Miss Liberty, ein Fräulein aus dem Elsass

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Miss Liberty, ein Fräulein aus dem Elsass
Miss Liberty, ein Mädchen aus dem Elsass
Die Kunststadt Colmar begeht den hundertsten Todestag
des Schöpfers der Freiheitsstatue
Wenn sich die Welt in Colmar trifft, dann gewöhnlich vor
Matthias Grünewalds „Isenheimer Altar“ und vor Martin
Schongauers „Maria im Rosenhag“. 350 000 Besucher treten jährlich im Unterlinden-Museum oder in der nahen Dominikanerkirche vor diese Werke europäischer Großkunst
hin. Keine französische Provinzstadt wird von mehr KunstTouristen frequentiert, was der lokale Verkehrsverein stolz
vermerkt. Doch Colmar will die Aufmerksamkeit der Welt
künftig auch aus einem anderen Grund auf sich ziehen, so
wünschen es zumindest die Stadtväter. Das Monopol Grünewalds und Schongauers soll sozusagen gebrochen werden, und zwar mit Hilfe eines Kunstwerks, das aller Welt bekannt ist, von dem aber kaum jemand weiß, dass ein Colmarer es geschaffen hat: die Freiheitsstatue von New York.
Am 4. Juli 2004, dem amerikanischen Nationalfeiertag, ist
sie heimgekehrt und hat ihren Platz auf dem grünen Rasen
eines auto-umbrausten Kreisverkehrs im Colmarer Norden,
nahe dem Flugplatz und dem Gewerbegebiet, gefunden:
zwölf Meter hoch (knapp ein Viertel des Originals), aus
Kunstharz gegossen, zwei Tonnen schwer und mit fabrikneuer, mineralbad-grüner Patina. Skeptisch, die eigene Unabhängigkeitserklärung fest in der Hand, schaut sie gen
Straßburg, eine der beiden Hauptstädte Europas. Manche
Autofahrer, vom jähen Auftauchen der Miss Liberty überrascht, umrunden sie mit ihrem Wagen gleich mehrmals und
scheinen ihr durchs offene Fenster etwas zuzurufen; andere
steigen aus und scheuen keine Gefahr des Straßenverkehrs,
um sie vorteilhaft zu fotografieren.
-2Doch diese „Heimkehr“ darf man sich nicht vorstellen, wie
ein deutscher Karikaturist es jüngst tat: als schnöde Rückgabe, da Amerika seine Freiheit im Krieg gegen den Terror
abgeschafft und die Statue sich hiermit erübrigt habe. Im
Gegenteil. Um jeden falschen Eindruck zu vermeiden, wurde
bei ihrer Einweihung in Colmar so viel diplomatisches Fingerspitzengefühl entwickelt, wie nur Frankreich es kann. Die
Kunst des Nicht-Zuviel und Nicht-Zuwenig: Die Szenerie
schwamm in Blau, Weiß und Rot, den gemeinsamen Landesfarben; Jessye Norman sang die Marseillaise und Präsidentengattin Bernadette Chirac zog das Tuch, in dem Trikolore und Sternenbanner in eins verwoben waren, von der
Widmungstafel. Zwischen den hochrangigen Politikern und
Diplomaten
aber
standen
Mädchen
in
elsässisch-
alemannischer Tracht, Blumenkränze im Haar. Miss Liberty
schien ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten.
Es war im Elsass, doch es geschah für Frankreich – ein
Satz, den kennen muss, wer das Land verstehen will. Die
BBC kannte ihn offenbar und schickte ein Fernsehteam zu
dieser symbolischen Wiederherstellung der französischamerikanischen Freundschaft, die im Streit um den IrakKrieg arg ramponiert worden war. Als offizieller Grund wurde freilich ein anderer genannt: der Todestag FrédéricAuguste Bartholdis, des in Colmar geborenen Schöpfers der
Freiheitsstatue, der sich am 4. Oktober zum hundertsten Mal
jährt. Doch während die Briten aus der Heimkehr der liberté
colmarienne eine Weltnachricht machten, wurde sie auf der
anderen Rheinseite, in schwäbischen und badischen Medien, eher herablassend und griesgrämig beäugt oder einfach übersehen.
