DAS MAGAZIN FÜR SCHULE IN SACHSEN

Transcription

DAS MAGAZIN FÜR SCHULE IN SACHSEN
KLASS
DA S M AG A Z I N F Ü R S C H U L E I N S AC H S E N
PERSONEN
Gisela Grüneisen,
Vorsitzende des sächsischen
Landeselternrates – Seite 6
IM FOKUS
Die Reform der gymna­
sialen Oberstufe – Seite 8
LERNORT
Ganztagsangebote
Niederwiesa – Seite 10
FÜR DIE PRAXIS
Gender Mainstreaming
an Schulen – Seite 12
1 / 2006
HERAUSGEBER: SÄCHSISCHES KULTUSMINISTERIUM
Liebe Leserinnen und Leser,
Klasse – endlich gibt es wieder eine Zeitschrift zu wichtigen Themen aus der sächsischen Schullandschaft. Neues und Interessantes, Aus­
tausch und Diskussionen, all das finden Sie in der ersten Ausgabe von »
– Das Magazin für Schule in Sachsen«.
erscheint nun regelmäßig vier Mal im Jahr.
Verschiedene Rubriken gliedern die Zeitschrift. Im Mittelpunkt jeder Ausgabe steht ein Schwerpunktthema, in diesem Heft »Ganztag­
sangebote an Schulen«. Dazu finden Sie unter der Rubrik L E R N O R T eine Reportage über einen Besuch in der Mittelschule Niederwiesa.
Wichtige Stimmen der Bildungspolitik finden künftig ebenso ihren Platz im Heft. Gisela Grüneisen – Landeselternsprecherin in Sachsen
– schildert ihre Vorstellungen über die Zusammenarbeit von Eltern und Lehrern. In der Rubrik F Ü R D I E P R A X I S werden Tipps für den
Umgang mit dem Schuleschwänzen und eine adäquate Förderung von Mädchen und Jungen in der Schule gegeben. Zum Schluss erhalten
Sie in der R E C H T S E C K E Tipps zur Finanzierung von Klassenfahrten.
Sie sind eingeladen, diese neue Zeitschrift aktiv mitzugestalten. Schreiben Sie uns Ihre Themenwünsche, Kritik und Lob, am besten per
E-Mail an [email protected]. Natürlich können Sie auch das Telefon oder den klassischen Weg per Brief nutzen. Für Ihre Mitar­
beit schon im Voraus vielen Dank! Viel Spaß beim Lesen wünscht
Ihre
-Redaktion
Titelbild: André Keßler, Lehrer für Elektrotechnik am Beruflichen
Schulzentrum für Elektrotechnik in Dresden. Das denkmalgeschützte
Treppenhaus aus den 50er Jahren des Beruflichen Schulzentrums für
Elektrotechnik in Dresden verbindet die großzügige Architektur des
Gesamtgebäudes mit modernen Lehrformen der Schule. (www.bszet.de)
PA N O R A M A
Fortbildungsprojekt in
den Staatlichen Kunst­
sammlungen Dresden
Experten stellen die neuesten Erkenntnisse
über die Entstehung und den Erhalt be­
deutender Kunstwerke vor. Unter dem
Motto »Der Zukunft erhalten – restau­
rierte Kunstschätze« startete ein gemein­
sames Fortbildungsprojekt der Staatlichen
Kunstsammlungen, der Volkshochschule,
der Hochschule für bildende Künste und
des Kultusministeriums. Die 18 Veranstal­
tungen zwischen September und Dezem­
ber beinhalten thematische Führungen in
der Gemäldegalerie Alte Meister, Vorträge,
Dokumentarfilme sowie Workshops zu hi­
storischen Maltechniken, wie der Ta­fel­­
malerei, der Tüchleinmalerei und der Sil­
berstiftzeichnung. Jede Veranstaltung ist
einzeln buchbar. Die Teilnahmegebühr be­
trägt jeweils 2 Euro, teilweise wird zuzüg­
lich Museumseintritt erhoben.
Nähere Informationen:
Volkshochschule Dresden
Tel.: 0351 25440-24
www.vhs-dresden.de
Klimaschutz
im Schulunterricht
Der heiße Sommer in diesem Jahr zeigte
einmal mehr, dass wir uns bereits mitten
im Klimawandel befinden. Um die Sensibi­
lität der Schülerinnen und Schüler für die
Themen Klimawandel und Klimaschutz zu
entwickeln, ist es wichtig, diese verstärkt
und fachübergreifend im Unterricht zu be­
handeln. Deshalb wurden in Zusammen­
arbeit mit sächsischen Klimaschutzexperten
eine Lehrerhandreichung sowie regional
ausgerichtete Arbeitsmaterialien für Schü­
ler der Klassenstufen 9 und 10 ent­­wickelt,
die vor allem im Profil- und Projektunter­
richt zur Anwendung kommen können.
Weiterhin wird ein mobiler Klima-Pavil­
lon durch Sachsen touren. Er wird über die
prognostizierten Auswirkungen des Klima­
wandels auf Sachsen anschaulich infor­
mieren und praktische Maßnahmen zur
Re­duktion der Kohlendioxidemissionen
vorstellen.
Ausführlichere Informationen sowie
Fortbildungsangebote für Lehrer
finden sich unter www.klima.sachsen.de
Berufswahlpass
für Schüler bundesweit
einheitlich
Der Berufswahlpass ist ein Arbeitsmateri­
al für Schüler und Schulen. In einem A4Ringordner können die Schüler ab Klas­
senstufe 7 Unterlagen für ihre individuelle
Berufswahl sammeln. Der übersichtlich auf­
gebaute Ordner bündelt Informationen
wie Angebote zur Berufsorientierung, per­
sönliche Profile, Zertifikate und anderes
mehr. Dadurch werden die Fähigkeiten und
Interessen jedes einzelnen Jugendlichen um­
fassend dokumentiert und ihre Berufswahl
sinnvoll unterstützt.
Ansprechpartner:
Koordinierungsstelle
Berufswahlpass Sachsen
c/o Sächsische Arbeitsstelle für Schule
und Jugendhilfe e. V.
Alaunstraße 11, 01099 Dresden
Tel.: 0351 4906867
E-Mail: [email protected]
www.berufswahlpass-sachsen.de
Die Woche der offenen
Unternehmen
Schau rein! heißt das Motto der »Woche
der offenen Unternehmen Sachsen«. Vom
12. bis 17. März 2007 öffnen Unterneh­
men, Handwerksbetriebe und Instituti­
onen ihre Türen und laden Schülerinnen
und Schüler ab Klasse 7 ein, sich über Be­
rufsanforderungen zu informieren und
ganz verschiedene Tätigkeiten in der Pra­
xis kennenzulernen. Die sachsenweite Be­
rufsorientierungs-Initiative steht unter der
Schirmherrschaft des Staatsministeriums
für Wirtschaft und Arbeit und des Staats­
ministeriums für Kultus.
