. Im fraglichen Untersuchungszeitraum können sich die Autoren diesem Reiz offenbar nicht entziehen. Carl Neumann demonstriert dieses Phänomen, wenn er sich und uns zum Ende seines SelbstbildnisKapitels fragt:
„Soll man nun auch eine Antwort auf die Fragen versuchen, die sich immer wieder vordrängen,
obwohl keine litterarische oder urkundlich geschriebene Ueberlieferung uns darüber aufklären
mag, die Fragen nach dem Menschen, seinen Empfindungen und Seelenzuständen, die Fragen nach
dem Glück oder Leid eines Mannes, der, von Reichtum und bürgerlichem Ansehen verlassen, aus
99
Wie vorne bereits angesprochen, sehe ich den bleibenden Skandal an Langbehns Rembrandtbuch in der offensiven Überschreitung dieser Diskursgrenze, ein Akt, gegen den (offenbar bis heute) opponiert werden muß, um
die Möglichkeiten des ‘maskierten Grenzübertritts‘ zu erhalten.
100
Vgl. Boomgaard 1990, 125. Vgl. auch den Exkurs zur Hermeneutik in dieser Arbeit (Zweiter Teil, 2.1.4).
322
der Fülle seines inneren Lebens die Nachwelt mit einem wahrhaft unerschöpflichen Erbe tiefster
Genüsse und Gesichte zu beglücken vermochte?“ (Neumann 1902, 489)
Alle Spekulationen über den rhetorischen Charakter dieser Frage macht Neumann sogleich
zunichte, indem er seine, in ihrer Topik nunmehr hinlänglich bekannte Deutung des ‘Menschen Rembrandt‘ anschließt:
„Rembrandt und die Welt haben sich nicht vertragen. Als Maler und Techniker ist er wohl fast bis
zuletzt anerkannt und geschätzt worden; ob er als Künstler verstanden worden sei, ist eine davon
nicht berührte Frage. (...) Rembrandt war nicht geboren, ein vorhandenes, von allen geahntes und
gefordertes Ideal zu formen, das überall Gefühlte nur eben auszusprechen und zu verklären, sondern eine neue Welt ans Licht zu gebären, einerlei ob jemand darnach Verlangen trug, sie verstand
und nach ihr fragte, oder ob erst eine ferne Zukunft reif für ihn werden und die Riesenschritte seines Ganges einholen sollte. Immer mehr zog sich Rembrandt auf sich selbst zurück. Etwas Miß trauisches, fast feindlich Abwehrendes, nicht ohne einen Zusatz von Bitterkeit, prägt sich jetzt in
den Zügen aus, und dies läßt ahnen, wie empfindlich weich die Seele des Mannes gewesen. Er ist
in seinem Leben verwundet und geschlagen worden, aber nicht gebrochen. (...) Bitter, aber im Vorgefühl und der Sicherheit seines Rechts sieht er uns wie ein gestürzter König an, vertrieben und
einsam, aber hoheitsvoll und doch ein König.“ (Neumann 489 f.)
Die Anmutung der doppelten Authentizität von Handschrift und Selbstbildnis scheint wie eine
Aufforderung zur Verwechslung von Bild und Abbild zu wirken. Dies kann als Beleg gelten
für das primäre Interesse des Diskurses und seiner Aktanten an der Imagination eines ‘Künstlers und Menschen‘ namens Rembrandt.
