Die 10 Texte zum

Transcription

Die 10 Texte zum
Bretter
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inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Vorlaut.
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Vorwort
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Simon Wint
Unter Uns
5
Lukas Werner
Herr Maté
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Yvonne Becák und Sabine Pawischitz
Caje šukarije – Tanz, schönes Mädchen!
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Constantin Göttfert
Vernagelung
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Marita Gruber
Bretter
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Richard Purschwitz
Interview mit einem Unbescholtenen
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Wolfgang Rieder
rote Nelken und keine Überraschungen
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Caroline Schiel
Der Sargträger
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Rudi Stüger jun.
Segenwerksbesitzer
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Nicholas Unger
bretter
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Biografien Zita Bereuter Pamela Rußmann
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2
„Schreiben sollte sehr exakt sein und man muss verwirklichen was innen in einem ist und das
formt sich irgendwie zu Wörtern und je genauer die Wörter die Gefühlsbewegung ausdrücken desto
schöner die Wörter das heißt das was geschieht und jeder der irgend etwas weiß weiß das.“
vorlaut
Vorlaut.
So beschreibt Gertrude Stein das Schreiben in Jedermanns Autobiographie vor beinahe 80 Jahren.
Viel hat sich in diesem Zusammenhang nicht verändert. Gefühle, Ideen, Vorstellungen, Visionen,
Szenarien, Träume, Fantasien und Betrachtungen. Möglichst exakt beschrieben in Wörtern, die
sich zu einer Kurzgeschichte formen. Für Wortlaut, den FM4 Literaturwettbewerb. Nicht mehr und
nicht weniger wollten wir im Frühling 2005, als zum vierten Mal der Startschuss für den literarischen
Nachwuchswettbewerb fiel. Über 600 FM4-Hörerinnen und Hörer fühlten sich motiviert und
schickten, was innen in ihnen ist.
„Bretter“ – es war kein einfaches Thema. Keines, zu dem die meisten schon zig Texte geschrieben
haben. Keines, zu dem man immer wieder mal was liest. Dafür aber eines, das noch nicht so
abgedroschen ist, dass man sich gar keine Gedanken mehr darüber machen will.
Das wollten wir und die FM4-Hörerinnen und Hörer haben gezeigt, dass sie das auch können. Dafür
vielen Dank.
Die Vorjury (Zita Bereuter, Tim Gfrerer, Elisabeth Gollackner, Andreas Gstettner, Marianne Lang,
Martin Pieper, Astrid Schwarz und Markus Zachbauer) hatte die undankbare, weil schwierige
Aufgabe, aus dieser Hundertschaft die besten Texte auszusieben. Diese wurden letztlich an die
Hauptjury zur finalen Prämierung weitergereicht: an den Musiker und Autor Markus Binder, Armin
Konnert, den Gewinner von Wortlaut 2004, die Journalistin und Kolumnistin Doris Knecht, den
Journalisten und Musiker Fritz Ostermayer (FM4 im Sumpf) sowie die Autorin Kathrin Röggla.
Diese Jury hat sich nun für diese vorliegenden Kurzgeschichten entschieden.
Erinnerungen, Begebenheiten, Träume, Gefühle, Fantasien. Von Punks, die in Innsbruck abhängen,
zu einem einsamen alten Mann in einem noch einsameren Zimmer, von einer an Lebensfreude
kaum zu überbietenden Tante zu einem verstörten Sargbauer, von verlogenen Theatergeschichten
zur letzten Wahrheit.
„Bretter“ verbindet diese Gedanken und Worte.
Wir freuen uns über die nun vorliegende Anthologie.
„Jeder der irgend etwas weiß weiß das.“
Zita Bereuter und Pamela Rußmann, September 2005
Die Herausgeberinnen danken FM4, der Vor- sowie der Hauptjury, der Literaturzeitung Volltext und
der Tageszeitung Der Standard.
3
vorwort
Vorwort
Man kann alles lernen. Kann man alles lernen? Für Schauspieler gibt es das Reinhardt-Seminar. Für
Künstler die Angewandte und die Bildende. Für Filmemacher die Filmhochschule, für Musiker die
Musikhochschule und die Jazzakademie, für Schriftsteller. Für Schriftsteller nichts. Für Schriftsteller
die „Schule für Dichtung“ und Volkshochschulkurse und fertig.
Darüber sollte Elisabeth Gehrer und wer immer sie als Wissenschaftsministerin ablösen wird, einmal
nachdenken: Dass es im Literaturland – was heißt: im Literaturnobelpreisland! – Österreich keine
Schriftsteller-Ausbildung gibt. Nur learnin by doing (oder besser: learning by Verlagsabsagen), nur
Internet-Foren, nur Literaturwettbewerbe wie jener, bei dem ich mit 17 mal mitgemacht habe. Nur
Talentwettbewerbe, wie den „Wortlaut“.
Talentwettbewerb, ja: Denn das ist es, was ein Auswahlverfahren wie der FM4-Literaturwettbewerb und seine Jury tatsächlich leisten können: Talent zu erkennen, hoffentlich, auf der Basis
eines einzigen Textes. Wobei es sich insgesamt, so selbstkritisch und pessimistisch muss man das
leider betrachten, um ein fehleranfälliges System handelt: Vielleicht tut sich das junge Talent mit
dem vorgegeben Thema schwer, macht vielleicht grad eine komplizierte Zeit durch, ist unglücklich
verliebt, muss sich um Dinge kümmern, die der Schaffung von Literatur nicht zuträglich sind. Und
wenn die Texte allen widrigen Umständen zum Trotz doch ausgedacht, verfasst, überarbeitet und
endlich abgeschickt wurden, haben die Mitglieder der Jury, in dem Moment, in dem sie die Texte zu
lesen und zu beurteilen haben, vielleicht ganz ähnliche Probleme ... Was ich damit sagen will: Der
„Wortlaut“ ist nicht der Papst. Die „Wortlaut“-Jury ist nicht unfehlbar. Ein Literaturwettbewerb wie
der „Wortlaut“ kann Schriftstellerinnen und Schriftsteller nicht erfinden, und er will sie auf keinen
Fall aufhalten. Auch wenn ihre Texte in diesem Buch fehlen.
Das Thema „Bretter“ war vorgegeben, an das sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer weniger
oder mehr hielten: Sie richteten ihre Texte daran aus oder ließen die „Bretter“ einfließen, durchaus
auch auf suboriginelle Weise, denn die „Bretter, die die Welt bedeuten“ und das „Brett vor dem
Kopf“ wurden den Mitgliedern der Jury so oft über den Kopf gezogen, dass es schon auch wehtat.
Was im Prinzip in Ordnung ist: Eine Jury soll ruhig leiden. Diese Jury versuchte trotzdem redlich,
die besten Texte auszuwählen, dennoch: Die 10 Texte, die in diesem Buch zu lesen sind, sind das
vielleicht nicht. Aber es sind die 10 auffälligsten: Texte, die durch ihre Ideen bestachen, ihren Stil,
durch ihre Fantasie oder ihre Frechheit, durch ihren Mut. Durch ihr unübersehbares Talent. Oder
durch alles zusammen.
Wie ich mit 17 mal bei einem Literaturwettberb mitgemacht habe, flog mein Beitrag schon in der
ersten Runde raus. Die Autorinnen und Autoren, deren Texte hier zwischen diese beiden Buchdeckel
gelangten, waren sehr viel erfolgreicher; und mit was? Mit Recht.
Doris Knecht, September 2005
Doris Knecht ist Journalistin in Wien und Zürich; sie schreibt für Falter, Tagesanzeiger, profil und
Presse. Ihr Buch „Hurra. Anleitung zum Doppelleben in 111 Schritten” ist im Czernin-Verlag
erschienen.
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geboren 1968 im grau-grünen Norden Englands. Erlebt dort eine Kindheit geprägt von
ABBA-Schallplatten und Glockenhosen der Marke Wrangler. Er genießt die übliche englische
Schulausbildung bestehend aus 1/3 Mathematik und 2/3 Fußball, Sakko und Krawatte inklusive. Mit
11 Jahren schreibt er eine schräge Kurzgeschichte über einen Staubsauger mit einem Gehirn. Die
Geschichte kommt in das jährliche Schulmagazin, was seine Mutter freut und ihn zum Schreiben
bringt. Schließlich macht er eine Ausbildung zum Grafik-Designer und entdeckt nebenbei, dass
er nicht Gitarre spielen kann. Er wird Mitglied einer Punkband. Umzug nach Manchester und
Tätigkeiten als Grafik-Designer, Fahrradverkäufer, Comic-Zeichner, Kabarettist. 1993 kommt er
nach Tirol, 10.000 Schilling und ein deutsch-engliches Wörterbuch in der Hosentasche. Er gründet
Familie und Designbüro und irgendwann geht es mit dem Schreiben wieder los.
unter uns
Simon Wint
Unter Uns
Er kratzte mich wieder am Bein und ich sagte ihm, dass er endlich damit aufhören soll.
„Deine scheiß Nägel!“, sagte ich. „Das sind keine Nägel, das sind scheiß Krallen!“
„Ja, ja, dann gib mir endlich ein Bier!“ Er lachte.
Ich drehte mich zu ihm und drückte ein Auge zu. Die Sonne war wieder da, hinter einer fetten Wolke
heraus gekrochen. Sid grinste mich an wie Jack Nicholson. Der Spinner.
„Du solltest die Dinge schneiden, man! Du bist eine echte Gefahr!“
Dann krabbelte ich hinüber zum Seil und zog die Kiste aus dem Wasser, so weit, bis ich zwei
Bierflaschen herausnehmen konnte. Dann ließ ich die Kiste sehr langsam hinunter in den See und
schaute zu, wie die Luftblasen hochstiegen.
„Was hab ich dir gesagt?“, sagte Sid durch eine Zigarette. Er öffnete seine Hände und zog seine
Schultern hoch, wie ein bescheuerter Game-Show-Moderator. „Ich sagte doch, heute scheint die
Sonne. Hab ich das nicht gesagt?“
Ich nickte mit dem Kopf und rollte eine Flasche über den Steg zu Sid.
„Hör niemals auf die scheiß Wetterfrösche. Arschlöcher. Die wissen nicht mehr als wir.“ Und dann
machte er das Bier auf und ohne „Prost“ zu sagen hatte er gleich die Hälfte unten. Dann rülpste er
und legte sich hin.
„This is the life!“, sagte er.
Seit dem langen Wochenende in London hatte er immer wieder diese dämlichen Sprüche auf
Lager. Und dabei konnte er nicht einmal die Sprache richtig. Und als wir alle drei dort waren, in
London, haben Tom und ich uns nicht getraut, unser Englisch so richtig auszuprobieren, weil es
Sid nur genervt hätte, weil wir es besser konnten. „Hör dich an! Du klingst wie der Prince Henry!
Oder irgendein Royal!“ So hat er das ganze Wochenende geredet.
Ich saß da, die Beine gekreuzt. Hätte ich nur die Sonnenbrille nicht vergessen. Der Himmel war
ein Drittel blau, zwei Drittel Asphalt. Immer wieder tauchten ein paar Leute auf. Jeder schaute die
Wiese an und dann den Himmel. Irgendwann kamen drei Jungs und setzten sich an den Anfang
des Steges. Sid guckte sie an.
„Ich dachte du schläfst“, sagte ich.
„Na.“ Antwortete er. „Ich bin immer wach, immer bereit. Du weißt nie.“
„Ich gehe schwimmen.“
„Gibt’s noch ein Bier?“ Er stützte sich auf seine Ellbogen.
„Du hast noch.“ Ich zeigte auf seine Flasche.
„Ist schon warm. Wie Pisse.“ Und dann zündete er eine an. „Willst du eine?“
Ich stand auf. „Nein, danke. Mir ist echt heiss. Ich muss ins Wasser.“
Das erste Mädchen, das Allererste, es hieß Lisa. Und durch sie habe ich Sid kennengelernt. Es gab
diese Phase, da war ich vierzehn, da habe ich nur Computerspiele gespielt und Fußball geschaut.
Damals waren Mädchen für mich einfach diese blöden Dinger, die in Splatter-Movies nur geschrien
haben, bis sie jemand endlich abschlachtete. Sid hieß in Wirklichkeit Hannes, aber dann mochte er
Punkmusik. Die Lisa war dabei ein Gruftie-Girl zu werden, mit schwarzen Haaren und zwei Ratten
als Haustiere, namens Cheech und Chong. Dank den Ratten habe ich zum ersten mal gebumst,
und zwar mit Lisa. Es war so, dass ich es einfach versucht habe und sie nicht nein sagen konnte,
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unter uns
weil Gruftie-Girls mit Ratten nicht Angst haben dürfen, sonst wäre das ganze, dunkle rattige Image
kaputt. Also ließ sie mich es tun. Aber nach sieben Wochen ging sie mir auf die Nerven und ich hatte
eh diesen neuen Freund. Sid.
Am Anfang hat der Tom ihn nicht so gemocht. Tom war verrückt, aber er war auch Amateur-Triathlet
und das fand Sid voll scheiße. Am Abend zu schwimmen anstatt gegen Autos zu treten. Irgendwann
waren wir alle fünfzehn oder sechzehn und Tom hatte die Nase voll vom Sport, also fingen wir an
Bier zu trinken und mit Gitarren herum zu blödeln und dann waren wir zu dritt.
Das Wasser war kalt. Ich kletterte die Leiter hoch und schnappte mir mein Handtuch. Die Sonne
war wieder weg.
„Es wird regnen“, sagte ich.
„Niemals“, sagte Sid. „Es wird schön. Ich kann es spüren. Ich hab einen sechsten Sinn. Habe ich
dir das schon mal gesagt?“
Ich zitterte ein „Nein“.
„Ich kann Gedanken lesen.“ Und dann setzte er die Sonnenbrille ab und starrte mich an. Ich starrte
zurück und nach einer Weile gab ich auf.
„Du bist verrückt.“
„Kann sein.“ Er grinste. „Gibt’s noch ein Bier?“
„Was? Schon wieder?“
Er zeigte mir die leere Flasche. Ich holte ihm noch eines und schaute auf meine Uhr. Es war kurz
nach vier.
„Es wird regnen. Ganz sicher.“
„Weck mich, wenn was passiert, okay?“ Sid legte sich wieder hin.
Ich dachte an Tom.
„Der wird wohl jetzt in Griechenland sein. Der Tom.“ Sagte ich.
„Vielleicht.“
„Doch, ganz sicher. Er ist schon gestern geflogen. In der Früh. Er hat schon Recht, den ganzen
Sommer einfach abhängen, inselhüpfen. Ist sicher geil dort drüben.“
„Seine Eltern zahlen es, oder? Sie zahlen doch alles. Scheiß Yuppies!“ Sid redete mit geschlossenen
Augen. Der Depp.
Das nächste Mädchen hieß Judith. Sie hatte keine Ratten, also dauerte es Wochen bis sie mit mir ins
Bett ging. Wir waren insgesamt sieben Monate zusammen. Wir mochten dieselbe Musik, dieselben
Filme, aber eines Mittwoch Abends sagte sie mir, dass sie nicht mehr Sex haben wolle. Es gab zwei
Gründe. Erstens war es ihrer Meinung nach überbewertet, nichts Besonderes und zweitens war ihr
Vater ein Pschychopath. Wir blieben trotzdem eine Weile zusammen und sagten niemandem ein
Wort über den Sex. Irgendwann wurde ich verärgert und sie färbte sich die Haare rot. Dann war es
endgültig aus.
„’tschuldigung!“ Es war Sid.
Ich rollte auf die Seite. Mein Mund klebte zusammen.
„Was ist los?“ Ich war irgendwie fertig. Hätte ich nur die Sonnenbrille nicht vergessen.
„Du hast geschlafen. Wie ein Baby. Richtig geschnarcht!“
„Was?“ Ich drehte mich von der Sonne weg. Es war viertel nach fünf. Ich hatte Kopfschmerzen.
„Geredet hast du auch. Im Schlaf, meine ich.“
„Das glaube ich nicht!“
„Doch. Willst auch ein Bier?“
„Nein. Nichts mehr.“ Dann setzte ich mich auf.
„Was habe ich gesagt? Im Schlaf?“
„Keine Ahnung. Irgendeinen Scheiß.“
Sid rauchte eine Zigarette, neben ihm fünf leere Flaschen und etwas weiter weg zwei Mädchen. Er
neigte den Kopf nach vor und zwinkerte zu mir rüber. Die Mädchen waren höchstens vierzehn.
Ich schüttelte den Kopf. „Das sind Kinder“, sagte ich.
„Eben!“, lachte er. Der Trottel.
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unter uns
Dann gab es Kathi. Als ich sie kennen lernte war es Herbst und sie hatte lange blonde Haare. Drei
Tage später, bei unserer ersten Verabredung, da hat sie sich die Haare ganz kurz geschnitten, so
richtig grob, als ob ihr kleiner Bruder es für sie getan hätte. Sie sagte mir, das würde man mit ihr
machen, wenn sie ins Kloster käme. Manchmal, mitten am Vormittag, schauten die Leute die Kathi
so an, als ob sie betrunken oder auf Drogen wäre. Aber das war sie nicht. Sie hatte einfach diese
verrückte Ausstrahlung und diesen lauten Lacher und diesen geilen Körper mit riesigen Augen oben
drauf. Und das machte mich alles wahnsinnig heiss und der Sex mit ihr war irgendwie saugut und
irgendwie auch beängstigend. Ein bisschen wie mit einem guten Freund zu schlägern.
Als der Schnee kam, gingen wir viel Snowboarden. Das war im letzten Winter. Abends waren wir
entweder aus, oder in Toms Wohnung, wo wir bumsen konnten. Im Frühling schlug ich vor, dass
wir am Samstag ein bisschen Mountainbiken gehen könnten, aber sie sagte, dass sie lieber mit
mir Schluss mache. Irgendwann danach sah ich sie mit diesem Typen, namens Andi. Er war eine
dieser üblichen Mischungen aus Snowboarder, Skateboarder und Arschloch. Ich war fertig, aber
ich wollte es niemandem zeigen, also trug ich es monatelang mit mir herum, manchmal im Kopf
und manchmal ganz tief unten im Bauch. Im Juli redete ich zum ersten Mal darüber, und zwar
ausgerechnet mit Nicole. Und sie versprach mir, niemandem etwas zu sagen und ich vertraute ihr
vollkommen und dabei wurde mir bewusst, dass Nicole Wahnsinn ist.
„Sie hat was mit wem anderen gehabt.“ sagte Sid. Einfach so.
„Was?“
„Sie hat was mit einem anderen Kerl gehabt. Das weiß ich.“
Ich spürte, wie es in meinem Hals eng wurde, wie die Luft weder rein noch raus wollte.
„Sie hat mir zwar nicht gesagt, wer es ist, aber ich weiß es eh schon.“ Er zog an seiner Zigarette.
„Scheiße.“ Sagte ich leise.
Wir schauten auf das Wasser. Ich wartete.
„Wir wären jetzt im August ein Jahr zusammen. Das ist doch Wahnsinn, oder?“
Sid warf die Zigarette in den See.
„Ich trinke noch ein letztes Bier. Magst auch eines?“ Er stand auf und ich wollte nur schnell
weglaufen.
„Nein. Danke.“
Er ging zum Seil und kniete sich hin.
„Komm! Trink noch eines mit mir. Ein letztes. Okay?“
Ich nickte. Mir war schlecht. Und dann stand er da, mitten am Steg, mit den beiden Bierflaschen in
den Händen, wie Billy the Kid.
„Willst du nicht wissen, wer es war?“, fragte er.
Ich antwortete nicht.
„Es war Tom“, sagte er.
Mit achtzehn, also, verliebte ich mich in Nicole. Sie war dunkelhaarig und irgendwie melancholisch
und sie war auch Sids Freundin. Sie war neunzehn und sie spielte Klavier, aber nur selten, weil
sie so viel schlief. Ihre Eltern hatten Geld, aber davon wollte sie nichts wissen. Sie zog bald mit Sid
zusammen und nachts, alleine in meinem Bett, sah ich oft ihr Gesicht. Nicole arbeitete in einer Bar
und redete immer wieder von einer Weltreise, die sie irgendwann mit Sid machen würde. Sie sagte,
dass sie mindestens zwei Jahre weg sein würden, und dass sie wahrscheinlich mit einem Kind
zurückkommen würden. Dann vor drei Wochen ging ich mit ihr ins Bett.
Einer meiner Freunde hat einmal gesagt, dass du den Sex mit einer Frau nach der Form ihres
Mundes einschätzen könntest. Aber das war Scheiße, das wusste ich, weil Nicoles Mund irgendwie
extrem war. Sie rauchte zu viel und sie trank ständig Rotwein und in ihrem Mund war alles dunkel,
fast schwarz. Wäre ihr Mund eine volle Einkaufstasche und würde diese mitten auf der Straße platzen,
dann würden Wein und Kaffee und Soja Sauce und Steaks und Bitterschokolade herausfallen. Aber
im Bett war Nicole ganz zart und süß und schüchtern. Sie zitterte und sagte mir, ich solle das Licht
ausmachen und dann drückte sie sich fest an mich. Das war vor drei Wochen und seitdem verstehe
ich überhaupt nichts mehr; weil ich jetzt weiß, dass ich sie liebe und weil sie mit Sid zusammen ist.
Dem Idioten.
Regentropfen fielen langsam vom Himmel.
„Scheiß Wetter!“, sagte Sid.
Ich saß nur da und schaute zu, wie die Leute am See ihre Sachen in Taschen stopften und
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unter uns
Regenschirme aufspannten und versuchten, ihre protestierenden Kinder aus dem Wasser zu holen.
Die Mädchen am Steg lachten und rannten barfuß weg.
„Es fängt voll zu schiffen an! Geil!“ Sid lachte und dann machte er Geräusche, wie ein Kind, das
versucht, ein amerikanisches Polizeiauto zu sein.
Mir war kalt, und ich fühlte mich irgendwie krank.
„Vielleicht sollten wir gehen?“, sagte ich. „Abhauen, bevor es schlimmer wird?“
„Du hast Recht.“ Und Sid ging zu seinem Rucksack hinüber. Ich stand auf und mir war kurz
schwindlig. Dann wickelte ich mein Handtuch um die Taille und zog die nasse Badehose aus. Aber
die anderen Klamotten, die waren am Steg gelegen und jetzt waren auch sie halb nass.
„He! Hast du so was schon mal gesehen?“
Ich zog meine Jeans an und drehte mich zu Sid. Und da saß er, mit dieser Pistole in der Hand.
„Was? Spinnst du! Was ist das? Scheiße!“
„Na, was meinst du, was das wohl ist? Eine Kanone, man! Eine echte! Kein Scheiß!“ Sid lachte und
hob das Ding in die Luft, richtete es auf mich.
„He! Lass das! Scheiße, man!“ Ich duckte mich.
Sid stand auf und schaute sich um. Die Regentropfen waren fett und kalt.
„Tut mir echt Leid wegen der Wettervorhersage. Da war ich ein bisschen daneben. Fuck!“ Er streckte
seinen Arm aus und schaute die Pistole entlang und drehte sich langsam im Kreis.
„Sid! Verdammt! Steck das Ding endlich weg, man!“
Ich kniete. „Steck es einfach weg! Komm, lass uns gehen!“
Es war so, dass Sid eigentlich niemals Spengler werden wollte. Seine beiden ältereren Brüder waren Spengler und sein Vater hatte sein ganzes Leben lang mit Autos herumgespielt, obwohl er
eigentlich Beamter war. Sid wollte Musik machen oder Album-Covers designen, das sagte er mir
ständig. Und zeichnen konnte er auch. Aber mit siebzehn ließ er sich den Goofy auf den rechten
Oberarm tätowieren und danach war er Spengler.
„Sid! Lass das, bitte! Wenn das jemand sieht!“ Ich schaute über den See zu einem Mann mit einem
Hund. Der Hund drehte durch, lief herum wie verrückt und versuchte irgendwie den Regen zu
beißen. Der Mann schaute her.
„Ich tu eh nichts.“ Er sprach mit der Pistole.
„Hör zu.“ Sagte er. „Ich muss dich was fragen. Was Wichtiges.“ Die Pistole hing neben seiner Hüfte
und er kam rüber zu mir. Ich setzte mich hin, ich konnte nicht mehr stehen.
„Hat der Tom dich jemals angesprochen? Ich meine, wegen der Nicole? Hat er dir irgendetwas
gesagt? Dass er auf sie steht, oder so was?“
„Nichts.“
„Aber er schaut doch ganz gut aus, oder? Der Tom? Der alte Triathlet hat einen guten Körper, oder?
Aber der hat kaum eine Freundin gehabt. Das ist wohl komisch, oder? Was meinst du?“
Ich schaute ihn nur an.
„Aber, wieso meine Freundin? Der hat eh schon alles, oder? Die scheiß Wohnung von seinen Eltern.
Und das Motorrad. So ein Arsch! Der muss mir noch die Freundin klauen! Echt, so ein Arsch!“
Der Regen kam jetzt richtig stark. Die Tropfen hämmerten gegen den See und klangen wie eine
Schallplatte, die zu Ende ist, oder ein Radiosender, den es nicht gibt.
„Vorgestern, am Abend. Weißt du noch?“ Sid begann. „Da waren wir alle beim Löwen was trinken
und danach bin ich mit dem Tom nach Hause gegangen?“
„Ja.“
„Er war ganz nett, oder? Und du auch! Shit!“ Er schaute die Pistole an. „Wir sind aber nicht gleich
heimgegangen, der Tom und ich. Wir sind hierher. Zum See.“
Ich schaute hinauf zu ihm.
„Es war meine Idee. Wir sind vorher in die Firma, wegen dem Moped, weißt du? Und dann sind wir
über die Feldwege zum See. Es war verrückt! Zwei Uhr Früh!“ Er streckte den Arm und die Pistole
nach oben.
„Echt?“, war alles, was ich dazu sagen konnte.
„Ja, dann sind wir über den Zaun und er wollte ins Wasser, du weißt schon, der Triathlet. Dann ist
er in der Unterhose rein.“ Er drehte sich zurück zum See und zum Ende des Stegs. „Da ist er hinein
gesprungen.“
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„Ja, und dann wollte er wieder raus. Und dann habe ich ihn erschossen.“
Er stand wieder mitten am Steg. Er sah völlig irre aus, wie er mich ansah und mit der Pistole in der
Hand. Dann kam er wieder zu mir rüber.
„Ich habe seinen Rucksack genommen und ihn mit den großen Steinen dort vollgefüllt.“ Er deutete
auf den Weg, der um den See führte. „Ich habe mindestens zehn oder zwölf von den Dingern hinein
gegeben. Ich weiß es nicht genau. Aber das waren vielleicht zwanzig Kilo, alles zusammen. Ja, dann
habe ich ihm den Rucksack wieder angezogen und ihn dann ins Wasser geworfen. Also, eigentlich
nicht so richtig geworfen. Er ist halt da unten.“ Er zeigte auf den Steg, auf das Holz unter seinen
Füßen. „Also, sein Kopf ist an dem Ende. Neben dem Bier.“ Und dabei musste er ein bisschen
lachen. Danach war er ruhig.
„Sid. Der Tom ist doch in Griechenland. Das weißt du.“ Ich sprach ganz langsam.
„Nein, ist er nicht. Leider.“
„He, Sid. Man, komm schon, sag so was nicht.“ Ich zitterte. „Du hast ein Bier zu viel erwischt. Ich
auch.“
„Sag was nicht? Was ist los mit dir? Bist du jetzt auch ein Arsch, oder was?“
„Wenn das stimmt, was du gesagt hast, dann hätten wir heute irgendwas gehört. Du weißt schon. Es
hätte jemand angerufen. Ich meine, er hätte den Flug verpasst, oder?“
„Wer soll denn anrufen? Wem soll der Tom denn abgehen? Der wohnt doch alleine und seine Eltern
sind in Wien, oder? Glaubst du, dass der Pilot Toms Eltern anruft, weil er ohne ihn nicht wegfliegen
darf? Der Tom ist gar nirgends hingeflogen! So schaut’s aus!“
Er richtete die Pistole wieder auf mich. Ich dachte kurz, wo hat er bloß das Ding her? Ich meine, ich
weiß, dass sein Bruder, der Max, ein Vollkoffer ist und eine Messersammlung hat, aber das da ist
eine echte Pistole. Scheiße! Das darf wohl nicht wahr sein!
„Bist du mein Freund, oder was ist? Oder willst du mich auch verarschen? Wie der Tom?“
Er richtete immer noch das Ding auf mich.
„Sid.“
„Ich rede mit dir! Wer ist dir wichtiger, er oder ich?“
„Hör zu, Sid. Scheiße! Das ist doch nicht wahr, oder? Das mit Tom? Oder?“
„Hast du die Frage nicht verstanden, oder was!“
„Warte! Scheiße!“
„He! Ich rede mit dir!“
„Warte, man!“
„Oder willst du jetzt auch was von meiner Freundin? Willst du sie auch ficken?“
„Sid!“
„Ich rede mit dir!“
„Sid!“
Dann drückte er ab. Der Wichser.
unter uns
Dann ging er ein paar Schritte Richtung Wasser.
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geboren 1978 in Wien. Dort wächst er mit fünf Geschwistern auf. Nach der Matura versucht er
sich in Schuhmacherlehre und Theologiestudium, die er beide wieder abbricht Auslandsdienst in
Bolivien. 1991 beginnt er Kulturtechnik zu studieren. Während des letzten Jahres Studienaufenthalt
in Warschau. Dort erste Schreibversuche. Bisher kreative Äußerungen eher in Malerei und Musik.
herr maté
Lukas Werner
Herr Maté
Es klopft.
Herr Maté dreht sich im Bett auf die andere Seite.
Er legt das Ohr ans Holz.
Wieder klopft es.
Herein, sagt Herr Maté, doch niemand kommt herein.
Er weiß es, im Lexikon nämlich, da hat er es nachgelesen.
Das Lexikon kann er von seinem Bett aus sehen. Vierzehn Bände hat es, vierzehn schwarze,
gescheite.