Das war schon vor über hundert Jahren so, als Bartholdi
und die französischen Amerikafreunde den USA das Monument schenkten (manche sagen: aufnötigten). Wie scheel
und desinteressiert der Blick der Deutschen auf die Frei-
-3heitsstatue lange gewesen sein muss, belegt eine - gewollte? - Fehlleistung Franz Kafkas gleich im zweiten Satz seines „Amerika“-Romans. Karl Rossmann fährt auf dem Schiff
in New York ein und sieht die „Statue der Freiheitsgöttin wie
in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht“. Der Erzähler fährt fort: „Ihr Arm mit dem Schwert ragte wie neuerdings empor, und um ihre Gestalt wehten die freien Lüfte.“
Die Fackel als Schwert – mystische Täuschung oder unbewusste Reminiszenz an die „Germania“ bei Rüdesheim, die
mit dem Schwert nach Frankreich hinüber droht?
Für Bartholdi war die moderne Freiheit aus Republik und
Rechtsstaat ein Gemeinschaftsprodukt von Franzosen und
Amerikanern. Die amerikanische Revolution ging der französischen um mehr als ein Jahrzehnt voraus, wäre aber ohne französische Hilfe - La Fayette! - nicht denkbar gewesen.
Die Freiheit ist eine Fackel, die von einem Volk an das andere übergeht. Bartholdi entwickelte seine transatlantische
Symbolik nach dem Krieg von 1870/71, als PreußenDeutschland Frankreich besiegt und das Elsass annektiert
hatte. Ein Trauma. Die Preußen waren für ihn Barbaren. Er
reagierte pro-amerikanisch und westlich, weniger europäisch. Und optierte (wie etwa Jean-Paul Sartres Großvater,
der aus der großen elsässischen Sippe stammte, aus der
auch Albert Schweitzer hervorging) selbstverständlich für
Frankreich. Ein „waschechter Elsässer“, wie in Colmar öfter
zu hören, kann Bartholdi kaum gewesen sein. Er war der
Spross einer einst aus Franken oder der Pfalz zugewanderten Familie, die ursprünglich Berchtold oder Barthold geheißen hatte.
Wie kein Zweiter jedoch hat Frédéric-Auguste Bartholdi versucht, dem deprimierten Nationalbewusstsein der Franzosen wieder aufzuhelfen. Der quasi industriell produzierende
Bildhauer beglückte das Land unter anderem mit der Reiterstatue des Galliers Vercingetorix in Clermont-Ferrand, mit
-4dem gigantischen Löwen vor der Festung Belfort sowie dem
daneben fast zierlichen Monument des Paris-Verteidigers
von 1871, Léon Gambetta. Auch viele geistige Landesväter vom Baumeister Vauban über den Marseillaise-Schöpfer
Rouget de Lisle bis zum Philosophen Diderot - entgingen
dem Fleiß seines Meißels nicht. Das Musée Bartholdi in Colmar ist voll von Entwürfen und Nachbildungen, doch nicht
minder von Originalen wie dem „Märtyrer der Moderne“,
Prometheus, dessen liegender Riesengestalt ein doppelköpfiger Adler gerade die Brust aufpickt, um sich über seine
Leber her zu machen. Ganz zauberhaft und geradezu
minimalistisch dagegen die Bronzeplastik der „Sieben
Schwaben“, die mit dem Spieß und doch ängstlich einem
Hasen zu Leibe rücken. Aber selbst dieses Werk ist voll politischer Aussagekraft, wenn man bedenkt, dass im Elsässischen die Deutschen „Schwowe“ hießen und die Franzosen
„Haase“.
Das Stadtbild der 60 000-Einwohner-Stadt Colmar ist gleichfalls stark durchsetzt von Bartholdi-Denkmälern. In aller Regel zeigen sie Heroen der älteren Stadtgeschichte oder der
elsässischen Geschichte französischer Neigung und stehen
in herbem Kontrast zum oberrheinischen Fachwerk, das die
mittelalterlich-zünftige Kernstadt prägt, oder zu den dezent
barocken Bürgerhausfassaden am Rand der Innenstadt.
Mit welch politischer Raffinesse Bartholdi vorging, wird an
seinem Roesselmann-Brunnen von 1888 sichtbar. Der zeigt
auf einem Jugenstil-Postament den gleichnamigen Schultheißen, der 1262 die Truppen des begehrlichen Bischofs
von Straßburg aus der Stadt vertrieb. Dieser älteste Colmarer Freiheitsheld trägt eine Ritterrüstung, doch sein Gesicht
gehört einem Zeitgenossen, dem Lokalpolitiker Peyerimhoff,
der 1877 von den Deutschen abgesetzt wurde, weil er ihnen
den Gehorsam verweigerte.