Für einen weiteren Autor, dem Rembrandts Selbstbildnisse zum Vehikel seiner Überlegungen
wurden, muß diese Beurteilung eingeschränkt werden. Die Rede ist von Georg Simmel, dem
„‘Gründervater‘ der modernen Soziologie“ (Lichtblau), der zugleich publizistisch und akademisch als Deuter seiner Zeit und als „einer ihrer einflußreichsten Analytiker“ wirkte (Kölbl
1998, 14). Seinem 200 Seiten starken Rembrandt-Essay, 1916 erschienen, ging eine langjährige Auseinandersetzung mit Fragen der Ästhetik voraus, die in einer Folge von Aufsätzen
dokumentiert sind und den Bau einer umfassenden Kunstphilosophie ersetzen müssen, die zu
schreiben Simmel nicht mehr vergönnt war (ebd., 9). Die wesentliche Unterscheidung, mit der
sich der „kulturphilosophische Versuch“ Simmels von der zeitgenössischen Rembrandtliteratur absetzt, erläutert er selbst gleich zu Beginn seines Vorwortes. Ausgehend vom Erlebnis
der Kunst stünden den „wissenschaftlichen Versuchen, das Kunstwerk zu deuten und auszuwerten“, zwei Wegrichtungen zur Verfügung. Die „analytische Richtung“ gehe von hier aus
„gleichsam abwärts“; sie suche nach den geschichtlichen Bedingungen oder nach den gestal323
terischen Wirkungsfaktoren des Kunstwerks, wolle dieses also „historisch, technisch oder
ästhetisch aufklären“ (Simmel 1916, XXXVII bzw. XXXIX). Simmel folgt nun der anderen
„Direktive der Betrachtung, die man die philosophische nennen mag“ und die sich der „seelischen Wirkung“ zuwende, „die das künstlerische Erlebnis als solches“ ausmache, eine Wirkung, die von den skizzierten analytischen „Formen wissenschaftlichen Erkennens“ nicht berücksichtigt werde (ebd., XXXVIII):
„Sie setzt das Ganze des Kunstwerks, als Dasein und Erlebnis, voraus und sucht dieses nun in die
ganze Weite der seelischen Bewegtheit, in die Höhe der Begrifflichkeit, in die Tiefe der weltgeschichtlichen Gegensätze einzustellen.“ (Simmel 1916, XXXVIII)
Simmels Text enthält sich denn auch konsequent aller biographischen oder künstlerisch-praktischen Aussagen, was wiederum seine Klassifikation als Sonderfall der Rezeption rechtfertigen könnte. Doch in anderer Perspektive ist sein Vorgehen geradezu exemplarisch, dient ihm
doch das Phänomen der Kunst Rembrandts als Anknüpfungsgegenstand zur Kommunikation
einer (im weiteren Wortsinn) ‘weltanschaulichen‘ Idee - wie dies prinzipiell auch bei Autoren
wie Thoré, Dumesnil, Langbehn oder Verhaeren der Fall ist. Simmels Rembrandt ist im wesentlichen als eine Demonstration lebensphilosophischer Erkenntnisse zu lesen, wobei Rembrandts Kunst die Schlüsselposition visueller Evidenzstiftung zukommt. Unabhängig von
Brillanz und Reichtum der Gedankengänge nimmt deren Abhängigkeit von der Arbeit Henri
Bergsons über weite Strecken einen fast schon epigonal zu nennenden Grad an.
Wie Alois Kölbl feststellt, ist auch für Georg Simmel der Begriff „Seele“ ein zentraler Terminus in der Auseinandersetzung mit dem Porträt, speziell mit dem Rembrandts:
„Für Simmel ersteht die Seele des Porträts aus der optischen Einheit des Gesichts: dem Zusammenwirken der Gesichtszüge, der gegenseitigen Bedingtheit eines durch den anderen.“ (Kölbl
1998, 44)
Diese nach bestimmbaren Gesetzmäßigkeiten zur Einheit geformte Erscheinung erwecke im
Betrachter die Vorstellung einer Seele, wenn auch einer „‘fiktiven Seele‘, die nur ‘in‘ dem
Kunstwerk, nicht ‘hinter‘ ihm als die ‘reale‘ Seele (...) des dargestellten Subjekts existiert“.
Nach Simmel sei der Wunsch, „durch ein Porträt eine reale Seele sozusagen als gemalte Psychologie ausdrücken zu wollen“, ein gänzlich unkünstlerischer (ebd., 45).101 Wie Kölbl richtig
bemerkt, wertet Simmel damit jenen „starken Strang der kunsthistorischen Rembrandt-Betrachtung entschieden ab“ (ebd., Fußnote 89, 78), der den Versuch unternimmt, Rembrandts
Persönlichkeitswandel aus seinen Selbstporträts herauszulesen. Ein solcher Ansatz „scheint
durch Simmels kunstphilosophische Brille gesehen an dem, was das Porträt als Kunstwerk
101
Kölbl nimmt hier Bezug auf Simmels Text zur Ästhetik des Porträts von 1905.