Natürlich kann er von seinem Bett aus nicht im Lexikon nachsehen. Überhaupt kann er im Lexikon
nicht mehr nachsehen. Dazu müsste er nämlich auf die Leiter steigen.
Herr Maté hat eine Leiter, aber hinaufsteigen, das kann er schon lange nicht mehr. Hinuntersteigen,
das ginge noch, denkt er, aber natürlich hat er es nicht ausprobiert.
Eine Leiter, auf der man hinuntersteigen kann, ohne hinaufzusteigen. Unsinn, denkt Herr Maté, eine
solche Leiter gibt es nicht.
Es ist auch nicht unbedingt notwendig, denkt er, denn er hat es bereits nachgelesen. Immerhin,
solch eine Leiter sollte man erfinden.
Es klopft.
Herr Maté ist es, der klopft. Mit den Knöcheln der Hand klopft er aufs Holz.
Er wartet. Mit dem Ohr am Brett wartet er.
Jetzt klopft es wieder, doch es ist nicht Herr Maté, der klopft.
Drinnen im Holz klopft es.
Herr Maté weiß Bescheid. In einem der schwarzen Bücher hat er es gefunden.
Ein Käfer, der im Holz wohnt solange er wie ein Wurm aussieht.
Vielleicht schämt er sich, weil er so aussieht, denkt Herr Maté.
Alle Würmer schämen sich, denkt er. Auch die Regenwürmer kommen erst aus der Erde, wenn sich
ihre Löcher mit Wasser füllen. Alle, die sich hässlich fühlen wohnen im Holz oder in der Erde.
Man kann es aber auch anders sehen. Bestimmt kann man es auch anders sehen, denkt er.
Schmetterlinge können nicht im Holz wohnen. In der Erde vielleicht. Jedenfalls nicht im Holz. Was
sollten sie dort mit ihren Flügeln anfangen. Fische auch nicht, auch in der Erde nicht. Immerhin
leichter in der Erde, denkt Herr Maté, leichter jedenfalls als Schmetterlinge. Aber im Holz
ausgeschlossen. Ausgeschlossen! denkt Herr Maté.
Das Brett ist die Welt des Wurmes, denkt er.
Bretter die die Welt bedeuten fällt ihm ein, und er lächelt.
In der Tiefsee, denkt er. Einige auch in der Tiefsee.
Es klopft.
Herr Maté klopft zurück.
Klopf auf Holz, denkt er, doch er weiß es nicht.
Totenuhr, denkt Herr Maté. Im Volksmund Totenuhr.
Herr Maté weiß Bescheid.
In einem der schwarzen Bücher hat er es gefunden. Wie der Käfer eigentlich heißt, das hat er
vergessen. Totenuhr jedenfalls im Volksmund. Totenuhr, aber nicht offiziell.
Holzbock, ist alles was ihm dazu einfällt.
Man sieht den Wörtern nicht ohne weiteres an, was sie bedeuten, denkt Herr Maté, vielleicht lebt der
Holzbock ja im Holz. Der Steinbock lebt aber auch nicht im Stein, fällt ihm ein.
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herr maté
Klopf auf Holz, das weiß er auch nicht, aber das hat er nicht vergessen. Noch nie hat er gewusst,
was das bedeutet.
Ein ganzes Leben fragt man sich, was das bedeutet, Klopf auf Holz. Immerhin, man könnte ja
irgendwo anrufen und fragen, denkt er.
Es klopft.
Herein, denkt Herr Maté. Doch er sagt es nicht.
Gescheiter wäre, Heraus, meint er. Immerhin wohnt die Totenuhr doch im Brett. Totenuhr, komischer
Name, denkt er.
Im Mittelalter haben die Leute viel Angst gehabt. Herr Maté hat keine Angst. Vor Uhren hat er
überhaupt keine Angst. Er hat auch eine Uhr.
Man könnte sie wieder mal aufziehen, denkt er.
Nicht vergessen: Kuckucksuhr aufziehen, Klopf auf Holz fragen!
Hoffentlich bekomme ich Besuch, denkt er.
Herr Maté hat einen Einfall: Wenn die Totenuhr in die Kuckucksuhr übersiedelt, kann sie vielleicht
zusammen mit dem Kuckuck die Stunden ansagen. Der Kuckuck ruft und der Wurm klopft. Das
wäre lustig. Jedenfalls, aus Holz ist sie, die Uhr. Auch der Kuckuck.
Grauslich wäre eine Wurmuhr. Statt des Kuckucks sieht jede Stunde ein Wurm aus der Uhr und
klopft.
Grauslich, denkt er. Lustig wäre es aber doch.
Es klopft.
Herr Maté dreht sich ein wenig im Bett. Zeit aufzustehen, denkt er.
Langsam richtet er sich auf und setzt sich auf die Kante. Von hier kann er sehen, dass es draußen
schon hell ist. Drüben beim Fenster steht der Sessel. Wenn er sich zuerst am Bett, dann am
Schreibtisch anhält, kann er bis zum Sessel gehen.
In der Früh wird das Frühstück gebracht. Im Styropor. Herr Maté mag das nicht. Er mag es nicht,
wenn er noch im Bett liegt, wenn ihm das Frühstück gebracht wird. Styropor mag er auch nicht.
Natürlich kann man das Essen nicht in einer Steinschale bringen, das leuchtet ihm ein. Aus
Holz vielleicht, zumindest im Mittelalter, damals vielleicht aus Holz, Steinschalen vielleicht in der
Steinzeit.
Das müsste man im Lexikon nachlesen, ob in der Steinzeit das Essen in Steinschalen gebracht
wurde, denkt Herr Maté.
Einem König vielleicht. Königen wurde das Essen vielleicht in Steinschalen gebracht.
Jetzt hat er den Sessel erreicht und setzt sich.
Am Morgen scheint die Sonne durchs Fenster.
Der Bügel der Straßenbahn zieht über das Fensterbrett.
Auf der Baustelle drüben wird gehämmert und gesägt.
Wenn die Straßenbahn um die Kurve quietscht kann er bis fünf zählen, dann zieht der Bügel über
das Fensterbrett.
Man könnte den Sessel auch näher ans Fenster rücken, denkt Herr Maté, um die Straßenbahn zu
sehen. Vielleicht hat der Bügel ja gar keine Straßenbahn. Unsinn, denkt Herr Maté, einen Bügel
ohne Straßenbahn gibt es nicht.
Außerdem sieht Herr Maté nicht mehr so gut. Jedenfalls hört er. Die Jungen sehen, denkt er, sehen
besser als sie hören. Es scheint ihm, dass er früher auch besser gesehen als gehört hat. Wenn man
alt ist, hört man besser als man sieht. Besser, denkt er, besser ist vielleicht nicht das richtige Wort.
Logisch, denkt er, die Geräusche kommen auch um die Ecke.
Die Straßenbahn quietscht. Herr Maté zählt bis fünf, dann zieht ihr Bügel über das Fensterbrett.
Es klopft.
Herein, sagt Herr Maté.
Jemand kommt herein mit der Zeitung und einer Styroporschachtel in der Hand.
Meistens Hühnerkeule, denkt er. Herr Maté öffnet die Schachtel. Dampf steigt aus dem Styropor
auf.
Und Gurkensalat, denkt Herr Maté, seltsam, Gurkensalat. Gurken kocht man nicht. Paprika,
Paradeiser, Kohl alles kocht man, denkt er. Erbsen, denkt er, Erbsen kocht man auch.
Vielleicht in der französischen Küche, denkt er, da kocht man ja auch Schnecken. Vielleicht kocht
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herr maté
man Gurken in Frankreich.
Radieschen, fällt ihm dann ein. Radieschen kocht man auch nicht. Gurken kann sein, aber
Radieschen kocht man wahrscheinlich nicht. Nicht einmal in Frankreich, denkt er. Man sollte es
immerhin ausprobieren.
Auch heute Hühnerkeule im Styropor. Herr Maté mag Hühnerkeule. Er erinnert sich: Kuckucksuhr,
Klopf auf Holz. Doch es scheint im plötzlich nicht mehr so wichtig.
Das Glas der Brille ist zerbrochen. Zum Lesen muss man den Kopf ein wenig schief halten. Dann
kann man lesen trotz des zerbrochenen Glases.
Nicht alles versteht man. Anderswo würde man noch weniger verstehen, denkt Herr Maté. Anderswo.
Nur einmal war Herr Maté anderswo.
In Polen war er. Herr Maté will nicht zurück nach Polen. Im Krieg war er dort.
Einmal Polen ist genug, denkt er. Es kam auch nicht drauf an, etwas zu verstehen, denkt er dann.
Mit dem Bleistift unterstreicht er die Worte. Worte fühlt man, oder man versteht sie nicht, denkt er,
nur wenn man sie fühlt, versteht man sie.
Er liest. Erklärungsversuche, Wechselkurs, liest er.
Er horcht. Er horcht in sich hinein.
Er fühlt, doch er fühlt es nicht. Diese Worte fühlt man nicht, denkt er. Erklärungsversuche nicht,
Wechselkurs auch nicht. Man denkt es, aber man fühlt es nicht.
Er unterstreicht sie. Mit dem Bleistift unterstreicht er sie. Manchmal braucht es seine Zeit, denkt er,
manchmal braucht das Gefühl eine Weile, dann meldet es sich. Dann muss man radieren.
Es quietscht.
Herr Maté zählt bis fünf, dann zieht der Bügel der Straßenbahn über das Fensterbrett.
Er hält den Radiergummi in der Hand. Möglich, denkt er, möglich, dass der Radiergummi vor dem
Bleistift erfunden wurde. Möglich aber unwahrscheinlich. Der Radiergummi macht nur Sinn wegen
des Bleistiftes.
Schlafen, Brett, essen, lieben, Haus, diese Worte unterstreicht Herr Maté nicht.
Warm scheint sie auf sein Gesicht.
Heute auch Königen, denkt Maté, heute wird sogar Königen das Essen im Styropor gebracht.
Er schließt die Augen.
Durchs Fenster scheint sie. Warm scheint sie durchs Fenster, die Sonne.
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geboren 1977 in Wien. Dort wächst sie als Kind tschechoslowakischer Flüchtlinge auf. 1992
besucht sie eine Handelsakademie. Ihr Klassenvorstand meint bereits nach wenigen Wochen, sie
sei im falschen Schultyp gelandet, was sie fünf Jahre lang auch zu spüren bekommt. 1997 beginnt
Yvonne Beák an der Universität Wien zu studieren. Nach einem kurzen Irrweg entscheidet sie sich
für Tschechisch und Germanistik sowie Deutsch als Fremdsprache. Im Sommer 2004 bringt sie ihr
Studium zu Ende. Sie absolviert mehrere Praktika und Studienaufenthalte in Tschechien, in Litauen
und Polen. Im Schuljahr 2004/05 ist sie Unterrichtspraktikantin in Retz (NÖ). Seit ihrem 18. Lebensjahr schreibt sie von Zeit zu Zeit.
Sabine Pawischitz
geboren 1979 in Eisenstadt. Sie wächst in einer burgenlandkroatischen Familie bilingual
auf, wobei sie sich erst nach der Matura für ihre Herkunft und zweite Muttersprache zu
interessieren beginnt. Sie studiert in Wien, Zagreb und Belgrad Slawistik (Serbokroatisch,
Russisch, Bulgarisch) und Deutsch als Fremdsprache, wodurch sie ihre Leidenschaft für den
Balkan entdeckt. Diese intensiviert sich durch mehrmonatige Praktika in Bosnien, Bulgarien
und Kroatien. 2004 arbeitet sie an zwei Gymnasien im Burgenland und unterrichtet Deutsch
als Fremdsprache in einem Integrationskurs. In ihrer Freizeit schreibt Sabine Pawischitz als freie
Mitarbeiterin für verschiedene burgenlandkroatische Minderheitenzeitschriften.
caje sukarije – Tanz, schönes Mädchen!
Yvonne Becák
Caje sukarije – Tanz, schönes Mädchen!
Over and over
It´s over all over
Over and over and over
Mark Brydon & Roisin Murphy
Eigentlich bedenklich, Moloko kennen Milas Situation nicht, wissen aber trotzdem, wie es um die Dinge
steht: It´s over all over – wie die herzblattsche Zusammenfassung von Susi, wie eine Therapiestunde
bei der Psycho, die keinen tatsächlichen Einblick hat, aber dadurch, dass sie eine Person in eine
bestimmte Schublade gesteckt hat, anscheinend doch weiß, wie es in ihrem Gegenüber zugeht,
wie Gefühlskriege ausgekämpft werden, wie der Mangel an Glückshormonen das menschliche
Innenleben zerfrisst und sich beim Erzählen von irgendwelchen zwischenmenschlichen Tiefschlägen
wahrscheinlich vorstellen kann, woran der Erfolg am Zwischenmenschlichen gescheitert ist. Und
dann folgt wieder eine Konklusion à la It´s over all over . Und dies nicht nur bezogen auf das Ende
einer Beziehung, sondern auch auf jenes der Therapiestunde, die Euro 85,- kostet und nicht einmal
60 Minuten dauert.
Mila sitzt über ihrem Couscousauflauf und weiß, dass aus dem ersehnten Kuss nichts mehr wird,
denn: It´s over all over. Eine Träne rinnt ihr über die Wange, die voller Pickel ist und aus der
Perspektive der Träne einer Buckelpiste gleichen muss, noch ein Tropfen aus dem Auge folgt und
auch die nächste schlüpft aus dem Tränensack. Nach und nach entsteht eine ganze Schigruppe.
Besser als eine vierte Gruppe, die noch dazu kopflos ist, sind sie keinesfalls – schließlich stürzen
sie sich die Wange im Schuss hinunter – von einem Parallelschwung scheinen sie überhaupt noch
nie etwas gehört zu haben – und versickern entweder im Mund, in dem sie den Geschmack einer
versalzenen Suppe hinterlassen oder sie begeben sich auf eine weitere Reise über das Kinn zum
Hals, in den V-Ausschnitt, wie es im sommerlichen Abendgewitter oft ist, wenn man den Kopf
nach hinten neigt, um ein paar Regentropfen zu kosten und diese weniger in den Mund als in den
Ausschnitt tropfen, wo sie eigentlich nichts zu suchen haben, aber bei ihrem angenehmen kitzeln
doch nichts anderes als ein Lächeln über die zuerst noch geöffneten Lippen gleiten lassen, welches
Männer, wenn sie in diesem Moment gerade an einer vorbeigehen, als durch sie hervorgerufen
verstehen wollen, so wie sie oft gerne Lob einhamstern, das ihnen eigentlich nicht zusteht.
Auch Mila ist kurzfristig zum Lächeln zumute, die Tränen treten nun eine kleine Hügeltour an,
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caje sukarije – Tanz, schönes Mädchen!
die über Milas Hautfalten im Bauchbereich führen bis sie im Nabel versickern, wodurch sich das
Lächeln in einen abrupten Lacher verwandelt. Sie nimmt die Serviette von ihrem Schoß, schmeißt sie
auf den Tisch, steht auf und nimmt den Kaffee, den sie sich gerade gemacht hat mit ins Bad, wo die
Badewanne gerade eingelassen wird, der Schaum schon längst über den Badewannenrand quillt
und Mila nicht erkennen lässt, wie hoch das Wasser schon steht. Doch sie denkt sich: „Du stehst
mir schon bis hierher“, und deutet mit ihrer Hand eine waagrechte Handbewegung in Halshöhe
an. Sie entledigt sich ihrer Unterhose und des T-shirts und steigt vorsichtig, prüfend ins Wasser
– Gott sei Dank die richtige Temperatur. Ja, It´s over all over , aber deshalb ist das Leben auch kein
schlechteres, wer weiß, vielleicht sogar ein besseres. „Schließlich ist es besser sich mehr Zeit für
sich zu nehmen, als für jemanden, der sie sich kaum noch Zeit für mich nimmt“, murmelt sie vor
sich hin und taucht unter die Haube aus Schaum, wobei sie sich vorstellt, es wäre Milchschaum
und das so intensiv, dass sie die Zunge ausstreckt, um ihn zu kosten – erschrocken fährt sie hoch,
grinst über ihr allzu ausgeprägtes Vorstellungsvermögen und spült sich mit verzerrtem Gesicht den
Mund aus, dies tut sie so gründlich, dass das Wasser bereits über den Badewannenrand schwappt.
„Wenn´s eh schon drüberrinnt, dann ist´s eh schon egal“, rechtfertigt Mila ihren nächsten Gedanken,
setzt sich an jenen oberen Badewannenrand, wo sie für gewöhnlich ihren Kopf anlehnt und rutscht
in die Wanne. Über das Kind in sich überrascht, kommt ein nochmaliges Lachen auf und damit
das Aufwischen nachher auch Sinn hat, wiederholt sie das Rutschen noch einige Male. – „So, das
hätten wir“, sagt sie sich, als sie feststellt, dass sie nur noch in zwei Dritteln der ursprünglichen
Wassermenge sitzt.
Das Mobiltelefon läutet – soll sie hingehen? Sie winkt ab und denkt sich: „Dann müsste ich den
Rest der Wohnung auch noch aufwischen. Eh nur jemand, der gerade erfahren hat, dass es mit Fili
vorbei ist – das spar ich mir. Besser ich lass das Mobiltelefon in nächster Zeit unmobil.“ Schließlich
will sie in der Straßenbahn nicht daran erinnert werden, dass Filli ein Sack ist, der seinen Inhalt im
A- oder B-Loch ihrer mutmaßlich besten Freundinnen entleert hat. Von den Lochbesitzerinnen ganz
zu schweigen.
Sie fasst den Entschluss: „Ich muss mein Umfeld wechseln – ich muss flüchten – ich muss mich
in etwas flüchten.“ Am besten wäre da eine Arbeit, die ihr keine Zeit für Freizeit gibt, noch besser
wäre eine, die Arbeits- und Freizeit verbindet. Dieses blöde Herumstudieren macht ihr ohnehin
nicht so viel Freude, wieviel notwendig wäre, um es jemals zu beenden. Kaum geht es um
mittelhochdeutsche Grammatik, wird ihr schlecht, kaum denkt sie an das Nibelungenlied, kommt
ihr das Kotzen und dann diese Männerdominanz im Kanon ... – also was soll´s? Raus aus der
Uni, rein ins Berufsleben, alle Wege stehen ihr frei, die Türen werden jedoch geschlossen bleiben,
denn mit einer Gymnasialmatura, noch dazu mit einer, die ein Jahr später abgelegt worden ist, als
vorgesehen und einem abgebrochenen Germanistikstudium werden sich die Arbeitgeberinnen und
-geber nicht gerade um sie reißen. Wenn sie nach ihren Qualitäten gefragt würde, wäre es wohl
nicht das Taktvollste, wenn sie erwähnte, dass sie alle Exfreunde dafür lobten, dass die küsst, als
würde sie ihnen einen blasen. Naja, taktvoll wäre es wohl nicht, da mögen Milas Gedanken schon
korrekt sein, aber sinnvoll, sinnvoll, wenn es sich um einen Arbeitgeber handelt, vermutlich schon.
Sie sieht auch schon den Film vor sich: Hemd, Krawatte, Sakko und Schnürlsamthose – und zwar
eine, dessen Zipp nicht zu ist, eine, die milchige Flecken um ihn herum aufweist und mit dem
nicht genug: um den Reißverschluss glitzert auch noch der perlmuttfarbene Lippenstift, den ihr ihre
Mutter immer vom Warschauer Flughafen mitnimmt.
Es klingelt an der Wohnungstür, zuerst erschrickt Mila, überlegt, ob sie auf jemandes Besuch
vergessen hat, doch nein, sie versucht ja gerade alle zu vergessen. Sie taucht unter und hofft, dass
nicht mehr geklingelt wird, wenn sie wieder auftaucht, doch es ist zu hören, wenn auch dumpfer,
da ihre Ohren voller Wasser sind.
Jemand schlägt mit der ganzen Faust rhythmisch gegen Milas Eingangstür, diese Buschtrommeln
kündigen definitiv Besuch an. Mila fischt sich aus dem einschläfernden duftenden Wasser und
schleppt sich zur Tür. Durch den Spion erkennt sie nur ein Auge, dass sich von der anderen Seite
an die trennende Holztür presst. „Mila, ich bin´s! Mach auf!“ Es trommelt weiter. Besuch – bewirten,
eine Fülle von Fragen beantworten, freundlich lächeln, na das hat ihr noch gefehlt. Mila macht auf.
Ein schlumpfiges Kichern springt ihr entgegen, lachende Augen fokussieren sie und dunkles dickes
Haar schlägt gegen ihre Wangen. Eine würgegriffähnliche Umarmung folgt. Mila atmet tief ein, ein
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caje sukarije – Tanz, schönes Mädchen!
Duft von Rosen, Wiese und Backstube drängt sich auf – das kann nur Tante Nevena sein. Zwei
Hände schlagen gegen Milas Wangen, Lippen drücken sich auf Milas Lippen. Mit fremden Fingern
werden die Spuren des klebrigen Lippenstiftes von Milas Gesicht gerubbelt. Sie bekommt keine Luft,
schweigt, ist traurig und überfordert. Wie bei einer zerkratzten Schallplatte bekommt Mila nur die
Hälfte des Gesagten mit. Während sie versucht zu sich zu kommen, kocht die Tante schon Kaffee und
im Radio läuft „Freies Europa“. „Dünn bist du geworden mein Kind!“ Kopfschütteln folgt. „Ach, mein
Kindchen. Mit Zucker? Ich liebe süßen Kaffee, wie alle Bulgaren.“ „Ja, mit Zucker!“, sagt Mila. „Ach,
was ich schon wieder alles erlebt habe. Dieser furchtbare Bus, eine einzige Schikane, dabei sind wir
ja schon fast bei der EU! Sofia ist gar nicht so weit von Wien, dieser Bus macht eine Europareise bis
er hier angelangt ist!“ Mila hört weg, sie muss sich konzentrieren um nicht zu weinen. Der Kaffee tut
gut, wärmt den gereizten Magen. „Lass ´mal sehen, meine Sonne, was dir dieses Tässchen bringen
wird!“ Tante Nevena liest Mila aus dem Kaffeesud. Sie kann das laut Gerüchten. Mila glaubt nicht
daran, die Tante hat einfach nur zu viel Fantasie. „Hihihi, mein Kind, in einen Zigeuner wirst du
dich verlieben und ein Kind wirst du von ihm bekommen!“ Nevena hält sich den Bauch vor Lachen,
sie brüllt so richtig los, deutet an, drei Mal auf den Boden zu spucken, um alle bösen Geister zu
vertreiben und schreit und windet sich. Sie zündet sich eine Zigarette an und beruhigt sich schön
langsam. „Uf, ich habe schon geglaubt, ich müsste sterben. Mila und ihr Zigeuner-Gigolo. Hast wohl
keinen Sex, oder? – dass du schon mit so einem ins Bett steigst! Kindchen, Kindchen, schwarze
Augen rauben dir den Verstand, ich fasse es nicht.“ Tief saugt Nevena den Zigarettenrauch ein,
schließt für einen Moment ihre Augen und bläst den nebeligen Dunst genüsslich durch ihre Nase
ins Zimmer. Mila ist genervt. Die laute Tante mit ihrem Tschikstummel zwischen den pinkfarbenen
Lippen, die sie noch dazu auslacht und ohne Ende wirres Zeug redet – genau das hat ihr noch
gefehlt. „Ich mag es nicht, wenn man in meiner Wohnung raucht, Nevena.“ „Magst du auch eine?
Ich rauche nicht, ich genieße und lebe! Schau mich an, ich bin frisch wie eine Rosenblüte, glatt
wie ein Smaragd aus den Rhodopen!“ und stolz poliert Nevena ihre Goldzähne mit einer alten
Papierserviette. Ein zischelndes Geräusch, und schon glimmt die nächste „Victory“ zwischen den
bulgarischen Lippen, aus denen ein Wasserfall aus Gelächter und Worten sprudelt. Nevena erzählt,
dass sie als Schneiderin bei einem Zirkus in Ruse arbeitet. Ihr Freund ist Matrose und gerade
auf hoher See. „Er hat einen Bart wie Zar Boris. Ein schöner Mann. Sexy. Wenn er mich auf den
Bauch küsst, kitzelt das so sehr, dass ich immer lachen muss. Ich bekomme Gänsehaut, wenn er
mich ansieht. Darum liebe ich ihn.“ Nevena hat einen Augenaufschlag wie Marilyn Monroe, sie
verdreht ihre Augen und schnauft, während sie sich erneut eine Zigarette anzündet. „Ich vermisse
ihn.“ Nevena will in Wien noch vor dem Sommer Stoff für neue Kostüme kaufen. Mila ist todmüde,
gefühllos und ausgelaugt. Sie bemüht sich ein letztes Mal ihre Mundwinkel in Richtung Ohren zu
ziehen und wirft sich verwirrt ins Bett. Nevena bleibt noch lange wach, sieht fern, schreibt ein paar
sms nach Bulgarien und trinkt Mastika vor dem Einschlafen.
Der Duft von frischem Kaffee weckt Mila auf. Nevena will wieder nach Ruse. Sie ist traurig in Wien.
„Komm doch mit, mein Täubchen! Da, trink einen Mastika und such dir einen Mann, der dich auf
Händen trägt! Was willst du denn von so einer Mimose wie Florian? Oder wie heißt er schnell? Na, geh
bitte! Keine Eier hat der Typ! Warmduscher! Schimpf ein bissl! Wo ist bloß dein ganzes Temperament
geblieben? Nix hast du von deiner Familie. Kalt bist du, wie Eis! Da, trink einen Mastika und rauch
eine, das tut gut! Glaub mir! Vielleicht bin ich dumm, aber wie man richtig lebt, das weiß ich!“ Es
hallt, lacht und qualmt innerhalb von Milas Wänden, duftet nach Kaffee und Rosen, Musik aus allen
Zimmern, Nevena hat die Stille vertrieben.
Mila begleitet die Tante zum Südbahnhof. Nevena hat unzählige karierte Plastiktaschen zum Bersten
gefüllt mit leuchtenden Stoffen. Mit dem Busfahrer wird verhandelt. Kopfschütteln. Euros wechseln
den Besitzer. Der Mastika wird ausgepackt und anschließend raucht man zufrieden eine gemeinsame Friedenszigarette. „Shte se vidim, milichka, v Balgaria!“, ja, ja man wird sich sehen.
Mila fühlt sich noch einsamer als zuvor. Ihre Mutter fliegt als Stewardess quer durch Europa, die
eine Hälfte der Familie sitzt in Bulgarien, die andere Hälfte ist im Mostviertel. Alles Spießer. Uni
ist Scheiße, Job suchen frustrierend, ihr Freundeskreis ist in sich zusammengebrochen. Na toll,
Mila hat rosige Aussichten. Sie will weg, weg und die Bretter der Welt erobern. So wie Nevena, mit
einem Zirkus um die Welt reisen, von Marokko bis Usbekistan, lieben und geliebt werden und jeden
Tag mit einem Lächeln im Gesicht einschlafen. Ist doch nicht zu viel verlangt, so halt wie in jedem Kinderfilm – am Ende gibt es immer ein Happy End.
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Mila fühlt sich gelangweilt und einsam, ohne Aufgabe und ohne Berechtigung zu leben. Keine Arbeit,
keine Freunde, keine Familie. Mila geht über den Naschmarkt. Ein paar Leute verkaufen alte Sachen,
nichts als Ramsch. Sie kauft sich ein Eis und beobachtet das Geschehen. Sie geht nach Hause, nimmt
alle DVDs, die der verlogene Idiot bei ihr gelassen hat und trägt sie auf den Markt. Vom Markt nimmt sie
70 Euro heim. Es ist Samstag und alle Geschäfte sind schon geschlossen. Mila hat kein Brot mehr, keine
Milch und keinen Kaffee. Sie fährt zum Südbahnhof und geht einkaufen. Eurolines – genau, das war
doch der Bus von Nevena. Am Schalter fragt sie, was eine Karte nach Sofia kostet. Ja, sie will eine. Ja, für
heute. Mila geht zum Busparkplatz und setzt sich mit ihrem Einkauf in den leeren Bus nach Sofia.
Der Busfahrer starrt sie an. „Bagazha?“ Nein, sie hat kein Gepäck. Nein, sie wohnt in Bulgarien und
war nur zu Besuch in Wien. Ja, so ist das. Kein Gepäck.
caje sukarije – Tanz, schönes Mädchen!
Over an over, bei Mila gibt es kein Happy End. Mila schaut sich ihre Finger an. Sie erinnert sich an
den Film „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“. Die Teenager im Film tätowieren sich Sterne mit Tinte unter
ihre Haut. Mila probiert es auch. Sie nimmt eine Nähnadel, tränkt einen Faden mit Tinte und beginnt
am Ringfinger mit dem ersten Einstich. Mila kippt einen Mastika runter, dreht die Musik lauter und
macht weiter. Die Tränen in ihren Augen verwandeln sich in ein Meer und wandern, plagen sich
über ihr Gesicht und ihren Hals in ihr Dekollete. Sie weiß nicht, was ihr mehr Schmerzen bereitet
– der blutende Finger oder ihr zerfleddertes Herz. Stolz betrachtet sie den verkrüppelten Stern, der
anstelle eines Freundschaftsringes ihre grobe Hand ziert. Mila schenkt einen Mastika nach und
zündet eine Zigarette an, die ihre Tante da gelassen hat. Sie schreibt ihr ein sms nach Bugarien.
Nevena antwortet nicht, wahrscheinlich hat sie kein Guthaben.
Mila fühlt sich gut in ihrer neu erfundenen Lebensgeschichte. Entspannt lehnt sie sich zurück und
wirft sich Brotkugerl in den Mund. Sie kontrolliert noch einmal, ob sie ihren Pass dabei hat. Perfekt.