Weitere Informationen zum Thema »Woche
der offenen Unternehmen Sachsen« finden
Sie unter www.schau-rein-sachsen.de
PISA-Forum 2006
Wo stehen Sachsens Schulen derzeit im
nationalen und internationalen Vergleich,
und welche Aufgaben zur Entwicklung des
Bildungsstandortes Sachsen werden daraus
abgeleitet? Das ist Thema einer kürzlich
durch das Sächsische Kultusministerium
herausgegebenen Broschüre, die auf einer
Veranstaltung mit Professor Manfred
Prenzel, dem Leiter der deutschen PISAStudie 2003, basiert.
Kostenlose Bestelladresse:
Zentraler Broschürenversand
Hammerweg 30
01127 Dresden
Telefon: 0351 2103671
E-Mail: [email protected]
1/2006
PA N O R A M A
Kontinuität in der Grundschule
Die neue Schulordnung für die sächsischen Grundschulen ist auf den Weg gebracht.
Erprobtes und Bewährtes findet Eingang in die tägliche Arbeit.
VON Dr. Katrin Reichel-Wehnert, SMK
Die neue Grundschulordnung steht
als PDF-Dokument unter
www.sachsen-macht-schule.de/recht
zum Download bereit.
»Schon wieder etwas Neues? Muss das sein?« Sicher hat sich diese
Fragen manch betroffene Lehrerin und betroffener Lehrer im
Grundschulbereich angesichts der neuen Schulordnung gestellt.
Doch beim näheren Hinsehen der entsprechenden Änderungen
stellt sich heraus: Es handelt sich eher um Anpassungen an das
schon in den Schulen Praktizierte als um etwas völlig Neues.
Viele Grundschullehrerinnen und -lehrer engagieren sich seit Lan­
gem in den Bereichen Schul- und Unterrichtsentwicklung. Die neue
Schulordnung nimmt darauf Bezug, bildet in der aktuellen Fassung
den rechtlichen Rahmen für die künftige Arbeit und überträgt den
Lehrerinnen und Lehrern mehr pädagogische Verantwortung. Im
Folgenden werden die wichtigsten Regelungen vorgestellt:
Optimierung des Schulstarts
Das Verzahnen der Vorbereitungs- und Eingangsphase zur Grund­
schule ist inzwischen in ganz Sachsen üblich. Besonders wichtig
dabei sind die gemeinsamen Veranstaltungen der Grundschulen
und Kindertageseinrichtungen. Sie reichen von gegenseitigen Hos­
pitationen bis hin zu Schnupperstunden in der Schule oder gemein­
samen Elternabenden und Fortbildungen. Vor Ort diskutieren
Lehrer, Erzieher und Eltern über das angestrebte Bildungs­ver­
ständnis, man lernt sich und die Arbeit der anderen besser ken­
nen. Aus der Arbeit im Team entwickeln sich gemeinsam getra­
gene Konzepte für die Zukunft, die auf Dialog und Verständigung
bauen. Ein einheitlich festgelegtes Vorgehen bei dem gemein­
samen Gestaltungsprozess zum Schulvorbereitungsjahr und zur
Schuleingangsphase gibt es nicht. Je nach den Bedingungen vor
Ort wird auf individuelle Lösungen gesetzt.
Getragen werden sollten diese Prozesse von dem Respekt vor je­
dem einzelnen Kind, der Erziehungspartnerschaft mit den Eltern
und der engen Zusammenarbeit mit den Kooperationspartnern.
Die konzeptionelle Einbindung der gesamten Schuleingangspha­
se in das Schulprogramm erhöht die Verbindlichkeit von Verein­
barungen dazu. Um die Schulaufnahmeuntersuchungen des Öf­
fentlichen Gesundheitsdienstes bis zum 28. Februar abschließen
zu können und die Planungssicherheit zu verbessern, wird die
Schulanmeldung auf den Oktober des Jahres vor dem Einschu­
lungsjahr eingegrenzt. Jedes Kind zählt! Die differenzierte indivi­
duelle Förderung, insbesondere für Kinder mit Lern- und Verhal­
tensbesonderheiten wird künftig stärker betont. Entwicklungspläne
ermöglichen bewusstes Handeln und Transparenz gegenüber den
Eltern.
Rhythmisierung des Unterrichtes
Die zeitliche Planung des Unterrichtes soll sich an den Lernaufga­
ben und Lernbedingungen der Schüler orientieren. Die vielfäl­
tigen Impulse in den neuen Lehrplänen werden durch die Rege­
lung in der Grundschulordnung verstärkt. Es muss nicht immer
der 45-Minuten-Takt sein, der das Lernen in der Schule bestimmt.
Gute Erfahrungen existieren beispielsweise auch mit Blockunter­
richt, der projektorientierten Arbeit, der Planung von Werkstät­
ten und der Gestaltung epochaler Phasen insbesondere in Kunst
und Werken.
Leistungsermittlung und Leistungsbewertung
Der Umgang mit der Bewertung von Leistungen ist eine besonde­
re pädagogische Herausforderung. Noten und verbale Einschät­
zungen stehen dabei oft in Konkurrenz zueinander. Die sinnvolle
Ergänzung beider Formen trägt zu einer transparenten und moti­
vierenden Rückmeldung an die Schüler bei. In der neuen Grund­
schulordnung werden deshalb erweiterte Regelungen zur verba­
len Leistungsbewertung als Notenersatz und Notenergänzung
verankert. Außerdem wurden neben Klassenarbeiten und Kurz­
kontrollen auch komplexe Leistungen als Leistungsnachweis auf­
genommen.
Beratung der Eltern
Als tragendes Element der Entscheidung, welche Schullaufbahn das
eigene Kind nach Abschluss der vierten Klasse einschlagen soll,
brauchen Eltern eine gute und umfassende Beratung. Ihre Mitar­
beit ist gewünscht, gegenseitiges Vertrauen bei Entscheidungen ist
notwendig. Das bedeutet wiederum, dass Lehrerinnen und Lehrer
stärker als bisher den Elternwillen respektieren und die Eltern in
ihrer Verantwortung stärken. Dies kann durch eine qualifizierte
Schullaufbahnberatung geschehen. So können Fehleinschätzungen
und -entscheidungen in Bezug auf die Schullaufbahn der Kinder
vermieden werden.
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PERSONEN
Warum haben Sie sich zur Elternratsvorsitzenden wählen lassen?
Das war eigentlich eher Zufall: Es wollte keiner machen. Ich war
auf dem Elternabend der 5. Klasse meines zweiten Kindes, und die
Veranstaltung verlief wie so oft: alle blickten auf den Boden, keiner
hat was gesagt. Da habe ich mich eben gemeldet. Das war 1997,
und dann ging es die Tippel-Tappel-Tour über den Schul- und Kreis­
elternrat bis in den Landeselternrat.
Wie ist Ihrer Erfahrung nach das Verhältnis zwischen Eltern und
Lehrern?