324
vermitteln will, vorbeizugehen und als Kunst-Betrachtung zu kurz zu greifen“ (ebd.). Der
projizierenden Verwechslung des Bilderlebens mit einer realen, zwischenmenschlichen Begegnung, dieser Perspektive, die der Reanimation einer historischen Figur anläßlich ihrer fiktionalen Präsenz ‘in effigie‘ entspricht, tritt Simmel also entgegen. Doch verliert im breiten
Strom seiner Darlegungen diese ontologisch bedeutsame Unterscheidung ihre Wirksamkeit,
und es erscheint bald nicht mehr als wesentlich, daß hier nicht Rembrandt, sondern Rembrandts Kunst als paradigmatisches Demonstrationsobjekt lebensphilosophischer Einsichten
fungiert. Mag Simmel also die unüberbrückbare Distanz zum ‘realen Rembrandt‘ reflektieren
und sich dadurch eine Sonderstellung unter den Rezipienten der Selbstbildnisse erwerben, so
ist er mit seinen Begriffen der ‘Ganzheit‘, der ‘Intuition‘ oder des ‘Werdens‘ sowie mit seinem authentizistischen Begehren, in den Selbstbildnissen der Präsenz einer ‘lebendigen Seele‘
gegenüberstehen zu wollen, doch zugleich in diesem Segment des Diskurses verortet.
Als Gegenposition zu der psychologisierenden Perspektive des modernen Rembrandtdiskurses möchte ich kurz auf eine aktuelle Deutung eingehen. Im Katalog zur letzten Ausstellung
der Selbstbildnisse Rembrandts (London/Den Haag 1999) beschreibt Ernst van de Wetering,
langjähriges Mitglied des Rembrandt Research Projects, die Interpretation der Selbstbildnisse
als ‘Suche nach sich selbst‘ als einen Anachronismus. Selbstbefragung und Selbstsuche, wie
sie Rembrandt hier nachgesagt werde, setze eine Subjektkonzeption voraus, die erst durch die
„wichtige Veränderung des Ich-Erlebens“ in der Romantik möglich geworden sei:
„Der ‚Gefühlsmensch‘ entstand, die eigene Individualität des Menschen wurde zum Orientierungspunkt im Erleben des eigenen Bestehens und dem des anderen.“ (van de Wetering 1999, 18)
Es sei dieses unbewußt angewandte „romantische Menschenbild“, das die moderne Rezeption
der Selbstbildnisse Rembrandts bestimme. Van de Wetering stellt heraus, daß der heutige
Wissensstand über die Subjektwahrnehmung des 17. Jahrhunderts die Interessen der Selbsterkenntnis und der Identitätsbefragung als Produktionsmotive ausschließe.102 Zugleich äußert er
jedoch Verständnis für dieses bis in die Gegenwart anhaltende Miß-Verständnis der Bilder.
„Die (...) höchst persönliche Form der Selbstreflexion wurde unter dem Einfluß der Literatur und
später durch die aufkommende Psychologie so sehr zu einem Teil unseres Bildes vom Menschen
im Allgemeinen, daß wir uns das Selbsterleben des Menschen aus der Zeit vor der Romantik kaum
anders vorstellen können.“ (van de Wetering 1999, 18)
102
Hier ist anzumerken, daß mit Descartes‘ ‘Cogito‘ eine wichtige Voraussetzung für die romantische Konzeption des Subjekts gerade im 17. Jahrhundert geprägt wurde.
325
Die wesentliche Ursache für die Entstehung der Selbstbildnisse sieht van de Wetering in einer
Nachfrage des Marktes. Damit formuliert er einen fundamentalen Widerspruch zu jenen autonomistischen Motivationsmodellen, die den Bildern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
zu ihrem Ruf als Prototypen moderner Selbstreflexion des Künstler verholfen hatten. Bildnisse bedeutender Künstler, so weist van de Wetering nach, waren im 17. Jahrhundert ein
wichtiger Bestandteil der Kunstkabinette, und entsprechend groß war das Sammlerinteresse
an solchen Porträts. Die Eigenhändigkeit dieser Bilder war dabei übrigens nicht so bedeutend,
wie die moderne Sehnsucht nach dem Original dies vermuten lassen könnte.
2.8 Zusammenfassung
Mit dem Motto ‘Erkenne dich selbst‘ hatte Julius Langbehn 1890 das Deutungsmuster formuliert, das über 50 Jahre lang das Verständnis der Selbstbildnisse Rembrandts prägen sollte.