Seit sie mit den Fluchtgedanken spielt, trägt sie ihr rotes Reisedokument stets bei sich. In Ungarn
kauft sie sich an der Grenze Zigaretten. In Serbien trinkt sie in einem Restaurant an der Straße einen
starken türkischen Kaffee mit viel Zucker und in Sofia übergibt sie sich am Busbahnhof. Mila bricht
in Panik aus. Sie ist allein. Alles um sie ist fremd. Sie versteht fast nichts und kann nichts lesen. Die
Bretter der Welt in einem bulgarischen Zirkus – der Busbahnhof erinnert eher an ein Erdbeben, aber
nicht an eine Zauberwelt. Mila ist zu tiefst enttäuscht von sich selbst. Wieso hat sie das gemacht? So
absolut plan- und kopflos. Idiotin.
Ein Taxifahrer spricht sie an. Pfff, in dem Zustand soll sie auch noch das bisschen Bulgarisch in
ihrem Kopf zusammenkratzen?! „Nemski, deutsch or english!“ Er nickt, saugt an seiner Zigarette wie
Tante Nevena und trottet tief beeindruckt davon. Ein gelbes rostiges Taxi hält wenig später neben
Mila. Ein junger Bulgare kurbelt mit beiden Händen das Fenster auf der Beifahrerseite runter und
erklärt, dass er Plamen heißt und in Wien gelebt hat. Super, noch ein Warmduscher. Bitte keine
Anmachsprüche. Mila reibt sich die Augen, atmet tief durch und fragt nach einem Bus nach Ruse.
Plamen möchte ihr Taxi sein. 30 Euro. Sie möchte aber nicht, dass Plamen ihr Taxi ist. Sie hat kein
Geld und keine Kraft. Ihr ist übel, sie hat Durst und ist traurig. Plamen steigt aus und lädt Mila auf
einen Kaffee ein.
Plamen erzählt ihr von seinem illegalen Aufenthalt in der Glitzerwelt Westeuropas. Europa glitzert
nur aus der Ferne. Wenn man um die Erde fliegt, leuchtet es fast bis ins Unendliche, aber aus der
Nähe staubt und beißt es. Ja, Mila kennt dieses Gefühl, alles beißt sie momentan.
Drei Stunden später sitzt sie in Plamens Auto, das sie nach Ruse bringt. Mila ist müde und
verschwitzt. Plamen ist charmant und männlich. Er riecht gut. Zigaretten raucht er, als würde er mit
jedem Zug eine Geschichte weitererzählen, als sänge er ein Schlaflied. Aus seinem Mund sprudelt
ein perlmutfarbener Schleier, in den tausende von Erlebnissen eingewoben werden. Mila betrachtet
ihn von der Seite und genießt die Fahrt. Manchmal dreht sie ihren Kopf Richtung Fenster – Felder,
Berge, Schafhirten, Straßenhunde, Plattenbauten, Feigenbäume. Jede Sekunde beginnt eine neue
Geschichte. „Du lächelst“, sagt Plamen zufrieden und hält bei einem Gasthof. „Ich habe Hunger.“
Mila ist eingeladen worden – Rosenmarmelade, Palatschinken mit Feigen, seltsame Gewürze und
guter Wein. Plamen setzt sich auf einen Stein und wutzelt einen Joint zwischen seinen Fingern. „Wir
können in meinem Auto übernachten“, sagt er und zündet die „Nachspeise“ an. Mila macht das
Radio lauter und schaut ihm zu. „Kannst du singen?“, fragt sie ihn. Er will nicht. „Warum bist du so
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Irgendwann ist Mila doch eingeschlafen. Recht früh fährt ihr neuer bulgarischer Bekannter weiter.
Mila wacht auf, ihr ist kalt. Mit den Fingernägeln kratzt sie auf ihren Zähnen herum. Ihre Lippen sind
trocken und sie muss aufs Klo. „Wo sind wir?“ „In Schumen. Jetzt ist es nicht mehr weit.“ „Ich muss
aufs Klo.“ Sie halten an einer Tankstelle.
Ruse. Das kann sie lesen. Prostituierte prägen die Straßen der Peripherie. Es staubt, überall Hunde
und Müll. Mila wird wieder schlecht. Sie hat Angst. Plamen will ihr die Stadt zeigen. Er hat Zeit.
Mila ruft Nevena aus einer Telefonzelle an. Sie meldet sich nicht. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als
mit Plamen zu warten. Sie setzen sich in den Donaupark. „Darf ich deine Haare berühren“, fragt
er. „Du rauchst zu viel“, sagt sie. Plamen muss lachen und küsst Mila auf den Nacken. Er lehnt
sich zurück und beginnt zu singen. „Da drüben ist Rumänien“, lenkt er ab. „Da hinten wachsen
Kirschen“, kontert Mila. Plamen steckt Mila eine Zigarette in den Mund. „Was machst du hier?“ Mila
weiß es selbst nicht. „Ich lenke mich ab und suche das Leben.“ Er nickt als könnte er verstehen und
beginnt sie zu küssen. Zuerst auf den Mund, dann auf den Nacken. Er streichelt ihre Brüste, die mit
jeder Berührung wachsen, und lächelt sie dabei die ganze Zeit an. Er lässt sie nicht aus den Augen.
Plamen beobachtet sie – ihre Brüste, ihren Mund und ihre Augen. Mila ist verunsichert, aber sie will
mit ihm schlafen und führt seine Hand zwischen ihre Beine. Ihr ganzer Körper ist angespannt und
aufrecht, sie will Sex ohne Verpflichtungen. „Hast du ein Kondom?“ Er lacht und hört auf. „Du bist
wunderschön.“
caje sukarije – Tanz, schönes Mädchen!
nett zu mir? Gefalle ich dir? Wirst du mich in deinem Taxi vergewaltigen? Willst du mich ausrauben?
Warum machst du das für mich?“ Plamen lächelt sie an und bleibt stumm. Mila legt sich schlafen.
Sie macht zumindest die Augen zu, schlafen kann sie nicht.
Plamen bringt sie in seine Wohnung. „Ich dachte du bist aus Sofia?“ „Nein, ich arbeite nur in
Sofia. Meine Familie kommt aus Ruse. Ich möchte dich ausführen.“ Sie gehen in ein bulgarisches
Restaurant, tanzen und trinken viel zu viel. In der ganzen Stadt sind Mücken. Ruse summt, surrt
und sticht.
Mila hat gut geschlafen. Ruse gefällt ihr. Kleines Paris wird es von den Bulgaren genannt. Sie
mag die Donau und ihren neuen Freund. „Dein Nacken schmeckt nach Lebkuchen. Ich möchte
wissen, wie dein Bauchnabel schmeckt und wonach deine Brüste riechen“, sagt der schwarzäugige
Taxifahrer. Mila erhebt sich selbstbewusst vom Frühstückstisch, zündet sich eine Zigarette an, steckt
sie Plamen in den Mund und beginnt sich langsam auszuziehen. Sie weiß, dass sie ihm gefällt. Er
sieht ihr lange in die Augen, raucht zufrieden und genießt das Spiel am Morgen. Er macht das
Radio lauter und geht zu Mila. „Du bist ein Engel“, sagt er. „Darum hast du einen Stern auf deinem
Finger“, liefert er die Erklärung dazu. Mila weiß nicht, was sie darauf sagen soll. Deshalb beginnt sie
Plamen zu küssen. „Schlaf mit mir“, verlangt sie von ihm. Sie bleiben den ganzen Tag im Bett. Nur
die Mücken durchbrechen die Stille. Plamen lässt sie nicht los. Mila fühlt sich gut.
Plamen muss arbeiten und Mila beginnt ihre Tante zu suchen. Nevena ist in Varna, am Meer bei
ihrem Geliebten. „Kindchen, Kindchen, du hast ihn schon getroffen, den Zigeuner, gell! Oh nein!
Hihihihi! Hast dein Herz einem Bettler und Lügner geschenkt! Er ist verheiratet. Er liebt dich, aber
pass auf dich auf! Komm nach Varna!“ Mila hat kein Geld. In Wien steht die Wohnung leer. Sie wird
versuchen sie zu vermieten.
Plamen soll verheiratet sein und ein Zigeuner? Aber Zigeuner leben doch in Wohnwagen, reisen
umher und werden politisch korrekt Roma und Sinti genannt. Mila will es von Plamen selbst hören.
„Bist du ein Zigeuner?“, fragt sie ihn. Er ist betrunken, lächelt sie an und zieht sie aus. „Wen
interessiert das? Ich liebe dich, Mila.“ „Ich fahre morgen nach Wien. Kommst du mit?“ Plamen singt
und singt und zieht sich auch aus. Er trägt Mila ins Schlafzimmer. Sie ist traurig, weil Plamen ihre
Fragen nicht beantwortet und reist am nächsten Morgen ab.
Im Bus nach Wien wird ihr speiübel. Wien zerfrisst sie. Die Einsamkeit macht sie roh und faltig. In
Milas Unterleib sprießt ein Samen, doch davon weiß sie noch nichts und wessen er ist, schon gar
nicht.
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geboren 1979 in Wien. Wächst mit zwei älteren Brüdern in einer Kleinstadt in der niederösterreichischen Steppe auf, schon früh zieht es ihn nach Wien. Aufenthalte in den USA und Finnland
folgen, begleitet von einer wachsenden Liebe zur Literatur und Musik, die keinen Zenit erreichen
wird. Er absolviert ein Studium an der pädagogischen Akademie, verwirft die damit verbundenen
Zukunftspläne jedoch sogleich und ist mittlerweile dabei, sich mit dem Studium der Germanistik in
Wien selbst den größten Gefallen zu tun. Nebenbei arbeitet er als Übersetzer und Assistent einer
Ideenschmiede.
vernagelung
Constantin Göttfert
Vernagelung
Ich war Stunden in der Werkstatt gestanden und hatte Nägel in Bretter geschlagen. Mein Arm
schmerzte. Alle, jeden einzelnen, hatte ich wieder herausgezogen und befühlte nun die rostigen
Eisenteile zwischen Daumen und Zeigefinger, zählte sie ab ohne hinzusehen. Erst als ich sicher
war, keinen vergessen zu haben, steckte ich den Hammer durch die Schlaufe meiner Hose und die
Nägel in die Hosentasche. Dann öffnete ich die Haustür, drückte schwach wie ein Kranker die Klinke
herunter und sah Klara über das Kind gebeugt. Bei jedem Schritt schlugen die Spitzen der Nägel
gegen meine Oberschenkel.
Ich müsse essen, sagte sie ohne aufzusehen. Wer arbeite, müsse auch essen. Ihre Hand am Kopf
des Kindes wie um es zu verdecken. Am Tisch stand ein Topf Suppe. Ich tauchte die Kelle ein und
aß.
Ein Meter zwanzig Länge, sagte sie. Das müsse sich ausgehen. Meine Haut war mit einer feinen
Schicht Holzstaub überzogen. Die Hände wie Teile einer Maschine, deren Funktionieren ich bis vor
kurzem nicht in Frage gestellt hatte. Ich sah, wie sich der feine Staub, der mir überall vom Körper
fiel, mit der Suppe vermengte, rührte, bis nichts mehr davon zu sehen war und führte langsam den
Löffel zum Mund. Das Gemüse war so weich, dass ich es mit der Zunge am Gaumen zerdrückte.
Klara stand auf und ich sah das Kind, das sie die ganze Zeit über mit ihrem Körper verdeckt hatte, in
der Wiege liegen. Dann ging mein Blick weiter, verfolgte die Schnur an der Wiege bis zu Klaras Hand,
die sie hielt, als sie sich zu mir an den Tisch setzte. Ihre Handbewegung erfolgte im immer gleichen
Rhythmus, als würde sie eine ständig wieder kehrende Fliege von ihrer Haut verscheuchen.
Du warst fleißig, sagte Klara. Ich nickte und log. Die Nägel, die ich beständig und gewissenlos
Stunde für Stunde um ihre Bestimmung gebracht hatte, rieben an meine Oberschenkel. Davon,
dass sie Bretter miteinander verbinden sollten, wollte ich nichts wissen.
Den ganzen Tag über das Schlagen deines Hammers, sagte sie. Wie das Ticken einer Uhr. Ich sah,
wie der Zeigefinger aus ihrer Faust schoss wie ein Pfeil, dessen Bestimmung es war, den Hammer
zu treffen, den ich immer bei mir trug und den sie nie erreichen durfte. Wo ihr Finger endete,
verlängerte sie ihn in Gedanken. Unsere Augen trafen einander zum ersten Mal, seit ich die Stube
betreten hatte, und sofort verriet sie sich, wie sie sich immer verraten würde. Ich steckte meine
Hand in die Hosentasche und zählte die Nägel.
Unser Kind hatte nie gesprochen. Ich hätte es in den Arm nehmen können wie Väter es taten, aber
der Gedanke war mir unerträglich, geradezu blasphemisch. Unvorstellbar, dass es ein Mensch war,
dachte ich, als mein Blick das Gesicht in der Wiege streifte. Die Augen wie mit Harz verklebt, der
blanke riesige Schädel mit einer hauchdünnen Hautschicht überspannt. Als Klara aufhörte, die
Wiege mit der Schnur zu bewegen, lag unser Kind bewegungslos in den Decken und ich hatte
plötzlich den Griff meines Hammers in der Hand. Etwas riet mir, ihn weit von mir zu werfen. Das
Wort Unglück stand im Raum. Aber stattdessen packte ich ihn immer fester, bis ich das Blut in der
Faust pochen spürte. Ich wusste, dass Klara zusah, dass ihre Augen diesen Hammer fixierten, mehr
noch als ihr Kind, mehr noch als mich. Ich konnte ihr Begehren fühlen, meine Hand mit ihrer zu
tauschen, nur für eine Sekunde den Griff zu halten. Gedanken, dass sie mich längst verlassen hätte,
hielte ich nicht den Hammer in meiner Hand, mehr noch: Ich wäre ihr nutzlos wie ein zerbrochener
Teller.
Ich sah zurück in Klaras Augen. Mir war nicht aufgefallen, wie traurig sie war. Mir war nicht aufgefallen,
wie traurig sie war, weil mir nicht aufgefallen war, wie traurig ich war. Ihre Hand zog wieder an der
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vernagelung
Schnur und bewegte die Wiege. Darin lag unser Kind. Darin lag der haarlose Riesenkopf mit den
verklebten Augen, als wäre er vom Rest des Körpers abgetrennt. Als wäre nichts anderes mehr unter
den vielen heißen Decken, als gäben die Decken nach, wie Decken es tun, wenn man die Hand
darauf legt. Klara und ich hatten einen Kopf in die Wiege gelegt, mehr noch: Ich hatte die Wiege um
den Kopf des Kindes herum gebaut.
Lust, etwas zu spalten. Noch immer der Hammer in meiner Hand. Klara zog die Schnur und bewegte
die Wiege, bewegte das Kind. Endlich ließ ich den Hammer los. Sofort mein Griff in die Tasche zu
den Nägeln.
Minuten später trieb ich sie ins Holz. Ich war es gewohnt, zu treffen. Oft genug hatte ich auf meinen
Daumen gezielt und verfehlt. Ich war wie der Messerwerfer im Zirkus, der das Fleisch verfehlen
musste, weil er es nie anders gelernt hatte. Auf meiner Haut klebte der Holzstaub, bedeckte mich,
überwucherte mich.
Ich dachte daran, die Schnur an der Wiege zu durchschneiden und die Decken, in die unser Kind
gewickelt war, zu durchwühlen. Ich hörte das Knacken von Holz, in das scharfes Eisen fährt. Der
Gedanke gewann Überhand. Er stieß auf keinen Widerstand. Er erschien mir angemessen.
Abends die Betrügende am Tisch mit der Schnur in der Hand. Geräusch einer schneidenden Schere.
Die Nägel in der Tasche ritzten meinen Oberschenkel und Klara begann zu schreien. Sie sehe es
genau, sagte sie. Ihr Gesicht erinnerte mich an trockene, aufgebrochene Erde. Ich dachte an einen
Pflug. Es kam so schnell, dass ich nicht reagieren konnte. Ihre Klauen gruben sich in meinen
Unterarm, entwurzelten ihn und mit ihm das, was ich in Händen hielt: die Nägel. Sie fielen zu
Boden. Sekunden später hörte ich noch das Klirren. Es war mir nicht möglich, die Gesetzmäßigkeit
ihrer Tat nachzuvollziehen. Klaras Finger verlängerte sich. Er entwuchs ihrer Faust, bis er die Nägel
am Boden berühren konnte.
Ein Betrüger sei ich. Ihr Gesicht berichtete von Wahrheit. Ich kniete nieder, hob die Nägel auf. Gegen
die Zweisamkeit, die sie mir bot, verwehrte ich mich und doch war sie meine Begleiterin auf dem
Weg nach draußen. Hinter mir ihre Schritte, meine Hand fest am Schaft des Hammers. Ob ich es
denn nun endlich machen würde, rief sie. Sie wolle und würde nun nicht mehr von mir weichen. Als
wir die Werkstatt erreichten, starb ihre Vorstellung von dem, was ich geleistet hatte, einen schnellen,
aber erwarteten Tod. Innerhalb von Sekunden überdeckte der Holzstaub auch ihr Gesicht wie eine
Maske und ich erschrak bei dem Gedanken daran, dass es bei mir ähnlich sein müsse.
Ich würde ihn nicht hergeben, sagte ich und spürte das Blut in der Hand pochen. Drang, den Hammer zu
missbrauchen, seiner Funktion zu berauben. Klara nun am Boden sitzend. Ihr Kopf starr, wie geschnitzt,
ihr Mund nach unten geklappt, Worte ausstoßend, die im Holzstaub rasch ihre Reinheit aufgeben
mussten, noch bevor sie mein Ohr erreichten. Sie streckte die Hand aus, ihr Finger deutete auf die
Holzplatte, die am Arbeitstisch auflag, entwuchs mit rasanter Geschwindigkeit ihrer Hand und berührte
schließlich die glatte Fläche. Ich müsse nun, sagte sie, woraufhin ich die Nägel aus der Tasche nahm
und die Bretter an die Platte nagelte. Klara kurz vor der Ekstase, Gesicht vor Schmerz und Lust verzogen.
Leises Stöhnen, als ich die Seitenflächen anbrachte.
Kurz danach die Holzkiste in meinen Händen, Klara wie tierisch darauf stürzend. Den Deckel solle
ich nehmen, meinte sie. Worte wie „endlich“ fielen. Aber ich wusste, dass noch nicht alles vorbei
sein konnte. Ihr Fehler lag darin, mein Gesicht unter dem Holzstaub, der es die ganze Zeit über
begraben hatte, vergessen zu haben. Sie hatte berechnet, aber in ihre Rechnung hatte sich ein
Fehler eingeschlichen, mehr noch: sie hatte einen Teil vergessen, einen Faktor, der ihre Rechnung
noch in die Irre treiben würde, der horrende Kosten entblößen würde. Ich spuckte in meine Hände
und begann, den Holzstaub aus meinem Gesicht zu wischen und sah, wie sie mit Schrecken ihren
Fehler erkannte, der nun durch nichts wieder gut zu machen sein würde. Womit sie nicht gerechnet
hatte, war mein plötzlicher Drang nach Entdeckung. Das Entkleiden schien für mich nun mit der
größten Lust verbunden zu sein.
Ihre Augen starrten mir ins Gesicht, dann auf den Hammer, den ich vor mir her trug wie eine Fackel,
der ich folgen musste. Verließ die Werkstatt, öffnete die Tür in die Stube, nur hinein und die Augen
auf die Wiege geheftet. Nun Wahrheit, dachte ich, die Lust der Nacktheit.
Riss die Schnur heraus aus der Verankerung, den Hammer gehoben, nur drauf, nur drauf. Holz,
ich kenne dich, Kind, ich kenne dich, all das ist mein. Ich zerhieb die Bretter, riss die Decken
vom Kindeskörper. Hinter mir Klara mit der Kiste wie das, was längst zurück lag. Schon die Späne
auf dem Riesenschädel dieses entsetzlichen Körpers, schon Splitter im geschlossenen Auge und
endlich die Stützen der Wiege durch, dass sie zerbrachen und das Kind mit dem Gesicht voran
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vernagelung
auf den Fußboden klatschen ließen. Wie hölzern klapperten doch die Beine auf den Fliesen, wie
knöchern dröhnte der Schädel im Raum!
Und endlich Ruhe. Klara mit der Kiste hinter mir, ich durch die erleistete Arbeit des Zerschlagens
wie selbst zerschlagen. Ihre Hände lasen das unsprechende Unaussprechliche auf und legten es
in sein neues Bett aus Holz. Dann den Deckel darauf und mit zittrigen Fingern den ersten Nagel
angesetzt. Nun die Zukunft, dachte ich, als ich das erste Eisen ins Holz trieb.
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geboren 1977 in Vorau. Nach Abschluss eines neusprachlichen Gymnasiums in der Steiermark
verschlägt es sie durch eine Tourismusausbildung in die Schweiz und nach Frankreich. Letztendlich
beginnt sie mit 21 doch noch zu studieren, um etwas „Gescheites“ zu machen. Neben zahlreichen
Jobs im Personalmanagement findet sie immer Zeit zu reisen (Norden Europas, Alaska & Kanada,
Südamerika). 2002 verbringt sie ein Auslandssemester in Santiago de Chile. Obwohl das Schreiben
von Kurzgeschichten Marita bereits während der Schulzeit immer begleitet hat, behielt sie ihre
Geschichten in den letzten zehn Jahren für sich. Bei einer Schreibwerkstatt im Mai 2005 wird
der Wunsch zu schreiben wieder neu entfacht. Marita schreibt über die alltäglichen Situationen
des Lebens, über Menschen und deren Beziehungen zueinander. Derzeit arbeitet Marita an der
Universität Wien und schreibt an ihrer Dissertation der Wirtschaftswissenschaften.
bretter
Marita Gruber
Bretter
Unser Nachbar ist seit etwa drei Jahren in Pension. „Was heißt Pension?“ fragt meine Tochter Lisa.
„Pension heißt, dass er nicht mehr arbeiten muss“, antworte ich. Meine Mutter sieht mich strafend
an. Arbeit ist Freude und soll daher nicht mit „müssen“ in Verbindung gebracht werden. „Weißt du,
er ist einfach ein Opa“, sagt sie daher. „Pension“ ist ihrer Meinung nach ein zu schwieriges Wort für
ein 5jähriges Mädchen. „Wieso hab ich eigentlich keinen Opa?“ fragt Lisa. Daraufhin wendet sich
meine Mutter wieder dem Kartoffelschälen zu.
Herr Ranter, der Nachbar, hat früher für eine kleine Tischlerei im Ort gearbeitet.
Er hat nie viel geredet, aber wir haben ihn gemocht. Manchmal hat er uns kleine Holzstücke von
der Tischlerei mitgebracht, damit wir damit spielen konnten. Er hat uns gezeigt, wie man kleine
Puppenhäuser baut. Als wir älter wurden, zeigte er den Buben in der Siedlung, wie man Baumhäuser
baut. Wie man die Bretter so zusammensetzt, dass sie auch Wind und Regen standhalten. Und wie
man das richtige Holz dafür auswählt.
Heute sind die Buben Männer und schon lange lebt keiner von ihnen mehr in der Siedlung. Sie
kommen an den Muttertagen oder zu Weihnachten – Wiener Kennzeichen auf dem BMW oder Audi
und wunderbar duftende Ehefrauen auf dem Beifahrersitz. Nur wenige haben Kinder bekommen,
dafür haben fast alle viel Geld. An den Tagen, an denen ich ihre Autos in die Strasse zur Siedlung
einbiegen höre, gehe ich nicht aus dem Haus. „Wo ist denn deine Mama?“, fragen sie Lisa. „Die
ist sehr beschäftigt!“, sagt Lisa dann. Meine Mutter verdreht bei dem Satz die Augen. Mit Marianne
Ranter, der Schwiegertochter des Nachbarn unterhält sie sich oft darüber, dass die heutige Generation
nichts mehr aushält. Sich nicht konfrontiert, nicht protestiert, nicht kämpft, sofort aufgibt. Die Liga,
in der ich kämpfe, kennt meine Mutter nicht und die, in der sie kämpft, kenne ich nicht. Es sind
nicht unterschiedliche Klassen, sondern unterschiedliche Welten. Sie meint, ich hätte Lisa den Satz
eingetrichtert. Sie meint, ich würde ein Kind vorschieben, das an meiner Statt die Antworten gibt.
Darüber hinaus meint sie, beschäftigt zu sein, ist noch kein Grund, seine Manieren zu vergessen.
Schließlich wäre die Siedlung ohnehin nur zu allen heiligen Zeiten belebt.
Wenn sie kommen, steht Herr Ranter von seiner Bank vor dem Haus auf, winkt ihnen
kurz zu und geht hinein. Er tut so, als müsste er etwas Dringendes erledigen. Von meinem
Küchenfenster aus kann ich sehen, dass er in Wirklichkeit nur durch sein Haus hindurchspaziert
und durch den Hinterausgang auf das Feld geht. Dort bleibt er dann. Er wandert zu
den Muttertagen durch die Weizenfelder und zu Weihnachten entlang der beschneiten
Feldwege. Ganz langsam. Zwischendurch bückt er sich, um etwas aufzuheben oder etwas
anzusehen, immer so, als wäre es etwas Besonderes. Er schenkt seine Aufmerksamkeit einer
einzigen Kleinigkeit. Sonst macht er diese Feldspaziergänge nie, nur, wenn die Buben da sind.
Als ich noch ein Kind war, ist er oft erst spät abends nach Hause gekommen. Seine Frau hat dann
bereits am Fenster im ersten Stock gewartet. Sie wartete so lange, bis sie sehen konnte, dass er die
Straße entlang ging. Dann schloss sie das Fenster, um nicht von ihm gesehen zu werden. In der
Nachbarschaft hielt sich das hartnäckige Gerücht, dass Herr Ranter zu gerne ins Glaserl schaut und
dabei auf Frau und Kind vergisst. Aber das war nicht so. Herbert, einer von den Buben, mochte
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bretter
Herrn Ranter ganz besonders. Ich erinnere mich noch ein bisschen an den Tag, als Herbert mit
blutiger Nase die Siedlungsstrasse herauf gelaufen kam. Das Blut war nicht schlimm, viel schlimmer
war die Wut ihn ihm – er trat gegen jeden Laternenmasten und kickte die Kieselsteine, die vor ihm
lagen, von der Strasse. Er wollte nicht erzählen, was passiert war, aber dass etwas passiert war, war
nicht zu übersehen. Auch Herrn Ranter ist das nicht entgangen. Er ist gerade von der Tischlerei
nach Hause gekommen. Herbert hat noch einmal gegen den Laternenmasten der Siedlung getreten
und ausgespuckt. Wenige Zentimeter vor ihm ist Herr Ranter stehen geblieben und hat ihn lange
angesehen. Keiner von beiden hat etwas gesagt. Sicher eine Minute lang. Danach hat Herr Ranter
genickt und gesagt „Kommst morgen zu mir in die Werkstatt.“ – es war keine Frage und Herbert hat
auch nicht geantwortet. Es war einfach eine Feststellung. Niemand von uns weiß, was ihm der Herr
Ranter am nächsten Tag gesagt hat aber seit diesem Tag ist der Herbert nie mehr mit einer blutigen
Nase nach Hause gekommen. Und einmal in der Woche ist er in die Werkstatt vom Herrn Ranter
gegangen. Wenn wir ihn gefragt haben, was er dort macht, hat er gesagt „Bretter bearbeiten“. Wir
haben darüber nur gelacht, wenn der Herbert nicht dabei war.
„Mama, woran denkst du?“, fragt Lisa. Meine Mutter sieht mich kopfschüttelnd an. Ich gebe der Lisa
die Löffel in die Hand, damit sie den Tisch für uns drei decken kann. Manchmal wundere ich mich,
dass sie immer pünktlich zum Essen zu Hause ist und nicht gerufen werden muss – als ich noch
klein war, hat mich meine Mutter immer gerufen, wenn das Essen schon am Tisch gestanden ist und
selbst dann bin ich oft so spät gekommen, dass alles bereits kalt war. Das lag aber vielleicht auch an
dem Verhältnis zwischen meiner Mutter und mir.
Der Herbert ist einer von denen, die gar nicht mehr nach Hause kommen. Als ich so etwa 14 Jahre
alt war, hat er mir einmal gut gefallen. Einen ganzen Sommer lang bin ich überall dort hingegangen,
wo er auch hingegangen ist. Er hat mir gefallen, weil er im Gegensatz zu den anderen nicht viel
geredet hat. Für Mädchen hat er sich nie interessiert – weder damals noch später. Trotzdem habe ich
immer versucht, mit ihm zu reden. Im Schwimmbad bin ich immer dann aufs WC gegangen, wenn
er sich beim Kiosk ein Eis gekauft hat, nur damit ich ihn kurz anlächeln kann. Ich weiß nicht, ob er
es bemerkt hat und am Ende des Sommers hat mir dann auch eher der Robert gefallen, der damals
schon 16 war und ein Moped hatte. Aber einmal im August bin ich erst spät vom Schwimmbad nach
Hause gegangen. Ich bin eingeschlafen und alle aus der Siedlung haben es lustig gefunden, mich
alleine zurückzulassen. Erst als der Bademeister seine Abschlussrunde gemacht hat, hat er mich
entdeckt. Kopfschüttelnd hat er mich aufgeweckt und nach Hause geschickt. An dem Abend habe
ich mein violettes Haarband vergessen und später nie mehr gefunden. Auf dem Heimweg bin ich
im Dorf bei der Tischlerei vorbeigegangen – ein Fenster war geöffnet und man konnte hören, dass
jemand arbeitete. Ganz langsam bin ich zu diesem Fenster gegangen, um zu sehen, was drinnen
vor sich ging. Und da sah ich ihn – Herrn Ranter. Er war nach vorne gebeugt, und hobelte. Immer
wenn er sich zwischendurch aufrichtete, strich er mit der flachen Hand über das vor ihm liegende
Brett. Im Hintergrund spielte ein altes Radio Musik. Die Musik kannte ich nicht, aber die Melodie ist
mir auch später noch ab und zu eingefallen – vor allem deswegen, weil Herr Ranter begonnen hat,
mitzusummen. Die Musik war in seinem Kopf.