Oberflächlich betrachtet ist es gut. Doch sobald Konflikte entstehen,
verschlechtert es sich oft dramatisch.
Woran liegt’s?
Beide Seiten haben oft kein Instrumentarium, um Konflikte produk­
tiv zu lösen. Die Lehrer fühlen sich schnell in die Enge gedrängt,
wenn sie hinterfragt oder gar kritisiert werden. Manche haben sogar
Angst vor den Eltern. Die wiederum sind oft sehr obrigkeitshörig,
Debatten finden vor dem Schultor statt, beim Elternabend halten die
meisten den Mund oder werden aggressiv. Es gelingt nicht, ein An­
liegen sachlich, offen und konstruktiv zu formulieren. Dazu kommt,
dass die Eltern in der Regel erwarten, dass ihre Vorschläge zügig
umgesetzt werden, das heißt, solange ihr Kind noch die Schule be­
sucht. Das ist oft aber gar nicht möglich. Eltern sollten ihr Engage­
ment ein Stück weit auch als gesellschaftliche Aufgabe betrachten.
Was sagen Sie Eltern, die Angst haben, die Lehrer anzusprechen,
weil sie denken, ihr Kind bekomme dann die Konsequenzen im Unterricht zu spüren?
Gehen Sie fair vor und seien Sie standhaft. Bei den Eltern ist die Be­
reitschaft zu unterstützen durchaus vorhanden, oft wissen sie aber
nicht, welche Einflussmöglichkeiten sie haben. Sinnvoll finde ich
deshalb Schulungen für Eltern, zum Beispiel über gesetzliche Grund­
lagen, aber auch zu ganz nahe liegenden Fragen, zum Beispiel »wie
gestalte ich einen Elternabend«?
Ist die Gestaltung des Elternabends Aufgabe der Eltern?
Ja, unbedingt, es ist eine Veranstaltung von Eltern für Eltern. Lehrer
oder auch die Schulleitung sollten dazu eingeladen werden. Auf
diese Weise begegnet man sich auf Augenhöhe. Eltern sind keine
Bittsteller, sie können Forderungen stellen, wenn sie gerechtfertigt
sind. Man muss sich einfach Zeit für Begegnungen nehmen und sie
entsprechend gestalten. Wenn ich mich als Mutter beim Elternabend auf einen kleinen Erstklässerstuhl zwänge, ist es nahelie­
gend, dass ich mich in meine Schulzeit zurückversetzt fühle und
mich auch so verhalte.
Wie kann die Resonanz von Elterngesprächen verbessert werden?
Natürlich müssen sie sich um das Kind drehen. Es bringt nichts,
den Eltern hier Vorwürfe zu machen, zum Beispiel weil sie arbeiten
gehen oder ihrem 12-jährigen Kind nicht den Ranzen gepackt ha­
ben .
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»Wir müssen
uns Zeit für
Begegnungen
nehmen«
Eltern und Lehrer sollten auf
Augenhöhe ins Gespräch kommen,
wünscht sich Gisela Grüneisen,
Vorsitzende des sächsischen
Landeselternrats.
VON HEIKE BOJUNGA
Derzeit wird viel darüber diskutiert, dass das Wissen um Erziehung in den Familien verloren gegangen ist …
Die Ansichten über Erziehung sind heute weniger einheitlich, und
in den Familien wird Erziehung sehr unterschiedlich praktiziert.
Früher waren die Spielregeln klarer, es gab einen gesellschaftlichen
Konsens. Heute müssen wir erst über solche Werte nachdenken, in
den Familien, aber auch in der Schule. Das heißt konkret, man
muss sich über klare Regeln verständigen und sie dann auch kon­
sequent leben.
Manche Schulen bieten Hilfe und Unterstützung in Erziehungsfragen in einer sogenannten Elternschule an. Brauchen wir das?
Dazu habe ich ein zwiespältiges Verhältnis. Es kommt sicher da­
rauf an, wie man es umsetzt. Wir brauchen starke Eltern und starke
Kinder. Mit starken Eltern meine ich solche, die sich bewusst sind,
dass sie durch ihr eigenes Verhalten Signale setzen. Wenn ein Kind
zum Beispiel schon vor Ferienbeginn aus der Schule genommen
wird, um in den Urlaub zu fahren, dann setze ich damit ein Signal,
das heißt: Schule ist im Prinzip nachrangig und kann meinen
­persönlichen Interessen untergeordnet werden. Solche Aspekte zu
reflektieren ist wichtig, und darum sollte es in einer Elternschule
gehen. Es darf nicht heißen, dass die Eltern zu Ersatzlehrern ausge­
bildet werden.
Was dürfen Eltern und Lehrer überhaupt voneinander erwarten?
Beide sollten davon ausgehen, dass der jeweils andere das Beste für
das Kind möchte. Und beide brauchen Hilfe, wenn dabei etwas
nicht klappt. An dänischen Schulen zum Beispiel geht man mit
Fehlern oder Defiziten ganz anders um als hierzulande. Es gibt
dort eine Kultur gegenseitiger Unterstützung und Wertschätzung,
ob das nun Erziehungsfragen oder das Erledigen der Hausaufgaben
betrifft. Das wünsche ich mir auch für uns.
Welche Möglichkeiten sehen Sie, die Verständigung zwischen
Schule und Elternhaus zu verbessern?
Wie gesagt, ich halte es für wichtig, sich Zeit für Begegnungen zu
nehmen. Leider fehlen oft noch das entsprechende Klima und die
Offenheit. Wir schauen ein bisschen neidisch auf die freien Schu­
len. Da sitzen die Eltern mit in den Gremien und Fachkonferenzen.
Das geht auch an den staatlichen Schulen, es gibt bloß kein ver­
brieftes Recht. Verboten aber ist es nicht. Die Schulen dürfen die
Eltern da ruhig mal aus ihrem Dornröschenschlaf küssen. Das
würde ihnen viele neue Möglichkeiten eröffnen.
Zum Schluss noch eine private Frage: Was würden Sie tun, wenn
Sie mal einen ganzen Tag frei hätten?
Oh, ich würde erst einmal Haus und Garten auf Vordermann brin­
gen. Und dann würde ich lesen, musizieren oder mal wieder segeln
gehen.
Gisela Grüneisen (47) ist seit 2004 Vorsitzende des sächsischen Landes­
elternrats. Sie ist Inhaberin einer kleinen Firma für Medizintechnik. Frau
Grüneisen ist verheiratet und hat vier Kinder im Alter von 15 bis 21 Jahren.
Informationen zum Landeselternrat finden Sie unter: www.ler-sachsen.de
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IM FOKUS
Der neue Weg zum Abitur
Sachsens gymnasiale Oberstufe nimmt die demografische Herausforderung an.