Langbehn ist dabei nicht als ‘Urheber‘ für dieses Diskurssegment zu betrachten, sondern als
‘Sprecher‘, bei dem ein neu aufkommendes Interesses an dieser Bildgattung vergleichsweise
früh geäußert wird. Sofern von einem ‘Ursprung‘ dieses Interesses überhaupt die Rede sein
kann, ist ein solcher wohl mehr in der Faszination durch das ‘Individuum‘ zu suchen, die
Langbehn auch mit politisch vollkommen konträr positionierten Zeitgenossen teilt. Wie gezeigt werden sollte, erfolgte die Stilisierung Rembrandts zur symbolischen Personifikation
des modernen Künstlers im Zeichen dieses Individualismus-Konzeptes, in dem Ideen der
Transzendenz und der Ganzheit zu einem monumental-erhabenen Idol zusammenfließen.
Angeregt durch das Phänomen der Rembrandtbegeisterung im Jubiläumsjahr 1906, hat Wilhelm Valentiner den besonderen Stellenwert der Selbstbildnisse in der moderne Rezeption
Rembrandts bereits in vergleichbarer Weise zu erklären versucht:
„Hier liegt das stärkste Band, das uns mit Rembrandts Kunst verknüpft, daß Rembrandt die reiche
Skala des Empfindungslebens, die der moderne Mensch verlangt, beherrscht. Er ist differenzierter
in seinem Seelenleben, als irgend einer der alten Maler, er kennt alle Regungen der Seele, die Seelenruhe wie die Resignation, den Humor wie die Tragik. Was sind an Reichtum des Inhaltes die
zahlreichen Bildnisse Philipps IV. von Velasquez mit aller Kunst ihrer Darstellung gegen die Folge
von Selbstbildnissen Rembrandts? Und auch die Sehnsucht unserer Zeit nach einem ganzen und
starken Menschen, dem die Schärfe psychologischen Erkennens nichts anhaben kann, ist in ihm erfüllt.“ (Valentiner 1906, 160)
Nach Valentiner erfüllt Rembrandt eine Anforderung, die erst „der moderne Mensch“ an die
Kunst stellt. In den Porträts, besonders in den Selbstporträts, findet er „das stärkste Band, das
uns mit Rembrandts Kunst verknüpft“, denn sie entsprechen dem Interesse des „modernen
Menschen“ an einer „reiche[n] Skala des Empfindungslebens“. Die Psychologisierung als
326
eines der primären Programme in der gesellschaftlichen Kommunikation um 1900 kann an
diesen Selbstbildnissen ausgeführt werden; zugleich aber hebt Valentiner hervor, daß Rembrandt „die Sehnsucht unserer Zeit nach einem ganzen und starken Menschen“ erfülle, „dem
die Schärfe psychologischen Erkennens nichts anhaben“ könne. Von der Psychologisierung
Rembrandts kommt der Autor so zur Psychologisierung seiner Betrachter und zu deren Sehnsucht, einem erhabenen Mann gegenüberstehen zu wollen. Der Stolz, der Rembrandt gerade
angesichts seines Niedergangs, seiner menschlichen Schwächen und seiner Verkanntheit immer wieder zugesprochen wird, hat seinen Ursprung in dieser Sehnsucht nach dem Erhabenen, dem Übergroßen, dem entrückten Wesen, in dem sich die göttliche Gabe der Genialität
mit der Strafe eines unmenschlichen Leidens verbindet.
In dieser aus psychologischen Dispositionen der Betrachter und Autoren gespeisten Projektion liegt eine weitere Quelle der ‘Modernität‘ Rembrandts. Die erhabene Ästhetik dieses
Künstlers und die enigmatische Qualität, die neben den Selbstbildnissen besonders der
Nachtwache zugesprochen wird, liefern optimale Bedingungen für die Rezeptionshaltung, mit
der man in jener Epoche der Entauratisierungen dem im Gegenzug auratisch überfrachteten
‘großen Kunstwerk‘ entgegentrat (vgl. Bennett 1995): schweigsam, weihevoll, untertänig, im
Bewußtsein einen höherstehenden ‘Anwesenheit‘. Die Kunstrezeption war praktizierte Hierarchie, und Rembrandt war ein König.