Ich hebe meinen Kopf und sehe Herrn Ranter durchs Fenster. Er sitzt auf der Gartenbank vor
seinem Haus. Wenn ich ihn jetzt hier vor mir sitzen sehe, weiß ich, dass die Musik in seinem Kopf
weg ist. Marianne Ranter hat meiner Mutter erzählt, dass er am Anfang seiner Pension jeden Tag
ins Dorf gegangen und vor der Tischlerei stehen geblieben ist. Die Tischlerei war etwa zwei Jahre vor
seiner Pension von Martin, dem Sohn des Tischlereigründers, übernommen wurden, da sich der alte
Herr Elbich zurückziehen wollte. An solchen Tagen sei Martin immer aus der Tischlerei gekommen,
um ein paar Worte mit Herrn Ranter zu reden. Hineingelassen hat er ihn nie mehr. Davon wusste
Marianne nur deswegen, weil Martin sie angerufen hatte – er hatte gefragt, ob sie nichts machen
könne, es bräche ihm das Herz, wenn der alte Mann immer zu ihm komme und während er mit ihm
sprach den Blick nicht von der Hobelbank ließ, die er durch die Türe sehen konnte.
Angeblich hat sich Marianne daraufhin ein Herz gefasst und zu ihrem Schwiegervater gesagt: „Jetzt
brauchst den jungen Herrn Elbich nicht mehr zu belästigen, Vater. Du bist immer ein guter Tischler
gewesen, aber die kommen schon ohne dich zurecht.“
Dann hat sich Herr Ranter die Gartenbank vor dem Haus aufgestellt – so, dass er alles überblicken
kann. Und so dass er den seltenen Besucher und früheren Bewohner der Siedlung gut zuwinken
konnte bevor er hinter das Haus verschwindet.
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bretter
Vor einigen Monaten hat er dann damit begonnen, ein kleines Gartenhaus zu bauen. An einem
Mittwoch ist Lisa nach Hause gekommen und hat mir gesagt, ich solle aus dem Fenster schauen.
„Schau, Mama, die bauen etwas!“, hat sie gemeint. Zuerst hat Herr Ranter zwei Holzböcke aufgestellt,
direkt vor seinem Haus im Garten. Danach sind einige seiner ehemaligen Kollegen gekommen – sie
haben ihm Eichenbretter gebracht, noch unverarbeitet. Herr Ranter hat ein Brett nach dem anderen
auf die beiden Holzböcke gelegt und begonnen, sie zu streichen. An manchen Tagen ist Lisa zu ihm
gegangen und hat sich vor ihm in die Wiese gesetzt, um ihm zuzusehen. Während dieser Zeit kehrte
auch das Lächeln auf seine Lippen zurück. Als die Bretter geschnitten waren, begann er daraus ein
kleines Häuschen zu bauen. Vom Küchenfenster aus konnte ich sehen, wie es wächst.
Ende Juli ist es fertig gewesen. „Morgen sollen wir alle kommen!“ hat Lisa zuhause erzählt. Gerade
als ich Luft holte, um zu formulieren, warum ich nicht kommen werde, sagte meine Mutter „Das
ist wunderbar, wir kommen gerne! – Lisa, lauf gleich noch einmal rauf und frag, was wir mitbringen
können!“. Als Lisa das Zimmer verließ, haben wir uns angesehen ohne etwas zu sagen.
Der nächste Tag war ein Sonntag. Ich bin erst gegen 9:00 aufgestanden und habe Frühstück gemacht. Wie immer konnte ich dabei in den Nachbargarten sehen. Zuerst sah ich Herrn Ranter. Er
stand ziemlich starr mitten in seinem Garten. Das Gartenhaus vor ihm war ein Haufen schwarzer
Bretter. Schnell rannte ich die Stiege hinunter – „Jemand hat es angezündet“, sagte meine Mutter,
die bereits vor unserem Haus stand. „Es war schon in der Früh, in etwa 5:00. Ich wollte euch nicht
wecken …“
Als ich mich umdrehte, sah ich Lisa in unseren Garten laufen. Sie hatte ein Versteck, ganz hinten
bei einem Wacholderbusch, wo sie immer hinging, wenn sie sich vor der Welt verkriechen wollte. Ihr
Gesicht war voller Tränen. Herr Ranter stand vor den Trümmern und zündete sich eine Zigarette an.
„Mach dir nichts draus, Papa.“ sagte Marianne. „Du kannst das jederzeit wieder machen – es waren
ja nur ein paar alte Bretter.“ Herr Ranter hat nichts gesagt und ist ins Haus gegangen.
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geboren 1970. Wächst in der Oberpfalz auf und lässt sich zunächst nur widerwillig bilden. Schließlich
studiert er nach dem Abitur 1990 durchaus Germanistik, Politikwissenschaften, So-ziologie und
leider auch Geschichte, mit heißem Bemühn, ist nicht mehr ein armer Tor, sondern klüger als wie
zuvor. Reisen führen ihn nach Afrika und Osteuropa. Seit 1996 ist er als Lehrer an verschiedenen
Schulen tätig, seit 2000 an der Fach- und Berufsoberschule in Schwandorf. Die Abenteuer, die
ihm derzeit täglich widerfahren, haben Namen, blonde Haare und ein quirliges Wesen. Die Töchter
Hannah, Amelie und Charlotte lassen ihm daher wenig Gelegenheit zum Schreiben.
Interview mit einem Unbescholtenen
Ehrlich gesagt: Nein.
Nein, ich weiß nicht genau, was man mir vorwirft. Ich könnte Ihnen natürlich aus der Anklageschrift
vorlesen, man hat sie mir schon vor einiger Zeit zugeschickt, aber das steht ja auch alles in den
Zeitungen und Sie wissen das sicherlich besser und genauer. Die Anklageschrift habe ich nur
überflogen, was soll ich auch schon groß dazu sagen? Ich streite doch gar nicht ab, dass ich das
war, das angebliche „Schwein von Babice“, wie der „Wiener Morgen“ so schön geschrieben hat
kürzlich. Das habe ich ja auch nie geleugnet, dass ich da der Lagerkommandant war. Warum man
gerade jetzt die Sache wieder aufrollt, ist mir schleierhaft, aber es wird wohl mit den Prozessen in
Frankfurt zu tun haben. Dort geht man ja ganz eifrig zu Werke und tut so, als seien die Geschehnisse
vom vorigen Jahr. Dabei ist das alles jetzt fast zwanzig Jahre her! Na ja, da hat sich wohl die hiesige
Staatsanwaltschaft gedacht, sie müsse nun auch wieder neue Prozesse in Gang setzen.
Ich verstehe das alles nicht, diese ganze Aufregung. Gerade hier ist man doch viel klüger vorgegangen
als in Deutschland. Da gab’s diese Volksgerichte, glaube, so bis ‘55, dann die Amnestie von ‘57 und
dann war, von ein paar Ausnahmen abgesehen, Ruhe im Schachterl. Und jetzt das!
„Missbrauch der Amtsgewalt“, heißt es, „Quälereien“, „Kriegsverbrechen“. So ein Unsinn! Der Krieg
war ja viel weiter im Osten und als Anfang ’45 das Lager geräumt wurde, war ich schon ins Reich
zurückkommandiert worden. Und Babitz war nicht Auschwitz. In den Nebenlagern ging es ganz
anders zu, da musste in erster Linie die Produktion am Laufen gehalten werden. Nur das will man
nicht hören.
Aber glauben Sie mir: In Wirklichkeit steckt da etwas ganz anderes dahinter! Davon wird im Prozess
offiziell nicht die Rede sein, aber ich bin mir ganz sicher, dass es die Sache mit den Brettern ist, die
mir das jetzt eingebrockt hat. Das hat man mir damals übel genommen und das nimmt man mir bis
heute noch krumm!
interview mit einem unbescholtenen
Richard Purschwitz
Ja, genau: Bretter. Da muss ich ein bisschen ausholen, sonst verstehen Sie das nicht, junger
Mann. Es geht um einen Bretterzaun. Solides, gutes Lindenholz, gefertigt aus den Wäldern
der Umgebung. Dicke Bretter, gute 15 Zentimeter breit, mehr als drei Meter hoch, auf festem
Betonfundament, gut fixiert und wunderbar eingelassen in die Erde. Es sah so aus, als wachse
gleichsam der Zaun aus der Erde. Und das Schönste: Es gab ihn gleich zwei Mal! In einem
Abstand von etwa anderthalb Metern zum inneren stand rings um das Lager ein zweiter Zaun,
genauso beeindruckend und mächtig wie der innere, nein noch eleganter, weil die einzelnen
Bretter oben zugespitzt waren. Nur an zwei Stellen war der doppelte Zaun durchbrochen,
einmal am Tor und einmal am Südosteck, bei den Wohnräumen der Aufseherinnen. Der
Bretterzaun war von den IG-Farben-Mitarbeitern im Frühjahr 1942 errichtet worden, fragen
Sie mich bitte nicht, wofür. Die hatten ja alle Freiheiten in Babitz, nachdem die Polen rausgeworfen
worden waren. Ich selbst kam im April ’43 an. Humbert Achamer-Pifrader selbst, der feine Mann,
ich kann wirklich nur mit Hochachtung sprechen vom Doktor, hatte mich aus der Verwaltung
der Einsatzgruppe A empfohlen. Die Versetzung zu Höß nach Auschwitz als Kommandant des
Nebenlagers Babitz sollte ein Sprung auf der Karriereleiter werden. Eine formelle Beförderung
hat es nicht gebracht, ich blieb SS-Hauptsturmführer, aber natürlich ist eine Lagerkommandantur, auch wenn es „nur“ ein Nebenlager war, schon etwas anderes als eine reine Verwaltungsarbeit für
die Einsatzgruppe. Achamer-Pifrader hat ausdrücklich meine Organisationskraft hervorgehoben, müssen Sie wissen, und mich persönlich beim Reichsführer SS für den Posten bei Höß empfohlen. Damals wusste ich noch nicht, was der Himmler für ein Waschlappen war.
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Der Alltag im Lager? Ja, mein junger Freund, das ist eine sehr berechtigte Frage, denn wenn es
so etwas wie Entlastungsgründe für mich braucht bei diesem Prozess, dann genau das. Ich habe
peinlich genau darauf geachtet, dass Disziplin und Ordnung herrschten. Wir hatten eine Aufgabe
zu erfüllen und das Letzte, was ich mir zu Beginn meiner Tätigkeit dort nachsagen lassen wollte,
war, dass durch irgendwelche aufrührerischen Aktionen oder auch durch wilde Erschießungen die
Arbeit leide.
Sie müssen wissen, das Lager Babitz war ein Wirtschaftshof. Es ging um landwirtschaftliche
Produktion für das Stammlager. Getreide, Kohl, Wruke, Raps, Rüben wurden angebaut, dazu gab
es die Pferdezucht, die ein Kommando von männlichen Häftlingen übernahm. Das andere der
beiden Kommandos arbeitete mit den Frauen auf den Feldern außerhalb des Lagers. Die Ernten
waren gut, die Böden ertragreich. Wir bekamen regelmäßig Dünger aus Birkenau, Asche aus den
Krematorien. Das tat den Böden gut. Die Pferde, die auf den Feldern eingesetzt wurden, hat man
leider, angeblich kriegswichtig, im Mai 1944 beschlagnahmt. Mir blieb nichts anderes übrig,
als Häftlinge vor die Pflüge und Eggen spannen zu lassen. Aber das ging auch, freilich etwas
langsamer.
Was draußen auf den Feldern bei der täglichen Arbeit geschah, entzieht sich weitgehend meiner
Kenntnis. Mir wurde ein Trupp ganz junger SS-Männer aus den Totenkopfbataillons zugeteilt,
leider auch einige Ukrainer darunter. Fragen Sie mich nicht, warum seit Mitte ’43 immer mehr SSLeute aus ostischen Gebieten zu uns stießen. Na ja, jedenfalls gingen gerade die nicht unbedingt
zimperlich um mit den Häftlingen, die ja auch zu einem Großteil aus Ukrainerinnen bestanden. Bei
den Frauen war das die Hauptgruppe, neben einigen Russinnen und vielleicht zwei Dutzend Polinnen. Jüdinnen waren bei den Frauen keine dabei, aber immer wieder mal ein paar bei den
männlichen Häftlingen. Die meisten blieben aber nur kurze Zeit und wurden dann wieder abgezogen
ins Stammlager.
Einer der SS-Ukrainer, Schwarzer, glaube ich, hieß der, soll ziemlich gewütet haben draußen auf den
Feldern, und auch einer der jungen Totenköpfler mit Namen Sauer. Ich habe die beiden ausdrücklich
ermahnt, die Arbeit dadurch nicht zu sehr leiden zu lassen, denn den Versorgungsauftrag der IG
Farben für deren Mitarbeiter, der im Juni 1943 bei mir auf dem Tisch lag, wollte ich auf keinen
Fall gefährdet wissen. Ansonsten interessierte mich das nicht, was auf den Feldern geschah. Mein
Verantwortungsbereich war das eigentliche Lagerareal, und da war ich strikt darauf bedacht, dass
zwar Disziplin, aber eben auch anständige hygienische Verhältnisse und gute Versorgung für die
Häftlinge herrschten.
Ich frage Sie: Wo gab es das schon, dass die Stuben in einem Lager im Winter beheizt waren? Dass
es einen Herd gab in jeder Stube, mehrere Schüsseln mit warmem Wasser, zwei Toiletten? Ich habe
das angeordnet und zwei meiner Mitarbeiterinnen bei der Lagerkommandantur, Frau Bormann und
Frau Friedel Fuhrmann – sie lebt übrigens hier in Wien, wussten Sie das? – achteten peinlich genau
auf Hygiene und Sauberkeit. Einmal gab es eine Typhusepidemie, da haben wir die Häftlinge ihre
Sachen selbst waschen lassen und nicht die verseuchten Kleider aus Birkenau genommen. Binnen
kürzester Zeit war die Epidemie eingedämmt.
Drei Mal am Tag gab es eine Mahlzeit, früh und abends auch Kaffee. Verhungert ist uns niemand und
wenn auf meinem Schreibtisch Meldungen ankamen, dass die Lieferungen aus Babitz umfangreich
und von großer Güte waren, dann ließ ich schon mal eine Sau schlachten zur Belohnung für die
Häftlinge. Das war im Übrigen recht lustig anzuschauen, denn ich überließ diese Tätigkeit ein
paar ganz jungen Polinnen, die so etwas noch nie gemacht hatten. Meine Männer hatten mir das
vorgeschlagen und ich ließ dafür alle Häftlinge antreten zum Zuschauen. Friedel Fuhrmann übergab
sich allerdings, als sie sah, wie die jungen Dinger gierig das warme Blut der Sau tranken.
Kurzum, es herrschte eine geregelte Ordnung in Babitz. Ich möchte sogar behaupten, dass die
Häftlinge froh waren, hier zu sein und nicht in einem der anderen Wirtschaftshöfe, in Plawy
interview mit einem unbescholtenen
Aber Sie haben Recht, ich wollte Ihnen ja die Sache mit dem Zaun erklären. Also: Dieser wunderbare Zaun verlieh dem Lager eine großartige Atmosphäre. Den Vorschlag, ihn gleich einzureißen
und durch einen Drahtzaun zu ersetzen (vom Strom war bei uns im Frühjahr ’43 noch nicht die
Rede), habe ich sofort zurückgewiesen. Es mussten zunächst die Ställe, die Scheunen und die
Baracken, dazu die Essräume und die Brunnen errichtet oder instand gesetzt werden. Ich erinnere
mich, dass einer meiner ersten Befehle ausdrücklich lautete, beim Bau der Wachtürme in den Ecken
des Lagerareals strengstens darauf zu achten, die Substanz der Bretterzäune nicht zu beschädigen.
Ärger gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht, den setzte es dann erst später, so im Hochsommer
1944, kurz bevor die weiblichen Häftlinge dann nach Birkenau gebracht wurden.
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Ja, mein junger Freund, darauf müssen Sie mich wohl ansprechen. Es stimmt schon, einmal, im
Herbst 1943, musste ich doch zu einer schärferen Maßnahme greifen. Aber auch das kann man ja
inzwischen nachlesen, den Zeitungen hat man da ganz richtig eingeflüstert. Ich will mit Nachdruck
betonen, dass das ein Einzelfall war und dass als Folge genau das eingetreten ist, was ich erwartet
habe – eine Rückkehr zur unbedingten Disziplin bei den Gefangenen und übrigens auch bei den
Wachmännern.
Begonnen hat das mit zwei erfolgreichen Fluchtversuchen im August und im September. Da haben sich die SS-Wachmänner jeweils ganz schön dumm angestellt und sich überlisten lassen. Zum
Austreten in die Büsche! Hah! Die Toilette so weit weg und das Tor so nah! Dass ich nicht lache! Ich
habe den jungen SS-Mann dafür einen Tag auf den Feldern mitarbeiten lassen.
Aber so dreist wie diese junge Russin, die einfach den Zaun übersteigen wollte, war sonst keine.
Gut, man muss ihr zugestehen, dass sie offenbar geschickt klettern konnte, denn der weitgehend
makellose Zaun war mit ebenen, glatten Brettern gezogen, frei von Vertiefungen, die als Tritte hätten
dienen können, ohne Löcher oder Bruchstellen, nicht mal ein vorstehender Nagel. Ich hatte diesen
herrlichen Zaun, also den inneren, kurz nach meinem Amtsantritt mit einem satten braunroten
Anstrich versehen lassen und dabei angeordnet, dass alle Unebenheiten beseitigt werden. Der
äußere, ich gebe es zu, wurde etwas weniger pfleglich behandelt. Der Zwischenraum blieb mit
Brennesseln und Gestrüpp bewuchert. Fragen Sie mich also nicht, wie es diese Russin geschafft hat,
über den inneren Zaun zu klettern. Und wie sie aus dem Zwischenraum hätte ausbrechen wollen,
blieb mir auch schleierhaft. Vielleicht hätte ich sie fragen sollen? Jedenfalls konnte ich gerade noch
verhindern, dass geschossen wurde. Die Wachleute waren wieder übertölpelt worden, es gab ein
riesiges Geschrei, als der Fluchtversuch bemerkt wurde, und zwei SS-Männer wollten Salven durch
den Zaun schießen, die die Russin sicher auch erwischt hätten. Ich wusste in diesem Moment
zwar noch nicht genau, wie ich reagieren würde, aber eine zweite Entehrung der Bretter, diesmal
durch Einschüsse, wollte ich in keinem Falle dulden. Mit einem Haken ließ ich die Russin aus dem
Gestrüpp ziehen und erst einmal in einen Waschraum sperren. Erst am späten Nachmittag, als mit
hereinbrechendem Dunkel die Häftlinge von der Feldarbeit zurückkamen – im Herbst war das vor
allem Kartoffelernte und Steineklauben –, handelte ich, wie ich in dieser Situation handeln musste.
Ich konnte mir von dieser kleinen Drecksrussin doch nicht die ganze Lagerordnung kaputt machen
lassen. Ich ließ alle Häftlinge, das waren inzwischen weit über dreihundert, antreten und von den
Wachleuten zwei Männer auswählen, die mir mein kleines Exempel wortwörtlich statuieren sollten.
Gut, wenn Sie so wollen, waren das eben Funktionshäftlinge, aber eben nur für diese eine Funktion.
Einer weigerte sich, den ließ ich sofort erschießen. Ein anderer übernahm dann für ihn die Arbeit.
An genau jener Stelle, wo dieses Miststück meinen Zaun überkletterte, ließ ich sie festnageln, an
beiden Händen und einem Fuß. Ein zweiter langer Zimmermannnagel war nicht auffindbar, auch
nicht in der Hufschmiede. Die erste Nacht schrie sie, später war sie nur noch leise wimmernd
zu vernehmen. An den folgenden Tagen ließ ich jeweils zum Morgen- und zum Abendappell alle
Häftlinge eine Stunde lang vor der Russin antreten und richtete einige mahnende Worte an die
Versammelten. Am Abend des dritten Tages war sie dann tot. Mit drei anderen Toten von den
Feldern ließ ich sie in einem Karren ins Stammlager bringen.
Was soll ich Ihnen sagen, die Strafaktion war erfolgreich. Es gab danach im Lager keinen einzigen
nennenswerten Zwischenfall und schon gar keinen Fluchtversuch mehr. Außerdem zeigte mir
das erneut, dass der ganze Aufwand mit den Funktionshäftlingen wenig taugte. Einer der beiden
Männer, die mit zuerst zögerlichen, dann kräftigeren Hammerschlägen die Russin am wiederholten
Klettern hinderten, hing eines morgens in der Baracke, der andere wurde auf dem Feld erschlagen,
aber ich weiß nicht, ob das SS-Männer waren oder andere Häftlinge. Der Vorfall geschah außerhalb
des Lagerareals und hatte mich demnach nicht zu interessieren.
Und jetzt frage ich Sie, junger Mann: Soll es dieser eine Vorfall wert sein, angesichts der sonst
zivilen Situation in Babitz, mich vor Gericht zu zerren? Führt man sich denn nicht vor Augen, dass
interview mit einem unbescholtenen
etwa oder in Harmense, dem Geflügelhof. Und ich möchte betonen – schreiben Sie das, junger
Mann! –, dass es zu keiner Zeit irgendwelche Revolten oder andere aufrührerische Aktionen unter
meinem Kommando in Babitz gegeben hat. Auch solche Axtmassaker wie in Budy in der FrauenStrafkompanie kamen nie vor. Dort haben ja einige der deutschen Funktionshäftlingsfrauen 1942
üble Dinge angerichtet. Nein, so etwas gab es bei uns nicht. Überhaupt: Funktionshäftlinge hatten
wir nicht. Das habe ich immer abgelehnt, so sehr mir Höß auch in zwei Briefen die Vorteile solcher
Leute geschildert hat. Ich entgegnete stets mit Hinweisen auf zu erwartende Unzuverlässigkeiten von
Funktionshäftlingen und betonte auch, dass die gute Disziplin bei uns so etwas unnötig macht.
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Worum? Na, eben um den Zaun, meine schönen Bretter! Ob der Vorfall mit der Russin damit überhaupt
zusammenhing, weiß ich nicht, glaube ich auch nicht. Jedenfalls hat Baer, der Nachfolger von Höß
und Liebehenschel, davon nichts erwähnt in jenem Schreiben vom Juni 1944. Angeblich kam die
Meldung aus Berlin, direkt aus dem Reichssicherheitshauptamt. Gemäß Verordnung Nr. sowieso,
RSHA-Drucksache, seien die Umzäunungen in allen Stamm- und Nebenlagern auf dem gesamten
Reichsgebiet, im Generalgouvernement und in den inzwischen judenfreien Ge-bieten im Osten
einheitlich zu gestalten. Draht oder Stacheldraht, mindestens 350 cm Höhe, Be-festigungspfosten
alle fünf bis zehn Meter. Ab 250 Insassen solle der Zaun zudem unter Strom gesetzt werden. Die
Wachmannschaften seien zu ihrer Sicherheit zu instruieren.
Ich habe Baer, mit dem ich deutlich besseren Umgang hatte als mit Liebehenschel, sofort kontaktiert
und ihn gebeten, für Babitz eine Ausnahmeregelung zuzulassen. Ich habe ihm erklärt, wie ich den
Zaun persönlich gepflegt, alle Bretter einzeln immer wieder auf Beschädigungen überprüft hatte,
und ihm auch den Zusammenhang von Ordnung, Sauberkeit und Disziplin im Lager mit der durch
den Zaun bedingten guten Atmosphäre geschildert. Er halte das alles für nachvollziehbar, hatte Baer
gesagt, aber die Weisung komme eben direkt vom RSHA. Da könne er nichts machen. Er riet mir,
dem Befehl umgehend nachzukommen und den Bretterzaun – „auch den äußeren!“ – einreißen zu
lassen. Er wollte mir auch ein paar Gefangene schicken, die für diese Arbeit einzusetzen seien.
Wie? Was? Sie meinen, der Befehl sei Folge eines Großauftrages der SS an einen drahtproduzierenden Betrieb, der zuvor mächtig geschmiert habe? Das hat mir der Baer auch erzählt, aber ich kann
das nicht glauben. Nein, nein, das war schon mehr oder minder direkt gegen mich gerichtet!
Sie können sich vorstellen, junger Mann, was das bei uns auslöste! Ich hatte zuvor noch nie
irgendeinen Befehl verweigert, aber das ging zu weit. Und ich wusste auch schon genau, wem ich
das zu verdanken hatte. Das waren diese SS-Kasper von der Einsatzgruppenverwaltung, die mir
seinerzeit den Sprung nach Babitz missgönnten. Und denen offenbar auch nicht gefiel, was sie über
die geordneten Zustände von Babitz hörten. Da hatten sie nichts Besseres zu tun, als mich über
meinen Zaun zu treffen.
interview mit einem unbescholtenen
ich Verantwortung hatte: für Disziplin, für meine Männer, für die Aufseherinnen, für die Produktion,
für die Tiere, für die Häftlinge? Nein, ich sage Ihnen, bei diesem Prozess geht es in Wirklichkeit um
etwas ganz anderes, nur kann man das nicht offiziell sagen!
Unwahrscheinlich? Na, hören Sie, das liegt doch auf der Hand! Die Protektion durch Dr. AchamerPifrader, das hat man in diesen Kreisen nie überwunden. „Donau-Gruppe“, hieß es verächtlich. Es
hat nicht lange gedauert, bis man in Berlin intrigierte. Das RSHA war eine einzige Schwatzbude!
Und dann hat man mit kleinen Sticheleien wie diesem blödsinnigen Zaun-Befehl systematisch die
besten Männer drangsaliert.
Der Riss ging im Grunde durch die gesamte SS. Die einen, aufrechte Deutsche mit klarem Ziel
und scharfem Verstand, denen die Grundideen einer Eliteeinheit nie entglitten, die anderen,
die Germanenschwätzer, die Mythenheinis, die Ordenstrottel, die nicht davor zurückscheuten,
rumänische, lettische, estnische, ukrainische SS-Einheiten aufzustellen. Warum nicht gleich ein
jüdisches SS-Kommando? Der Himmler, den ich zuerst verehrt habe: Nach dem Brief war der für
mich nur noch der „Reichsführer Arschloch“. Am Schluss dann auf die Kapsel beißen, das sah ihm
gleich.
Nein, mein junger Freund, da ist nichts unwahrscheinlich. Das war eine gezielte Aktion gegen mich.
Da sollte Unruhe ins Lager gebracht werden und ich wette, die spekulierten auch auf Ausbrüche.
Ich wollte partout keinen anderen Zaun als diese schönen doppelten Bretter, die im Übrigen ihren
Zweck ja auch voll erfüllten. Ein Drahtzaun, am besten noch unter Strom – das hätte dem Geist
des Lagers widersprochen. Stellen Sie sich doch bitte vor, was das für Unruhe bringt, wenn sich
der erste Häftling gegen den Zaun wirft. Ich wollte diese Zustände wie im Stammlager nicht, und
das war auch überhaupt nicht nötig. Also ignorierte ich zunächst den Befehl und schob vor, viel
Verwaltungsarbeit zu haben. Auf Nachfrage von Baer Anfang August orderte ich zunächst einige
Kilometer Stacheldraht, was wie der Beginn der Umrüstaktion aussehen sollte. Ich ließ den Draht
aber in den Zwischenraum zwischen den Brettern versenken. Meines Erachtens nach war dies ein
guter Kompromiss, denn die Fluchtgefahr sank und der Anblick, den ich zu zwei Seiten des Zauns
aus meiner Schreibstube hatte, wurde mir nicht verschandelt. Als dann Ende August für mich
völlig überraschend sämtliche Frauen des Lagers – inzwischen über 500 – abgezogen, zuerst nach
Birkenau und dann in verschiedene Lager nach Deutschland verschafft wurden, sah ich erst recht
nicht ein, warum für die verbliebenen etwa 150 männlichen Gefangenen mein Zaun eingerissen
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Der Prozess? Ja, sehen Sie, das ist der Schlusspunkt der ganzen Sache. Man hat mir meine
damalige Weigerung, den Zaun einreißen zu lassen, so übel genommen, dass man nur darauf
gewartet hat, es mir heimzuzahlen. Sie glauben ja gar nicht, welchen Einfluss ehemalige SSler
bei uns noch haben, junger Mann! Meist sind das solche vom Schlage des Doktors, der ja leider
umgekommen ist seinerzeit in Linz, feine, hochanständige Männer, die damals nichts anderes getan
haben, als die Ehre des Reiches zu verteidigen, Befehle zu befolgen und ihrem Land zu dienen.
Aber es gibt auch immer noch diese falschen Schlangen, diese Geheimbündler, diese lächerlichen
Mittsommerfackelhalter, die meinen, mit Strippenziehen im Hintergrund alte Rechnungen
begleichen zu müssen. Gezielt Informationen streuen, um Rivalen von einst zu schaden. Und ein
paar karrieresüchtige Jungstaatsanwälte haben sich dafür instrumentalisieren lassen.
Nun bin also ich an der Reihe. Aber nicht mit mir! Ich werde reden und die wahren Hintergründe
des Prozesses aufrollen. Die gönnten mir einfach meine Bretter nicht, so schaut’s aus! Nur leider
will die Öffentlichkeit diese Wahrheiten nicht hören. Denen geht’s wie den Leuten in Frankfurt doch
nur um KZ-Gruselgeschichten.
interview mit einem unbescholtenen
werden sollte. Einige Monate hörte ich gar nichts in dieser Sache, dann kam Anfang Dezember
ein erneuter Befehl, diesmal direkt an mich gerichtet und direkt aus Berlin. Von „notwendigen
Sicherungsmaßnahmen“, von „Erfahrungswerten aus anderen Lagern“ war da die Rede, aber auch
von „Konsequenzen“, die mich beträfen.
Aber ich ließ mich nicht einschüchtern, ich hatte ja auch meine Leute im RSHA. Mitte Dezember
ging dann alles ganz schnell, die Gerüchte vom Vordringen der Russen wurden immer konkreter.