Die reformierte Oberstufe ab dem Schuljahr 2008/2009 sichert Qualität und Schulstandorte.
von Staatsminister Steffen Flath
Eine demografische Katastrophe rollt auf die gymnasiale Oberstufe zu. Schon in wenigen Jahren werden sich die Abiturientenzahlen
halbieren. Lernen im laufenden Schuljahr noch 15 200 Schülerinnen und Schüler in der 11. Klassenstufe, werden es in drei Jahren lediglich noch etwa 7000 sein. Das zeigen die Schülerzahlen in
den unteren Klassenstufen. Die Gymnasien stehen damit vor einer enormen demografischen Herausforderung. Die Folgen für
Struktur und Inhalt der Oberstufe werden erheblich sein.
Doch damit nicht genug: Hochschulen und Universitäten bekla­
gen schon seit Langem das unzureichende Allgemeinwissen ihrer
Studenten. Auch aus Kreisen der Wirtschaft werden in zum Teil
drastischen Worten die mangelnden Kenntnisse und Fähigkeiten
unserer Abiturienten beschrieben.
Die Wirtschaft sieht zudem den Standort Sachsen gefährdet, weil
es nicht genügend Nachwuchs für Ingenieur- und Naturwissen­
schaften gibt. Laut Industrie- und Handelskammer sucht allein
der Wirtschaftsraum Dresden ab 2008 jährlich 2000 Ingenieure.
Die Universitäten werden den Bedarf nicht mehr decken können.
Somit stellt sich die Frage, wie der demografische Anpassungspro­
zess durch eine Oberstufenreform gesteuert werden kann und
gleichzeitig Sachsens Abiturienten besser auf ein Studium vorbe­
reitet werden.
Jetzige Struktur nicht zu halten
Tatsächlich kann die bisherige Struktur der Oberstufe bei einer
Halbierung der Schülerzahlen kaum erhalten werden. Die Schul­
praxis wird zeigen, dass ein akzeptables Kursangebot nicht mehr
möglich sein wird. Fächer wie zum Beispiel Physik oder vor allem
Chemie drohen aus Mangel an Nachfrage komplett wegzufallen.
Wer die bisherige Zahl an Kursen und die Möglichkeit der Fächer­
abwahl erhalten, gar die Fächervielfalt noch erweitern will, käme
an zahlreichen Schulschließungen nicht vorbei. Die wenigen Schüler
müssten auf wenige Standorte konzentriert werden. Doch das kann
niemand ernsthaft wollen. Sachsens Schullandschaft hat in den
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letzten Jahren einen sehr schmerzhaften Anpassungsprozess durch­
litten. Die Zeit der Schulschließungen soll ein Ende haben.
Reformierte Oberstufenstruktur sichert Wissen
Vor diesem Hintergrund haben wir uns nach einem langen Diskus­
sionsprozess in einer Arbeitsgruppe aus Schulleitern, Oberstufen­
beratern und Vertretern der Kultusverwaltung für ein neues Mo­
dell der gymnasialen Oberstufe entschieden. Die reformierte
Oberstufenstruktur soll mit Einführung der neuen Lehrpläne ab
dem Schuljahr 2008/2009 an allen Gymnasien Realität werden.
Dann gäbe es künftig eine Mischung aus Kurs- und Klassenunter­
richt. In 14 (zwei fünfstündige Leistungskurse und einen vierstün­
digen Grundkurs) von 35 Wochenstunden würden die Schülerinnen
und Schüler in Kursen, in den übrigen Stunden im Klassenverband
unterrichtet. Der überwiegende Teil der Fächer wäre Pflicht. So
müsste zum Beispiel jeder Schüler alle drei Naturwissenschaften
und zwei Fremdsprachen belegen. Die Halbierung der Abituri­
entenzahlen einerseits und die Forderung nach verbindlichen Bil­
dungsbestandteilen in den Kernfächern andererseits bedingen eine
deutliche Einschränkung der Neigungsdifferenzierung.
Fördern und Sichern in allen Bereichen
Die Reform sichert damit nicht nur die Studierfähigkeit und ein
vertieftes Allgemeinwissen, sie stärkt zudem die naturwissenschaft­
liche Kompetenz. Das Entscheidende jedoch ist, mit der neuen Ober­
stufe bewältigen wir den demografischen Wandel, ohne weitere
Schulstandorte schließen zu müssen.
Die Entscheidung zur konkreten Ausgestaltung der Oberstufenreform
lag bei Redaktionsschluss noch nicht vor. Aktuelle Informationen unter
www.sachsen-macht-schule.de/oberstufe.
Gemeinsam gestalten
von Dr. Ina Lehmann, Leiterin des Beratungsteams für Ganztagsangebote
Ganztagsangebote bergen für viele Schulen interessante Entwicklungspotenziale. Gefördert durch ein Landesprogramm des Freistaates Sachsen entwickelten inzwischen über 500 sächsische Schulen eigene Ganztagsangebote. Zahlreiche Schulen, Schulträger,
Eltern und Kooperationspartner wurden durch das Beratungsteam
der »Servicestelle Ganztagsangebote« zu entsprechenden Angeboten und den Möglichkeiten für die Schulentwicklung beraten.
Vorab zwei Bemerkungen. Erstens: Ganztagsangebote sind freiwil­
lige Angebote für alle – Schüler, Lehrer, Eltern. Und zweitens: Ja,
Ganztagsangebote machen Arbeit. Wie bei jeder anderen Sache
auch, ist der Erfolg durch drei Faktoren bedingt – überdurch­
schnittlich hohes Engagement, Einbezug aller Beteiligten und die
Stimmigkeit des Konzeptes.
Gründe für Ganztagsangebote
Unabhängig von der Einzelschule oder der Schulart scheinen sich
die Elternwünsche zu gleichen. Umfragen unter sächsischen Eltern
ermittelten drei wesentliche Gründe dafür, warum Eltern ihre Kin­
der für ein Ganztagsangebot anmelden: Erledigung der Hausauf­
gaben in der Schule, Gestaltung von vielfältigen Freizeitangeboten
in der Schule und der Wunsch nach individueller Förderung der
Kinder durch erweiterte Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten. Die
oft angeführte Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch Ganz­
tagsangebote spielte bei sächsischen Eltern kaum eine Rolle. Schu­
len, die Ganztagsangebote gestalten wollen, müssen also auf die
Wünsche und Erwartungen der Eltern reagieren, denn sie sind es,
die ihr Kind zum Ganztagsangebot anmelden oder nicht. Um den
Eltern-, aber auch Schülerwünschen entgegenzukommen, gestal­
teten die meisten Schulen nach schriftlichen Eltern- und Schüler­
befragungen anfangs offene Ganztagsangebote. Darauf aufbau­
end entstanden teilweise gebundene Formen.
Gesamtkonzept muss stimmen
Natürlich ist Geld für Ganztagsangebote eine notwendige Grund­
lage, aber allein noch kein Garant für die Qualität und deren Um­
setzung. Schulen müssen ein Gesamtkonzept erstellen und dabei
ihren zukünftigen Schulentwicklungsweg reflektieren. Sie analysie­
ren ihren gegenwärtigen Zustand, setzen sich Ziele und überlegen
sich geeignete Schritte, diese Ziele zu erreichen. Deshalb besteht ein
Gesamtkonzept aus vielen guten Einzelprojekten und Angeboten.