Die Rezeption der Selbstbildnisse kann als symptomatisches Beispiel für die zweite Phase der
modernen Rembrandtrezeption betrachten werden. Wo der Blick auf die Kunst zum Blick auf
den Künstler wird, wo Kunstgeschichtsschreibung in Kunst und Künstler das ideale Menschentum diskutieren und symbolisieren will - ein Menschentum des selbstbewußten, leidensfähigen und sich über den Alltag erhebenden Individuums - da bietet Rembrandt nicht zuletzt
aufgrund der von ihm überlieferten Selbstbildnisse geeigneten ‘Gesprächsstoff‘.
Als einer der Gründe für die ‘Modernität‘ Rembrandts kann also der Umstand angeführt werden, daß es so viele Bilder gibt, die im modernen Vokabular als seine ‘Selbstbildnisse‘ bezeichnet werden können. Angesichts dieser Bilder läßt sich anschaulich und übergangslos von
der Kunstbetrachtung zur Frage nach dem Künstlersubjekt als einem zentralen Kommunikationsinhalt des modernen Kunstdiskurses hinüberwechseln. Nicht zufällig erhält, zeitgleich
zum hier beschriebenen Diskursphänomen, das Selbstbildnis in der künstlerischen Praxis einen neuen Stellenwert, wobei sich nicht wenige Künstler (Liebermann, Corinth, Slevogt)103
nachweislich am Vorbild Rembrandts orientieren.
103
Vgl. Stückelberger 1996.
327
328
Abschluß und Ausblick
Im Anschluß an eine Beobachtung Theodor Hetzers sollte in dieser Untersuchung der besonderen Interessantheit Rembrandts nachgespürt werden, die als Phänomen in der Literatur des
Kunstdiskurses (und darüber hinaus) seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nachgewiesen werden
kann. Die Ausgangsüberlegung lautete dabei, daß die ‘Modernität Rembrandts‘ nicht als die
Leistung einer historischen Figur des 17. Jahrhunderts anzusehen sei, sondern als ein Produkt
der modernen Rezeption. In den vergangenen Kapiteln habe ich die Ordnungsmuster, die Selektionsverfahren und die literarischen Topoi jener Texte untersucht, die aus künstlerischen
Werken und Archivquellen eine ‘diskursive Künstlerfigur‘ entstehen lassen. Meine Absicht
war es, die ‘Arbeit‘ der Interpreten am autonomen Künstlersubjekt ‘Rembrandt‘ zu zeigen
und zu belegen, daß die Interessantheit dieses ‘Rembrandt‘ für seine modernen Rezipienten
primär in seiner Anschlußfähigkeit für aktuelle Inhalte liegt. Angesichts des historischen Materials, aus dem ‘Rembrandt‘ entwickelt wird, läßt sich über die Autonomie des Subjekts reden, über seine Eigenständigkeit gegenüber ökonomischen Prozessen, über seine Unterscheidbarkeit innerhalb der Masse seiner Zeitgenossen und über seine Fähigkeit, aufgrund
seiner singularen Produktionsmittel ‘Eigentümliches‘ zu schaffen. Die Grundlage für diese
Vorstellung vom menschlichen Individuum als einem einzigartigen und unabhängigen Subjekt liefert ein privatisiertes Verständnis des Kunstschaffens: Indem das ‘Werk‘ als authentische und gänzlich eigenständige Artikulation des Subjekts verstanden wird, fungieren die
sinnlich wahrnehmbaren Objekte als ‘Materialisierungen‘ des autonomen Subjekts. In der
kultischen Rezeption der autonomen Kunst und ihrer Schöpfer, so könnte eine Konsequenz
aus diesen Thesen lauten, reflektieren und stabilisieren die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft ihre eigene Position als eigentumsfähige, für ihr Handeln rechtlich wie moralisch
verantwortliche und sich selbst als einzigartig begreifende Individuen. Mit dieser Perspektive
weise ich der Vorstellung vom autonomen Künstler eine wichtige Position innerhalb der Prozesse der Subjektivierung in modernen bürgerlichen Gesellschaften zu.