Am 20. Dezember kam schon der Versetzungsbefehl und bereits am 22. trat ich meinen Dienst
in Berlin an. Ich habe sie dann überall gerochen im Amt, diese Widerlinge, die mir meinen Zaun
nehmen wollten. Bis die Russen kamen, passierte in Babitz nichts Wesentliches mehr, aber ich weiß
aus sicherer Quelle, dass der Zaun noch mindestens bis 1947 stehen blieb. Wer weiß, vielleicht gibt
es ihn heute noch?
Aber Sie, Sie scheinen ein kluger junger Mann zu sein, einer, der die wirklichen Zusammenhänge
wissen will und sie versteht.
Darf ich fragen, wie alt Sie sind? 1940 geboren? Na, schaun’S! Und studieren tun’S? Die Wirtschaft
swissenschaften? Na, da werden’S aber sicher eine gute Anstellung finden. Wie war noch gleich Ihr
werter Name? Wie? Oh, na dann! Ja, bitte, danke, bitte, gerne, hat mich auch gefreut, Sie kennen zu
lernen. Habe die Ehre, Herr Tennenbaum!
28
geboren 1982 in Krems a. d. Donau. Als archetypisches Serieneinzelkind wächst er in einem
Kuhkaff im Nirgendwo des Waldviertels auf, in dem sich Fuchs und Henne noch gute Nacht
sagen. Auf ein missglücktes Gastspiel an einer HTL folgt die Matura an einer AHS. Nach dem
planlosen Zivildienst befindet er sich gerade in der Phase des planlosen Studierens. Teils unauffällig zumeist überreizt verbringt er seine Zeit als Medienjunkie und Stubenhocker. Schreiben ist für
ihn Hobby, Neurose und Zeitkahlschlag zugleich, dazwischen der ganz normale Alltag eines Twens
im hedonistischen Zeittrend.
rote Nelken und keine Überraschungen
Ist der Tod nur ein Schlaf, wie kann dich das Sterben erschrecken? Hast du es je noch gespürt, wenn
du des Abends entschliefst?
Hebbel
Der Tod ist durch den unumkehrbaren Verlust der für das spezielle Lebewesen typischen und
wesentlichen Lebensfunktionen gekennzeichnet (siehe Leben). Die Schwierigkeit einer für alle Lebewesen gültigen Definition lässt sich an Hand der Beispiele Tod von Bakterien und Tod von Säugetieren erahnen. In ersterem Fall ist der Tod entweder durch den unumkehrbaren Verlust der
Zellintegrität (Lyse) oder dem unumkehrbaren Verlust der Zellteilungsfähigkeit (z. B. durch Zerstörung
des Genoms) definiert, in zweiterem Fall durch die unumkehrbare Desintegration lebensnotwendiger
Organe wie des Herzkreislaufsystems und des zentralen Nervensystems (Gehirn). Der Tod ist ein
Prozess, und das Eintreten des Todes lässt sich selten exakt einem Zeitpunkt zuordnen. Der Tod ist
der Zustand eines Organismus nach der Beendigung des Lebens und nicht zu verwechseln mit dem
Sterben, das einen Teil des Lebens darstellt.
rote nelken und keine überraschungen
Wolfgang Rieder
über
Für dich war es ein Tag wie jeder andere. Die Arbeit will nie ein Ende finden, aber was sollst du
auch anderes machen. Du hast Verpflichtungen, einen Kredit zu bezahlen, Benzin zu kaufen, das
Essen auf den Tisch zu bringen, die Maschine am Laufen zu halten. Alles will geölt werden und Geld
ist das beste Schmiermittel. Deshalb stehst du hier, die Schaufel in der Hand und gräbst ein Loch,
so wie du es schon oft getan hast. Heimlich fragst du dich, warum sie noch immer keinen Bagger
gekauft haben, fluchst darüber im Leisen, als sich der Spaten an einem Stein verkantet. Wenigstens
brennt dir nicht mehr die Sonne auf den Rücken, flüsterst du zu dir selbst, hievst dich mit den
Händen hoch und machst eine Pause. Der Kollege hätte schon längst wieder mit dem Bier zurück
sein sollen. Du magst diese Arbeit nicht. Sie ist dir zuwider und lästig, und so blickst du schweigend
in das Loch vor dir und fragst dich, wie lange du noch brauchen würdest, wie lange es dauert, bis
du etwas Hohles unter dir hörst, das dir das Ende und gleichzeitig den ekelhaften Teil ankündigt.
3 Meter, vielleicht 4, 5 liegt hier niemand tief. Eigentlich sind sie alle an der Oberfläche verscharrt,
näher als es sich die meisten denken. Als du das erste Mal jemanden ausgegraben hast, wusstest
du, du wolltest kremiert werden. Von dir sollte nichts bleiben als Staub, ein paar Knochen in einem
Mörser zu einheitlich grauer Masse zerstoßen. Im Prinzip ist es dir egal, was mit deinem Körper
passiert, du willst schlicht und einfach nicht mehr ausgegraben werden.
Du trinkst dein Bier und schaufelst weiter. Es ist kühl und trotzdem steht dir der Schweiß auf der
Stirn. Das heimliche Fluchen in dir, es vergeht, es verschwindet immer, wenn du keuchen musst,
wenn du dich unter der Last biegst wie die Bretter, auf die du kommen wirst. Das Leben, so sagst
du dir, ist Geld. Nichts ist umsonst, nur der Tod, und der kostet das Leben, surrt es wie ein Echo in
deinem Kopf. Eigentlich sollte es nie so werden. Eigentlich wolltest du nie so werden. Als Kind, da
hattest du andere Helden, wolltest so sein wie sie und so tun wie sie, einfach bewundernswert aus
tiefster Seele, wenn so was ein Mensch überhaupt hat, doch aus alldem ist nichts geworden, und
so gräbst du ein Loch für einen Niemand, dessen Namen du, wenn überhaupt, nur in der Zeitung
lesen wirst, den du nie kanntest und auch nie kennen wirst. Du bist nur die Dienstleistung für die
anderen, für Freunde und Familie, für Enkelchen und Kinder, falls etwas vorhanden ist. Du bist die
Drecksarbeit für die schöne Leich, für einen würdigen Abgang zu den Würmern. Bei dem Gedanken
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rote nelken und keine überraschungen
musst du schmunzeln. Ja ja, die Würmer, alle werden sie kriegen, aber du willst ihnen entkommen,
in die Luft zu Pulver, Kohlendioxyd und Klärschlamm.
Beim ersten Mal, da hast du dich vor diesem Moment gefürchtet, wenn sich erste helle Holzsplitter
in der Erde zeigen, der Rest der schön gehobelten Bretter. Damals hat dein Kollege kein Wort gesagt
und schweigend weitergemacht, als wäre es das Normalste der Welt. Du hast dich ertappt gefühlt,
wie ein Grabräuber, als würdest du etwas tun, was nicht getan werden sollte, aber die Toten ruhen
nicht, sie vermodern nur, sie blähen sich auf, werden zu Wasser und Erde und verschwinden. Die
Knochen, du hast sie ignoriert, sie versucht zu betrachten wie Abfall einer Fleischerei, ein nicht
verwertbares Restprodukt, das du nach Vorschrift abgegeben hast. Mit der Zeit hast du allem immer
weniger Beachtung geschenkt. Lästig war dir nur die Kleidung, die Synthetik, die besser hält als
ein Loch im Schädel. Wird nicht auch für einen Schlächter das Töten zur Routine und das Blut
zur Begleiterscheinung? So waren für dich auch diese weißen Beine, nebensächlich, ein Tagwerk.
Endlich war es tief genug, die Reste entfernt. Heimlich atmest du auf, blickst hoch in den Himmel,
auf eine graue Wolkendecke, stellst dir vor, dies wäre dein eigenes, dein letztes, Heim. Still packt
dich kalter Schauer. Du schüttelst den Kopf vor dir selbst, steigst über die Leiter hinaus, fühlst dich
befreit wie ein Sträfling, der dem Henker entrinnen konnte, stellst deine Arbeit schnell fertig und
verlässt den Ort mit der Hoffnung, es ist dein letztes Mal gewesen.
Als dich einmal jemand als bessere Art von Müllmann bezeichnet hat, der nur den Abfall des Lebens entsorgt, musstest du heimlich lachen. Du hast oftmals an die Friedhofsmauern gepisst aber
niemals in eines der Löcher. Wer weiß, vielleicht ist doch alles anders als es scheint?
unter
das meer blau wie bergkristall der wind ein endloser warmer strom die sonne ein geschenk du liegst
da im klang der zikaden in den bäumen die zehen im sand aus einem radio musik das lachen von
menschen du gehst mit erstrahlst im moment ein lachen siehst ihr in die augen willst eine sekunde
unendlichkeit dein mund auf ihren lippen nur eine berührung wiederholung eines versprechens
etwas kaltes auf deinem rücken du springst auf und zurück zerrst ihn ins wasser ihr grinst über eure
dummheit schüttelst dir das wasser aus den ohren wie kinder dein blick auf ihr eine überspielte
geste die gestrenge fällst zurück spielst den getroffenen die ergießende theatralik in jeder bewegung wartest dass sie dich rettet deine hand ergreift siehst sie kommen nimmst sie in deine arme
dein gesicht wie ein räudiger köter verspricht nicht mehr so böse zu sein keine hand und kein fuß zu
fassen aber dieser moment braucht es auch nicht du scherzt mit ihr kannst deine finger nicht von ihr
lassen willst sie nie wieder hergeben willst dass alles so bleibt in der momentaufnahme erstarrt in genau
diesem gefühl verharrt was wolltest du jemals mehr was könnte höher sein geladener sein verrückter
sein als das und wenn alles falsch wäre was macht es schon junge dumme hunde machen fehler und
ihnen wird verziehen aber darüber willst du nicht nachdenken leichtigkeit hat dich gepackt und mit sich
gerissen du nimmst sie an der hand gehst mit ihr am stand entlang wo sich die wellen brechen fühlst das
wasser den sand auf deiner haut ihre finger in deinen aus deinem mund kommen nur sinnlosigkeiten
aber sie liebt dich trotzdem du siehst es in ihren augen hörst es im klang ihrer stimme willst zerspringen
vor glück ihr kauft wassereis in orange und grün wieder musik in den ohren tanz zumindest bewegung
und immer nur sie im kopf alles verschmilzt mit ihr zu ihr und für sich küsst die süße von ihren
lippen willst sie schmecken sie riechen nichts kann je näher sein nie plastischer nie mehr strom der
freund ein paar scherze schnelle worte mal mit mal ohne pointe aber immer witzig das leben prasselt
auf dich ein sternenschauer an helllichten tagen versuchst dich an einem universum aus tanzenden
träumen alles darf ohne kopf geschehen ohne zwang dem versuch zu überdenken mit einmaligkeit
als experiment die singularität des seins auf glatteis mit stelzen ohne sicherheitsnetz und doppeltem
boden und doch ohne verletzungsgefahr einfach gespielt um sich zu verheddern du willst auch
nicht raus nicht fliehen und nicht laufen alles andere ist sekundär versuchst dich am unmöglichen
erklimmst berge durch gedanken durchwanderst täler in gesten und immer wieder sie und sie und
wieder sie bist du einfach glücklich simpel für den moment für den streich deiner hand und deines
freundes für alles und jeden ein streben ohne widerstand ein kampf ohne gegner harmonische
dissonanzen werden weggelacht mit der sonne auf der haut dem salz in der luft kostenlos für dich
und alle mit dir für eine welt ohne verstand ohne wiederruf grenzenlos und breit wie der horizont einer
emotion aus sinnloser sinnigkeit wieder ihre haut eine versuchung ohne gegenwehr für das eins der
seifenblasen im wind geschaukelt alles kinderspiel und sie lächelt in deinen augen
Auf dem Weg hier her hattest du viel Zeit nachzudenken, zu viel Zeit für deinen Geschmack. Das
Brennen in deiner Kehle nahm dir die Worte. Deine Zunge taub wie das Stroh auf den Feldern. Nur
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rote nelken und keine überraschungen
das Motorgeräusch füllt die Orte der alten Tage, der verkramten Erinnerungen, die mehr Gefühl als
Bild, wie Echos um dich schwirrten. Als du das Auto parkst, gleich unter eine Linde, verharrst du,
wartest, erflehst, dass etwas passiert, das dich noch einmal umkehren lässt, das dir diese kalte
Konfrontation erlässt. Du steigst aus, blickst nach oben, ins Herbstlaub, das mit dem Wind flüstert. Die Glocke der Kapelle vor dir schlägt zum Sonnenuntergang und dich fröstelt. Dein Blick nach
unten, hoffst du auf einen Gedanken, auf ein Stück Land, das du betrittst und dich trägt.
Eigentlich weißt du nicht, was du hier tun sollst. Du hörst den groben spitzen Splitt unter deinen
schweren Stiefeln knirschen. Es ist einsam hier um diese Zeit. Eigentlich ist es hier immer einsam.
Du bleibst kurz stehen, badest dich im gelben Licht des Sonnenunterganges, betrachtest die
Schatten, siehst aus dem Mund kleine Rauchwolken aufsteigen und ins Nichts verschwinden. Dein
Atem ist tief und schwer. Diese Orte wirken träge auf dich, einlullend wie ein Wiegenlied, das der
Wind heimlich pfeift. Der Schatten des Kreuzes, überlebensgroß in Stahl verankert im kalten Stein,
fällt auf dich wie eine Drohung. Du hebst die Hand zur Stirn, zum Herz, von links zum Herz, legst sie
auf deine Brust, verharrst in Schweigen, siehst nach oben zu der Legende aus Büchern, zu einem
Symbol dessen Bedeutung du nie verstehen wolltest. Leid und Demut, oder ist Demut Leid? Es wollte
nie einen Platz bei dir finden. Deine Definition solle anders aussehen, nicht verbunden sein mit
Mythos und Ethos, nicht getragen von Ideen, die so alt waren, dass sie für dich die Dimension eines
Urzeitreliktes hatten. Warum führst du dann den Ritus aus? Hat er sich so tief in dich gefressen,
dass du ihn dir nicht mehr herausschneiden konntest? Warum will er nicht mehr gehen? Hat er
sich heimlich bei dir einen Platz gehalten, den er sonst nie verlässt, sich versteckt und tarnt, um
dich dann zu überlaufen, wenn du es nicht erwartest? Leise hauchst du, amen, mehr in Gedanken
als in Worten. Die Ruhe des Ortes hat sich in dich gesetzt, sich in dir verankert und dich hoch
gehoben. Heimlich wie Rohypnol schleicht es sich in deine Blutbahn, schüttet Sand in dein Getriebe
aus Rezeptoren und Transmittern. Deine Füße wie Blei am Boden, erhebst du deinen Blick, suchst
langsam, willst gar nicht finden.
Die Blumen sind noch frisch, die Erde noch zerwühlt. Du gehst langsam hin, deine Schritte träge
am Boden, zögernd, überlegst, ob du nicht doch besser wieder gehen solltest, beschwichtigst dich
selbst, es hätte keinen Sinn, niemand sei damit geholfen, alles lange vorbei und vergessen, und
drehst doch nicht um. Die Hände verschränkt wie zum Gebet, stehst du davor, hörst noch einmal
auf den Wind, bevor du deine Augen senkst auf den schwarzen Block aus Marmor, der in frischen
goldenen Lettern ihren Namen trägt. Auf dem Boden noch ein Kranz, verdorrt in der Hitze, auf
immergrünen Zweigen vertrocknete Blätter von roten Nelken. Du bückst dich, richtest das Band in
schwarz. Von deiner Familie, liest du leise zu dir selbst. Dein Kopf in stillem Kampf mit der Leere
gegen die absurden alten Schatten. Du weißt, warum du hier bist? Du bist nicht umsonst so weit
gefahren? Warum bist du verwundert über dich selbst, dass es dich doch noch so weit getrieben
hat in den Abend eines Tages im Herbst weit hinaus an kaum mehr bekannte Orte, die du schon
vergessenen geglaubt hast? Du weißt noch immer nicht, was du hier eigentlich machen sollst?
Zweifelst an dir selbst, willst gehen, hast den Entschluss bereits gefasst, da hältst du inne, siehst
hoch in den Himmel, holst eine Kerze aus deiner Tasche, zündest sie an, stellst sie zu dem Block
aus Stein. Wieder sagt dir etwas, dass du weg sollst, dass du deine Pflicht schon längst erfüllt hast,
dass du wieder zurückkehren sollst, zu dem, was jetzt dein Leben ist, und den Toten ihre Ruhe
geben sollst; doch etwas lässt dich nicht weg, hält dich gefangen mit seinem Atem, flüstert tief
vergraben in dir, als wollte es sich einen Weg aus dir heraus suchen. Du schüttelst den Kopf, setzt
dich auf den Boden, suchst deine Zigaretten und zündest eine an der Kerze an. Du fühlst dich
unwohl, denn dein Verhalten missfällt dir selbst. An diesem Ort wurde es dich anders gelehrt, aber
du weißt sonst nicht mehr weiter, willst etwas Zeit gewinnen um nachzudenken, um eine Antwort
zu finden. Dein Blick schweift ins Nichts, in einen abendlichen Tagtraum der Gedankenstille, als du
nach Worten zu suchen beginnst, du ansetzt und abbrichst, jeder Versuch ein Kampf mit dir selbst,
ein Ringen um etwas Authentisches, ein Stück zweifelsfreie Wahrheit.
Du hast mir einmal gesagt, dass jedes Mal ein Seemann stirbt, wenn ich mir eine Zigarette an
einer Kerze anzünde. Ich habe immer darüber gelächelt, aber vielleicht trifft es ja hier zu? Ich
habe dich nie gefragt, woher du das hast. Wer es dir erzählt hat. Versteh mich nicht falsch, es
hat mich interessiert, aber ich dachte, es wäre ein Spruch wie es viele sind, der nur mehr für
sich selbst lebt und aus einem Grund entstanden ist, den heute sowieso keiner mehr versteht,
aber zumindest bin ich hier. Mir hat es keiner gesagt. Liegt wahrscheinlich daran, dass ich weit
weg bin von hier, keine Brücken mehr habe, und auch keine mehr schlagen will, einfach weil
mein Leben an anderen Orten stattfindet. Ich habe es in der Zeitung gelesen. Deine Eltern wohl,
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rote nelken und keine überraschungen
sie haben eine Anzeige setzten lassen, ganz einfach und reduziert. Beim ersten Mal habe ich
sie übersehen. Erst später ist es mir wieder eingefallen. Ich weiß auch nicht, warum ich hier bin.
Ehrlich! Das mit uns ist jetzt schon so lang her, so unwichtig und fern, aber ich weiß nicht, etwas
hat mich hergezogen. Ich hatte mich von der Vergangenheit schon verabschiedet, so wie es jeder
macht, wenn viel Wasser ins Meer geflossen ist, aber trotzdem musste ich nochmals hierher.
Es ist absurd, aber ich erweise einem Menschen die letzte Ehre, den ich seit Jahren nicht mehr
getroffen habe. Sag, was ist mit dir geschehen? Was war los mit dir? Hab dich lange nicht mehr
gesehen? Aber Gräber schweigen nun mal. Irgendwie schade, aber das Leben geht nun mal weiter,
weil es immer weiter geht, weil es nie endet, oder ich das Ende so und so nicht erfassen kann.
Weißt du, das von damals tut mir leid, auch wenn die Wunden sicher schon längst verheilt waren.
Ich war jung und dumm. Das soll keine Rechtfertigung sein, eher das Relikt einer Zeit, damit du
mich verstehst. Vielleicht bin ich auch deshalb hier, weil du mich erinnerst. Im Endeffekt weiß ich
sicher nicht mehr viel, und das, was noch da ist, ist sicher auch schon verwaschen. Kein Mensch
behält wirklich etwas im Kopf, schon gar nicht, wenn es lange her ist. Irgendwie wird dann doch
alles gebogen und verschönt, aber das macht auch nichts mehr. Es war eine gute Zeit damals, und
das kann ich nicht leugnen.
Ach ja, ich bin verheiratet. Haben wir uns wirklich so lange nicht mehr gesehen? Nein, ich denke,
das weißt du noch nicht. Komisch, dass wir uns so sehr aus den Augen verloren haben, aber wem
sag ich das? Einem Grabstein, etwas Leblosem? Und ob du es hörst oder siehst oder verstehst?
Woher soll ich es wissen? Was weiß ich schon, über das danach. Im Religionsunterricht wurde mir
gesagt, Gott ist transzendent, dann ist es wohl der Himmel auch, und wenn es nach den Klerikern
geht, dann schmorst du sowieso in der Hölle. Ich würde gerne wissen, ob sich einer erweicht hat,
dich einzusegnen? Vielleicht stimmt ja auch Reinkarnation und du siehst mir längst als eine der
Tauben, oben vom Türmchen der Kapelle auf die Schultern, oder das Nirwana hat dich ins Nichts
versetzt. Und vielleicht ist auch alles einfach nur Lüge, und es endet doch mit einem Schlag, Stille,
Vergessen und der ewigen Leere, dem Auslöschen. Was weiß ich schon, was niemand weiß. Auf
jeden Fall noch immer nicht, warum ich wirklich hier bin. Ich hatte doch gar keinen Bezug mehr zu
dir. Dazu mag ich den Tod nicht, sterben und alles drum herum. In meinem Kopf, da lebst du noch
immer, da habe ich dich klar vor meinen Augen in strahlenden Farben. Es ist schon komisch.
Ich weiß noch, da war ich noch klein, da hat mich meine Großmutter auf einen Friedhof
mitgenommen, der sah nicht viel anders aus als dieser. Er war auf einem Hügel ein wenig
außerhalb des Dörfchens angelegt, zu dem er wohl gehörte, um eine Kirche, begrenzt von hohen
Mauern. Auf dem Weg dorthin hat sie mich sicher zwanzigmal ermahnt, dass ich anständig
sein sollte, dass ich leise sein sollte, dass die Toten ihre Ruhe wollten. Wahrscheinlich war ich
schrecklich eingeschüchtert, als wir dort angekommen sind. Ich habe ihr geholfen eine Unmenge
an Gartengeräten und Blumen zu einem Grab zu schleppen. Sie war nie ein leiser Mensch, hat
immer viel geredet, ob der Tag lang war oder nicht, als wollte sie, die Grenze ihrer eigenen Zeit
schon fühlbar im Rücken, noch etwas weitergeben, einen Fußtritt hinterlassen, und wenn es
nur ein paar Worte an einen Enkel, mich, waren, der eigentlich nicht erfassen konnte, was sie
sagte. Am Friedhofstor redete sie von Nelken, die für sie die Blumen der Toten waren, aus denen
Kränze und Gestecke geflochten wurden, mit einem letzten Lächeln, dass ich diese nie meiner
Freundin schenken sollte, und strich mir über das Haar, aber ich mochte doch gar keine Mädchen
und eine Freundin wollte ich schon gar nicht haben. Vielleicht ist es Zufall, vielleicht waren es
auch ihre Worte, aber ich habe nie jemandem Nelken geschenkt. Sie muss es oft zu mir gesagt
haben, bis dass es in Mark und Bein übergegangen war, dass ich ohne nachzudenken doch danach
handle. Eigentlich absurd, denn sind nicht die Totenblumen eigentlich Lilien? Wenn ich so darüber
nachdenke, was spielt es für eine Rolle? Hier habe ich eine letzte Rose für dich. Ich weiß, sie ist nicht
schön, aber die Läden hatten schon geschlossen. Sie ist aus meinem Garten, eigentlich noch mehr
Knospe als Blüte. War wohl die letzte dieses Jahres.
Ich weiß nicht, ob meiner Großmutter das gefallen hätte, sie wird es mir auch nicht mehr sagen
können. Damals erzählte sie mir, dass dort ihre halbe Familie begraben ist, und eigentlich habe ich
nichts verstanden. Für mich war das Leben damals grenzenlos, sterben ein Begriff aus Büchern,
und der Tod etwas, über das man nicht spricht, ein Tabu. Irgendwie ist er das heute auch noch.
Ich bin dort herumgestanden, und mir war langweilig, während meine Oma Rosenkränze beim Bepflanzen des Grabes gemurmelt hat. Langsam habe ich begonnen herumzuwandern, mir noch recht
mühsam die Inschriften auf den Gräbern erlesen, als ich gesehen habe, dass dort gegraben wird. Zwei
Männer in schäbigen Latzhosen haben ein Grab ausgehoben. Schaufel um Schaufel gruben sie sich
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rote nelken und keine überraschungen
tiefer in den Boden, während meine Großmutter leise Amen seufzte, das Gebet von vorne begann.
Es dauerte nicht lange, da begann einer der Männer mit mir zu reden, während ich in das Loch
starrte und wartete, was sie hoch holen würden.
Ich habe noch genau vor meinen Augen, wie sie auf den Sargdeckel kamen. Das Holz war vermodert,
teilweise eingebrochen, wippte stark, wenn sie darauf traten, aber sie hatten keine Angst, hinab zu
fallen. Schweigend sah ich ihnen zu, betrachtete den Haufen an Erde und Steinen, der wuchs, und
hörte ihnen zu. Wollte ich damals höflich sein, oder war es kindliches Interesse, wie an einem neuen
unbekannten Spielzeug? Sie brachen die Bretter mit einer Eisenstange heraus, legen sie neben den
Hügel, der dieses Grab vormals versiegelt hatte. Irgendwie habe ich mir erwartet, dass darunter
Erde sein würde, oder rein gar nichts, dass nichts von einem Menschen bleiben würde. Asche zu
Asche, Staub zu Staub, was sollte davon auch noch übrig sein. Erde war im Grunde genommen
da, aber darunter war ein schwarzer Müllsack mit Reißverschluss. Einer von ihnen trat mit einem
Fuß dagegen, betrachtete die Reaktion. Als nichts geschah, zerstachen sie ihn mit ihren Spaten,
um schließlich das hervorzuholen, was wirklich blieb. Sie legten die Knochen separat bei Seite, als
wollten sie dem längst Verwesten eine letzte Ehre erteilen, tranken dabei Bier und redeten von einer
Obduktion, die wohl an diesem Fragment einer Person gemacht worden sei. Als sie auf den Schädel
stießen, nahm einer von ihnen den skelettierten Rest auf seinen Spaten und hielt ihn mir mit einem
verschmitzen Lächeln entgegen.
Der Tod, ich hatte ihn nie so gesehen, so endgültig und unausweichlich. Ich hatte Angst, schreckliche
Angst. Meine Beine waren erstarrt, wie zementiert in diesem Platz vor einem halbleeren Grab. Der
Mann forderte mich auf, den Schädel zu nehmen, er würde mich schon nicht beißen. Gelbe Zähne
blitzten unter den dünnen fleischfarbenen Lippen hervor, im Mundwinkel eine Marlboro oder ein
ähnliches Kraut gekniffen.
vorsichtig greifst du nach dem kopf weichst wieder zurück willst weglaufen nur fort von hier getrieben
von neugier dem kindlichen element von einem hang zum unbekannten an deinem abhang entlang
siehst in die leeren augenhöhlen suchst nach einen blick wo keiner sein kann zögernd wartend
hoffst du auf eine eingabe auf eine stimme die dir sagt was gut und böse ist ob du das tun sollst oder
darfst er bedrängt dich und du fühlst dich getrieben noch immer wartest du streckst langsam deine
hand berührst den kahlen knochen mit den fingerkuppen schreckst noch einmal zurück wieder
die gleichen fragen in welch ein dilemma bist du geraten du willst laufen nur weg von hier weg von
diesem ort weg vom tod kalter schauer auf deinem rücken deine hand zittert und du mit ihr er lacht
dich an der mann der kopf und dein willen sie lachen dich alle aus deine großmutter will sie dass du
das tust würde sie es erlauben würde sie zustimmen glaubst du ein blick zu ihr sie sieht dich nicht
noch ein blick sie reagiert nicht siehst deine hand die zurückschreckt fasst dir ein herz das schon
längst in deiner hose ist deine knie am schlottern ist es verboten ist es recht das ist ein toter der wird
nicht mehr lebendig der ist bei gott oder sonst irgendwo was macht er dann vor deinen augen warum
glotzt er dich so hohl an will er dir etwas sagen was will der schädel von dir wenn er könnte wollte
er mit dir sprechen wird er es heute nacht in deinen träumen wird er dir die wahrheit sagen die dir
niemand sagen konnte wo hört alles auf wo beginnt es mit dem ende du schließt deine augen willst
nicht mehr sehen willst das gelächter nicht mehr hören fasst unter das kiefer bohrst deine finger in
dunkle schwarze erde fühlst sie weich und feucht brocken auf deiner hand stücke von ihm aus einer
anderen welt nur nicht von hier hebst langsam an die schwere reißt deine hand nach unten ist er so
der tot wird alles einmal so sein wirst du einmal so sein deine mutter und alles um dich geht alles
diesen einen weg zum bleichen zum nagen und vergehen was wird aus dir dein atem stockt du hältst
die luft an fühlst die zähne auf deiner haut nimmst deine zweite hand viel zu schwer er lacht noch
immer der gräber und der kopf sie lachen dich aus wollen dich verspotten deine großmutter sieht sie
dich was wird sie über dich denken wird sie dich auch auslachen wird sie es ihnen gleich tun ein ruck
die decke sie fällt ab du wie stein ein schlag zu boden dumpfer klang du lässt ihn fallen erschrickst
und glaubst zu fallen den halt verloren zu haben abgelitten zu sein ins böse in die verachtung deine
neugier hatte dich weggerissen aufgehoben fallen gelassen und einen tritt verpasst ein schritt zurück
du willst schreien weinen zeigen dass es dich noch gibt nur leeres krächzen tonlos sprachlos und
wortkarg rollt der schädel wieder ins grab zurück in die vergangenheit das lachen des gräbers noch
in deinem kopf der tod so plastisch irreal unaufhaltsam unausweichlich hier
Die Totengräber grinsten mir entgegen, redeten wieder von einer Obduktion, dem Wort das ich nicht
kannte und machten weiter, schaufelten und brachen Bretter aus dem Boden, bis sie auf harten
Stein stießen. Ich fühlte mich schlecht, als hätte ich etwas schrecklich Verbotenes gemacht. Ich
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Ich werde auch dich nie vergessen. Du hast mir einmal mehr als alles andere bedeutet. Nur mit dir
war der Himmel wirklich blau und das Gras wirklich grün, und alles war echt und geladen wie ein
Experiment, in dem wir beide gegenseitig unsere Versuchsobjekte waren, einfach elektrisch, wie
eine Achterbahnfahrt oder das Gefühl, etwas Verbotenes getan zu haben. Ich hätte für dich alles
und noch mehr gegeben, hätte Berge für dich versetzt und Sterne vom Himmel geholt, nur um
dich bei mir zu haben. In meiner Erinnerung höre ich noch immer dein Lachen, den Klang deiner
Stimme, wenn du sagst, dass du mich liebst, spüre noch immer, dass mir jedes Mal dabei der Atem
gestockt ist, und ich gehofft habe, es geht nie vorbei, aber die Zeit hat uns beide anderes gelehrt.