Die einzelnen Projekte und Angebote lassen sich drei Bereichen zu­
ordnen:
1.) leistungsdifferenziertes Fördern und Fordern von Schülern,
2.) unterrichtsergänzende Projekte und Angebote und
3.) Angebote im schulischen Freizeitbereich.
Das gemeinsame Dach dafür stellt die Rhythmisierung dar. Sie wird
vom Ganztagsschulverband als Qualitätsmerkmal eines guten Ganz­
tagskonzeptes bezeichnet. Sie umfasst den gesamten Schultag und ge­
staltet Anspannungs- und Entspannungsphasen, also schüler­ge­rech­te
Lern- und Erholungsphasen. In Sachsen ist dies eine wichtige Förder­
voraussetzung – neben einer Kooperationsvereinbarung zwischen
Grundschule und Hort bei Ganztagsangeboten im Primar­bereich.
Potenziale nutzen
Es steckt von allen Beteiligten viel Arbeit im Erstellen eines Ganz­
tagskonzeptes, insbesondere beim Planen der notwendigen Hono­
rar- und Sachmittel, um gute und bedarfsgerechte Angebote für die
Schüler umsetzen zu können. Ganztagsangebote können die Zu­
kunft einer Schule wesentlich mitbestimmen. Allerdings bringen sie
gleichzeitig Veränderungen mit sich, die von allen Beteiligten ge­
meinsam weiter gestaltet sowie schulspezifisch ausgeformt werden
müssen. Aber nur so kann Schule funktionieren. Und da jede Schule
einzigartig ist, sind auch Ganztagsangebote an jeder Schule anders
– man muss sie vor Ort erleben.
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Zeit für Ideen
Die Lehrer und Schüler der Mittelschule Niederwiesa nahe Chemnitz verwirklichen seit Ende der
90er Jahre an ihrer Schule Ganztagsangebote. Alle Beteiligten scheinen damit zufrieden zu sein.
von HEIKE BOJUNGA
Katrin Fischer, Englischlehrerin an der Mittelschule, sitzt nachmittags gemeinsam mit den Schülern im Spanischkurs und büffelt unter Anleitung Vokabeln. Der Spanischlehrer, hauptberuflich an einer Berufsschule tätig, wohnt in der Nachbarschaft. Der Sprachkurs
war seine Idee. In der Anfangsphase hat er ihn sogar ehrenamtlich
geleitet. Der Spanischunterricht ist Bestandteil der außerschulischen Ganztagsangebote der Mittelschule Niederwiesa und ein
positives Beispiel dafür, wie effektiv und sinnvoll es sein kann, Dinge einmal ganz anders zu machen.
Dabei ist eigentlich alles ganz normal hier in Niederwiesa: Das
Schulgebäude ist schon ein bisschen in die Jahre gekommen, und
wegen der permanenten Raumnot üben sich alle in der Kunst des
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1/2006
Improvisierens. Das aber sehr gekonnt: Alles ist hell und freund­
lich gestrichen, in den Klassenzimmern hängen bunt bedruckte
Vorhänge, und auf einem Pult steht ein üppiger Strauß Blumen.
Ganz offensichtlich fühlen sich alle wohl.
Die Klasse 6a beispielsweise, bei der gerade »Zufallsversuche«
auf dem Stundenplan stehen. Die 12-Jährigen nähern sich dem
schwierigen Stoff auf höchst anschauliche Weise. In kleinen Ar­
beitsgruppen sind sie dabei, ein Thema zu finden, das sie gemein­
sam bearbeiten wollen. Eine Gruppe hat vor, Autos zu zählen und
die Häufigkeit bestimmter Farben auszuwerten. Andere beschäf­
tigen sich mit den Gewinnchancen beim Glücksrad-drehen. In
einem ersten Schritt geht es darum, unter Anleitung der Lehrerin
LERNORT
Mittelschule Niederwiesa
Schulleitung: Ingrid Schwendel
Stellv. Katrin Fischer
Mühlenstr. 21, 09577 Niederwiesa
Tel.: 03726 2630
Fax: 03726 782134
www.mittelschule-niederwiesa.de
eine Arbeitsmethode zu entwickeln. Alles wird dokumentiert und
in der nächsten Stunde vor versammelter Runde präsentiert.
Das Lernen lernen
Dabei trainieren die Schüler nicht nur soziale Kompetenzen, son­
dern lernen auch, sich gewandt auszudrücken, Inhalte zu struktu­
rieren und zu visualisieren. Die Klasse 8c hat das im Englischun­
terricht schon gemacht und ein großes Poster mit Informationen
und Bildern zu Griechenland gestaltet. Griechenland? »Ja«, lacht
Frau Fischer, Lehrerin der Klasse und zugleich stellvertretende
Schulleiterin, »wir haben uns eben mit Ländern beschäftigt, die
wie Großbritannien am Meer liegen«.
Die Schüler anleiten, das Lernen zu lernen – so könnte man die
Aufgabe der Lehrerinnen in Niederwiesa beschreiben. Und der
Blick über den Tellerrand gehört dabei auf jeden Fall dazu. Damit
angefangen haben die Kollegen schon Anfang der 90er Jahre. In­
grid Schwendel, die höchst umtriebige Schulleiterin, brachte erste
Ideen für neue Unterrichtsformen von Fortbildungsseminaren
mit. Die Kollegen probierten neue Ansätze aus, und schon bald
stellten sie fest: wir brauchen mehr Zeit. Zeit, um ein neues The­
ma einzuführen, zu üben und es dann noch einmal zu vertiefen.
Deshalb stehen heute pro Schultag nur drei oder vier verschiedene
Fächer auf dem Programm, für die aber jeweils 90 Minuten Un­
terricht vorgesehen sind. »Das sorgt für viel mehr Ruhe und Kon­
zentration im Unterricht«, erläutert Frau Schwendel das Prinzip.
Schüler und Lehrer haben mehr Zeit und mehr Raum, auch für
umfangreichere Projekte.
Mehr Zeit für Ideen
Das Konzept ist über Jahre gewachsen, der Rahmen wurde Schritt
für Schritt geschaffen. Leitfäden für den Unterricht unterstützen
die Lehrer und helfen Schülern, sich ein Thema zu erarbeiten. Ein
Bestandteil des Unterrichts ist die »Projektmethode«. Dabei be­
schäftigen sich die Schüler beispielsweise mit der Frage, wie Jeans
hergestellt werden, schlüpfen in die Rolle des Gemeinderats oder
beleuchten das Thema USA von verschiedenen Seiten. »Malen mit
Musik« hieß kürzlich ein Schulprojekt, in enger Zusammenarbeit
mit einem Künstler aus der Region. Dabei entstand ein riesiger
Wandfries für den verschönerungsbedürftigen Speisesaal, den sich
die Mittelschule mit der gegenüberliegenden Grundschule teilt.