-5Doch selbst was bei Bartholdi gar nicht als Ästhetik des Widerstands gedacht war, konnte als solche empfunden werden. 1940, bei der neuerlichen Besetzung des Elsass, zerstörten die Deutschen den Brunnen des Admirals Bruat (errichtet 1864, wiederaufgebaut 1958), und zwar vermutlich,
weil ihnen Bartholdis auf dem Außenrand angebrachte Allegorien der vier Kontinente missfielen: zu ostentativ und zu
selbstverständlich verkünden sie die Gleichwertigkeit der
Rassen und Völker. Jahre davor hatte sich vor diesem
Brunnen eine menschliche Verwandlung mit weitreichenden
Folgen zugetragen. Ja, sie sollte vom Elsass aus schließlich
Weltgeschichte machen, ähnlich wie die Freiheitsstatue.
Hier nämlich war die wichtigste Lebensentscheidung Albert
Schweitzers gefallen. In seinen autobiographischen Schriften ist zu lesen, dass der Kopf des Schwarzen, der Afrika
darstellt, in ihm den Wunsch geweckt habe, „Buscharzt“ zu
werden.
Bartholdi und Schweitzer verkörpern wie sonst kaum jemand aus diesem Ländchen zwischen Deutschland und
Frankreich eine Art elsässisches Sonderbewusstsein: in oft
beklemmender Lage zwischen zwei Mahlsteinen einen besonders lauteren, reinen und selbstlosen Universalismus,
ein höheres und allgemeines Menschheitsgesetz - die Freiheit, die Ehrfurcht vor dem Leben - vertreten zu müssen.
Dieses elsässische Eigenart ist in Colmar eindringlicher zu
spüren als anderswo.
Doch so viel komprimierte Erfahrung verlangt nach einem
Abstecher ins Blaue. Etwa in die nahen Vogesen, in eines
der schmucken Weindörfer oder auf die nicht ganz so nahe,
fünfhundert Meter hoch gelegene Haut-Koenigsburg. Von
hier aus erblickt man wie im Modell, was René Schickele,
der elsässische Dichter, meinte, als er noch vor dem Ersten
Weltkrieg das friedlichste aller Bilder von seinem Alemannien entwarf: Wie ein aufgeschlagenes Buch liege es da,
-6Schwarzwald und Vogesen die Buchdeckel, der Rhein der
Buchrücken und der alles zusammenhaltende Faden.
Wer es rauer liebt, mag hinaus fahren in den Industrievorort
Logelbach, in dem der Zeichner und Satiriker Tomi Ungerer
seine Kindheit und Jugend verlebte (wunderbar von ihm erzählt in dem Buch „Die Gedanken sind frei“ von 1993). Ungerer, dessen Arbeiten man als das extremste Gegenstück
zum Werk des Pathetikers Bartholdi bezeichnen könnte, besuchte nach dem Volksschul-Abschluss die Colmarer Lycée
Bartholdi, die 1940 unter deutscher Oberherrschaft in „Matthias-Grünewald-Schule“ umbenannt wurde. Er fuhr dorthin
mit dem Bus. Seine Haltestelle lag genau beim UnterlindenMuseum. „Wenn es regnete, wenn man warten musste,
suchte ich in diesem Museum, Eintritt war frei, Zuflucht und
entdeckte den Isenheimer Altar. Dieser Altar hat den größten Einfluss auf mein künstlerisches Leben ausgeübt. Noch
heute identifiziere ich mich mit dem heiligen Antonius, der
sich mit seinen Versuchungen konfrontiert sieht, obwohl
mir die Versuchungen besser gefallen als der Antonius.“
Unter den bedeutenden Elsässern, die seinen Heimatstolz
begründen, nennt Ungerer neben Sebastian Brant („Das
Narrenschiff“), Ettore Bugatti, den Marx Brothers und dem
Weihnachtsmann auch „Bartholdi alias Berchtold, dem wir
die Freiheitsstatue verdanken“. Um das elsässische Kriegsende im Sommer 1944 hat der noch nicht einmal Vierzehnjährige ein Kartenspiel erfunden und mit Karikaturen versehen: amerikanische Soldaten, deutsche SA-Trommler, französische Polizisten – das Personal der Zeit. Ein triefnasiger
Hitler ist der Schwarze Peter. Zwei Blätter lassen am tiefsten
in die zerrissene Welt des Schülers Johann Ungerer, genannt Tomerlé, schauen: hier der Nazi-Galgen mit Hakenkreuz über elsässischen Dörfern, dort der französische
Hahn, das Lothringerkreuz und die für das Elsass stehende
Freiheitsstatue.
-7Keine Frage: Auch wenn Miss Liberty erst jetzt heimgekehrt
ist, im elsässischen Denken und Fühlen war sie immer irgendwie zu Hause.
(ed. am 21. September 2004 in der Süddeutschen Zeitung.)
KURT OESTERLE

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