Wir konnten alles besiegen, nur sie nicht. Sie hat uns zusammengeführt und wieder getrennt, und
jetzt bin ich zu spät. Ich konnte nichts mehr dagegen machen. Wahrscheinlich hätte ich es sowieso
nie, aber ich hätte es doch versuchen können, aber ich habe nichts gewusst, habe dich verloren,
und dich nicht mehr gefunden. Ich liebe meine Frau, aber das mit dir, das war einmalig. Es wird
wohl nie mehr wieder so gut. Etwas fürs Leben, und wenn es auch nur blass ist, und wenn es auch
Selbstbetrug ist, und wenn es auch alles nicht mehr stimmt, wie ich es jetzt vor mir sehe, so bleibt
es mir doch so und nicht anders, so bleibt es doch so bei mir, bis auch ich dir Gesellschaft leiste,
wo auch immer du jetzt bist.
rote nelken und keine überraschungen
habe das niemals jemandem erzählt, aber vielleicht habe ich damals begonnen ein Stück von dem
zu verstehen, was ich heute noch nicht fassen kann, denn bald wirst du auch nicht mehr sein als ein
paar weiße Knochen in dunkler Erde in einem Plastiksack. Ich werde das Geräusch, als die Bretter
brachen, nie vergessen, das Nachgeben unter einer Eisenstange, das Biegen und Bersten.
Du stehst auf, siehst noch einmal auf die Kerze, deren rotes Licht jetzt in die Nacht flackert,
schließt die Augen für einen Strom von Bildern, ergibst dich dem Moment in stiller Wehmut. In
einer bittersüßen Flut wird das Leben zum Film, einem Zeitraffer aus Aufnahmen, jede für sich
einzigartig, jede für sich ein Stück, das betrachtet werden will, doch viel zu schnell wieder verläuft,
wie Sand durch die Finger rinnt, um wieder zu verschwinden, noch ehe sie richtig begriffen werden
konnte. So fühlst du dich hin und her gerissen, bist wie ein Segel im Wind deiner Gefühle, getrieben
durch den Zufall, durch andere, durch dich selbst und deinen Willen, durch Umstände, die du
nicht mehr beeinflussen kannst. Du vermisst sie, diese alten Tage, in denen alles noch neu war;
so intensiv, so überwältigend, dass du niemals dafür Worte finden konntest. Wird dir jetzt bewusst,
was du hier suchst? Nicht sie war dein Ziel, nicht die Erkenntnis, dass ihr Ende besiegelt ist, nicht
die Trauer zu einem Menschen, den du längst nicht mehr kanntest. Nichts Logisches hat dich hier
her gelockt, sondern der Wunsch nach etwas Altem, einem Stück, dass du verloren und vergessen
geglaubt hast, dem Rest von etwas, das in deinem Leben so weit von dir gewichen war, dass du es
kaum mehr am Horizont ausmachen konntest. Noch ein letzter heimlicher Blick, als ob du es noch
immer nicht glauben kannst, erwachst aus deinem nächtlichen Tagtraum, überwindest die Stasis
und verlässt langsam den Ort, als ob du versuchen wolltest kein Geräusch zu machen, die Ruhe
nicht zu stören. Zurück bleibt Stille, der Klang des Windes, das Flackern von Lichtern, und ein fast
gespenstisches Schweigen in dir selbst.
Du bist in dieser Nacht noch lange nicht nach Hause gekommen, hast Kilometer mit dem Auto
abgespult, einfach nur um zu fahren, als wolltest du vor etwas davon laufen. Alles war schon dunkel,
als du deine Wohnung betrittst, verriegelst leise die Tür, wirfst einen Blick in das Zimmer, in dem
deine Kinder schlafen. In dir, langsam und träge, verharrst du, siehst wieder ihre Augen, das Meer
und die Sonne auf ihrer Haut, hörst das Meer rauschen, fühlst den Sand zwischen deinen Zehen,
ihre Hand in deiner, ihre Lippen auf deinem Mund, hörst das Ächzen von Brettern, riechst rote
Nelken.
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Caroline Schiel ist ein Pseudonym von Gertraud Klemm, geboren 1971 in Wien. Jugend und
Studienzeit in Baden und Wien. Erste Schreibversuche mit 13. Nach einem Biologiestudium und
ein paar Jahren Berufserfahrung im naturwissenschaftlichen Bereich besinnt sich Gertraud auf ihre
musischen Wurzeln und beginnt wieder vermehrt zu schreiben. Zwei Mal hat sie schon erfolgreich
bei Wortlaut teilgenommen (deswegen auch das Pseudonym), was sie sehr gefreut und unter
anderem dazu bewogen hat, mit dem Schreiben Ernst zu machen. Gertraud musiziert, malt und liest
sehr gerne. Im Augenblick gönnt sie sich ein Freijahr, schreibt an ihrem ersten Roman und sucht
nach einem Verlag für ihre Kurzgeschichten. Wenn sie genug Zeit und Geld hat, reist oder wandert
sie gerne durch die Welt, am liebsten mit ihrem Mann oder allein.
der sargträger
Caroline Schiel
Der Sargträger
Mit angemessen kleinen, würdigen Ameisenschrittchen und gebeugtem Haupt trotte ich im
Trauerzug hinter einer großen, hageren Salzburgerin mit schwarzen Stöckelschuhen her. Mein
gesenkter Blick erlaubt mir das eingehende Studium der abgewetzten Stöckel, die der ständig
plappernden Trägerin im Kies erschreckend wenig Stabilität verleihen. Wie ich ist sie scheinbar
nur eine entfernte Bekannte des Verschiedenen und daher am sich verjüngenden Schwanz des
Trauerzuges zu finden; nach hinten werden die Reihen schütterer und die Laune besser – die Moral wird gegen Ende des Zuges immer dünner, so, als ginge der Menschenmenge mit wachsender
räumlicher Distanz zum Verstorbenen der Saft zum Trauern aus. Stattdessen verkürzt man sich z.
B. heute die Zeitdauer damit, die Qualität von Schnäpsen aus dem oberen Inntal zu loben oder man
kritisiert das Wesen der Bestattung an sich, so wie es die Stöckelschuhfrau soeben vor mir heftig tut.
„Das gehört doch alles schon längst abgeschafft. Kein Mensch braucht diese Quälerei. Eingraben und
fertig“, höre ich sie sagen. Ich hebe den Blick kurz: Angesichts der Tatsache, dass das, was ich von
ihr sehen kann, auch schon verrunzelt genug aussieht, um in absehbarer Zeit selbst mit „eingraben
und fertig“ von den Lebenden verabschiedet zu werden, bewundere ich ihre Nonchalance und ihre
Respektlosigkeit, die sie vielleicht sogar sich selbst gegenüber beweist.
Der in Kürze Begrabene ist der Vater eines Freundes von mir, ich habe ihn nicht oft gesehen, zwei
Mal vielleicht, aber dem Freund zuliebe will ich mich gerne zeigen. Meine fehlende, aufrichtige
Anteilnahme und den ausbleibenden Tränenfluss verberge ich hinter einer in alle Richtungen ausufernden Sonnenbrille von Dior, die mich ein Viertel meines Monatsgehalts gekostet hat. Ich mache
mir vor, dass dieser überdimensionierte, schwarze Schild meinen kleinen, dürren Körper ziert,
ihm etwas von seiner Schmächtigkeit nimmt, etwa so, wie die riesigen Facettenaugen den Libellen
etwas Majestätisches, Unberührbares verleihen; Libellen mit kleinen Augen würden kein Schwein
interessieren, man würde nach ihnen schlagen wie nach allen anderen dürren, stabförmigen
Fluginsekten auch.
Prall und üppig präsentiert sich der Frühlingstag, so übervoll mit Leben, Pollenflug, balzenden Vögeln,
sich paarenden Schusterkäfern und Maikäfern, richtig aufdringlich schiebt sich die Lebenskraft vor
die Schatten des Sterbens. Es scheint grotesk, sich an einem Tag wie diesem dem Tod zu widmen,
die Trauergemeinschaft tut sich eh schwer, aber bitte, die Meisten bemühen sich ja.
Der Zug kommt ins Stocken, das kollektive Scharren im Kies verebbt, der Kopf der Menschenschlange hat das Grab erreicht. Nun verteilt sich die Trauergemeinschaft geschmeidig auf dem
wenigen Platz, der zur Verfügung steht, umfließt dynamisch die angrenzenden Gräber, bedacht,
beim Herumstehen zwischen den Gräbern keine pietätlosen Berührungen mit Grabsteinen zu
verursachen. Ich kann nichts sehen, weiß es aber genau, weil ich in letzter Zeit oft in der ersten
Reihe stehen durfte. Begräbnisse haben mein letztes halbes Jahr begleitet, und weitere Begräbnisse
werden folgen, zumindest arbeiten mehrere Krebsarten in den Körpern einiger meiner noch
verbliebenen Familienmitglieder sehr zielstrebig daran.
Den Anfang des großen Sterbens machten meine Großeltern, die quasi Hand in Hand gestorben sind,
so knapp hintereinander, dass die Trauergemeinde immer wieder den schwachsinnigen Vergleich mit
Papageien bemühte – Papageien nämlich sterben vor Kummer, wenn sie ihre Partner verlieren, sie
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der sargträger
hören auf zu fressen und zu trinken und warten geduldig, bis sie tot vom Baum fallen. Ein bisschen
war es wirklich so gewesen, Opa hatte nach Omas Tod sein Gebiss ausgespieen, seinen faltigen
Mundtrichter für immer versiegelt und war drei Tage später aus seinem Rollstuhl gekippt, mausetot,
vertrocknet. Wir nickten damals also beipflichtend, wenn die Papageientheorie tröstend gespendet
wurde, meine Hände unter dem Tisch aber verselbständigten sich – in meinem ins unermessliche
steigenden Grant zupfte und riss ich mir im Verborgenen die Haut um die Fingernägel blutig.
Kurz darauf ereignete sich das in den Medien als „Autobahn Tragödie“ bezeichnete Verscheiden
meiner Eltern, die durch die Wucht eines Lastwagens voller saftiger, rot glänzender Äpfel zu Tode
gequetscht worden waren; am Steuer des geisterfahrenden Lasters saß ein besoffener, steirischer
Mostbauer. Irgendjemand hatte mich zum Unfallort gebracht, die Aufräumarbeiten hatten noch
nicht begonnen und aus dem Führerhaus des Krankenwagens hatte ich einen guten Blick auf das,
was die Tücke der physikalischen Kräfte von meinen Eltern übergelassen hatte. Der Renault meiner
Eltern sah nachher aus wie ein Teil der fruchtigen Ladung, so klein und würfelig inmitten einem Meer
von Äpfeln und Kisten, und obenauf wie Schokospäne auf einem feinen Nachtisch die zerborstenen
Bretter der Paletten. Meine Eltern selbst waren wohl zu einer Art Gulasch oder gar Brei geworden,
zumindest schloss ich das aus der Tatsache, dass man mir ihren Anblick entschieden verwehrte.
Die Organisation von Begräbnissen wurde zu einer erschöpfenden Routine, die mich dergestalt in
Anspruch nahm, dass ich meinen eigentlichen Vollwaisenstatus erst nach der Doppelbeerdigung
meiner Eltern realisierte, nämlich, als ich mich beim Leichenschmaus zwischen Menschen
gepfercht fand, die in konzentrierter, gefasster Gier ihre Wiener Schnitzel zersäbelten und in
sich hineinstopften, eine Demonstration geschlossener Gleichgültigkeit. So war das Leben nun
mal; gegen Ende gibt es meist noch einige grausliche Details über unkontrollierte Körpersäfte,
Schläuche usw., dann wird gestorben, beerdigt und im Wirtshaus wieder die Kurve gekratzt,
schnell zurück in das Mahlwerk des Verdrängens, denn das Leben muss weitergehen, „wird scho´
wieder, gehen´s Fräulein, bringen´s mir noch ein Krügerl“. Alle außer mir hatten jetzt fleischliche
Bedürfnisse, Appetit, Durst, Bedarf nach Berauschung. Eine wohlmeinende Hand lud mir
Schweinsbraten und Knödel auf meinen Teller und eine weibliche Stimme säuselte mir beruhigende,
zum Essen ermunternde Worte ins Ohr. Der Gedanke an Dinge im Mund haben, Kauen, und
überhaupt, Schlucken, war lächerlich. Die Wucht der Einsamkeit traf mich überraschend, aber
gut gezielt. Damals hatte ich mich erhoben und am Klo eingesperrt. Es war ein altmodisches,
mittelschlecht riechendes Klo mit rissigem Steinboden, einer Holzbrille und einer in ein feines Netzwerk zersprungenen Klomuschel, in dessen Labyrinth ich so lange hineinstarrte, bis der
Brechreiz sich darin verlor wie ein böser Traum. Etwas legte sich auf mich, eine kühle, schwere
Decke, nicht daran denken, nicht daran denken, nicht daran denken. Der Wunsch zu weinen wurde
in kalte Umschläge eingepackt und für später aufgehoben.
Dann ging ich zurück und stand die Feier bis zum Ende durch. Die letzten Gäste waren zäh, und
nachdem sie satt gefressen hatten und mit Alkohol abgefüllt waren, rang es ihnen am Ende dann
doch noch glaubwürdige Traurigkeit ab. Nachdem dann die übrig gebliebenen Tanten und Onkel mit
von Tränen süffigen Augen ihre schlaffen, nassen Wangen an meiner trocken gerieben hatten und
gegangen waren, blieb ich im Gastzimmer zurück wie ein ungeliebter, vergessener Gegenstand. Die
eintrocknenden Tränen spannten auf meinen Wangen, daran wagte ich zu denken; es fühlte sich
nicht gut an, aber auch nicht schlecht.
So ist es jetzt immer noch. Alles, was sich geändert hat, ist, dass mir der Mundraum viel zu klein
geworden ist, ungefähr so, als hätte man eine Schlehe gegessen, die die Mundschleimhaut in null
komma nix zusammenschnurren lässt. Essen ist noch schwieriger geworden. Seit dem Klobesuch
am Begräbnis meiner Eltern ist meine Trauer wie hinter einem dunklen Bretterverschlag verborgen,
schläft dort ruhig und atmet gleichmäßig. Etwas flüstert mir zu, „Du darfst diesen Zustand jetzt
nicht ändern, die kühle Einsamkeit ist erträglich; alles andere würde aus Dir hervorplatzen und Dich
spalten“. „Ja“, pflichte ich still bei.
Der Trauerzug hat sich langsam vorwärts geschlängelt, bald bin ich dran, mein Scherflein dazu
beizutragen und ein bisschen Erde auf den Sarg zu werfen. In kann es schon hören, das Geräusch
des rituellen Verschüttens, zuerst Platsch, und dann ein leises Rieseln, fast gleichzeitig, aber eben
nur fast. Der Redefluss der Salzburgerin vor mir ist auch endlich versiegt; ich frage mich, ob sie jetzt
vielleicht wirklich ein bisschen traurig geworden ist, so in unmittelbarer Sargnähe, und ich vergönne
ihr eine ausgewachsene Angst vor dem Tod. Platsch, Riesel. Gleich bin ich dran. Die Salzburgerin
sieht beim aktiven bzw. bemühten Trauern gleich noch älter aus. Aber was mich wirklich überrascht,
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der sargträger
ist die Miene jenes Sargträges, der jetzt die Funktion des Erdschaufel-Reichens übernommen hat:
Er sieht fast so betroffen aus wie die unmittelbaren Familienangehörigen. Seine blasse Haut ist über
den Wangenknochen gespannt, die Augen liegen tief und in zwei düsteren Seen aus Schatten,
kraftlos und resigniert kriecht ihm eine dünne Haarsträhne über die Stirn.
Mit gesenktem Blick reicht er mir die Schaufel, ich nehme sie und werfe die Erde in etwas zu hohem
Bogen auf das Grab; Patsch, Riesel. Ein an Biomüll erinnerndes Konglomerat von Erde, Blumen und
Schleifen bedeckt den hellen Sarg dürftig. Ich verweile ein wenig, will mich irgendwie verabschieden,
werde nervös, weil mir nichts Gescheites einfällt, statt dessen belagert Biomüll mein Gehirn, ich kann
nur an den Anblick und Geruch runzliger Radieschen und schimmliger Zitronen denken, und zu allem
Überdruss kommen auch noch Nacktschnecken dazu. Ich lasse meinen Blick verstohlen seitlich zum
faszinierenden Sargträger schweifen, da nickt mir der plötzlich zu, verschmitzt und überraschend
vertraut. Er trägt ein weinrotes Sakko mit goldenen Knöpfen, seine Würde hat etwas Tröstliches und ich
würde ihn gerne nachher umarmen. Dankbar lächle ich ihn an, nicke zurück, etwas zu heftig, denn dieses
Nicken destabilisiert den Halt meiner Sonnenbrille, und bevor ich nach ihr greifen kann, gleitet sie
behände über meine Nase und fällt in steilem Winkel mit einem unpässlichen „Tock“ auf den Sarg.
Ich erstarre, unterdrücke das dringende Bedürfnis, mich hinzuhocken und die Brille aus dem Grab
zu retten. Genauso wenig kann ich sie dem Grab opfern, bei dem Gedanken an die Kosten blutet
mir das Herz. Ich blicke beschämt in die Runde, verhohlene Komik ist in den Gesichtern zu lesen,
aber der Sargträger macht eine beschwichtigende Kopfbewegung und winkt mich weiter. Als ich an
ihm vorbeigehe, raunt er mir zu: „Später.“ Sonst nichts.
Ich zapple weiter, den letzten Flaschenhals der Prozession, das Kondolieren, zu überwinden. Als
ich auch dort vorbei bin, nehme ich auf den Stufen einer einschüchternd aussehenden Gruft Platz
und warte, bis sich die Reihen endgültig lichten und der Trauerzug zerbröselt. Die Gesellschaft
versammelt sich vor dem Friedhof und startet den Abmarsch zum Leichenschmaus.
Endlich ist es ruhig, ich habe das Grab im Blickfeld, richtig nackt und erbärmlich sieht es jetzt
aus, so ganz ohne lebendige Menschen rundherum, ein Loch in der Erde und ein in Stehwänden
gefangener Erdhaufen daneben, irgendwo dazwischen der erloschene Körper in einer Kiste aus
lackierten Eichenholzbrettern.
Ich warte, aber der Sargträger bleibt verschwunden. Also warte ich weiter, ohne Sonnenbrille, mit
geschlossenen Augen, bade mein Gesicht in der warmen Frühlingssonne. Als ich das Knirschen
im Kies höre, weiß ich, es ist der Sargträger. Aus einem anderen Eck des Friedhofs kommt er mit
schlaksigem Gang auf mich zu, und je näher er kommt, desto mehr muss ich an staksende Fohlen
denken; ich könnte ihn stundenlang genussvoll dabei beobachten, wie er auf mich zu kommt. Vor
mir bleibt er stehen, etwas schwankend, die Arme baumeln noch nach; ich erhebe mich, linkisch
neigt er den Kopf und sieht mich von unten an, macht sich kleiner, ich habe keine Ahnung was das
bedeuten soll, aber es stört mich nicht. Irgendwie sind wir von zwei verschiedenen Gattungen, und
dennoch haben wir viel gemeinsam – unsere Seltenheit, unser fast ein bisschen Außerirdisch-Sein;
vielleicht könnte man uns sogar im selben Käfig halten.
„Das war ja eine Meisterleistung“, beginnt er die Unterhaltung. Seine Stimme ist hell, klar und
unmännlich.
„Ja, wirklich“, pflichte ich bei, muss lächeln.
„Holen wir sie mal raus, oder?“ Er lächelt zurück, offenbart ein echtes Clowngesicht, mit großem,
klobigem Kopf; dort wo die Wangenknochen beginnen, ist es am breitesten und verjüngt sich zum
Kinn fast herzförmig. Von der betroffenen Schattigkeit beim Begräbnis ist nichts mehr zu sehen,
dezent vorstehende Schneidezähne und die flinken Augen verleihen ihm etwas Hasenartiges.
Ich nicke und wir gehen zum Grab, er springt leichtfüßig neben den Sarg und legt in Erde und
Blumen scharrend meine Brillen frei, reicht sie mir und klettert wieder aus der Grube. Wie aus dem
Nichts ertönt in meinem Hirn plötzlich das Kinderlied „Häschen in der Grube“, und ich kann es
meine Mutter singen hören, ihre Stimme ist jung und gesund und tröstlich, die Melodie kriecht wie
ein Wurm in mein gepanzertes Herz und versetzt mich in Panik. Schnell greife ich nach der Brille,
setzte sie auf und drücke sie auf die Nase, fast brutal.
„Ist alles in Ordnung?“, fragt der Sargträger.
„Ja“, lüge ich.
„Sie sehen grauenvoll aus.“
„Kreislaufschwäche“, lüge ich weiter.
„Kommen Sie mit in die Tischlerei, dort können Sie sich kurz setzen. Ich habe gerade Mittagspause.“;
er wartet gar nicht auf eine Antwort sondern führt mich gleich ab.
Ich wehre mich nicht, sein Arm liegt so fest und bestimmt auf meiner Schulter, und so, wie
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der sargträger
Feuerwehrmänner in Decken gehüllte, entwurzelte Menschen über verbrannte Erde in Sicherheit
bringen, führt er mich über den knirschenden Kies.
Wir verlassen den Friedhof durch eine schmale Hintertüre, die direkt in den Hof einer kleinen
Tischlerei führt. Eine Verheißung von Fichtenholz und Waldböden liegt in der Luft, der Holzgeruch
wird intensiver, köstlich, als wir durch eine Lagerhalle mit endlos langen, in Wandregalen liegenden
Brettern in die eigentliche Tischlerei kommen. Ein schmaler, langer Raum tut sich auf, mit einer
großen Arbeitsfläche, gefährlich aussehenden Geräten und Werkzeugen sowie einem unordentlich
voll gestopften Regal mit Büchern, Katalogen und Plänen. In einem Eck stehen eigenartige
Konstrukte, die mich an Krücken erinnern, oder besser noch, an die Stützen aus Salvador Dalis
Bildern, über die Uhren dahin schmelzen oder in denen der Schlaf ruht. Ein unter einer dicken
Staubschicht begrabenes Telefon vollendet das Stillleben.
„Warten Sie hier, ich mache Ihnen Tee“, sagt der Sargträger und verschwindet in eine winzige
Küche, die durch eine Türe getrennt wird, die offensichtlich niemals geschlossen wird. Alles ist
mit Staub bedeckt: der Herd, die Kästen, der Wasserkocher, die Teedose, die Tassen wohl auch.
Ich setze mich auf einen Drehsessel neben der offenen Küchentüre und schaukle mit leicht
geöffneten Augen, während der Sargträger beim Tee machen leise herumklappert und klirrt. Durch
die Augenschlitze beobachte ich abwechselnd ihn und die Werkstatt. Schließlich reicht er mir eine
Tasse mit zu starkem, schwarzem Tee, ich winke bei Zucker ab, bedanke mich und blase verlegen
auf die Oberfläche des Getränks. Er nimmt auf der Arbeitsfläche Platz; seine Beine baumeln ins
Leere.
„Sie sind also Sargträger“, breche ich das Schweigen.
Er schüttelt den Kopf und grinst. „Nein. Ich bin eigentlich Tischler. Aber ich arbeite hier bei der
Friedhofsverwaltung, weil ich keinen anderen Job gefunden habe.“
„Bauen Sie hier Särge?“, frage ich.
„Nein, die kommen aus der Sargfabrik. Die Tischlerei ist nur zufällig neben dem Friedhof, ganz
praktisch, die Toten beschweren sich selten über den Lärm.“ Er lächelt nicht.
Ich nicke, auch nicht lächelnd. „Sie haben sehr professionell ausgesehen, dort beim Grab. Sehr
traurig und betroffen; das gehört wohl zum Job, oder?“
Er schüttelt wieder den Kopf, sieht dabei angestrengt auf den Boden. „Nein, es trifft mich wirklich
fast jedes Mal. Das Trauern. Die Verzweiflung. Aber auch die Gleichgültigkeit.“
Ich fühle mich ertappt. Spätestens nach dem Wegfall meiner Brillen muss er in meinem Gesicht
gelesen haben; mein Ringen nach Mitgefühl, nach den richtigen Worten des Abschieds, die sich
bitten ließen.
„Keine Angst, es geht mich nichts an. Außerdem …“, er beugt sich zu mir nach vor und stützt die
Ellenbogen auf die Oberschenkel, „… habe ich Sie trauern gesehen.“
Ich spüre, wie sich meine Brauen heben. „Ach“, sage ich gekünstelt.
„Ja. Auf der Beerdigung Ihrer Eltern, vor einem halben Jahr. Ich bin für einen Kollegen dort
eingesprungen, der sich den Fuß gebrochen hat. Ich hab Sie sofort wieder erkannt.“
Sein Blick penetriert mich, ich wende mich ab und verschränke die Arme vor der Brust. „Ich will
nicht darüber reden; wenn Sie damit anfangen, mich zu bedauern, werde ich gehen.“
Er rutscht vom Tisch, geht zu den eigenartigen Holzkrücken in der Ecke, berührt sie mit den
Fingerspitzen. Mit dem Rücken zu mir sagt er leise: „Nein, ich will gar nicht mit Ihnen darüber reden.
Aber ich will Ihnen etwas zeigen; kommen Sie her.“
Die Konversation ist gefährdet, ins Belehrende abzugleiten, ich kenne das schon, und nichts ist
schlimmer, als sich wieder mit einem klebrigen, lauwarmen Brei aus gut gemeinten Ratschlägen
übergießen zu lassen.
Ich erhebe mich, bereit zur Flucht, greife nach Tasche und Brille. Dann gehe ich zu ihm. Erst
jetzt sehe ich, wie schön die Krücken gearbeitet sind. Es sind ein- oder zweibeinige Konstrukte
aus an den Kanten abgerundeten, polierten Brettern, mit mehrteiligen Aufsätzen. Das Ganze sieht
ein bisschen nach zerschnittenen, weich und rund gemachten Kinderhochstühlen aus, oder nach
Gehhilfen für Missbildungen, deren Scheußlichkeit die Grenzen meiner Vorstellungskraft sprengt.
„Wozu sind die?“, flüstere ich und fürchte mich ein bisschen vor der Antwort.
„Für meine Kürbisse. Ich züchte Riesenkürbisse. Manche dürfen nicht auf dem Boden liegen, also
habe ich Ihnen diese Kürbiskrücken gebastelt. Ich habe schon einige Preise gewonnen.“
Er lächelt mich an, und die Begeisterung in seinen Augen sowie die Erleichterung über das
Ausbleiben von Schilderungen unsäglicher Verkrüppelungen rühren mich so sehr, dass mir die
Tränen in die Augen schießen.
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der sargträger
Er sieht mich entgeistert, aber immer noch lächelnd an.
„Sie weinen ja.“
„Das ist in Ordnung. Ich weine auch bei Faschingsumzügen.“
„Ach so.“
„Dafür weine ich nicht bei Begräbnissen oder Hochzeiten“, setze ich nach.
Er nickt abwesend.
„Verstehe ich“, murmelt er. „Wissen Sie, das ganze Jahr lang begrabe ich Menschen und sehe ihre
Angehörigen leiden, oder auch nicht. Manchmal kommt nur eine Handvoll Leute, manchmal gar
niemand. Manchmal begraben wir kleine Kinder, da brauche ich Ihnen wohl nichts zu erzählen. Und
währenddessen sprießen, blühen, wachsen meine Kürbisse heran. Es ist eine Art Ausgleichssport.
Das Weinen…“, er setzt sich wieder auf den Tisch, „ist eine eigene Wissenschaft. Ich kenne
mindestens fünf Arten des Weinens.“
„Ja“, sage ich. „Ich alleine kenne bei mir drei.“ Ich bin über meine Offenherzigkeit überrascht, aber
angenehm überrascht.
Dann dreht er sich nach mir um und blickt auf meine Tasche. „Sie müssen jetzt gehen, nicht?“
Ich nicke. „Ja. Danke für den Tee.“
Er gibt mir die Hand; sie ist trocken und kühl, aber nicht kalt. Er sieht mir fest in die Augen. „Machen
Sie es gut. Und kommen Sie mich bald wieder besuchen.“
„Ja, spätestens beim nächsten Begräbnis. Sieht so aus, als wäre das bald.“
„Das tut mir leid“, sagt er. „Aber dann zeige ich Ihnen die ersten Kürbisse.“
Ich nicke und verlasse die Werkstadt, drehe mich noch einmal um, winke ihm zu, er sieht mir
nach, regungslos, eines der Gestelle in der rechten Hand.
Ich gehe die Straße entlang. Es ist noch heller und heißer geworden. Den Kopf immer noch voller
Riesenkürbisse, setze ich meinen Körper auf eine Parkbank im Schatten. Vor dem Friedhof versammelt
sich die nächste Trauergemeinde, eine Handvoll Leute, die gedämpft miteinander plaudern. Ich
weiß nicht ob ich lachen oder weinen soll und verschiebe die Entscheidung auf später.