Besser als zu Hause bei Mama
Dienstagnachmittags ist Unterricht, Mittwoch und Donnerstag
gibt es Angebote wie den Spanischkurs, die Lernwerkstatt oder
den Schulclub, das Lieblingsprojekt der 12-jährigen Jenny. Hier
können die Schüler gemeinsam spielen, sich Tipps für die Haus­
aufgaben holen oder im Internet surfen. »Wir müssen uns für den
Nachmittag wirklich attraktive Angebote einfallen lassen«, so
Katrin Fischer, »hier im Ort sind viele der Mütter nachmittags zu
Hause, so dass die Jugendlichen auch ganz entspannt im Garten
sitzen könnten«.
Demokratie in der Schule
Doch die Schüler finden es offensichtlich in der Schule spannend;
wohl auch, weil sie ernst genommen werden. Schließlich reden sie
in allen Angelegenheiten mit, die sie betreffen. Zum Beispiel, wenn
sie im Unterricht ein schwieriges Thema unterbrechen möchten,
um Entspannungsübungen zu machen. Oder wenn sie eine Ar­
beitsmethode vorschlagen möchten. Einmal in der Woche ist
Teamstunde, in der die Schüler ihre Anliegen in der Klasse bespre­
chen können oder übergreifende Themen wie Berufsorientierung
auf dem Programm stehen.
Doch nicht nur der Unterricht läuft ein bisschen anders ab, auch
der Umgang miteinander ist deutlich gleichberechtigter, als es ge­
meinhin in Schulen der Fall ist. »Regelmäßig tagt die Eltern-Leh­
rer-Schüler-Konferenz«, erläutert der 16-jährige Markus, Schulspre­
cher mit ausgesprochenem Kommu­nikationstalent. Die Konferenz
entwickelt in gemischten Arbeitsgruppen neue Ideen und denkt
über Unter­richtsangebote und -methoden nach. Aktuelle Themen
sind beispielsweise die Auswertung des Schulbarometers, neue
Wege in der Zusammenarbeit mit Eltern oder die Gestaltung der
Ganztagesangebote im neuen Schuljahr.
Häufig sind Befragungen die Grundlage dafür, welche Verände­
rungen eingeführt werden. Gemeinsam verständigen sie sich auch
über die Regeln und Normen, die an der Schule gelten. Damit di­
ese von allen eingehalten werden, stehen sie gut sichtbar auf selbst
gestalteten Plakaten, die in allen Klassenzimmern hängen. Und
Frau Schwendel hat sich in ihren Taschenkalender einen leuch­
tend roten Zettel geklebt: »Werte und Normen für Lehrer« steht
drauf. Das Modell funktioniert eben nur, wenn wirklich alle mit­
machen.
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FÜR DIE PRAXIS
»Ich behandle alle Schüler gleich«
Gender Mainstreaming spielt in unserer Gesellschaft eine immer wichtigere Rolle.
Auch in Schulen gibt es Handlungsbedarf, wie wissenschaftliche Untersuchungen zeigen.
VON Dr. Rolf Koerber, SMK
Gleichbehandlung der männlichen und weiblichen Schüler steht
außer Frage. Doch nicht immer ist die Gleichbehandlung der richtige Weg, um auf unterschiedliche Bedürfnisse von Schülerinnen
und Schüler einzugehen. Häufig werden in der Schule die Frage des
Geschlechts und die damit verbundenen Erwartungshaltungen vernachlässigt.
Jungen können besser rechnen, Mädchen besser lesen. Vielen von
uns ist diese Aussage wohl bekannt und wir akzeptieren sie im Stil­
len. Bundesweit bekannte Studien wie PISA 2000 und PISA 2003
bestätigen diese geschlechtsspezifischen Erkenntnisse. Die Medien
pauschalisieren die wissenschaftlichen Aussagen und tragen so zur
weiteren Verbreitung bei. Selten werden aber die Hintergründe sol­
cher Ergebnisse beleuchtet und nach Ursachen geforscht. Warum
gibt es deutlich höhere Leistungen von Mädchen im Bereich Lesen
als von Jungen? Zu hinterfragen sind auch
–die höheren Leistungen von Jungen in Mathematik.
Dabei ist der Leistungsvorsprung der Jungen jedoch weit
­weniger groß als der der Mädchen beim Lesen,
–der leichte Leistungsvorsprung der Jungen in den Natur­
wissenschaften,
–der positive Einfluss auf das Schulklima bei einem hohen
­Mädchenanteil,
–die unterrepräsentierte Anzahl von Jungen in höher
­qualifizierten Bildungsgängen,
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–die höheren Schulabschlüsse der Mädchen mit bestätigt
­besseren Leistungen und
–der überwiegende Anteil an Jungen als sogenannte Schul­
versager. Mädchen bleiben deutlich weniger sitzen.
Erste Analysen aus PISA 2003 für das Schwerpunktfach der Stu­
die »Mathematik« zeigen, dass es offensichtlich keinen signifi­
kanten Unterschied in den kognitiven Fähigkeiten von Jungen
und Mädchen hinsichtlich der Lösung mathematischer Aufgaben
gibt. Bestehende Leistungsunterschiede sind möglicherweise auf
die größere Affinität von Jungen zu mathematischer Symbolik zu­
rückzuführen. Gerade in Deutschland scheint das vorhandene Po­
tenzial der Mädchen in Mathematik nur zum Teil genutzt zu wer­
den. Ebenso spielt offensichtlich die (geringere) Selbsteinschätzung
der Mädchen hinsichtlich ihrer mathematischen Kompetenz eine
wichtige Rolle für die geringeren Leistungen. Der Kompetenz­
rückstand der Jungen beim Lesen ist am Ende der Pflichtschulzeit
erschreckend groß – das hat Auswirkungen auf fast alle Fächer.
Die Auswertung von PISA 2003 für Sachsen zeigte, dass bei den
15-Jährigen die Mädchen hinsichtlich ihrer Lesekompetenz den
Jungen durchschnittlich um ein Schuljahr voraus sind.
Vorschulalter und Pubertät entscheidend
Kinder und Jugendliche identifizieren sich mit ihrer Geschlechter­
rolle gerade in der Vorschulzeit und in ihrer Pubertät. In diesen
Phasen »würden sie jede Information gutheißen, die die Verschie­
denheit der Geschlechter zu belegen scheint«, analysiert Bettina
Hannover in ihrer Studie »Gender revisited«. Gründe für das
schlechte Abschneiden von Jungen sieht die Autorin vor allem im
Bereich der Motivation. Mädchen hingegen sollten auch hinsicht­
lich ihres räumlichen Vorstellungsvermögens, ihrer Modellierungs­
fähigkeiten und des Umgangs mit Zeichensystemen trainiert wer­
den. Lehrer und Schulleitung müssen beim Gestalten der Lernräume
und -gelegenheiten die geringe »Passfähigkeit« jungenhaften Ver­
haltens mit berücksichtigen.