Die Topik der diskusiven Künstlerfigur in der Moderne ist nicht an eine bestimmte historische
Person gebunden. Sie bildet einen Kanon von Beschreibungsformeln, die in ihrer Gruppierung und in ihren konkreten Ausformulierungen variieren können und dann unter den Namen
Rembrandt, Goya, van Gogh oder Picasso, auftreten können, ja nicht einmal an den Bereich
bildender Kunst gebunden sind. So sehr die Vorgaben der jeweiligen historischen Figuren im
Verlauf der Diskursivierung auch umgewandelt werden, so wenig eignet sich dennoch jede
Figur für jede Form der Stilisierung. Das Rembrandtbild ist in den Jahren 1890 bis 1950 facettenreich und der Künstler kann als Ideal für unterschiedliche Ideologien auftreten. Danach
ist jedoch die Verknüpfbarkeit dieser historischen Figur mit aktuellen Diskurssegmenten of329
fenbar verbraucht, obwohl der Ruhm der Werke erhalten bleibt. Die veränderten Ansprüche,
denen die diskursive Künstlerfigur Rembrandt nicht mehr genügt, werden nun durch andere
Namen erfüllt.
Noch eine zweite Entwicklung läßt sich abschließend konstatieren. Während sich im Zeitraum
meiner Untersuchung, besonders in den Jahrzehnten des wilhelminischen Kaiserreichs und
der Weimarer Republik, eine weitgehende Konstanz des Künstlerbildes in den Texten unterschiedlicher Diskursebenen auffinden läßt, würde eine Beobachtung der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts voraussichtlich zu einem anderen Ergebnis kommen. Die Ursache dafür sehe
ich darin, daß die diskursive Figur des modernen Künstlers als ein sekundäres Phänomen, als
eine ‘Funktion‘ der Gesellschaft betrachtet werden muß. In der Literatur um 1900 werden
über diese Figur die Vorstellungen von der Autonomie, der inneren Harmonie, der Singularität und der hohen Bedeutung des menschlichen Individuums zur Anschauung gebracht, die
eine Grundlage der damaligen Gesellschaft bilden. Die Konturen dieser Künstlerfigur sind an
die Subjektivitätskonzepte gebunden, die in dieser Gesellschaft zirkulieren, ihre Variationen
stehen demnach im Zusammenhang mit Veränderungen der Position des Individuums in der
Gesellschaft. So finden sich zum Beispiel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, analog
zu einer Pluralität der Vorstellungen von Subjektivität, analog zu einer Ausdifferenzierung
der Gesellschaft im Hinblick auf das Selbstverständnis der darin lebenden Individuen, in der
gesellschaftlichen Kommunikation gleichzeitig unterschiedliche Konzepte von Künstlertum.
Sie reichen vom Ideal des institutionell gebundenen Handwerkerkünstlers (etwa im kirchlichen Auftrag oder im Kunstgewerbe) über das heroische Subjekt der Moderne (etwa in der
anhaltenden Van-Gogh-Begeisterung) bis zu Versuchen der Auflösung subjektgebundener
Kunstkonzepte (von Dada über die Nouveaux Realistes bis zur Internetkunst), wobei alle
diese Entwürfe jeweils mit einem unterschiedlichen Kunstbegriff operieren. Indem wir es
heute, im Gegensatz zur Zeit vor hundert Jahren, nicht mehr mit einem dominanten Bild vom
Künstler, sondern mit einer wachsenden Zahl unterschiedlicher, einander widersprechender
Vorstellungen von Kunst und Künstlertum zu tun haben, wird schließlich auch im Kunstdiskurs erkennbar, daß nicht ‘der Mensch‘ sich auflöst, sondern daß sich mit der Gesellschaft
auch die möglichen Konzeptionen von Subjektivität ausdifferenzieren.
330
Abkürzungen
RS: Katalognummern aus: Christopher White/Quentin Buvelot (Hg.) (1999) Rembrandts
Selbstbildnisse, Ausst. Kat. London/Den Haag.
Filmographische Angabe
Rembrandt
Deutschland 1942; Regie: Hans Steinhoff; Buch: Kurt Heuser und Hans Steinhoff, unter
Mitbenutzung des Romans Zwischen Hell und Dunkel von Valerian Tornius (1934); Kamera:
Richard Angst; Bauten: Walter Röhrig; Musik: Alois Melichar; DarstellerInnen: Ewald Balser,
Hertha Feiler, Elisabeth Flickenschild, Gisela Uhlen, Theodor Loos; Produktion: Terra; 107 Min.
331
Literaturverzeichnisse
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der Dissertationsschrift im Oktober 2000.
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