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geboren 1984 in Gmunden. Er wächst in Ebensee auf dem Gebiet des ehemaligen Konzentrationslagers
auf, besucht zuerst ein Gymnasium in Bad Ischl und später ebendort die Handelsakademie. Am
Lesen hatte er schon immer seine Freude, seit wenigen Jahren widmet er sich auch aktiv dem
Schreiben. Was einmal aus ihm werden wird, weiß er noch nicht. Was er weiß ist, dass er M. liebt!
Segenwerksbesitzer
segenwerksbesitzer
Rudi Stüger jun.
Eine selige Säge, eine gesegnete Säge, die der Pfarrer abgesegnet hat mit seinem Weihwasser, ehe
man ihn abgesägt hat, als er dem Ministranten ins heiligste Weihrauchfasserl gegriffen hat. So eine
besitzt er. Auf dem Land macht man so etwas, dass man sich die Säge segnen lässt, damit keiner,
der bei der Arbeit den Kopf verliert, die Hand verliert oder auch nur ein paar Finger. Der heilige Gott
und seine Mitarbeiter schauen auf das Sägewerk und seine Mitarbeiter und ganz besonders auf den
Chef, der es veranlasst hat, dass sein Werk gesegnet, sein Sägewerk zum Segenwerk gemacht wird.
Ein gesegnetes Werk zum Sägen von Holz, ein gefährliches Handwerk, ein schwerer Beruf, zu dem
man berufen sein muss, wie er glaubt.
So steht er jeden Morgen auf und geht hinüber, nur über die Straße, denn er wohnt gleich neben
seinem heiligen Werk, im selbstgebauten Holzblockhaus mit Herrgottswinkel. Das Holz vor der
gesegneten Hütte imponiert, er zeigt es gernejedem und lagert es auf einem Holzplatz vor der
Säge, dass jeder es sehe. Die Mitarbeiter sind glücklich, dass es ihn gibt, wo könnten sie sonst ihre
wertlose Zeit verbringen, als im kreischenden Segenwerk. Sie hören gut zu, was der Chef sagt, und
gehorchen. Die Hörigkeit des Fußvolks ist ihm wichtig. Er verkauft seine Hölzer bis nach Italien,
wohin er gern auf Urlaub fährt, darum muss alles wie am Schnürchen laufen – das Überleben des
Werks hängt am seidenen Faden (der Wirtschaft geht’s nicht gut; darum wählt er die Partei des
Volkes und hört dessen Musik). Woher das Geld kommt, ist egal, wichtig ist, dass die Mitarbeiter
aus Österreich sind. Er hat es sich nie leicht gemacht, der Sägewerksbesitzer, zahlt anständige
Löhne an anständige Angestellte und Arbeiter. Die Sicherheit der Holzarbeiter ist geboten,
wenn auch nicht oberstes Gebot, denn an der Wirtschaftlichkeit kommt man nicht vorbei. In der
heutigen Zeit hat kaum jemand Geld, es gibt immer mehr Bettler, die sich kein Holzblockhaus, wie
er es besitzt, leisten können.
Die Partei der Blumen und Wiesen, die Landschaftspartei in der heimischen Parteienlandschaft ist ihm
ein Dorn im Auge. Er soll nicht so viel absägen vom schönen, alles umgebenden Wald der Umgebung.
Geld kann man nicht essen, Gold kann man nicht atmen, sagen sie ihm, während er sich mit einer
großzügigen Spende an den Bergsteigerbund selber lobt. Die Natur ist ihm wichtig, nichts hat er lieber
als einen bodenständigen Familienausflug in die heimischen Berge, in denen er sich auf heimeligen
Lichtungen ablichten und in den örtlichen Zeitungen abdrucken lässt. Ein Foto beim Abdrücken auf
der Rotwildjagd, im Walkjanker, mit Abzeichen bestückt, hausgemacht von der braven Frau bestickt.
Eine brave Frau, die sticken und gar nicht übel ficken kann. Manchmal muss er aber trotzdem
hindreschen auf ihr noch jung aussehendes Gesicht. Er hält sie sich gerne bei der Stange, damit
ihr nicht einfiele eines anderen Stängel zu begehren. Das Kind schaut lieb aus in seinen gestrickten
Wollstutzen und der kleinen Trachtenlederhose. Die Eintracht der Familie mit der Kleintracht des Kindes macht sich gut im Vierfarbdruck für das Wahlplakat des Sägewerkbesitzers und Bürgermeiste
rsesselanwerbers. Für rechts und Ordnung will er sorgen und sich um die kleinen, betriebsamen
Leute kümmern und nicht um die Kümmeltürken, die uns das Holz wurmig machen und mit ihren
unmäßigen Kindermassen die Schulen verseuchen. Mit der Wirtschaft muss es bergauf gehen,
sagt er beim Interview vom Lokalfernsehsender, vor dem stählernen Gipfelkreuz, das zeigt, dass die
Alpen uns heilig sind.
Seine gesegneten Mitarbeiter wählen ihn nicht, denn sie fürchten ihn, auch wenn er ihnen
das Brot in ihr Körberl legt; nicht einmal die Sekretärin, der er des Öfteren die schönen Fladen
aus den Körbchen holen darf und ein dickeres Gehalt zahlt, solange sie nur nicht zunimmt,
wird ihn wählen. Er vernascht gern hin und wieder eine gute Jause, während die brave Frau
im Holzblockhaus einen Haushalt führt, der ihr das Ein-und-Alles sein muss. Spaß muss sein;
doch zuerst kommt die Arbeit und so haben die Mitarbeiter nicht viel zu lachen und schon
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segenwerksbesitzer
im jüngsten Alter die schwersten Gehörschäden von der brüllenden Säge, die aus brutalen
Baumstämmen zahme Bretter und Latten schneidet. Der Wald ist gefährlich, mit seinen
Tieren und dunklen Stellen, an denen der Chef sich gerne versteckt. Gern geht er hinein in den
Wald mit dem Sohn und zeigt ihm seinen Zapfen, den der Kleine streicheln darf. Ein zahmes Tier
des Waldes, man darf es nur keinem weitererzählen, sonst beißt es dich tot. Der Samen des Zapfens
tropft still auf die Erde, der Sägewerkchef braucht schließlich mehr Bäume.
Die Mutter weiß es längst, welche Tiere der Sohn im Wald streicheln darf, doch die Herz-Schläge
des Mannes lassen sie schweigen wie das Gold in ihrem Schmuckkästchen. Der Mann stopft ihr das
Maul mit Juwelen und zum Dank dafür darf er ihr seinen Schwanz nachstopfen. So ein Hochzeitstag
tut gut; und das Kind bleibt verschont. Sich selber schont der heilige Werkschef nicht, er arbeitet
hart und ist der Partei ein treues Mitglied, von dem man viel erwarten kann. Man stärkt ihm den
Rücken mit Stücken aus Geld und Geschäften, die man ihm bereitwillig zuspielt. Der Trachtenverein
lässt sich ein Holzblockhaus bauen und hängt dort ein Bild von ihrem Götzen auf: Bürgermeister soll
er werden; unser Obmann ist er schon längst und wir vertrauen ihm blind.
Blind muss man sein, um ihm zu vertrauen. Brutal wie seine Säge zeigt er rücksichtslos seinen
Mitbewerbern die messerscharfen Zähne. Überall mischt er mit, in der Wirtschaft wie beim Kartenspiel
im Wirtshaus. Locker fallen ihm die Sprüche, wie warmes Sägemehl, zwischen den alpinweißen
Zähnen hervor und überzeugen seine Anhänger (er hat einen ganzen Fuhrpark davon). Dass er
seinem Kind im Wald einen Zapfenstreich spielt, darüber will niemand etwas wissen, wenn der
Sägewerkbesitzer eine Stammtischrunde schmeißt. Die Menschen um ihn haben nur eine Stimme,
der er kein Gehör schenkt, er will sie nur zählen – die Wahl steht schon vor der Tür. Das Kind hat
noch keine Stimme, es dürfte sie auch nicht benutzen; zuviel könnte es sagen. Und wieder schlägt
er im hirschgeweihgesäumten Vorhaus dem Kind auf die Schläfe und bringt es dazu noch mehr zu
stottern und öfter ins Bett zu pinkeln, damit es die Schläge verdient. Schlagen Sie zu, steht es in
seinen Werbeprospekten geschrieben und so kann man sich an ihm und seinem Holzblockhaus ein
Beispiel nehmen.
Schon steht er vor der Tür, der heilige Wahlsonntag unseres Herrn. Der Kirchengang ist eine
schöne Pflicht. Der Sägewerkchef hört schon die Stimme des heiligen Jesus auf dem Wahlzettel
sein Kreuzerl aufstellen, auf dem der Sohn des Volkes heute nur für dessen Partei sterben soll. Der
neue Pfarrer fickt keine Kinder und so ist der Sohn als Ministrant dabei, denn die besten Seiten
des Kindes hebt der Vater sich gerne für das eigene fleischige Wohl auf. Wohlauf geht’s nach der
Predigt vom hochheiligen Messezentrum ins Wirtshaus, dem Wahlbüro der Marktgemeinde, wo die
Blitzlichter der örtlichen Berichterstattung den Spitzenkandidaten erwarten. Dort steckt er sein Ding
in den Schlitz und die Zähne blitzen den Linsen entgegen – das Kind wird auf den Arm genommen.
Der Familiensonntagsspaziergang führt in die Wahlzentrale im neu gebauten Trachtenvereinshaus.
Gespannt steht die Sägewerksfamilie vor dem Bildschirm. Der Kandidat trägt vor Aufregung eine
raue Latte in der Hose, die das Kind, zur Feier des Tages, heute noch hobeln wird dürfen.
Im Sägewerk brennt’s! tönen die Rufe – und alles rennt. Angesengt steht es da, das heilige
Segenwerk, in seiner eigenen Asche versinkend. Verschwindende, lodernde Reste erblickt er noch,
der Sägewerkchef in lodener Weste. In Flammen steht es, sein Lebenswerk, in die er sich stürzt, um
zu retten, was schon lange verloren ist (er hat sich noch nie zurückhalten können). Die Frau hält das
Kind an seiner kurz angebundenen Leine und ihnen beiden die Augen zu, im Augenblick da er sich
in sein Glutnest wirft. Da brennt es, sein Leben, und er legt sich selber nach. Wo sind unser heiligster
Gott und seine hoch gepriesenen Mitarbeiter? – mit der freiwilligen Feuerwehr beim Kirchenwirt? Mit
Blaulicht kommen sie angefahren – Weihwasser marsch! – es heult die Sirene und Irene, die Frau,
und ihr Kind heulen mit ihr Tränen, um das Feuer zu löschen; doch der neueste Bürgermeister der
schönen Marktgemeinde steigt nicht mehr aus seiner Asche.
Die Segenwerkskapelle spielt ihn schön, den Trauermarsch, als man den seligen Chef zu Grabe
trägt. Die Mitarbeiter tragen Trauer, doch vielmehr Furcht vor der Arbeitslosigkeit in ihren Köpfen
und Herzen. Das Kind und die Mutter weinen Rotz und Wasser – sie sind jetzt erlöst. So lässt
man ihn hinab, damit er hinauffahren möge in seinen angebeteten Himmel, im maßgetischlerten
Eichensarg. Darin liegt er, weich gebettet, umhüllt von den Brettern seines Lebens-Werkes.
Dem Kind gefällt die Blasmusik; dass es bald nie wieder glücklich werden wird können, weiß es
noch nicht und unschuldig befühlt es in seiner Rocktasche einen einsamen Zapfen.
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geboren 1981 in Wien, wächst mit Unterbrechungen am Wiener Stadtrand auf. Nach seiner
Matura 1999 in Wien folgt ein munteres Wechseln der Studienrichtungen (Anglistik, Politikund Theaterwissenschaften), bevor ihn seine Leidenschaft für das Kino an die Filmschule Wien
verschlägt, wo er von 2001 bis 2003 eine Ausbildung zum „Filmschaffenden” absolviert. Das dort
erworbene dramaturgische Basiswissen versucht er seither in kurzen wie längeren Geschichten
sowie Drehbüchern zu trainieren. 2004 gewinnt eine Kurzgeschichte über eine jenseitige Begegnung
zwischen Gott und Peter Ustinov den „Preis für muttersprachliche Autoren” des Vereins Exil. Seit
dem 1. Juni 2005 ist er als Zivildiener beschäftigt und hofft danach irgendwann einen bescheidenen
Platz in einer Ecke der Literaturindustrie finden zu können.
bretter
Nicholas Unger
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„Fürwahr, zuerst entstand das Chaos, aber danach die Erde ...“
Hesiod, Theogonie 116
Eine Woche vor der Premiere stellten sich diese Schauspieler immer noch wie grunzende Primaten
an, die gerade vom Baum gefallen waren und nun ein Pas de deux tanzen sollten.
Krampfhaft, mit aller Mühe, die aus einer Menschenseele gewrungen werden kann, versuchten
sie ihre Emotionen unter Kontrolle zu bringen, aber insgesamt schienen sie zu überrascht zu sein,
überhaupt welche in sich vorzufinden.
„Dabei sollte doch gerade einen Künstler so etwas nicht aus dem Konzept werfen, oder?“
Finn hörte mich nicht, weil er die Dekoration für die Schluss-Szene, die an einem gewaltigen Strang
aus Drahtseilen hing, wieder zu uns nach oben zog. Seine Stirn und seine Wangen hatten inzwischen
die Farbe von Tomaten angenommen, während sein Hals zu zerreißen und sein Bizeps gleich durch
seinen Overall zu platzen schien. Ich dankte Gott dafür, dass ich derjenige von uns beiden war, der
die Hirnarbeit zu verrichten hatte, bis er mir mit einem verzweifelten Nicken deutete, doch bitte
endlich das Tau zu befestigen.
Es war die Arbeit, die man einem Zehnjährigen zumuten sollte: um den Strang zu sichern, klemmte
man ihn in eine Zange am Arm eines Flaschenzugs. Per Knopfdruck öffnete und verschloss sich die
Zange und die Dekoration hing entweder acht Meter über der restlichen Kulisse oder schnellte bis
zu einem genau berechneten Punkt aus dem Himmel hinunter.
Als die letzte Probe begann, lehnten wir zusammen über den Kostümierten und schnippten unsere
Glut auf ihre Köpfe hinab. Ich tat mir bereits schwer, mich des Inhalts des Stückes zu entsinnen,
wusste aber, dass es die Presse für eine Parabel zur aktuellen neoliberalen Wirtschaftswelt zu halten
hatte.
Das ganze Jahr hatte ich Finn noch nicht so schwitzen gesehen, dabei arbeiteten wir zum ersten Mal
mit diesem neuartigen Supergerüst, das tatsächlich alle Stücke spielte.
„Was hältst du von dem Ding“, fragte er, während uns eine süßlich duftende Wolke umgab und
ich darüber nachdachte, wieder erfolgreich zwei Millionen Spermien in mir abgetötet zu haben.
Ich beäugte die Konstruktion so fasziniert, als würde eine Sternschnuppe zwei Meter über meinem
Kopf vorbeiziehen, zog an unserem Glimmstängel und meinte dann: „Wenigstens ist man hier oben
immer noch ungestört.“
Ich hatte mich wie immer aus den Diskussionen herausgehalten, während die restliche Belegschaft
auf die Barrikaden gegangen war. Ich wusste nicht, was es bringen sollte, im Takt der Revolution
zu schlagen, schließlich brauchten wir alle, inklusive der Hauptrollen und der Regie, das Geld
und waren daher dem Willen des neuen Staatstheaterdirektors ausgeliefert, den wir von unserem
Arbeitsplatz aus im Publikumsraum gähnen sehen konnten. Während Finn und die anderen Neuen
sich über seine Ungerechtigkeiten erregt hatten, als wäre auf der Bühne mit echten Patronen ein
Menschenopfer gebracht worden, wunderte mich überhaupt nichts mehr. Wer acht Jahre in diesem
Beruf war, wusste nur zu gut, dass das wahre Lustspiel hinter den Kulissen stattfand.
Dieses riesige „Ding“, das wir gerade befestigt hatten, um es am Ende der folgenden Probe noch einmal hinunterzulassen, sah aus wie das Beil einer felsernen Guillotine. Die ganze Idee dazu war ein
so gehirnverwichster Action-Gag, dass erst Finn mir erklären musste, dass es das versteinerte Herz
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bretter
des im selben Akt sterbenden Protagonisten darstelle.
„Keine Sau interessiert sich heute mehr für den Konflikt, der einen Menschen ins Äußerste treibt“,
erregte ich mich flüsternd, während man sich unter uns die Textzeilen an den Kopf schmiss und mit
Lichteffekten den Ehekrieg irgendeines Königspaares inszenierte.
„Was zählt ist nur, wie am Ende die Planke unter den Füßen des Helden kracht und wie weit dann
sein Blut aus dem Maul eines Papp-Haifisches ins Publikum spritzt.“
Er sagte nichts dazu. Wenn ich bekifft war, lamentierte ich immer darüber, dass dies die manipulativste
Welt von allen geworden war. Außerdem wusste er, dass ich wieder schweigen würde, sobald Ate
ihren Auftritt hatte.
Im selben Moment erstach König Ludwig eine spanische Infantin, weil er in Ruhe mit seiner
jüngeren Mätresse bumsen wollte. Wenn man wegen der Inszenierung einen Flop erwarten durfte,
war gegen den Text absolut nichts einzuwenden. Offenbar war es eines jener modernen Stücke, an
dem jemand zehn Jahre lang herumgeschrieben hatte, weil niemand es hatte spielen wollen. Soweit
ich mich erinnerte, hatte der Autor sein Herzblut gegeben, plus alles, was er als Dramatiker gelernt
hatte. Das war schon mehr als man von den meisten Kinofilmen sagen konnte.
Ate spielte die Titelrolle der Marquise von Pompadour, auf die angeblich der Ausspruch Nach mir die
Sintflut! zurückzuführen ist, nach welchem auch das Stück benannt war. Sie tauchte aus der Hölle,
das heißt dem neumodischen Bühnenboden, auf und schwebte in ihrem luftigen Kleid, das von der
Position des Direktors aus mit Sicherheit durchsichtig war, über die neu verlegten Bretter, die die
sprichwörtliche Welt bedeuteten. Ich selbst stand in den Watte-Wolken über ihr und beobachtete
sie so gebannt, wie ein Attentäter sein Opfer verfolgt. In der fiktiven Realität unter mir riss der nach
Liebe lechzende Tyrannen-König an dem Verschluss ihres Mieders und ich griff nach dem Auslöser
des Flaschenzugs, um ihn mit seinem eigenen, zu Stein gefrorenen Herzen zu erschlagen.
„Die müssen die Zuseher wirklich für einen Haufen Primitive halten“, flüsterte Finn im selben Moment. „Kein Mensch versteht das mit dem Felsbrocken, wenn er nicht schon vorher etabliert
wurde, oder?“
Vor Schreck fiel mir der glühende Joint aus der Hand. Ich starrte ihn an und hatte mit einem Schlag
tausend Fragen vor meiner banalen Stirn: Hatte mich Ates Erscheinung in den vergangenen Wochen
tatsächlich so verwirrt, dass ich diesen Fehler übersehen hatte? War ich fähig, ähnliches in meinen
eigenen Stücken außer Acht zu lassen? War das der Grund, warum nicht mal mehr meine eigene
Frau meine Werke lesen wollte?
Plötzlich tönte germanischer Befehlston von unten herauf: „Was is’n da oben los?“
Der Direktor stand neben seiner entblößten Hauptdarstellerin auf der Bühne, die Hände in die
Hüften gestützt. Ate war geistesgegenwärtig auf unseren brennenden Freund getreten und blickte
vorwurfsvoll nach oben, ohne sich die Brüste zu bedecken.
Ich tat, wofür ich eigentlich bezahlt wurde, allerdings wie üblich eine Minute nachdem mein Stichwort gefallen war: Ich drückte den Knopf der Fernbedienung, das Drahtseil rutschte fast lautlos
durch die Zange, das Beil schnellte nach unten, blieb aber nach vier von acht Metern frei schwebend
stecken.
Ich beugte mich wieder über das Geländer, Ate sah immer noch zu mir nach oben, genauso
überrascht, wie sie das am Ende des Stückes tun sollte, das ich gerade für sie schrieb.
Erst Finn erlöste uns, indem er wieder den Dummen spielte.
„Es klemmt!“, schrie er dem Direktor entgegen und hielt mit einem Arm den Werkzeugkasten über
die Brüstung, so als wäre es eine Streichholzschachtel. Das Gerüst war so sicher, dass ich als
Verantwortlicher niemals ins Gefängnis gegangen wäre, hätte es jemals jemanden erwischt.
Als ich am Ende der Woche von der Generalprobe nach Hause kam, stand der Party-Service vor
unserer Tür und Hera nahm mir grußlos mein letztes Bargeld ab, um den Anhänger für den restlichen
Abend zu mieten. Ich war den ganzen Tag schlecht gelaunt gewesen, weil es immer kälter wurde
und ich im Glauben aus dem Haus gegangen war, dass mich bei meiner Wiederkehr ein erneuter
Zeugungsversuch erwarten würde. Vorsorglich war ich nach dem letzen Vorhang sogar in einen
Strip-Schuppen gegangen. Nicht, dass ich für gewöhnlich Mühe hatte, einen hochzukriegen, bei
Hera schon gar nicht, aber schaden konnte es nie.
Als ich dann mein von selbst lärmendes Heim betrat und feststellte, dass ich der einzige
Überraschungsgast war, wurde mir bewusst, dass auch zehn Ehejahre nichts daran ändern, dass
man überhaupt nichts von seiner Frau weiß. Sie war das größte Rätsel für mich. Schon seit mehreren
Monaten taten wir es nur mehr an ihren fruchtbarsten Tagen, so, als ob wir die beweihräucherten
Anweisungen des Klerus einzuhalten hätten, um allem Irdischen einen Gefallen zu tun. Mir persönlich
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Keiner der Fritzen aus ihrem Büro machte Anstalten, mir zu helfen, und ich ließ mir Zeit, ihre
durstigen Kehlen zu versorgen und versteckte mich stattdessen im einzigen warmen Ort außerhalb
des Hauses – jenem Anhänger – um noch einmal alleine zu sein, bevor ich mich in den fremden
Gesichtern zu baden hatte. Zu meiner Überraschung trafen da gerade die ersten Bühnenarbeiter
ein, wenig später erschienen die Souffleusen und dann sah ich schließlich die ersten Schauspieler,
die sich an einem solchen Abend eigentlich nervös zu Hause verkrochen, um sich dem eigenen
Mantra der schwersten Textzeilen auszusetzen.
Ich telefonierte mit Finn, der sich dafür entschuldigte, nicht mit mir über die Feier gesprochen
zu haben, jedenfalls war die ganze Mannschaft informiert und Hera hatte ihn persönlich vor zwei
Wochen eingeladen. Ich hatte keinen Grund ihm irgendetwas übel zu nehmen, tatsächlich hatte
ich nie mit ihm über meine Ehe gesprochen, aber dennoch musste er mir zur Entschädigung etwas
Gras besorgen gehen, damit ich meine Art der Rache an meiner Frau üben konnte: Sollte das Thema
Nachwuchs doch noch auf ihrem heutigen Tagesplan stehen, wollte ich meinen Schwimmern wenigstens den Orientierungssinn geraubt haben.
Als ich mit zwei weiteren Sektkisten auf die Straße trat, parkte Ates roter Mini schon auf dem Platz
in der Auffahrt, der immer für sie reserviert war. Sie stieg gerade aus und rieb sich erstmal ihre
schlanken Oberarme. Als die ersten Blätter gefallen waren, hatte ich ihr versprochen, mich um
die Heizung ihres Wagens zu kümmern, aber immer, wenn ich sie sah, verlor ich die Lust, etwas
Sinnvolles zu tun. Vor lauter Verwirrung schaffte ich es nicht einmal zu schreiben. Ich rang mir mit
Mühe eine Seite ab, von einem ganzen Akt ganz zu schweigen.
Kaum hatte ich ihre langen, sanften Strähnen vorsichtig wie Kristalle von Eisblumen zur Seite
geschoben und sie auf ihre pfirsichrote Wange geküsst, stieg der Rest des pfauenfedernen Ensembles neben uns in die Bremsen. Typisch Theaterleute, hatten sie nur ihr eigenes Geschnatter
mitgebracht.
„Sagt mal, was macht ihr denn hier?“ fragte ich verdutzt. „Wenn die Maske und das Licht an einem
solchen Abend ausgehen, lasse ich mir das einreden, aber die Hauptrollen?“
Zur Antwort marschierten sie an mir vorbei, so als wären sie Teenager und ich ihr lästiger Vater, der
die ganze Nacht in seinem Sessel auf ihre Rückkehr gewartet hatte. Keiner der Schwäne machte
Anstalten, mir eine der Kisten abzunehmen, dabei war die Probe gut verlaufen und sogar mein Kran
hatte diesmal gehalten, was er versprach.
„Sie reden nicht mehr mit dir. Sie sagen, du wärst ein Streikbrecher.“ Ates Worte waren als feuchtkalte Wölkchen in den Abend gestoben.
„Die Arbeitswelt heutzutage ist ein Ozeandampfer, von dem man nicht einfach hinunter springen
kann“, antwortete ich beiläufig. Dann sah ich ihr in die Augen und fügte betont charmant hinzu:
„Mein Bild von einer Ehe trifft das übrigens auch.“
Sie gab keine Antwort und deshalb war ich, glaube ich, neuerdings in sie verliebt. Ich staunte, wie
kurvig sie war, trotz des dicken Norwegerpullovers und der Winterjacke, die sie an jenem Abend trug.
Auch wenn der Rest der Familie sie gekühlt behandelte, kam sie immer noch jeden Sonntag zum
Essen vorbei. Was auch immer sie verbrach, sie fand nichts dabei, sie war so unschuldig wie der
erste Schnee, der demnächst fallen müsste. Ich wünschte mir, ähnlich unschlagbar zu sein, aber
stattdessen taumelte ich mit Dreißig zwischen den Tauen wie ein zerschmettertes Fliegengewicht.
Früher hatte ich nichts lieber getan, als mich um das geistige Destillat der unmittelbaren Menschen
um mich zu kümmern. Heute schienen jene, von denen mein Schicksal abhing, ihre Seelen verloren
zu haben.
Gerade als ich die Sektkisten auf den gefrorenen Rasen werfen, ihr Handgelenk packen und sie in
ein Hotelzimmer fahren wollte, fragte sie frostig: „Hast du Tomassi schon gesehen?“
Verdutzt folgte ich ihrem Blick zum Küchenfenster in meinem Rücken und erkannte, dass es
eine Demonstration gehobener Klasse war: Unser Direktor stand höchstselbst mit dem letzten
halbvollen Sektglas vor meiner Frau und belächelte sie wie einen verzauberten Brillianten. Im
nächsten Augenblick würden die Schauspieler die Küche betreten, um sich trotz seiner Anwesenheit und der Premiere am nächsten Tag in die Besinnungslosigkeit zu saufen. Hera aber, die mir aus
Langeweile nach jeder Liebesnacht Kartentricks vorführte, zielte mit einem Blick, so tödlich wie ein
Pfeil, genau zwischen meine Betrüger-Augen.
bretter
war es um die Welt mittlerweile scheißegal. Ich war nur sicher, dass ein Kind das Letzte war, was
diese Beziehung brauchte.
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Schon lange beschlich mich dieses Gefühl, dass eine unsichtbare Gottheit sich in meinem Haus
breitgemacht hatte. Aber andererseits hieß es, jeder Schriftsteller finge irgendwann an, an der
Realität zu zweifeln.
Hera schlich auf ihre geheimnisvoll manipulative Weise durch die Zimmer und regelte den Ablauf
der Feierlichkeiten in ihrer typisch korrekten Strebsamkeit. Als ich die Sektkisten einkühlte, war ich
wütend genug und fuhr sie stürmisch an: „Wie konntest du nur?“
„Was denn?“ meinte sie in einer gelangweilten Reposte.
„So eine Party geben!“, giftete ich.
Wenn ich meiner Freiheit beraubt war, ging mir die Wut überhaupt nicht mehr aus. Unten mixten
sie meine Fruchtsäfte mit der von mir bezahlten Puffbrause und wurden jedem Klischee einer
orgiastischen Gesellschaft gerecht.
„Ok, es ist das erste Mal, aber ich verspreche, ich mache eine Tradition daraus“, erwiderte sie. Wie
so oft, war das genau, was ich nicht hören wollte. Und wie noch öfter, schaffte sie es sogleich, dass
es mir noch schlechter ging: „Ich dachte, ich lade deinen neuen Direktor ein, damit du ihm mal von
deinem neuen Stück erzählen kannst.“
Nach diesem Satz war ich eine Stunde alleine auf dem Rand der Badewanne sitzen geblieben und hatte eine ganze Flasche geleert. Mir war, als hätte ich mich auf meiner eigenen Beerdigung zu
besaufen, weil das irgendwann mein letzter Wunsch gewesen war.
Nachdem wir aufgegeben hatten, einen Platz zu suchen, an dem wir uns endlich ungestört küssen
könnten, hatte Ate dann ihren Stecher, diesen Horst, getroffen und damit war der Abend praktisch
gelaufen, weil er sie ständig vor sich herschob, um sich beim Direktor einzuschleimen. Trotz seiner
sichtbaren Inkompetenz war er mittlerweile für den Spielplan verantwortlich und nannte den Direktor
„Rupert“ anstatt „Herr Tomassi“, wie jeder andere es tat. Ob Nach mir die Sintflut! ein Erfolg werden
würde oder nicht, war ihm dabei so egal wie mir die aktuelle Scheidungsrate. Solange er nach der
letzten Vorstellung ein Parteibuch sein eigen nennen konnte, war er so zufrieden wie ein Astronaut,
der auf die dunkle Seite des Mondes fährt.