Erste Ergebnisse zu PISA
Noch sind nicht alle Ergebnisse zu PISA länderspezifisch ausge­
wertet. Die vorliegenden Fakten lassen aber erste Schlüsse zu, was
künftig geändert werden muss. Notwendig sind beispielsweise
Maßnahmen zur Leseförderung von Jungen. Dies muss vor allem
frühzeitig und in den unteren Leistungsbereichen geschehen. Mäd­
chen brauchen vor allem Hilfe bei ihrer Selbsteinschätzung in Ma­
thematik. Nur so können sie sich kontinuierlich verbessern.Vom
Vorteil kann das zeitweilige, punktuelle Aufheben der Koedukati­
on sein. Gleichzeitig müssen aber die Lehrkräfte für diese Proble­
matik sensibilisiert sein. Weitere wissenschaftliche Untersu­
chungen zu diesem Thema erscheinen nach dem vorliegenden
Kenntnisstand sinnvoll und notwendig. Untersuchungen aus an­
deren Ländern wie beispielsweise Großbritannien zeigen, dass
eine zeitweilige, punktuelle Trennung der Geschlechter bei gleich­
zeitigem gender-sensiblem Unterricht sehr positive Effekte her­
vorbringen kann. In Deutschland fokussiert sich die öffentliche
Debatte sehr stark auf das Thema »Mädchenförderung«, obwohl
es in vielen Schulen interessante Ansätze zur reflektierten, beiden
Geschlechtern gerecht werdenden Koedukation gibt. Die Ergeb­
nisse von PISA und darauf aufbauender Studien verdeutlichen,
dass Gender Mainstreaming kein »Modethema« ist, sondern
dringend in unserem Lebensumfeld beachtet und entsprechend
umgesetzt werden muss. Politik und Schulen mit ihren Lehre­
rinnen und Lehrern sind gefordert, ihre Verantwortung hinsicht­
lich einer geschlechterspezifischen Erziehung im Rahmen der ge­
sellschaftlichen Veränderungen beizutragen.
Gender Mainstreaming: Der Begriff beschreibt die Integration einer
geschlechtssensiblen Perspektive in unser tägliches Lebensumfeld.
Dabei handelt es sich um eine Strategie mit dem Ziel, die Chancen­
gerechtigkeit zwischen Frauen und Männern, Jungen und Mädchen
zu verwirklichen. Im Mittelpunkt stehen dabei die gesellschaftlichen
Geschlechterrollen. Sie können innerhalb und zwischen den
Kulturen sehr unterschiedlich sein.
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Schule??
Ich will nicht!
Oder kann ich
nicht?
Eine aktuelle Studie der TU Dresden zeigt:
Schulversäumnisse fangen manchmal mit ganz
banalen Dingen an.
von Andreas Wiere, TU Dresden
Paul kommt mal wieder zu spät zum Unterricht und dabei steht
gerade die große Klassenarbeit in Englisch an. Geistesabwesend
kritzelt er die Antworten auf sein Blatt Papier – Ergebnis der Arbeit war eine Sechs. Der Junge aus der fünften Klasse ist nicht sonderlich auffällig. Sein Leistungsvermögen lässt mehr erwarten als
er zeigt. Der Grund für sein häufiges Zuspätkommen war einfach,
blieb aber längere Zeit unerkannt. Am Morgen muss sich der Junge allein zurechtfinden. Aufstehen, waschen, Ranzen packen und
die passende Hose aussuchen, ganz ohne die Anwesenheit der Eltern. Auf Nachfragen der Klassenlehrerin wich er immer aus, er
hatte Angst, sich bloßzustellen. »Es ist leichter zu sagen »Ich will
nicht!« als »Ich kann nicht …«, sagte eine Mittelschullehrerin.
So ähnlich, aber auch ganz anders können »Geschichten« von
Schülern anfangen, die den Schulbesuch meiden. Statistische Aus­
sagen zu Schulversäumnissen für das Schuljahr 2004/2005 deuten
keineswegs auf skandalöse Zustände im Schulbesuchsverhalten
sächsischer Schüler hin: Von etwa 133 600 Schülern, die in die Aus­
wertung einer Untersuchung der TU Dresden einbezogen wurden,
fehlten 4 700 (3,5 Prozent) mindestens einen Tag und 5 800 (4,5
Prozent) mindestens eine Unterrichtsstunde ohne Entschuldigung.
Allerdings ist dabei nur von denjenigen Schülern die Rede, die aus
unter­schiedlichen Gründen tage- oder stundenweise physisch ab­
wesend waren. Es gibt aber auch eine nicht ermittelbare Menge an
Schülern, die genauso wenig vom Unterricht mitbekommen, selbst
wenn sie anwesend sind. Dazu kommen verdeckte Schulpflichtver­
letzungen: Schüler bringen fadenscheinige Begründungen für ihr
Fehlen, die dann von den Eltern nachträglich bestätigt werden.
Schuldistanz
Als Oberbegriff für das Phänomen, dass Kinder und Jugendliche
schulischen Anforderungen nicht nachkommen können oder wol­
len, bietet sich der Begriff Schuldistanz an. Schuldistanz bedeutet
ganz allgemein, dass Kinder und Jugendliche einen innerlichen oder
körperlichen Abstand von schulischen Anforderungen einnehmen
und deshalb Unterrichtsinhalte versäumen.
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Ursache und Hintergründe des Abschaltens
Die Ursachen und Hintergründe für schuldistanziertes Verhalten
sind vielfältig und meist folgenreich miteinander verkettet. Zum
Beispiel können erste Fehlzeiten wie bei Paul durch ungünstige
Arbeitsverhältnisse der alleinerziehenden Mutter auftreten. Durch
das Versäumen von Unterrichtsinhalten häufen sich schulische
Misserfolge, die gleichzeitig einer sinkenden Selbstkompetenz von
Paul Vorschub leisten. Durch sein »uncooles« Auftreten wird Paul
zudem bereits längere Zeit von Mitschülern gemobbt. Kam Paul
anfangs aus pragmatischen Gründen zu spät zum Unterricht, gerät
sein Prozess der Abkehr von der Schule immer stärker zu einem
sich gegenseitig bedingenden Wechselspiel aus einer Vielzahl von
Bedingungsfaktoren. Einseitige Schuldzuweisungen und kausale
Lösungsstrategien sind im Umgang mit dem Phänomen Schuldistanz deshalb nicht angebracht. Um Risiken für Schuldistanz zu
vermeiden, sind Lösungsansätze gefragt, die frühzeitig an die Wur­
zeln des Phänomens gehen und den individuellen Einzelfall ins
Zentrum rücken. Dabei spielen biografische Erfahrungen und Le­
bensumstände der betroffenen Schüler eine Rolle, sind Praktiken
der Einzelschule zu hinterfragen als auch gesamtgesellschaftliche
Entwicklungen zu berücksichtigen, die auf Schüler, Eltern und
Lehrer wirken. Wenn sich Schüler vom Unterricht distanzieren,
steht die Schule in der Verantwortung, sowohl fallspezifisch einzu­
greifen als auch vorbeugend aktiv zu werden. Neben Erfolg ver­
sprechenden Ansätzen darf man aber in bestimmten Fällen auch
die Möglichkeiten schulischer Einflussnahme nicht überschätzen.
Handreichung geplant
Zu dieser umfangreichen Thematik der Schuldistanz wird das Kul­
tusministerium im Herbst 2006 eine Handreichung veröffentlichen.
Die Handreichung wird über Ausprägungen und Hintergründe in­
formieren, Betroffene und Interessierte aufklären und für unter­
schiedliche Sichtweisen sensibilisieren. Mit der Handreichung wer­
den aber vor allem praktische Impulse, Ideen und Anregungen
gegeben, um schulinterne Konzepte und Handlungsstrategien beim
Umgang mit Schul- und Unterrichtsversäumnissen zu entwickeln
oder weiter auszubauen.
RECHTSECKE
Klassenfahrt ohne Verlustgeschäft
Die Kenntnis von Fördermöglichkeiten hilft, die individuelle Kostenbelastung zu begrenzen.
Klassenfahrten sind ein wichtiger und schöner Bestandteil des
Schullebens. Leider sind sie zum Teil recht kostenintensiv und auch
bei sparsamer Kalkulation nicht immer für jeden Teilnehmer leicht
finanzierbar. Um die Klassenfahrt trotzdem für alle zu ermöglichen, gibt es verschiedene Förder- und Erstattungsmöglichkeiten.
Förderung des internationalen Schüleraustausches
Im Rahmen einer internationalen Bildungskooperation (Schüler­
austausch etc.) können Fördergelder beantragt werden. Wenn zum
Beispiel eine Klasse aus Sachsen nach Frankreich fährt und vor Ort
mit einer französischen Klasse gemeinsam den Unterricht besucht
sowie Projekte, Exkursionen und Ähnliches durchführt, sind die
Fahrtkosten der Schüler und Begleitpersonen aus Sachsen im Wege
der Anteilsfinanzierung bis zu 70 Prozent förderfähig (höchstens
jedoch 350 Euro pro Person). Ebenso können gemeinsame Pro­
jekte mit ausländischen Schülern in Sachsen gefördert werden. Vo­
raussetzung ist immer die Entwicklung des Spracherwerbs und der
interkulturellen Kompetenz. Grundlage bildet die »Förderrichtlinie
des SMK zur Förderung von Maßnahmen im Rahmen der internati­
onalen Bildungskooperation …« (FRL IntBilkoop) vom 6. Mai 2003.
Beantragt wird eine Förderung beim zuständigen Regionalschul­
amt. Ansprechpartner dort sind die Koordinatoren für interkultu­
relle Bildung und Erziehung. Die Förderung erfolgt im Rahmen der
verfügbaren Haushaltmittel. Anträge nach dieser Förderrichtlinie
sind grundsätzlich bis zum 15. Dezember des Vorjahres zu stellen.
Bei internationalen Schulprojekten ist es auf jeden Fall lohnend, sich
vorher mit einschlägigen Programmen der EU sowie Stiftungsakti­
vitäten vertraut zu machen und gegebenenfalls diese zu nutzen.
j­edoch nicht für die Kosten der Klassenfahrt (§ 23 Abs. 3 SGB II).
Sofern die Eltern nicht erwerbsfähig sind, also beispielsweise eine
Rente wegen voller Erwerbsminderung erhalten, ist das jeweilige
Sozialamt für die Leistung zuständig (§ 31 SGB XII).
Reisekostenerstattung für Begleitpersonen
Zwei Millionen Euro stehen in diesem Jahr in Sachsen für die
­Reisekostenerstattung anlässlich von Schulfahrten für Lehrer und
Begleitpersonen bereit. Jede Schule erhält ein bestimmtes Budget
vom Regionalschulamt. Grundlage ist die Verwaltungsvorschrift
zu Schulfahrten vom 7. April 2004. Die Erstattung der Reisekosten
für die Lehrer und Begleitpersonen einer Schulfahrt wird beim zu­
ständigen Regionalschulamt beantragt.
Förderung von Schülern aus Familien mit geringem Einkommen
Eltern mit Bezug von Arbeitslosengeld II können die Kosten für
mehrtägige Klassenfahrten ihrer Kinder bei rechtzeitiger Beantra­
gung vom zuständigen Träger der Grundsicherung für Arbeitsu­
chende erstattet bekommen. Dies gilt auch für Eltern, deren eigenes
Einkommen zwar für die Sicherung des Lebensunterhalts reicht,
Sie können
kostenlos abonnieren. Bestelladresse: Zentraler Broschürenversand der Sächsischen Staatsregierung;
Hammerweg 30, 01127 Dresden, Telefon: 0351 21036-71/-72, [email protected],
Ansprechpartnerin für Ihre Hinweise, Meinungen und Themenvorschläge für die kommenden Ausgaben der
richten Sie bitte an Kornelia Müller, Telefon: 0351 5642519, E-Mail: [email protected]
IMPRESSUM Herausgeber: Sächsisches Staatsministerium für Kultus, Referat Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Carolaplatz 1, 01097 Dresden, Redaktionsschluss: 08/2006.
Redaktion V. i. S. P.: Dirk Reelfs, Tel.: 0351 05642513, E-Mail: [email protected], Fotos: Michel Sandstein GmbH, SMK, Auflagenhöhe 40 000 Exemplare,
Gestaltung: Michel Sandstein GmbH, Druck: PCC Printhouse Colour Concept GmbH, Kostenlose Bestelladresse: Zentraler Broschürenversand der Sächsischen Staatsre­
gierung, Hammerweg 30, 01127 Dresden, Tel.: 0351 2103671 oder 0351 2103672, Fax: 0351 2103681, E-Mail: [email protected] (kein Zugang für elektronisch
signierte sowie für verschlüsselte Dokumente), Verteilerhinweis: Die Informationsschrift wird von der Sächsischen Staatsregierung im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit
herausgegeben. Sie darf weder von Parteien noch von Wahlhelfern zum Zwecke der Wahlwerbung verwendet werden.
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Schule gestalten.
Ganztagsangebote schaffen
Der Freistaat stellt dieses Jahr 30 Millionen Euro für die Gestaltung von
Ganztagsangeboten an sächsischen Schulen zur Verfügung.
Ihre Ideen sind gefragt – gestalten Sie mit!
Informationen erhalten Sie vom Beratungsteam Ganztagsangebote unter:
Telefon 0351 564-2780/-2781
[email protected]
www.sachsen-macht-schule.de/ganztagsschule