Hera hatte immer von mir verlangt, mir auch so ein Buch anzuschaffen. Dazu musste man wissen:
Manche trauten ihr zu, Las Vegas gegründet zu haben oder Mitglied bei Scientology zu sein.
Sie hatte einen dieser englischen Business-Titel, an den man sich fünf Minuten, nachdem man ihn
gehört hat, nicht mehr erinnern kann. Ich hatte nie den Drang gehabt herauszufinden, worum es
in ihrem Beruf eigentlich ging. Ich kannte zwar das Büro, in dem sie arbeitete, einen Großteil ihrer
Kollegen sowie diesen jungen Pförtner, der ihr wie ein geiler Automat immer auf die Backen sah,
wenn sie morgens und abends durch die Drehtür schlüpfte. Aber immer, wenn sie mir von ihrem
Job erzählte, kam ich mir wie ein Kleinkind vor. Ich fing einzelne Wörter auf und versuchte etwas
Konkretes daraus zu formen, aber ich konnte mir einfach nicht erklären, wofür ihre Tätigkeit gut
sein sollte. Wenn man mich fragte, sagte ich immer, es hatte wie so vieles irgendwie mit Controlling
zu tun.
Früher war sie ein lebenslustiger Geist gewesen, der die Nacht zum Tag machen konnte und mich
zwischen den Polstern zu Höchstleistungen animierte. Sie war die beste Zuhörerin und liebte es,
wenn ich ihr vor dem Einschlafen noch eine Gesichte erzählte. Als ich am Theater anfing, war sie
bester Hoffnungen, dass sie bald in einer Premiere meines eigenen Stückes sitzen würde, aber je
länger dieser Erfolg ausblieb, desto weiter entfernten wir uns voneinander. Irgendwann, so fiel mir
auf, hörte sie mir überhaupt nicht mehr zu.
An dem Tag, an dem ich ein Manuskript, das mir sechs Jahre lang aus dem Ruder gelaufen war, in
tausend Fetzen riss, meinte sie, sie werde sich eine „richtige“ Arbeit suchen. Daraufhin absolvierte
sie verschiedene Praktika, arbeitete unter anderem ein paar Mal im Kulturministerium, später bei
einem alternativen Radiosender, für den sie Literaturwettbewerbe veranstaltete, um letztlich CDCompilations, bedruckte Kaffeetassen und trendy Nagelfeilen verkaufen zu können.
Schließlich nahm sie eine Stelle in dieser staatsnahen Berateragentur an, die in den KroneLeserbriefen in Verruf geraten war, mit den Freimaurern gemeinsame Sache zu machen. Ab diesem
Moment wähnte sie sich in Sicherheit und stellte mir urplötzlich ihre verschollene Schwester vor, die
auch zum Theater wollte und vielleicht „einige meiner Träume teilen konnte“. Heute staunte ich, wie
sehr sie damit das Schicksal beeinflusst hatte. Seit damals war ich enttäuscht, dass sie nicht mehr
an meine Fähigkeit zu glauben schien, den Unterhalt für unsere Familie zu erschreiben.
Heute verdiente sie drei Mal soviel wie ich und dominierte jedes Gespräch wie in einer ihrer
geschäftlichen Unterhaltungen. Gestern, bevor sie nochmals das Haus verlassen hatte, hatte sie
plötzlich die Kellertür aufgerissen, mich angeschnauft und in ihrem geliebten, knappen Befehlston
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bretter
formuliert: „Hast du wieder deine Kreditkarte eingesteckt?“
Ich hatte müde von meiner qualvoll verzogenen Schreibmaschine aufgesehen: „Ja!?“
Und sie hatte erwidert: „Soll ich mir dann hier draußen den Arsch abfrieren, oder was?“
Gegen Mitternacht, als der Sekt und die Brötchen langsam zu Ende gingen, folgte ich Ate in jeden
Winkel des Hauses, das wie ein buntes Loch betrunkene Kollegen und schlechte Musik ausspie.
Mich interessierte die Laune der Gäste überhaupt nicht mehr, auch wenn ich ab und an Lust bekam,
den Partyschreck zu geben.
In der Tat hatte ich andere Träume umzusetzen: Jede Nacht erschien mir mittlerweile dieselbe
Szene, in der Ate als Stewardess verkleidet war. Wir bumsten auf einer Toilette, wodurch wir unser
Flugzeug verpassten, welches dann vor unseren Augen an einem Felsen zerbarst.
Vierundzwanzig Stunden zuvor wäre ich an diesem Höhepunkt beinahe von Hera erwischt worden:
Ich wachte schweißgebadet auf und sie saß mit einem verregneten Trenchcoat neben mir auf dem
Bett und hauchte dämonische Schwaden in die Dunkelheit.
„Wo kommst du her?“, fragte ich, nachdem der erste Schreck sich gelegt hatte. „Deine Frisur sieht
so aus, als hättest du dir eine Strumpfhose über den Kopf gezogen.“ Ich hatte keine Ahnung, warum
ich das sagte, aber früher hätten wir beide darüber herzlich gelacht.
„Ich hab ein paar Brandbomben gelegt“, meinte sie gleichgültig und schnippte ein wenig Asche auf
meine Seite des Bettes, wo schon meine ausgeborgte Kreditkarte lag. Bevor ich Gelegenheit hatte,
eine Frage zu stellen, präzisierte sie: „Wegen einem Klienten.“
Und damit hatte sie das Zauberwort gesagt, um unsere Unterhaltung zu beenden.
Von ihrer Kundschaft verstand ich soviel wie von der Traumforschung. In ihrem Büro gab man sich
jedenfalls gerade die Klinke in die Hand: Vom Kulturstaatssekretär über den Vizebürgermeister bis
zur neunzehnjährigen Sänger-Göre inklusive Manager-Tross wollte alle Welt ihren Rat. Nur ich schien
nicht bereit, auf sie zu hören und im Zungenkampf Horst vom Anus des Direktors zu vertreiben.
„Hier geht es auch nicht“, meinte Ate, als sie aus dem Keller kam. Zur Entschädigung begann sie
im Halbdunkel die Innenseite meiner Schenkel zu streicheln, was dem Zündeln bei offenem Gashahn gleichkam. Natürlich bog im nächsten Moment meine Frau um die Ecke und sah uns beide
an, als würden wir hinter ihrem Rücken das Familiensilber verhökern.
„Was geht denn hier vor?“, fragte sie spitz. Die Marquise stotterte und schluckte, doch ich log gekonnt: „Mir reicht es! Ich will jetzt wissen, wer sich in meinem Refugium breitgemacht hat!“
Finn saß auf dem Fußboden vor dem Fernseher und machte einen gezähmten Eindruck. Er war
von einem halben Dutzend qualmender Mädchen umringt, die meisten waren die Dienstmägde am
Königshof Ludwigs XV. Wäre Hera nicht dabei gewesen, hätte ich ihm stolz auf die Schulter geklopft,
schließlich heftete er sich bei solchen Partys immer an mich, weil ich angeblich mehr Erfahrung mit
Frauen hatte. Dieser unwissende Tropf lernte erst, was er mir voraus hatte, als ich, eingerahmt von
meinen beiden Nymphen, eintrat.
„Entschuldige“, meinte er plump und funkelte mich mit seinen roten Augen an. „Hast du gewusst,
dass Tomassi da oben ist? Ich bin lieber gleich hier unten geblieben.“
Bevor Hera sich empören konnte, nahm ich ihm wie bei einer Polizeikontrolle das restliche Gras
aus der Hand und schimpfte ihn, ob er denn nicht wisse, „dass das nicht sehr förderlich für seine
Fortpflanzung war?“. Dann schickte ich ihn, noch mehr Sektkisten aus dem Anhänger auf der Straße
zu holen. Er erhob sich glücklich seufzend, wie ein Hund, der zufrieden war, dass sein Herrchen ihn
noch unter Kontrolle hatte. Ich wollte ihm später seinen Spaß gerne gönnen, aber jetzt hatte ich bei
weitem andere Sorgen.
Wie die Schlange um die gefesselten Kaninchen stolzierte Hera durch die hippen Gören, die sich
auf meinem alten Kellersofa breitgemacht hatten. Sie waren wie Finn, Ate und Horst in ihren
Zwanzigern, also etwa zehn Jahre jünger als Hera und ich. Sie schienen eine Generation zu formen,
der vierzig Programme und die letzte gesicherte Frühpension als Lebensziel reichte. Plötzlich fühlte
ich mich doch auf eine gewisse sentimentale Weise mit meiner Frau verbunden. Das war mindestens
so überraschend wie ein Finalspiel nach 0:3 Rückstand noch ins Elfmeterschießen zu retten.
„Noch nie war der Titel eines Stückes treffender für die Besetzung gewesen!“, flüsterte sie mir zu, als
wir uns setzten, und ich konnte mir ein ernsthaftes Lächeln nicht verkneifen.
Ate hörte es und schielte genervt zur Decke, bevor sie auf den Pappkisten, in denen ich meine
Manuskripte stapelte, Platz nahm, um sich ebenfalls eine Tüte zusammenzukleben.
Ich merkte schon, meiner Frau begann diese ganze Sache gehörig gegen den Strich zu gehen.
„Warum stört es euch, dass ich euren Chef eingeladen habe, er ist doch ein netter Mann?“
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Entgegen des ursprünglichen Plans war Rupert Tomassi durch das Erscheinen des Ensembles
nicht aus der Fassung zu bringen. Im Gegenteil, er ging zum Gegenangriff über, schlug ungewohnt
amikale Töne an und hatte mittlerweile jedem außer mir auf die Schulter geklopft. Während Ate
weiteren Rauch in meinem Zimmer verteilte, sich ihres Pullovers entledigte und eine enge weiße
Bluse präsentierte, unter der sie berechtigterweise nichts zu tragen schien, wurden Heras Augen mit
jedem Atemzug von der Missgunst zerfressen. Noch dazu hatte sie sich auf meinen Schoß gesetzt,
so als wäre das wieder die natürlichste Sache der Welt. Nun wünschte ich doch, oben würde ein
Feuer ausbrechen oder einer der Halbtoten würde sich aus dem Fenster stürzen, damit sie von
unserem Sitz weggelockt wurde, aber keiner meiner Kollegen schien mir heute einen Gefallen tun
zu wollen.
„Es ist der reinste Psychoterror“, fing eine Gepeinigte, die die Gräfin Du Barry spielte, an, ihr Leid
zu klagen.
„Es ist ja kein Wunder, so wie wir in die Schulden geführt worden sind“, gab die Herzogin von
Châteauroux zu bedenken. Auf Heras Zwischenfrage versicherte ich, dass ich mich nicht in ihre
Revolution eingemischt hatte. In Wahrheit hatten sie mich mehr als einmal gebeten, ihr Robespierre
zu sein, aber ich erinnerte sie beständig daran, dass man diesen ein paar Jahre nach der Wende
ebenfalls aufs Schafott gezerrt hatte.
Ich staunte selbst, wie gut sich meine Frau aufs Zuhören verstand, wenn die Sorgen nicht aus meiner
Richtung klangen. Sie erfuhr, dass neuerdings JEDER Mitarbeiter beim Verlassen des Theaters
die Eingangshalle kontrollieren musste, ob auch ja alle Programmblätter und Champagnergläser
weggeräumt worden waren. Zigaretten waren in den Büroräumen verboten worden (von Marihuana
in den Technikräumen ganz zu schweigen) und draußen vor der Tür durfte nur geraucht werden,
wenn gerade Regenzeit war.
„Geatmet wird auf Befehl“, sagte die Du Barry. „Trinkwasser wird kostenpflichtig.“
Natürlich war auch an mir nicht vorbeigegangen, dass er umherschritt mit seinem drahtigen Gang
und seiner wehenden weißen Mähne, als wollte er Franz-Josef Strauß’ Geist wiedererwecken, weil
es bei ihm zu einem ordentlichen Stoiber-Speichellecker nicht ganz gereicht hatte. Immer mehr
und mehr Kollegen gingen plötzlich auf Kur oder ließen sich von Nervenärzten behandeln. Niemand
stellte sich mehr als Betriebsrat auf. Jeder achtete plötzlich auf seinen Rücken, weil Mobbing und
Anschwärzen wie die Pest grassierten. Während sie Hera weitererzählten und diese aufgeregt in
meinem Schoß zu wippen begann, starrte ich Ate an, die im Schneidersitz wippte, eine Hand in
ihren Schoß gelegt und mit ihrem Blick eine Reaktion in meiner Hose zu provozieren versuchte. Ich
wehrte mich tapfer, auch wenn ich wusste, dass ich Tag für Tag zu einem leichteren Opfer werden
würde.
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Da mischten sich böse wie erstaunte Blicke aus dem enttäuschten Publikum und ich ortete gleich,
dass ich zwischen sämtliche Fronten gleichzeitig geraten war.
Tomassi wandte die besonders feige Taktik an, mit niemandem von Angesicht zu Angesicht die
Klingen zu kreuzen, sondern nahm sich immer den jeweiligen Vorgesetzten zur Seite und hielt ihn
mit seiner Nerverei von der Arbeit ab. Es schien, als wollte er das Theater lieber vernichten, als es
aus dem Orkan zu fahren. Nur so erklärt es sich, dass er die skurilsten Entscheidungen traf: Erst am
Abend zuvor hatte er die Feuerwache rausgeworfen und einen unachtsamen Raucher, der ein alter
Freund von ihm war, dafür eingestellt.
Er hatte einige frühzeitige Pensionen bewilligt, um wichtige Machtpositionen unter seiner Hand zu
sammeln. Das alles ging im Höllentempo eines Oligarchen vor sich; aber dennoch blickte er zu
dumm aus der Wäsche, als dass das alles auf seinem eigenen Mist gewachsen wäre.
Ate hatte nun tatsächlich ihre Nippel wie kleine rosa Antennen in meine Richtung gestellt. Ich war
süchtig nach ihren Funkwellen und wollte ehebaldigst an ihren Knöpfen drehen. Hera tatschte
derweil unwissend an meiner Hand mit dem Ehering herum, so als solle jeder sehen, welch Glück
wir nicht hatten, für immer zusammengeschweißt zu sein.
Überall wurde gespart, erzählten die Mädchen weiter, dafür wurden Millionen für die neue Bühne,
bessere Werbung und freundliche Presseberichte ausgegeben. Er kam montags bis sonntags
wann immer es ihm passte und kontrollierte sogar wie der Nachtwächter seine Arbeit erledigte. Im
Innenraum des Theaterkörpers schlich sich der Schlendrian wie ein Wurm durch das morsche Holz.
Der Bühnenboden glänzte dafür wie der Sternenhimmel in der Beleuchtung darüber.
Dann war die Berichterstattung vorüber und man erwartete, dass von Hera und mir ein Urteil
gesprochen wurde. Mir war, als hätten die Schüler den Eltern ihr Leid über den neuen Klassenvorstand
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geklagt. Dann überlegte ich, dass das Theater mir langsam so vorkam wie mein eigenes Elternhaus.
Zuerst hatte die Liebe meinen Eltern die Augen verbunden, dann hatten sie sich jahrelang ohne
mit der Wimper zu zucken, ins Gesicht gelogen und heute gaben sie nach außen hin immer noch
das perfekte Bild ab. Aber auch wenn ihr Haus immer frisch gestrichen war und der Garten von
blühenden Apfelbäumen gesät, wollte in keinem Abfluss das Wasser an dem Unrat der Leitungen in
den Wänden vorbei in die Freiheit fließen.
Ich selbst hätte irgendwann (vor einer Epoche!) jeden umgebracht, der sich meiner Frau genähert
hätte. Und ich hatte sie geliebt, für eben jenen Einfluss, den sie auf mich ausübte. Mittlerweile
wusste ich: Es war bedenklich, wo die Liebe einen hinführt, und zugegeben: Es ist am schwersten,
mit einer Frau zusammenzuleben, auch wenn das nie eine Ausrede sein darf.
Da von mir wieder keine Unterstützung kam, stand Ate auf und sagte, sie hätte eine Idee, wie sie
Horst beschäftigen könnte. Hera sah ihr nach, so als hätte sie ihr auf der Stiege eine Bärenfalle
aufgestellt. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich nie geglaubt, dass die beiden Schwestern
waren.
Heras Meinung zu unserem Theaterproblem stützte sich übrigens wie in einer Ansprache des
Bundeskanzlers auf die bloßen Wirtschaftsdaten.
„So ist das nun Mal, wenn ein Schiff vor dem Kentern steht“, sagte sie trocken. „Seid froh, dass ihr
keine Gewinne einfahrt, dann würde er mit der Peitsche über euch herfallen, Feuer spucken und
noch mehr Entlassungen vornehmen.“
Die kiffenden Hippies verstanden keinen Deut von dem, was sie sagte. Aber ich wusste: Sie hatte
Recht. Es war das Paradoxon unserer Zeit, wenn auch gleichzeitig der schwächste Trost.
„Alle machen mit“, sagte Ate später, wir waren endlich allein und sie spielte schon wieder an den
Knöpfen ihrer Bluse herum. „Nur du weigerst dich noch.“
Als wir Hera und den Keller wieder verlassen hatten, hatten mich tatsächlich Schuldgefühle geplagt.
Ich fühlte mich wie der Vater der Crew, wollte sie nicht länger im Stich lassen und außerdem meiner
frisch Angebeteten beweisen, wozu ich fähig war. „Ich werd euch helfen“, versprach ich also und
sah ihr trotz der Dunkelheit tief in die Augen. Ich wusste: Sie nahm es nicht so genau in diesen
Dingen. Sie war zu glücklich und beseelt, überhaupt auf der Welt zu sein. Sie war wunderschön
und talentiert und im Grunde ein einfaches Opfer, auch wenn ich ihr Schwager war. Gerade diese
Tatsache machte ihr im Übrigen nichts aus, sie hatte das, was man dem Stereotyp nach eine
französische Lebenseinstellung nennt: Sie nahm es nicht so genau, wer hier wen vögelte und wer
ganz woanders seit einer Dekade verheiratet war. Finn hatte den Innenraum des Anhängers leer
geräumt und sämtliche Flaschen auf die Wiese gestellt, auf die nun tatsächlich einige erste Flocken
niedergingen. Im ersten sanften Gestöber war ich an Horst vorbeigegangen, der im Garten stand
und ahnungslos mit seinem Handy telefonierte. Ate saß schon auf den leeren Kisten in einem
einigermaßen leeren aber warmen Raum und erhellte die Dunkelheit mit der Glut eines weiteren
Joints.
„Kann er uns nicht erwischen?“, fragte ich ein wenig besorgt.
„Er frisst mir aus der Hand“, antwortete sie. Sie hatte ihn losgeschickt, um irgendeinen fiktiven
Ohrring zu suchen, den sie angeblich im Schnee verloren hatte. Ich dachte, es war wirklich an der
Zeit, dass die beiden Kinder bekamen.
„Ich werde euch schon noch helfen“, versprach ich wieder. „Es ist nur so, dass ich sehr sensibel
reagiere, wenn etwas meine eigene Freiheit angeht. Ich bin nicht gern der Unterworfene.“
Wieder gab sie keine Antwort und tat so, als hätte sie mich gar nicht gehört. Also legte ich ihr
einen Finger auf den Oberschenkel, danach die ganze Hand. Das war zwar riskant, aber manchmal
machte einen die Müdigkeit kühn.
Wir küssten uns, lange und ausgiebig. Ich hatte nicht mehr gedacht, noch einmal etwas so
Aufregendes erleben zu dürfen. Als wir pausierten, schwebte ich eine Sekunde lang im luftleeren
Raum. Dann begann mich plötzlich irgendetwas massiv an ihr zu stören. Wieder schossen diese
Fragen durch mein Hirn: War sie im Grunde nicht viel zu jung und zu uninteressant für mich?
War sie nicht plump und dumm? War sie nicht ein Rädchen in einem System, das ihre Schwester
erfunden haben könnte?
Sie bemerkte meine Zweifel und begann wieder, mich mit ihren Spielen verrückt zu machen. Ich
wusste, sie würde trotz der harten Sektkisten, der kalten Nacht und des gemieteten Automobils einen
unglaublichen Fick abgeben. Ich wusste, sie wäre bereit, vor meinen Augen an sich herumzuspielen,
damit mir mein letzter klarer Gedanke verenden würde. Während ich zögerte, hörte ich von irgendwo
in der Peripherie eine leise Musik lauter werden, so lange wie es dauert, eine Tür auf- und wieder
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zuzumachen. Dann küsste sie mich wieder und mir war, als hörte ich Schritte näher kommen. Als
der brave Horst artig aufgrölte, wischte ich uns beiden die Lippen ab und nahm ihr den Joint aus
der Hand.
Eine Sekunde später schaute mich eine weiße Weihnachtsmähne mit Schneeflocken darin an.
Seine Brille war beschlagen, weil es schneite und außerdem feucht war bei uns im Innenraum. Ich
verschob die Sache erneut und setzte einen Fuß nach draußen.
„Was iss’n da drinn’ los?“, nuschelte er. Ich merkte gleich: Die Zeit der Rache war gekommen. Ich
blies ihm meinen Marihuanarauch mit etwas Spucke ins Gesicht und stapfte wieder in Richtung
Partyhütte.
Der Ausgang des Abends war allen scheißegal. Ate und ich machten Staatstheater und die anderen
hielten sich immer noch mit den letzten Sektflaschen auf. Finn meinte, es wäre möglich gewesen,
dass der Publikumsraum schon voll war, wenn das besoffene Ensemble in der Maske eintrudelte.
Aber in Wahrheit war das egal, schließlich kam man nur noch als Gast zu uns, um am nächsten
Tag im Büro vor den Kollegen die Stirn über den Theaterbetrieb heutzutage runzeln zu können – wir
waren alle die schlichten Pagen eines uralten Statussymbols. Tomassi, unser Boss, war schon vor
einiger Zeit abgehauen. Anscheinend bekam er es jetzt doch mit der Angst zu tun.
Ich meinte knapp Bis später! und warf das Handy wieder fort. Anschließend steckte ich mir Ates
glitschigen Slip zurück in den Mund und drang langsam wieder in sie ein.
Wir hatten das Grundstück verlassen, als der Schnee wie Zucker auf den Zäunen gelegen war. Hera
hatte sich hingelegt, nachdem sie ihre üblichen Kopfschmerzen plagten, und das letzte dreckige
Dutzend lag gerade mit müden Augen vor den mauvefarbenen Panoramafenstern, um über die
Rettung der Zukunft zu philosophieren.
Ate ging völlig in ihrer Rolle auf. Sie spielte eine Frau, die von ihrer mütterlichen Schwester alles, bloß
keine Moral gelernt hatte. Wie die echte Pompadour begünstigte sie gerade den Gelehrten, Künstler
und Schriftsteller in mir und ließ mich vergessen, welch ungeheure Summen sie für Klunker und
Fummel ausgab.
Sie hatte bereits ihr Kostüm für den ersten Akt angezogen: einen offenen Nerzmantel, schwarze
Strümpfe und hohe Schuhe, von denen sie einen am Geländer zum Himmel, neben dem
Auslöserknopf für den Flaschenzug, abgelegt hatte. Ihr BH lag über irgendeiner Kiste mit Drähten
und einer Uhr drauf, die ich noch nie dort gesehen hatte. Ihr Höschen hatte ich ihr zuletzt geraubt.
Sie keuchte leise aber schwer in mein Ohr und war der Inbegriff der schuldhaften Verfehlung.
Ich brauchte keine Erklärung für all das zu suchen. Die Sache kam von selbst ins Rollen.
Erbarmungslose Räderwerke griffen Zahn um Zahn ineinander, übertrugen ihre Kraft von einem
Mechanismus auf einen anderen und zermalmten uns dabei.
Mittendrin, als mir die ersten Schweißtropfen von der Stirn rannten, beschlich mich plötzlich dieses
bekannte Gefühl einer chaotischen Leere und ich wusste nicht, warum ich ein halbes Jahr lang von
diesem Moment geträumt hatte. Wieder mal kam ich mir wie ein Kind vor; oder so, als hätte ich eine
Latte vorm Kopf.
Ich zog mich selbst heraus und steckte mich unaufgeklärt gleich wieder hinein. Mittendrin war ich
ein Affe mit einer großen geraden Banane in der Hand.
Einmal möchte ich eine Entscheidung zum richtigen Zeitpunkt fällen, sagte ich mir. Nur einmal
möchte ich wissen, wie das ist! Dann hörte ich wieder auf, mich zu konzentrieren. Ich schob meine
Hüfte nach hinten und ließ sie automatisiert wieder nach vorne schnellen. Dazwischen blickte ich
mich an meinem Arbeitsplatz um. Die Gleichgültigkeit in mir nahm das Gewicht eines riesigen
Felsbrockens an. Ich hielt mich selbst für einen gehirnverwichsten Tropf.
Als mein Blick nach unten fiel, traute ich den Augen des Betrügers nicht. Der weiße Haarschopf
kniete vor Heras Füßen und küsste den Ring, den ich ihr einmal an den Finger gesteckt hatte. Ich
beugte mich vor, um es besser sehen zu können. Als Heras Schwester nicht mitrückte, richtete ich
ihre Hüfte schnell zu meinen Gunsten aus. Sie sprachen miteinander, das war eindeutig. Ich musste
erst Ate den Mund zuhalten, um sie besser verstehen zu können.
„Du musst besser aufpassen, sie haben dich fast durchschaut“, schimpfte sie derb mit ihm.
„Ach, nach mir die Sintflut“, meinte er lakonisch. Beinahe hätte ich aufgelacht.
„Wann genau?“, fragte er dann, wie ein kleinlauter Pudel.
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„Im dritten Akt“, antwortete sie. „Wenn sie Glück haben, geht niemand drauf.“
Ich hatte ihn noch nie besorgt gesehen und sie noch nie derart enttarnt.
„Die Versicherung zahlt in jedem Fall“, streichelte sie ihm nun Hoffnung über den Kopf.
„Kann man den Zünder wirklich zu niemand anderem zurückverfolgen?“, fragte er noch.
„Ich hab alles im Baumarkt gekauft. Und mit seiner Kreditkarte bezahlt.“
Im selben Moment fühlte ich mich dümmer als jeder Affe dieser Welt. Ich schloss die Augen, durch
die sich eine einzelne, überraschte Träne zwängte und nahm meine zornige Hand von Ates gerade
aufbebenden Lippen.
„Weiter, immer weiter“, flüsterte sie hastig und begann an meinem Finger herumzulutschen.
Eine weitere Träne baumelte in meinem Augenwinkel, so wie das felserne Beil über den
Brettern mit der blank polierten Oberfläche. Ich begann sie noch härter zu stoßen, es war
grotesk, aber wenn ich schon dabei war, wollte ich es auch zu einem vernünftigen Ende
bringen. Ich spürte die ersten Tropfen tief in sie schießen, was ihr sehr zu gefallen schien.
Gleichzeitig fiel mir wieder ihre Schwester ein, die ich umbringen wollte, aber vorher sollte sie
noch sehen, was ich hier gerade tat. Ich löste meine Hand von Ates Mund und hatte plötzlich
das Bedürfnis auf irgendetwas drauf zu schlagen. Instinktiv bot sich ihre herrliche Backe dafür.
Als es klatschte, riss ich die Augen wie nach einem Alptraum wieder auf und abertausend Fragen
schossen durch mein Primatengehirn: Mussten sie das nicht gehört haben? War nicht gerade Ates
Fuß abgerutscht? Kannte ich nicht dieses surrende Geräusch?
Mein Blick fiel auf den Flaschenzug – die Zange war wie mein Mund überrascht geöffnet. Im nächsten
Moment krachte es unter uns, so laut, dass es Ate zu Boden warf und einige der Holzlatten wie die
dicksten Tropfen des Schwimmbeckens nach einer Wasserbombe zu uns nach oben geschleudert
wurden. Ich löste Ates Schuh von der Fernbedienung, lehnte mich an die Brüstung und sah ein
klaffendes, blutverschmiertes Loch in den nagelneuen Planken unter mir.
Seither ist eine verdächtige Ruhe um mich eingekehrt. Ich spule eine dieser Geschichten nach der
anderen herunter und fühle mich dabei wie eine einfache, von komplexen Zweifeln zerfressene
Zelle; jedes Mal von Neuem darüber verblüfft, glasklare Gefühle in mir vorzufinden.
In meiner restlichen, sehr einsamen Zeit spreche ich mit Hera. Jeder Tag endet damit, dass sie mich
fragt, wann sich meine Seele ebenfalls endlich in Luft auflöst. Als ob ich wüsste, wie hart das Leben
ist, wenn man seine Seele behalten will!
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Zita Bereuter
geboren 1973 in Egg. Ist schon sehr früh der Faszination von Büchern erlegen. Viele Stunden
verbrachte sie in der Gemeindebücherei Egg, der Vorarlberger Landesbibliothek, der Bibliothek
der Pädagogischen Akademie Feldkirch, der University of Derby Library, der Bibliothek der
Fachhochschule Vorarlberg und der Manchester Metropolitan University Library. In einigen dieser
Bibliotheken hat sie Abschlussarbeiten zu verschiedenen Studien geschrieben. Während dieser
Studien arbeitet sie im Aktuellen Dienst des Landesstudio Vorarlberg. Seit 2001 Redakteurin bei
FM4, u.a. Organisatorin von Wortlaut. Ebenfalls seit 2001 als Grafikerin tätig. Beschäftigt sich sowohl
redaktionell als auch gestalterisch mit Büchern: Staatspreis für das schönste Buch Österreichs
2004.
Pamela Rußmann
geboren 1975 im steirischen Bruck an der Mur. Studium der Anglistik und Germanistik. Seit fast einer
Dekade werkt Pamela in verschiedenen Positionen und Redaktionen bei FM4, zuletzt als Leiterin
der Literaturredaktion, Organisatorin des FM4 Literaturwettbewerbs Wortlaut, Filmredakteurin und
seit 2000 mit großer, nicht enden wollender Leidenschaft als Autorin/Kolumnistin für fm4.orf.at.
Abseits von FM4 ist sie mit ebenfalls nicht enden wollender Leidenschaft Mama einer Tochter sowie
Fotografin und Sprecherin.
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